Die perfektesten 1440 Minuten meines Lebens - Shaun David Hutchinson - E-Book

Die perfektesten 1440 Minuten meines Lebens E-Book

Shaun David Hutchinson

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Beschreibung

Oliver Travers weiß: Am Ende dieses Tages ist er tot. Doch die letzten 1440 Minuten sollen die besten seines Lebens werden. Denn es gibt da eine ultimative Liste mit den Dingen, die man im Leben mal getan haben muss: von einer Brücke springen, sich ein Tattoo stechen lassen, ein Graffiti sprühen, also eben einfach bleibende Spuren hinterlassen und - ja, natürlich - ein Mädchen küssen. Das kann nur eine sein: Ronnie! Ein Buch für alle, die es verstehen, aus jedem Tag den perfektesten Tag ihres Lebens zu machen.

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Der Autor

Shaun David Hutchinsonkam in Florida zur Welt. Heute lebt er wieder dort,zusammen mit seinem Hund Max.»Die perfektesten 1440 Minuten meines Lebens«ist sein Debüt.

Widmung

Für Mom,die mir das Werkzeug für den Erfolgund die nötige Ausdauer mitgabund mich jeden Tag aufs Neue inspirierte.Okay, Mom –krieg ich jetzt meine Lemon Meringue Pie?

Titel

Shaun David Hutchinson

Die perfektesten1440 Minuten

meines Lebens

Aus dem Amerikanischenvon Karlheinz Dürr

Impressum

Die Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel»The Deathday Letter«bei Simon Pulse, einem Imprint vonSimon & Schuster, New York, NY 10020. Copyright © 2010 by Shaun David Hutchinson.Published by arrangement with Shaun David Hutchinson.Dieses Werk wurde vermittelt durch dieLiterarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 GarbsenErste Veröffentlichung als E-Book 2012Für die deutschsprachige Ausgabe:© 2012 Arena Verlag GmbH, WürzburgAlle Rechte vorbehaltenAus dem Amerikanischen von Karlheinz DürrCovergestaltung: Frauke SchneiderISBN 978-3-401-80249-7www.arena-verlag.deMitreden unter forum.arena-verlag.de

Kurz vorab

Über Oliver Travers musst du vor allem eins wissen: dass er am Ende dieser Geschichte sterben wird. Keine Wendung des Schicksals, kein Deus ex machina, kein Handel mit dem Teufel wird das Unvermeidliche verhindern können. Es gibt kein Happy End, er wird abnippeln, so ist es halt im Leben.

Aber in dieser Story hier geht’s gar nicht um Oliver Travers’ Ableben, sondern um sein Leben, und wer könnte diese Geschichte besser erzählen als Oliver selbst?

23h 59min, die Zeit läuft

»Oliver! Oliver! Komm doch bitte runter!«

Echt, Leute, das geht gar nicht: Das Allerletzte, was ich hören will, wenn ich meinen Solobeitrag zur Geburtenkontrolle leiste, ist die Stimme meiner Mutter. So lästig wie eine Melodie, die einem ständig durch den Kopf dröhnt. Aber so sieht’s aus: Da lieg ich unter der warmen Decke und fummle an meinem Joystick herum und eigentlich sollte überhaupt noch niemand im Haus wach sein, da muss sie natürlich meinen Namen durch die ganze Hütte brüllen. Widerwillig lege ich eine Zwangspause ein und warte ab, vielleicht denkt sie, dass ich noch fest schlafe. Aber genauso gut kann ich jetzt den Hebel endgültig sinken lassen, denn ich weiß genau, wenn ich die Augen wieder zumache, sehe ich sie als Nächstes durch meine Bude schweben, mit wehendem blondem Haar und ihrem rosa Frotteebademantel, der ein bisschen weiter offen steht, als es mütterlicherseits erlaubt sein sollte, und dann wird sie mir befehlen, meinen lahmen Hintern endlich aus dem Bett zu hieven, weil ich sonst zu spät zur Schule komme. Ich sag dir, Kumpel, das ist einfach total ätzend.

Meine Mom hat einen geradezu teuflischen sechsten Sinn für alles, nur eben nicht dafür. Die Frau ist ein menschlicher Lügendetektor, sie kann ein miserables Halbjahreszeugnis über die ganze Stadt hinweg wittern, hat aber trotzdem nicht den blassesten Schimmer, was ein Fünfzehnjähriger wohl treibt, wenn er volle dreißig Minuten unter der Dusche steht.

Frustriert schiebe ich die ziemlich warm gewordene Bettdecke zurück und schlurfe ins Bad, um mein Morgenritual zu absolvieren: pissen, Zähne schrubben, meinem afroähnlichen Haarbesatz mit einer Bürste zusetzen. Ob du’s glaubst oder nicht, ich komme in ungefähr sechs Komma fünf Sekunden vom Tiefschlaf auf full action. Bin ziemlich sicher, dass das Rekordzeit ist.

So gerüstet, steige ich die Treppe hinunter, um mich todesmutig in den durchgeknallten, halb irren Zirkus zu werfen, den die Travers-Familie darstellt.

Mom ist Zirkusdirektorin und Löwenbändigerin in einer Person und manchmal gibt sie auch den Clown, aber ich glaube nicht, dass sie die Clownrolle absichtlich spielt. Keiner von uns ist ein echter Morgenmensch und deshalb muss Mom dafür sorgen, dass wir alle rechtzeitig dorthin kommen, wo wir hinmüssen, und dass dabei niemand ums Leben kommt. In extremen Fällen muss sie dafür auch mal die Peitsche einsetzen.

Mein Dad ist eher der Messerwerfer, der spitze Klingen auf die aufs Drehrad gefesselte scharfe Tussi schleudert. Meistens läuft er leicht benebelt durch die Gegend, prallt gegen Wände und kippt Stühle um, aber wenn es dann an der Zeit ist, mit Messern zu werfen, verwandelt er sich in ein Genie. Mit Messerwerfen meine ich auch seine Kochkünste – einfach genial, solange er morgens seinen Kaffee bekommt. Gott stehe dir bei, wenn du ihm beim Kochen (oder Messerwerfen) in den Weg gerätst, bevor er seinen Morgenkaffee hatte.

Und dann gehören ganz offensichtlich noch zwei echte Freaks dazu – das sind meine Schwestern, die Zwillinge Edith und Angela.

Und was ist mit Nana? Keine Ahnung, wo ich sie einordnen soll. Tritt in einem Zirkus eigentlich auch eine außerordentlich süße, aber trügerisch harmlos wirkende Puppenspielerin auf, die einen mit einem einzigen Blick und einem Schokokeks um den rosigen Finger wickeln kann?

Ach so, mich selbst hätte ich fast vergessen. Okay: Wenn ich nicht gerade irre spät für die erste Stunde dran bin, bin ich wahrscheinlich damit beschäftigt, auf den letzten Drücker irgendein Schulprojekt auf die Reihe zu kriegen, für das ich eigentlich drei Monate Zeit gehabt hatte – aber natürlich warte ich immer bis zur allerletzten Sekunde. Ich glaube, ich kann nur unter Druck wirklich gut arbeiten. Wie ein Hochseilakrobat. Oder wie der Typ, der sich aus einer Kanone schießen lässt … Vielleicht sollte ich mal Mom fragen, ob ich nicht eine Kanone haben kann.

Du siehst, was hier abgeht, oder? Mein Zuhause ist morgens ein fast unkontrolliertes Chaos. Okay, es ist eigentlich immer ein fast unkontrolliertes Chaos, aber vor allem am Morgen. Und deshalb bin ich an diesem Morgen total verwirrt, als ich die Treppe herabkomme und in die Essküche trete.

Normalerweise würde mich dort eine erste Breitseite mütterlicher Ermahnungen erwarten, dass ich wieder mal zu spät ins Bett gegangen sei und zu lange mit Shane unser Lieblingsgame Halo gespielt hätte. Heute nicht. Heute ist die gesamte Familie brav um den Küchentisch versammelt. Mom, Dad und Nana stehen darüber gebeugt wie Angler über ihre Angelruten, an denen ein besonders fetter Fisch hängt, und meine ansonsten teuflischen kleinen Zwillingsschwestern stehen gebannt auf Zehenspitzen wie Statuen.

Und alle starren auf etwas, das auf dem Tisch liegt.

»Oliver Aaron Travers!«, schreit meine Mutter, ohne sich umzudrehen.

Mom benützt ganz selten meinen vollen Namen, schon deshalb, weil die Abkürzung OAT heißt, und wer in Englisch wenigstens mal vorübergehend wach genug war und aufgepasst hat, wird wissen, dass das Hafer heißt und an jeden Karrengaul verfüttert wird. Aber selbst wenn sie meinen Namen nicht so laut hinausposaunt und bei mir fast einen blutigen Hörsturz ausgelöst hätte, an ihrem Tonfall hätte ich sofort gemerkt, dass etwas ganz und gar nicht in Ordnung war.

»Hier bin ich, Mom«, sage ich. »Du weißt doch: Brüllen am frühen Morgen ist schlecht für den Blutdruck.«

Hast du auch schon mal einen dieser seltsamen Träume geträumt? Du bist auf dem Weg irgendwohin – zum Beispiel auf dem Weg in die Bücherei oder zur Schule, dir geht’s super, die Welt ist super, überhaupt alles ist super, bis du in einen Raum kommst und alle drehen sich um und starren dich an. Nicht so, dass sich erst einer umdreht und dann alle anderen, nein, alle drehen sich auf einen Schlag um, ungefähr wie eine Gruppe Synchronschwimmer. Und in genau dem Moment wird dir klar, dass du absolut splitternackt bist? Na gut, ich bin in diesem Moment vielleicht nicht nackt, aber ich könnte es ebenso gut sein.

»Was ist?«, frage ich und es kommt aggressiver raus, als ich eigentlich wollte, und ich krieg sofort ein schlechtes Gewissen.

Eine Millisekunde herrscht entsetztes Schweigen, dann, wie auf Kommando, fangen Edith und Angela zu heulen an. Jetzt bin ich sicher, dass was los ist. Meine Schwestern sind die unangefochtenen Rekordhalterinnen in der Sportart des vorgetäuschten Heulens. Darin sind sie absolute Superstars, denn wenn sie ihre dicken nassen Tränen herausdrücken und ihre Unterlippen beben und zittern lassen, gibt es kaum ein menschliches Wesen, das dann noch Nein sagen kann. Aber ich kenne sie inzwischen gut genug, um den Unterschied zu erkennen, und diese Tränen sind echt.

Ich hab schon viel Zeit dafür aufgewendet, den lieben Gott zu fragen, wie er das gemacht hat – so viel reine Bosheit in zwei so reizende, anbetungswürdige kleine Päckchen zu packen. Von meiner Mutter haben sie das Blondhaar und die Grübchen geerbt und niemand hat sie jemals bei einer Übeltat erwischt. Aber es kann ja wohl kein Zufall sein, dass sämtliche Babysitter der Zwillinge entweder ins Kloster gingen oder in die kanadische Wildnis auswanderten.

»Was ist los? Was habt ihr denn?«, frage ich.

Mom deckt das, was immer da auf dem Tisch liegt, mit ihrem Körper ab. Ich sehe, dass ihr mein Vater Den Blick zuwirft. Ich kriege ziemlich oft Den Blick. Normalerweise dann, wenn ich was Blödes getan habe, wie zum Beispiel vergessen, meiner Mutter zu sagen, dass ich sie auf die Liste für den Kuchenverkauf in der Schule gesetzt habe und sie eine Hundertschaft Kekse backen müsse. Dad warnt mich manchmal mit Dem Blick, besser sofort zuzugeben, was ich angestellt habe, weil es die Strafe nur schlimmer macht, je länger ich es aufschiebe. Aber noch nie habe ich gesehen, dass er meiner Mutter Den Blick schickt, und prompt schüttelt sie ein wenig verkrampft den Kopf, als würde sie jeden Augenblick einen Herzanfall bekommen.

Nach diesem unangenehmen Blickgefecht zwischen Dad und Mom dreht sich Mom endlich zu mir um, sie weint ebenfalls. Oder jedenfalls hatte sie geweint. Ihre Nase ist clownrot und Tränenspuren laufen über ihre Wangen. Mom versucht zwar, das vor mir zu verheimlichen, aber sie ist im Verheimlichen ihrer Gefühle nicht mal halb so gut, wie sie denkt. Jedenfalls ist mir inzwischen klar, dass es um was Schlimmes geht. Aber erst, als sie endlich zur Seite tritt, kapier ich, dass es keinen geeigneten Ausdruck für diese Sache gibt.

Es ist ein Todestagbrief.

Scheiße.

Unverwechselbar. Ein langer weißer Umschlag mit diesem idiotischen Regenbogen in einer Ecke, als ob das bisschen Farbe der schlimmsten aller Nachrichten den Stachel nehmen könnte. Echt jetzt – ein stinkender Scheißhaufen bleibt ein stinkender Scheißhaufen, auch wenn du ihn in hübsches Geschenkpapier mit rosa Schleifchen verpackst.

Ich bin geschockt und niemand scheint sich bewegen zu wollen, bevor sie sehen, wie ich reagiere. Ich weiß nicht warum, aber ich laufe instinktiv zu meiner Großmutter und umarme sie heftig.

»Es tut mir so leid, Nana«, sage ich, während ich versuche, mein Gesicht in ihrer Schulter zu vergraben, wie ich das als Kind immer tat. Nur funktioniert das jetzt nicht mehr so gut, weil ich gewachsen bin und sie geschrumpft ist. »Ich will nicht, dass du stirbst.«

Nana ist mein liebster Mensch auf der ganzen weiten Welt. Ehrlich. Achtundsiebzig erstaunliche Jahre, verpackt in einem winzigen, verschrumpelten Körper. Du würdest nie glauben, dass sie so alt wie Methusalem ist, wenn du sie herumrennen siehst. Den Kids aus der Nachbarschaft bringt sie immer noch das Tennisspielen bei und sie ist die einzige Person in der Familie, mit der ich mich über Mädchen unterhalten kann, ohne mir vor abgrundtiefer Verlegenheit den eigenen Arm abbeißen zu wollen. Dad hatte sie dazu überredet, bei uns einzuziehen, nachdem Großvater Lou gestorben war – Dad hatte einfach behauptet, er würde allein mit den Zwillingen nicht mehr fertig (was nicht weit von der Wahrheit entfernt war). Ich hab keine Ahnung, wie ich ohne Nana zurechtkommen soll. Ich weiß nur, dass ich sie heftiger umarme als seit vielen Jahren und dass ich nicht will, dass sie stirbt.

Nana packt mich an den Schultern und schiebt mich eine Armlänge von sich weg. »Wie kommst du bloß auf die Idee, dass der Brief für mich ist?«

Ich kann mir grade noch verkneifen zu sagen, weil du älter bist als die Erfindung des aufrechten Ganges, und schaue meine Eltern an. »Mom? Dad? Wer von euch ist es denn dann? Ich will keinen von euch verlieren!« Meine ganze Welt scheint zu zerbröseln. Wenn es nicht Nana ist, dann muss es entweder Mom oder Dad sein. Es kann keiner der Zwillinge sein, sonst hätten meine Leute nicht gewartet, bis ich herunterkomme, sondern wären sofort ausgerastet. Aber Mom oder Dad dürfen es einfach nicht sein. Ohne Mom würde ich nie rechtzeitig in die Schule kommen und wüsste auch nie, wo ich noch eine saubere Unterhose finde. Und ohne Dad wüsste ich nie … na gut, ich hätte wahrscheinlich niemand mehr, mit dem ich irgendwelche beschissenen Filme im Kino anschauen könnte. Einen von beiden zu verlieren, wäre entschieden mehr, als ich ertragen könnte.

Nana schluchzt auf und schnäuzt sich und überhaupt flippt sie genau so sehr aus wie die Zwillinge, die jetzt noch ein paar Heuldezibel drauflegen. Die beiden sind der lebende Beweis für die überdurchschnittliche Lungenkapazität von neunjährigen Mädchen. Nana schluchzt so sehr, dass ich annehme, der Todestagbrief ist für Dad. Nicht dass ihr mich falsch versteht, Nana liebt Mom, aber sie hat mir mal verraten, dass sie es lieber gesehen hätte, wenn Dad seine Sandkastenliebe Lily Purdy geheiratet hätte. Lily hatte nämlich naturrotes Haar und Nana hatte sich immer rothaarige Enkel gewünscht.

»Ollie«, verkündet nun mein Dad, »ich meine, du solltest dir das mal genauer anschauen.« Es ist ziemlich besorgniserregend, dass ausgerechnet mein Dad hier den Ruhigen und Beherrschten gibt. Außerdem nennt er mich nur Ollie, wenn wir eines unserer Männer-Gespräche führen, wie vor Kurzem, als er mir die Sache mit den Mädchen erklären wollte. »Ollie«, hatte er angefangen, »Mädchen sind wie Berge, die du besteigen musst. Nein, Moment … Äh. Also. Ollie: Mädchen sind wie Süßigkeitenautomaten – du steckst was in den Schlitz und schon kommt was Süßes raus. Verdammt, das ist auch nicht richtig ausgedrückt. Ollie – vergiss alles, was ich gerade gesagt habe. Mädchen sind wie Tetris. Wenn die Spalte erst mal frei ist, kannst du den Stein reinschieben …« Die weiteren Ratschläge waren noch schlimmer. Zum Beispiel sagte er, dass es nicht so gut sei, einem Mädchen »einen Braten in die Röhre zu schieben«. Er ist und bleibt eben ein Koch. Dass er jetzt so ernst und ruhig redet, jagt mir richtig Angst vor dem ein, was da auf dem Tisch liegt.

Die Leute kriegen ständig Todestagbriefe. Deine Mutter, deine Lehrer, der Typ, den du neulich im Auto an der Ampel gesehen hast und der den Finger bis zum zweiten Glied in der Nase stecken hatte. Jeder kriegt irgendwann mal Den Brief. Und wenn der Brief kommt, dann – päng! – fängt der vierundzwanzigstündige Countdown an, der mit dem Tod endet. Es sind nicht genau vierundzwanzig Stunden, aber doch fast. Es ist der schlimmste Brief, den du jemals kriegen kannst, aber ich kann mir nicht vorstellen, wie die Welt aussehen würde, wenn die Leute plötzlich keine Todestagbriefe mehr bekommen würden. Unheimlich irgendwie.

Der Brief auf dem Tisch ist nicht der erste, den ich zu sehen bekommen habe. Mein Großvater und ich standen uns wirklich sehr nahe. Er hatte mir beigebracht, wie man Raketenmodelle baut, und wir hatten zusammen stundenlang daran gebastelt. Großvater Lou mochte alle, aber ich war sein Liebling. Nachdem er gestorben war, schlich ich in sein Zimmer und klaute seinen Todestagbrief. Ich weiß, es war ziemlich gemein, etwas zu stehlen, das mein Dad wahrscheinlich gern als Andenken aufbewahrt hätte, aber ganz bestimmt hätte Großvater Lou gewollt, dass ich den Brief erbe.

Aber auf dem Briefumschlag auf dem Tisch steht nicht Großvater Lous Name. Auch nicht Nanas. Auch nicht Moms oder Dads Name. In sauberer, schräger Schreibschrift steht auf dem Umschlag:

Oliver Aaron Travers

Ich kann es gar nicht glauben, nehme ihn sofort in die Hand, schiebe den Finger unter die zugeklebte Klappe und reiße ihn auf, wobei mir die Frage durch den Kopf schießt, wer wohl den Scheißjob hatte, die Umschlaggummierung zu lecken. Im Brief steht:

16. OktoberMister Oliver Aaron Travers Es ist unsere Pflicht, Sie zu informieren, dass Ihr Tod planmäßig in den frühen Morgenstunden des 17. Oktober eintreten wird. Wir wären Ihnen für Ihre uneingeschränkte Mitwirkung in dieser Angelegenheit dankbar. Wir wünschen Ihnen einen angenehmen Todestag!

»Ach so. Hm. Okay.« Ja, klar, das ist meine Reaktion auf die Entdeckung, dass mein Leben durch diesen Brief mit einer Frist von 24 Stunden gekündigt wird. Meine Eltern erwarten offenbar, dass ich jetzt total geschockt und am Boden zerstört bin, denn sie stürzen sich sofort auf mich und ersticken mich fast mit ihren Umarmungen und zausen und verwühlen mein Haar, das von Natur aus sowieso schon eine Katastrophe ist und keine zusätzliche Zerstörung mehr nötig hat.

»Ollie, ich liebe dich so sehr«, schluchzt Mom. »Hey, ihr beiden, sagt eurem Bruder, dass ihr ihn lieb habt.«

»Ollie, wir haben dich lieb«, flöten meine Schwestern im Chor. Sie haben ihr Weinen inzwischen weitgehend eingestellt und sind offenbar der Meinung, dass das Leben trotzdem weitergeht. Du kannst mir glauben – ihnen überhaupt ihre Krokodilstränen entlockt zu haben, ist schon so was wie ein kleines Wunder. Ich sag dir, Kumpel, meine Schwestern werden eines Tages entweder irre erfolgreiche Rechtsanwältinnen oder eiskalte Profikiller. Ich drücke mal die Daumen für Profikiller, das wäre doch echt cool, oder nicht?

Nana schubst Mom und die Zwillinge beiseite, sie ist die Einzige, die mit so etwas durchkommt. »Es tut mir so leid, Ollie. Ich wünschte, es wäre mein Brief.«

»Nein, das wünschst nicht mal du, Nana«, sage ich und schenke ihr eins meiner schrägen, zähneblitzenden Lächeln, die sie, wie sie ständig behauptet, ganz besonders gern mag. Wenn die Leute über ein Lächeln reden, das nur einer (Groß-)Mutter gefallen würde, dann meinen sie mit absoluter Sicherheit mein Lächeln.

»Ehrlichkeit ist nicht immer eine gute Eigenschaft, Oliver.« Nana lächelt zurück. Ihr Gesicht ist heute ein wenig aufgeschwollen und ihre faltige Haut hängt herab wie bei einem Truthahn. Aber wenn sie lächelt, ist es, als würden tausend Jahre spurlos von ihrem Gesicht geblasen. »Aber du hast natürlich recht«, flüstert sie mir ins Ohr. »Ein paar Jahre habe ich schon noch in den Knochen und kann deine Mutter weiter ärgern.«

Gibt es jemand, der Nana nicht gern haben würde?

»Okay, jedenfalls habe ich jetzt Hunger«, sage ich und winde mich aus Nanas Umarmung. Im ganzen Durcheinander hatte Mom offenbar völlig vergessen, für das Frühstück zu sorgen, und ich bin am Verhungern. Eigentlich bin ich immer am Verhungern.

Pass auf, Kumpel, es gibt vier Dinge im Leben, auf die du dich verlassen kannst, die beiden ersten kennst du schon: Steuern und Todestagbriefe. Und die beiden anderen Dinge sind dir vielleicht auch nicht völlig neu.

Das dritte unwiderlegbare Gesetz im Leben lautet, dass ein Junge während 99,999 Prozent seines Lebens (im wachen oder schlafenden Zustand) an Sex denkt. Er sitzt in der Kirche? Er denkt an Sex. Er muss eine Dokumentation über den Zweiten Weltkrieg anschauen? Er denkt an Sex. Er mäht den Rasen? Er denkt an Sex.

Und die vierte unwiderlegbare Tatsache im Leben ist, dass Jungs immer hungrig sind. Selbst wenn wir behaupten, wir seien nicht hungrig, können wir essen. Ich glaube, das ist so eine Art Jägerinstinkt, der sich bei uns seit Millionen Jahren erhalten hat, als die Jungs noch im Bärenfell herumliefen und auf Höhlenwände malten. Schau: Wenn du in deiner Höhle chillst und nicht hungrig bist, warum solltest du dich mit einem Säbelzahntiger einlassen, nur um was Essbares für dich und deine Horde zu bekommen? Eben. Denn wir sind von Natur aus faul. Das können wir auch noch auf die Liste setzen: Steuern, Todestagbriefe, immer nur Sex im Kopf, immer hungrig und außerdem auch noch stinkfaul. Stell dir doch bloß mal einen Neandertaler vor, wie er in Zeiten der Dinosaurier in seiner Höhle hockt, nicht hungrig ist, nur die Felswand anstarrt und murrt: »Eigentlich bin ich nicht richtig hungrig. Reicht doch noch lässig, wenn ich erst morgen auf die Jagd gehe.« Vor allem, wenn auf der Felswand grade ein Fußballspiel übertragen wird.

Also ich jedenfalls bin eindeutig hungrig und es gibt kein Frühstück.

»Was möchtest du denn?«, fragt Dad. »Ich koch dir alles, was du willst.« Und schon rast er in der Küche herum und schmeißt mit Pfannen und Töpfen nur so um sich, was Mom richtig sauer macht. Und weil er noch keinen Kaffee intus hat, ähnelt er einer Ein-Mann-Schrottpresse und macht Moms Sachen kaputt.

»Was auch immer, aber mach schnell«, sage ich. »Ich muss zur Schule.«

»Rede keinen Unsinn«, sagt Mom. »Du gehst heute nicht zur Schule.«

»Nicht fair!«, kräht Edith sofort.

»Wenn er nicht gehen muss, müssen wir auch nicht hin«, ergänzt Angela.

Nana streicht den beiden über die Köpfe. »Wenn hier irgendjemand zur Schule muss, dann seid das ihr beide.«

»Ich gehe zur Schule!«, erkläre ich allen. »Hab keine Lust, den ganzen Tag hier herumzusitzen. Nana muss zu ihrem Tennisunterricht, Dad muss ins Restaurant und Mom hat bestimmt auch was zu tun.«

Dad blickt auf, er kniet gerade vor einem der unteren Küchenschränke. »Aber gibt es denn nichts, was du heute gern tun möchtest? Der ganze Tag gehört dir.«

Mich überkommt wieder dieses Gefühl, total nackt zu sein. Es ist, als ob sie alle darauf warteten, dass ich meine düstersten Träume vor ihnen auf den Boden schütte, damit sie so richtig darin wühlen können.

Liebes Tagebuch. Wenn ich groß bin, will ich eine berühmte Primaballerina werden.

»Ey, Leute, ihr macht mir richtig Angst. Mein Leben war super. Echt. Ich glaube, ich hab so ziemlich alles gemacht, was ich wollte. Klar, ich werde nie ein Basketball-Superstar werden, aber davon hab ich auch nie geträumt. Ich glaube, ich will heute einfach nur zur Schule und ganz normale Sachen machen.« Alle starren mich an, also füge ich hinzu: »Das ist nicht so wichtig, wisst ihr.«

Aber natürlich ist es wichtig! Aber ich will meinen Abgang nicht unter den glasigen tränenreichen Blicken und laufenden Nasen meiner lieben Familie durchziehen.

»Wenn er zur Schule geht …«, fängt Angela an.

»… dürfen wir dann an seiner Stelle zu Hause bleiben?«, vollendet Edith hoffnungsvoll. Beide knipsen ihr liebstes Lächeln an. Man könnte glauben, dass die Schülerinnen des Bösen in der Bösen Akademie für Böse Mädchen als Allererstes lernen müssen, wie sie lächeln sollen, ohne gleich wie das vom Teufel besessene Mädchen in Der Exorzist auszusehen (hab ich gesehen und ja – hab dabei an Sex gedacht).

»Nein«, verkünden Mom, Dad und Nana in einem Atemzug. Das ist schon mal sehr eigenartig, denn ich weiß zwar, dass Mom und Nana gegen die Zauberkräfte der Zwillinge vollkommen immun sind, aber Dad habe ich nur allzu oft unter der sengenden Hitze ihrer Schmollmünder und bambiäugigen Blicke hinwegschmelzen sehen.

Ein unangenehmes Schweigen folgt, während Dad Rührei zubereitet. Das Problem mit dieser Aussage ist, dass mein Dad absolut unfähig ist, ganz normales Rührei zuzubereiten – er bombardiert die Eimasse flächendeckend mit so ziemlich allen Gewürzen, die er in der Küche findet. In einer dunklen Ecke seines noch nicht von Koffein geweckten Hirns lauert der Gedanke, dass Sellerie aufgrund seiner besonderen Wirkung eine großartige Zutat ist, aber so, wie er die Sache anpackt, möchte man sich am liebsten sofort umbringen. Oder vielleicht doch nicht sofort.

Ich werde also wohl die entsetzlichsten Rühreier der Welt essen müssen, aber das ist noch nicht alles. Ich spüre förmlich, dass in meiner Familie währenddessen ein stiller Dialog abläuft, der ungefähr so geht:

Das ist das letzte Mal, dass Ollie Rühreier schmatzt.

Das ist das letzte Mal, dass Ollie seinen Orangensaft schlürft.

Das ist das letzte Mal, dass Ollie Rüffel bekommt, weil er bei Tisch rülpst.

Das ist das letzte Mal, dass Ollie seine Serviette nicht benutzt.

Nur meine Schwestern beteiligen sich nicht daran, sie brüten immer noch über der Frage, wie sie meinen Todestagbrief strategisch nutzen können, um entweder nicht zur Schule zu müssen oder Ponys geschenkt zu bekommen. Ich würde eher auf die Ponys setzen. Die beiden würden die coolsten ponyberittenen Profikiller in der Vierten abgeben und wahrscheinlich als Erstes sämtliche Mathelehrer zum Gratistarif umlegen.

Irgendwann habe ich genug. »Leute!«, brülle ich. »Hört endlich auf, so zu tun, als müsste ich bald sterben!«

Mom, die nervös in der Küche herumläuft und eine Liste für die Einkäufe fürs Abendessen schreibt, bleibt abrupt stehen. Nana hört auf, in dem Album mit Oliver-Fotos zu blättern, als sei ich schon im Jenseits. Und Dad hört auf, in einem giftbraunen Schleim zu rühren, aus dem in besseren Zeiten vielleicht mal Kartoffelpuffer geworden wären.

»Ollie«, sagt Nana ruhig, »du wirst aber bald sterben.«

Mir ist klar, dass das gerade alle denken, und ich liebe Nana dafür, dass sie den Mut hat, es auszusprechen. Aber das heißt natürlich noch lange nicht, dass ich mich gleich zum Sargshoppen aufmache.

»Kann schon sein, aber das müsst ihr mir ja nicht ständig unter die Nase reiben.« Ich schiebe meinen Teller weg und mache mich auf die Suche nach meinem Rucksack. Die Zwillinge machen sich immer einen Heidenspaß daraus, ihn zu verstecken, aber es gibt eben nur eine beschränkte Anzahl von Verstecken, in die ein Rucksack passt, der so schwer ist, dass ich davon Rückgratverkrümmung bekomme.

»Oliver …«, fängt Dad wieder an.

»Jeder kriegt mal einen Todestagbrief!« Ich brülle schon wieder, obwohl ich das eigentlich nicht will, aber manchmal geht es eben nicht anders. Ich zähle auf zehn und fange noch mal an. Ohne zu brüllen. »Irgendwann bekommt jeder einen Brief. Mein Leben ist ziemlich super gelaufen und ich habe keine Lust, an meinem letzten Tag hier im Haus hocken zu bleiben, während ihr mich alle anstarrt und heulend darauf wartet, dass ich tot umkippe. Ich will zur Schule, will mit meinen Freunden abhängen, nach Hause kommen und euch nach Möglichkeit nicht übern Weg laufen, bis ich ins Bett falle. Der einzige Unterschied zwischen heute und irgendeinem anderen Tag ist, dass ich mir keine faule Ausrede ausdenken muss, warum ich die Hausaufgaben nicht gemacht habe. Alles klar?«

Wow. Das saß, aber es musste nun mal gesagt werden. Und sie haben es kapiert, das merke ich schon daran, dass Mom die Zwillinge anschreit, weil sie noch nicht mal ihre Haare gebürstet haben – wahrscheinlich hatten sie gehofft, dass Mom doch noch klein beigeben würde und sie daheim bleiben dürften. Nana verschanzt sich wie sonst auch hinter ihrer Zeitung, die sie beim Lesen derart misshandelt, bis diese nur noch eine Art zerknittertes, schwarz-weißes Blutbad ist. Ach so, und Dad terrorisiert noch mehr Eier. Keine Ahnung, wer mir mehr leidtun sollte, die Zeitung oder die Eier.

»Du kommst zu spät«, sagt Mom. Sie schaut mich aus den Augenwinkeln an – klar, es nagt an ihr, dass sie mich nicht bis zum Umfallen umsorgen, bedauern und bemuttern kann, aber ich weigere mich entschieden, den ganzen Tag zu Hause zu sitzen und irgendeine stupide Talkshow anzuschauen.

Ich mache mich fertig und stelle fest, dass meine Schwestern doch noch ein Fünkchen Menschlichkeit besitzen, denn ich finde meinen Rucksack tatsächlich direkt an der Haustür.

Ich weiß, dass sich alle zusammenreißen, und ich fühle mich deshalb wie ein totaler Blödmann. Ich weiß auch, dass die ganze Heulerei und Schnieferei wieder losgeht, sobald ich aus dem Haus bin. Und weil ich eben kein totaler Blödmann bin, umarme ich alle kurz, bevor ich gehe. Sogar meine Schwestern.

»Hier«, sagt Dad und händigt mir ein Bündel Dollarscheine aus. »Fürs Mittagessen.«

Ich schaue auf das Bündel. Ein Schulessen, dessen Qualität Dad sowieso entsetzlich findet, kostet nur etwa fünf Grüne, aber er hat mir genug Geld für ungefähr sechzig Schulessen gegeben. »Wofür soll das sein?«

Dad zuckt die Schultern. »Man kann nie so genau wissen, wohin einen dieser Tag noch bringt.«

»Eigentlich weiß ich das ziemlich genau«, sage ich. »Erster Block ist Geschichte, dann Alge …«

»Wenn du nicht mein umwerfendes Aussehen geerbt hättest, mein Sohn«, sagt mein Vater, »würde ich dich manchmal echt eher für den Sohn des Müllmanns halten.« Dad kichert und schließt meine Hand um das Geld. »Dir wird schon was einfallen. Und jetzt geh endlich, sonst kommst du noch zu spät.«

Das ist alles vollkommen surreal, aber mit dem Zuspätkommen hat Dad recht. Und, mal ehrlich, es hängt tatsächlich ein riesiges Neonzeichen über meinem Kopf, das ständig flimmert: Sonderangebot: Auslaufmodell.

23h 23min

Aus dem Haus zu gehen, ist wahrscheinlich nur zu meinem Besten, selbst wenn die einzige Alternative die Schule ist. Ich hasse die Moriville High, aber dort sind eben auch die Mädchen. Girls bedeuten Sex, und obwohl ich es noch nie richtig getrieben habe, ist Sex so was wie der Sinn und Zweck meiner Existenz. Ich kann eine von Mr Barnes’ Geschichtsstunden voll und ganz damit verbringen, auf Miranda Helleys Vorbau zu glotzen. Am liebsten würde ich dort die Flagge hissen und in Ollies Namen Besitzanspruch erheben. Und die Flagge zeigt natürlich nicht die Stars and Stripes, sondern meine Visage.

Mädchen sind so viel besser dran, die sammeln nämlich tatsächlich Punkte, wenn sie zeigen, was sie haben. Ich dagegen muss die schlotterigsten Baggy-Jeans tragen, die es zu kaufen gibt, für den Fall, dass sich mein kleiner Glatzkopf in eine Felsnadel verwandelt, und zwar in genau dem Augenblick, in dem Mrs Keane zu dem Schluss kommt, dass ich die beschissene Gleichung vor der ganzen Klasse an der Tafel ausrechnen soll. Da kommt eine Menge Druck für einen Jungen zustande, buchstäblich. Bei mir reicht es nämlich schon, wenn ich mal mit dem falschen Körperteil an einer Wand entlangreibe. Schon mal überlegt, warum so viele Typen ganz hinten in der Klasse sitzen und so tun, als blickten sie rein gar nichts? Weil es einem Jungen in meinem Alter mit dem Schwanz so ähnlich geht wie einem Rekruten mit der ersten scharfen Handgranate. Kapiert?

Fürs Protokoll: Ich mag Mädchen. Eine Schule ist ein riesiges Haus voller Mädchen. Das ist einfache, aber geile Mathe, die sogar ich auf die Reihe kriege.

Als ich an Shanes Haus vorbeikomme, dämmert mir allmählich, dass es schlicht dumm war, den Rucksack zur Schule zu schleppen. Ich klappe schließlich meine Bücher nicht mal an den Tagen auf, an denen eine Klassenarbeit ansteht. Andererseits habe ich keine Lust, mich noch mal mit meinen Eltern auseinanderzusetzen, deshalb muss ich ihn wohl mit mir rumschleppen.

Shane ist mein bester Freund und es ist total cool, dass Shane ein paar Monate älter ist und daher schon fahren darf. Das ist ein gewaltiger Vorteil, weil ich nicht mehr im Schulbus zur Schule fahren muss. Der Busfahrer Dozie ist nämlich total verrückt. Außerdem ist er vollkommen blind, da bin ich absolut sicher, obwohl ich es nicht beweisen kann. Klar, es wäre super, wenn Shane seinen Hintern ein bisschen früher in Bewegung setzen und mich von zu Hause abholen würde, aber er sagt, der Umweg um einen ganzen Straßenblock sei ihm zu weit. Das ist natürlich Mist, aber wer das Auto hat, hat die Macht.

Ein weiterer Vorteil sollte sein, dass so ein Auto auch hilft, Mädchen anzubaggern. Das ist nämlich schlicht eine Tatsache: Mädchen fahren voll auf Typen mit schnellen Schlitten ab. Na ja, außer, wenn das fragliche Auto eine rostrote Rostlaube der Marke Honda Accord Baujahr 85 ist und auch noch Miss Piggy heißt. Sagen wir mal, die Mädchen drängeln sich nicht gerade nach einem Trip. Tatsächlich sagte Marissa Sheldon mal zu mir, dass sie lieber auf dem Fahrradlenker ihres zehnjährigen Bruders nach Hause fahren würde, als sich in Miss Piggy sehen zu lassen. Mit Miss Piggy liegt unser »Cool-Image« noch knapp unter dem des Schulhausmeisters Lewis, der manchmal für die älteren Schüler Bier besorgt, und knapp über dem des Bibliotheksmädchens, das ständig an den Nägeln knabbert.

»Wirst du wohl einmal im Leben pünktlich sein?«

Ich blicke auf. Shane Grimsley lehnt an der Fahrertür von Miss Piggy. Und wartet.

Shane und ich sind schon seit den grauen Tagen vor unserer Geburt beste Freunde. Das ist wörtlich gemeint. Meine Mutter und Shanes Mom lernten sich beim Frauenarzt kennen. Frauenärzte müssen keine Frauen sein, aber sie sind auf jeden Fall Ärzte, die nur Frauen behandeln und ihnen so Sachen sagen wie »Legen Sie mal Ihre Beine in die Steigbügel« und die an den Körperteilen rummachen, an denen wir Jungs definitiv nichts zu suchen haben, bei unseren Müttern, meine ich. Na, jedenfalls wurden wir mit nur ein paar Monaten Abstand geboren.

»Ich denke, ich hab da was rausgefunden, Shane. Ich glaube, wir wurden vertauscht, als wir Babys waren.« Ich bleibe vor ihm stehen und lasse meinen Rucksack auf den Gehweg fallen. Er kleppert.

»Es tut weh, wenn du denkst, Ollie!«

»Warte, bin noch nicht fertig. Ich denke, eines Tages, während wir miteinander spielten, tranken unsere Mütter ein paar super Cocktails, unterhielten sich über Waschpulver und Teilchenphysik und dann nahm eine das falsche Baby mit nach Hause. Ich bin eigentlich Shane Grimsley und du bist Oliver Travers.«

Shane schaut mich an, als hätte ich ihm eben eine Schaufel Mist vor den Riecher gehalten und er hätte einen tiefen Atemzug davon abbekommen.

»Ja, Mann, ist klar«, sagt Shane nach ein paar Sekunden. »Sag mal – hast du vergessen, dass ich ein Schwarzer bin? Meine Mom ist schwarz, mein Dad ist schwarz und meine Oma und mein Opa sind schwarz.« Shane deutet mit dem Daumen auf sich selbst und dann über die Schulter auf sein Haus. »Wir sind alle schwarz!«

Ich zucke die Schultern. »Na und?«

»Du bist nicht schwarz. Du bist das genaue Gegenteil von schwarz. Dein Arsch ist weiß wie Quark. Du bist so weiß, dass ich eigentlich eine Sonnenbrille brauche, wenn du vor mir stehst.«

»Das sind Nebensächlichkeiten.«

Ich warte darauf, dass Shane mich fragt, was es mit der Babyvertauschtheorie auf sich hat, aber er zieht nur sein Handy heraus und klappt es auf. »Na bitte – wir sind schon zu spät dran.«

Ich schaue auf mein eigenes Handy. »Wir haben noch massenhaft Zeit.« Klaro – Zeit für mich, in Tränen auszubrechen und dir von meinem Brief zu erzählen. Aber das mache ich nicht. Bin eben ein Feigling. Aber ein echter.

»Ich bin hungrig und brauche ein paar ungesunde Frühstücksandwiches«, verkündet Shane, während er die Fahrertür öffnet. Die Tür quiiietscht durchdringend, der Ton geht mir richtig ins Zahnfleisch. »Du hast doch nicht etwa schon was gegessen?«

Ich schenke ihm einen besonders schrägen Blick. Eigentlich eher angewidert als schräg, mit einer gesunden Dosis Schielen. »Äh, habe ich, aber wieso sollte uns das vom Mittwochs-Sonderangebot für Double-Cheeseburger abhalten?«

Shane rutscht auf seinen Sitz. Die Polster haben die Farbe von nassem Karton. »Worauf wartest du denn dann noch, Travers?«, ruft er. »Du weißt doch, die Grimsleys kochen lieber gar nichts als Sachen, bei denen sie vorher keine chemische Analyse durchgeführt haben. Und dieser Bauch hier verlangt nach Nahrung.«

Ich steige ein und beschließe, Shane vorerst nichts zu sagen. Ich befürchte, dass er sich genauso aufführen wird wie meine Eltern, wenn ich es ihm sage. Was ist falsch daran, wenn man seinen letzten Tag nicht wie ein Käfer unter dem Mikroskop des allgemeinen Mitleids verbringen will?

Ich lege den Sicherheitsgurt um, schon deshalb, weil Shanes Auto fast nur noch durch freundliche Gedanken und die Zentrifugalkraft zusammengehalten wird. Shane glaubt, je schneller er fährt, desto besser stehen die Chancen, dass Miss Piggy nicht auseinanderfällt. Und obwohl ich weiß, dass ich morgen früh sterben werde, hab ich doch keine Lust, das schon heute Morgen in Shanes Mistauto zu tun.

Ich höre kaum zu, als mir Shane von Tim Palachiks jüngster Eskapade erzählt, lieber strecke ich den Kopf aus dem Fenster und schau mir alles an, was ich schon eine Million mal gesehen habe. Und während wir an Tankstellen und Bahnübergängen vorbeifahren, wird mir klar, dass es wahrscheinlich das letzte Mal ist, dass ich sie sehe. Das Werbeschild am Country Corner Store wird mir fehlen, auf dem steht: Längere Würste hat keiner. Darüber muss ich jedes Mal lachen.

»Hast du überhaupt zugehört?«, fragt Shane, als wir in den Drive-Thru einbiegen.

»Äh – nicht so richtig …«

»Ich hab gesagt, dass Tim behauptet, er hätte mit Kaylee Sanders rumgeknutscht. Postet es überall auf seiner CrowFlow-Seite.«

Moriville High hat ein Maskottchen – die Große Mächtige Krähe. Ziemlich lahmes Federvieh. Noch lahmer ist, dass wir unser eigenes soziales Netzwerk haben, das sich CrowFlow nennt. So eine Art Facebook, aber ohne Perverse.

Während Shane für mich Eier mit Speck und Käsetoast bestellt, ziehe ich mein Handy heraus, um die Seite selber zu checken. »He, Kumpel«, sage ich, als wir mit einer mächtigen Abgaswolke und hässlichem Reifenquietschen weiterfahren, »hier steht aber, Tim hätte Kaylee gevögelt.« Ich mache eine obszöne Geste, um den Vorgang bildhaft darzustellen – ein O mit Zeigefinger und Daumen, durch das ich den anderen Zeigefinger stecke. Obwohl die bildhafte Darstellung eigentlich nicht nötig ist.

»Genau. Rumgeknutscht.« Shane wirft mir ein Sandwich in den Schoß, während er sich gleichzeitig selbst ein halbes Sandwich in den Mund schiebt.

»Nein«, sage ich und schiebe das Handy wieder in die Tasche. »Vögeln heißt was anderes.« Ich packe mein dampfendes Sandwich aus und lasse es auf dem Schoß liegen, damit es ein wenig abkühlen kann. »Vögeln bedeutet Stringtangaforschung. Es bedeutet Powerballade als Hintergrundmusik und Stöhnen im Vordergrund. Es bedeutet einlochen.«

Shane verdreht die Augen. Das sieht immer ganz komisch aus, weil er eine ziemlich dicke Brille trägt, hinter der seine Augen wie riesige Käferaugen aussehen. Und wenn er die Augen rollt, rechne ich immer damit, dass sie nicht mehr zu rollen aufhören und irgendwann herauskullern.

»Weißt du noch, wie Tim behauptete, an Jen Green rumgemacht zu haben, bis sich herausstellte, dass er nur zufällig im Gedränge im Flur an ihrer Brust vorbeigeschoben wurde?«

»Genau«, sage ich erleichtert. »Regel Nummer eins.« Egal, was du mit einem Mädchen machst oder nicht machst, du musst die Sache auf jeden Fall beim Erzählen ein bisschen, okay, ziemlich stark ausschmücken. Wenn du ein Mädchen küsst, behauptest du also, du hättest sie befummelt. Wenn du mit einem Mädchen heftig rumknutschst, sagst du, du hättest sie flachgelegt. Und wenn du tatsächlich mit einer Tussi geschlafen hast, dann erzählst du deinen Kumpels, du hättest sie so durchgevögelt, dass sie nicht mehr laufen konnte. Was gibt’s da noch zu sagen? Das Hirn eines Jungen steckt eben mindestens zur Hälfte in seiner Unterhose.

Ich schlucke mein zweites Frühstück hinunter und klammere mich praktisch in Todesangst am Armaturenbrett fest. Shane hat keine Anlage in seinem Auto. Seine Eltern glauben, wenn er beim Fahren Musik hören würde, könnte er sich nicht mehr auf das Fahren konzentrieren. Leider zwingt ihn das dazu, sich auf andere Weise zu unterhalten, und das lenkt ihn noch mehr ab. Im Moment hat er beide Hände am Sandwich und steuert mit dem Knie.

»Also – wo hat Tim Kaylee eigentlich kennengelernt?«, frage ich, als ich mit Kauen fertig bin. »Die hängen doch in komplett unterschiedlichen Cliquen ab.«

»Party«, kaut Shane.

»Wie kommt es eigentlich, dass wir beide nie zu Partys eingeladen werden? Bevor ich sterbe, möchte ich ganz gern noch zu einer Party eingeladen werden.«

Shane schnaubt. »Kommt Zeit, kommt Party, irgendwann kannst du dich vor Einladungen nicht mehr retten.«

»Du hast ja keine Ahnung«, murmle ich.

»Was?«

»Nichts. Schau einfach auf die Straße.«

Während Shane weiter miserabel fährt, weil er ständig von Partys quasselt, zu denen wir wahrscheinlich nie eingeladen werden, hänge ich meinen Kopf aus dem Fenster und atme die frische Morgenluft ein. Sie ist ziemlich kalt, aber ich muss mir ja nun keine großen Sorgen mehr machen, mir eine Lungenentzündung zu holen. Der Herbst ist meine Lieblingsjahreszeit und nicht nur deshalb, weil dann bald mein Geburtstag ist. Oder wäre. Hier in Florida kriegen wir vom Herbst nicht sehr viel mit. Aber es ist immerhin die Jahreszeit, in der die Leute tatsächlich auch Feiern für Sachen veranstalten, die alt oder reif werden, statt sie immer nur auszureißen, zu verbergen oder wegzuwerfen. Im Herbst wird das Altwerden mit einer gelb-rot-orange-braunen Farbenpracht gefeiert und heute merke ich plötzlich, wie sagenhaft das aussieht.

Und dann sind wir auch schon angekommen. Wir biegen in den Schülerparkplatz ein. Shane flucht, weil er so weit hinten parken muss.

»Vergiss deinen Rucksack nicht, Travers«, sagt Shane, als ich die Tür zuknalle.

Ich will sie gerade ganz automatisch wieder öffnen, um meinen Rucksack vom Hintersitz zu holen, doch dann zögere ich. »Nee, heute nicht.«

»Hast du aufgegeben, so zu tun, als seist du wach?«

»So ungefähr.« Ich zucke die Schultern und marschiere los. Shane folgt mir.

Die Schule ist verdammt lästig, aber Mom hat immer dafür gesorgt, dass ich nicht schwänze, damit ich später auf ein »anständiges College« gehen kann. Das spielt jetzt wohl keine Rolle mehr. Trotzdem hätte mich mal interessiert, wer diese unglaublich idiotische Idee hatte, eine Riesenmenge Teenager in eine gigantische, hermetisch abgeschlossene Luftblase mit Mauern drum herum zu stopfen und dann von ihnen auch noch zu erwarten, dass sie sich nicht gegenseitig umbringen oder auffressen. Es gibt schließlich einen guten Grund, warum Raupen in einem Kokon leben, bis sie als fertige Schmetterlinge herauskommen. Weil nämlich alle Teenager Ungeheuer sind.

Mein Brief steckt immer noch sicher verwahrt in meiner Jeanstasche, als wir durch die Flure marschieren. Shane guckt mich ab und zu von der Seite her an, aber ich grinse nur kurz zurück. Irgendwie hoffe ich, dass sich das alles doch noch als monströser Irrtum herausstellt. Dass der Brief vielleicht für einen anderen Oliver Aaron Travers bestimmt ist.

Ich warte auf Shane, während er seine Sachen aus dem Schließfach holt. Er braucht seine Hefte und Bücher noch weniger als ich. Ich brauche meine nicht mehr, weil ich sowieso bald den Griffel weglegen muss, aber Shane kommt deshalb locker ohne Bücher aus, weil er ein totales Genie ist. Das Schlimmste daran ist, dass das unseren Lehrern klar ist. Dürfte für sie nicht leicht zu ertragen sein, dass einer ihrer Schüler besser unterrichten könnte als sie selbst.

Shane quasselt immer noch über einen Werbespot, den er im TV gesehen hat und bei dem er vor Lachen so prusten musste, dass ihm der Inhalt einer halben Dose Cola aus der Nase explodierte, als ich Veronica Dittrich weiter vorn im Flur sehe. Ronnie. Das ist wie eine Atombombenexplosion, aber dieses Mal in meiner Hose. Ronnie ist nämlich nicht irgendein Mädchen. Sie ist das Mädchen.