So beschissen schön ist nur das Leben - Shaun David Hutchinson - E-Book

So beschissen schön ist nur das Leben E-Book

Shaun David Hutchinson

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Beschreibung

Drew ist überall bekannt im Krankenhaus und kommt und geht, wie er will. Er hilft, wo er kann, und jeder sieht in ihm einen Freund. Aber nie fragt sich jemand: Wer ist Drew eigentlich? Denn er ist weder Patient im Krankenhaus noch Angestellter dort. Als eines Tages Rusty eingeliefert wird, ein schwerverletzter Junge, der das Leben außerhalb des Krankenhauses ebenso zu fürchten scheint wie er, steht Drew vor einer großen Entscheidung: Traut er sich mit Hilfe von Rusty, da draußen endlich wieder ein richtiges Leben zu führen?

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Seitenzahl: 397

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SO BESCHISSEN

SCHÖN

IST NUR DAS

LEBEN

Shaun David Hutchinson

Aus dem Amerikanischen von Ulrike Köbele

Das hier ist für Nara Star, meine ganz persönliche Superheldin

Shaun David Hutchinsonlebt mit seinem Partner und seinem Hund Chubby in Florida. Er liebt Comics, Doctor Who und schreit gerne seinen Fernseher an. Neben dem Schreiben hatte er schon viele Jobs, zur Zeit arbeitet er als Webdesigner und in der IT-Branche.

Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel »The Five Stages of Andrew Brawley« bei Simon Pulse, ein Imprint von Simon & Schuster, Inc. Copyright © Shaun David Hutchinson, 2015

1. Auflage 2018 Für die deutsche Ausgabe: © Arena Verlag GmbH, Würzburg, 2018 Alle Rechte vorbehalten Aus dem Amerikanischen von Ulrike Köbele Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, Garbsen. Umschlaggestaltung: www.buerosued.deIllustrationen Graphic-Novel-Seiten: © Christine Larsen, 2015 Layout und Satz: Malte Ritter, Berlin ISBN 978-3-401-80766-9

Besuche uns unter: www.arena-verlag.dewww.twitter.com/arenaverlagwww.facebook.com/arenaverlagfans

Inhaltsverzeichnis

1. Pyrokinese

2. Unsichtbarkeit

3. Übermenschliche Intelligenz

4. Strahlungs-absorption

5. Unterwasseratmung

6. Feuerabsorption

7. Todessinn

8. Übermenschliche Ausdauer

9. Omnilingualismus

10. Zeitreisen

11. Verfremdung der Realität

12. Die Zeit anhalten

13. Undurchdringliche Haut

14. Hitzeblick

15. Allwissenheit

16. Teleportation

17. Manipulation der Schwerkraft

18. Auflösung

19. Berserkerwut

20. Tödliche

21. Wiederauferstehung

22. Besonderes Heilungsvermögen

23. Retrokognition

24. Gestaltwandeln

25. Röntgenblick

26. Fliegen

27. Regeneration

Danksagung

1. Pyrokinese

Der Junge schreit wie am Spieß.

Sanitäter schieben ihn in den sterilen Raum der Notaufnahme des Roanoke General Hospital. Er schreit und windet sich auf der Bahre, als würde das Feuer, das seine Haut versengt hat, immer noch brennen, irgendwo tief in seinen Knochen, wo die Sanitäter und Ärzte und Pflegekräfte, die sich um ihn drängen, es niemals erreichen und löschen können.

Er sieht aus, als wäre er in meinem Alter. Siebzehn. Sein Haar hat die Farbe von Herbstlaub, jedenfalls da, wo es nicht verbrannt ist. Es erinnert mich an das Laub, das ich immer mit meinem Dad zu Haufen zusammengerecht habe, um dann mit vollem Anlauf hineinzuspringen.

Von meinem Versteck aus kann ich seine Augen nicht sehen, aber seine Stimme ist wie eine Eisenkette. Sie knarzt von den Qualen, unter denen sie aus seinem Hals gezerrt wird. Die Haut auf seinen Beinen und auf einem Teil seiner Brust ist schwarz verkohlt.

Der Geruch von Verbranntem hängt in meiner Nase, und obwohl mir bereits die Galle hochkommt, muss ich an all die Male denken, die ich mit meinen Eltern im Sommer gegrillt habe. Mom hamsterte immer Extraessen hinten im Kühlschrank, weil Dad grundsätzlich das Huhn anbrannte.

Es ist schon spät und ich sollte längst verschwunden sein, aber ich kann mich einfach nicht von dem Anblick des Jungen losreißen. Ich bin ein Gefangener seines animalischen Geheules. Es gibt keinen Ort in diesem Krankenhaus, an dem ich mich verstecken könnte, um seinen Schreien zu entkommen.

Also bleibe ich. Und sehe zu. Und lausche.

Ein Mädchen kommt mit wild rudernden Armen reingerannt. Sie schreit irgendwas, doch mein Herz klopft so laut, dass ich nur einzelne Wörter ausmachen kann. »… im Pool … Party … er hat gebrüllt …« Die Sanitäter halten das Mädchen zurück und sie sackt in sich zusammen. Sie ist ein zerbrochener Spiegel, dessen Scherben kleine Stücke von uns reflektieren: unsere Wut, unser Entsetzen, unsere Angst – geborgt und wieder zurückgeworfen. Meine kann sie behalten.

Ich konzentriere mich ganz auf den Jungen.

Das Wichtigste ist jetzt, seine Atemwege freizuhalten. Das weiß ich. Im Moment ist das alles, worauf es ankommt. Wenn der Junge das Feuer eingeatmet hat, spielt es am Ende möglicherweise gar keine Rolle mehr, wie seine Haut aussieht. Dass seine Schreie bis in den hintersten Winkel der beengten Notaufnahme des Roanoke dringen, ist ein gutes Zeichen. Wenn er aufhört zu schreien, dann besteht Grund zur Sorge.

Die Ärzte und Pflegekräfte stecken die Köpfe zusammen. Vielleicht besprechen sie, wie sie vorgehen wollen; vielleicht beten sie. Oder trauern. Der Junge braucht ein Wunder. So eins wie im Märchen.

Eine Ärztin – ein Oktopus von Frau, der mit allen acht Armen gleichzeitig zu Werke geht – schneidet die Reste seiner Kleidung auf und schält sie wie zerfaserte Tapetenstreifen ab. Der Junge stöhnt.

Ich wende mich ab. Auf so was war ich nicht gefasst. Ich bin bloß in die Notaufnahme gekommen, um den Pflegekräften Hallo zu sagen und nachzusehen, ob sich irgendwer beim Feuerwerkanzünden einen Finger weggesprengt hat. Da heute der vierte Juli ist und somit im ganzen Land der Unabhängigkeitstag gefeiert wird, stehen meine Chancen, einen gruseligen Böllerunfall zu sehen, ziemlich gut.

Aber das hier ist schlimm. Das hier ist so sehr wie in jener Nacht.

Die kleine Notaufnahme platzt von den vielen Leuten, die sich darin drängen, schier aus allen Nähten. Die Wände sind weiß. Der Boden ist weiß. Die Vorhänge, die die einzelnen Untersuchungsräume abtrennen, sind eierschalenfarben, bis auf den einen für den Kinderraum, der mit winzigen verblassten gelben Entchen bedruckt ist. Die Rezeption ist eine Stolperfalle, die irgendwer mitten in die Notaufnahme gepflanzt hat, sodass alle Ärzte, Schwestern und Pfleger gezwungen sind, einen regelrechten Eiertanz drum herum aufzuführen. Die Pflegekräfte beschweren sich immer darüber, aber das Ding ist eine feste Einrichtung. Nicht wegzubewegen.

So wie ich.

Meine Waden schmerzen vom langen Hocken und meine Schultern sind ganz steif. Ich habe Angst, dass mich jemand sieht, wenn ich mich bewege, denn heute Abend möchte ich unsichtbar bleiben. Der verbrannte Junge braucht mich. Es ist wichtig für ihn, dass ich Zeuge seines Leidens werde. Ein merkwürdiger Gedanke, aber langsam gewöhne ich mich daran, dass mir in letzter Zeit ständig so sonderbares Zeug durch den Kopf schießt. Jeden Tag eigentlich.

Zum Beispiel, dass die Gerüche der Notaufnahme mich irgendwie an ein italienisches Panini erinnern. So eins, das förmlich in Essig und Majo ertrinkt und mit viel zu viel Oregano gewürzt ist. Hier herrscht normalerweise eine Mischung aus Bleichmittel, Blut und all den üblen Aromen vor, die die Patienten so mit sich reinbringen. Aber heute nicht. Der Junge ist nicht bloß verbrannt. Er ist gar.

Ich wende mich wieder dem Geschehen zu, wobei ich hoffe, dass sie inzwischen mit Schälen fertig sind. Er bewegt sich jetzt weniger als vorher. Weint auch weniger. Vielleicht haben ihm die Ärzte was gegen die Schmerzen gegeben. Bloß wissen er und ich, dass es Schmerzen gibt, die so tief gehen, dass kein Betäubungsmittel der Welt sie jemals lindern kann. Sie sind in unsere Knochen gegraben. Sie stecken in unserem Knochenmark wie Krebs. Falls der Junge überlebt, wird er sich an diese Schmerzen nicht erinnern wollen.

Das übernehme ich für ihn.

Ich erschrecke, als plötzlich Stevens Stimme hinter mir ertönt. »Drew? Was machst du denn hier?« Steven ist spindeldürr, hat eine dicke Knollennase und den Großteil seiner Haare zusammen mit dem Rest seines guten Aussehens in der Highschool zurückgelassen.

»Hey, Steven«, antworte ich betont beiläufig. Ich stehe langsam auf, ohne den verbrannten Jungen aus den Augen zu lassen, und verberge meine Beklommenheit hinter einem schiefen Grinsen. »Ich war auf dem Weg nach Hause und dachte, ich komm noch schnell vorbei, um Hallo zu sagen.«

»Schlechter Zeitpunkt, Junge.« Er hat einen Armvoll steriler Verbände dabei und sieht in die gleiche Richtung wie ich. Der Junge schreit. Steven zuckt zusammen. Manchmal denke ich, er ist viel zu sensibel, um Krankenpfleger zu sein.

Ich nicke abwesend. Stevens Worte dringen in meinen Gehörgang, aber ich nehme sie nicht wirklich wahr. Ich versuche, ihm zu antworten, doch das Feuer in den Schreien des Jungen verschlingt sämtlichen Sauerstoff hier im Raum.

Steven wirft einen Blick auf die Verbände in seinen Händen und sagt: »Ich sollte dann mal gehen.«

»Ich auch«, erwidere ich. »Ich hab morgen Frühstücksschicht. Sehen wir uns da?«

»Klar.« Bei der Erwähnung von Essen leuchten Stevens blaue Augen auf. »Sag Arnold, er soll die Eier ein bisschen länger kochen. Glibbrige Eier sind widerlich.«

Der Junge kreischt und Steven verschwindet. Seine Schritte, mit denen er in dem Tumor von Menschen verschwindet, die den Jungen umgeben, haben etwas Entschuldigendes.

Ich bleibe. Die Ärzte und Pflegekräfte drücken Bandagen auf versengte Haut. Nach den Atemwegen kommt das Verhindern von Infektionen auf Platz zwei ihrer Prioritätenliste. Ich kann nicht erkennen, wie viel von seiner Haut verbrannt ist, aber es ist auf jeden Fall genug. In Kürze werden sie ihn in einen anderen Bereich des Krankenhauses schieben. Kann sein, dass ich ihn danach nie wiedersehen werde. Ich kenne ja nicht mal seinen Namen.

Doch ich muss los. Der Tod kommt bald, wie immer. Vielleicht nimmt sie den Jungen mit, vielleicht auch nicht, aber ich darf dann auf keinen Fall mehr hier sein. Sie ist schon mal so spät gekommen und hat mich nicht erwischt. Aber den Fehler macht sie nicht noch mal und ich bin noch nicht bereit zu gehen.

Niemand sieht mich verschwinden. Wie auf Autopilot laufe ich durch das Krankenhaus. Es gibt Türen, die nur für Mitarbeiter sind, doch ich bin unsichtbar. Ich tue so, als könnte mich keiner sehen, und so werde ich auch nicht gesehen. Die Krankenhauswände haben kein Gedächtnis. Sonst würden sie unter all dem Leid hier zusammenbrechen. Es ist besser, wenn sie es gleich wieder vergessen.

Im ersten Stock, weit hinter der Chirurgie, gibt es eine Abteilung, die mitten während der Renovierungsarbeiten aufgegeben worden ist und jetzt langsam vor sich hin gammelt. Das war damals während der Wirtschaftskrise, als dem Haus das Geld ausgegangen ist. All die nackten Stützpfeiler und nur zur Hälfte hochgezogenen Trockenbauwände wurden sich selbst überlassen und verwesen jetzt wie vergessene Knochen. Die Luft ist von Staub und Verwahrlosung erfüllt. Außer mir kommt niemand je hierher. Niemand erinnert sich auch nur, dass es diesen Teil des Krankenhauses überhaupt gibt.

Ich schnappe mir die Taschenlampe, die ich immer neben der Tür abstelle. Sie wirft einen flachen Lichtkegel. Genug, um die Schatten zurückzudrängen, aber nicht genug, um sie vollständig zu vertreiben. Manchmal versuche ich, mich selbst auszutricksen, indem ich mir vorstelle, dass ich in meinem früheren Zuhause in meinem Bett liege und die anderen in ihren Zimmern vor sich hin träumen. Aber diese Illusion hält nie besonders lange an.

Das hier ist jetzt mein Zuhause.

Ich trotte in den hintersten Winkel, wo sich der einzige Raum befindet, der ansatzweise fertiggestellt worden ist. Er hat vier Wände und eine Tür ohne Klinke, die ich mit Klebeband verschließe. In den meisten Nächten fühle ich mich hier drin wie in einer Gefängniszelle.

Mein Bett hinten an der Rückwand besteht aus einem Haufen krumpeliger schmutziger Laken, auf dem es sich in etwa so bequem liegt wie auf einem Berg Steine. Mein Kissen ist ein Wäschesack, den ich mit alten Krankenhauskitteln ausgestopft habe.

Ich stecke mir meine Ohrstöpsel in die Ohren und höre Musik. Der Text ist auf Spanisch, daher verstehe ich kein Wort, aber das entspannte metallische Klimpern der Gitarre hat etwas Beruhigendes. Die Geräusche des Krankenhauses dringen selbst bis hier vor und das ganze Ächzen und Stöhnen um mich herum lässt mich nicht schlafen.

Der Tag war lang und ich bin müde. Es ist gerade mal acht Uhr abends, aber ich kann die Augen nicht mehr offen halten. In den meisten Nächten ist es genau umgekehrt; dann liege ich bis in die Morgenstunden wach, während ich flehe, dass der Schlaf mich endlich übermannt.

Erschöpfung hat etwas Befreiendes.

Bevor ich mich hinlege und die Realität davongleiten lasse, hole ich eine kleine Büchse unter meinem Kissen hervor. Sie hat die Farbe sonnengeküsster Haut und wiegt weit weniger, als sie sollte. Ich grabe meine Nägel unter den Rand und entferne den Deckel.

Das Erste, was mir entgegenkommt, ist der durchdringende Geruch von Leder. Altem Leder. Leder, das geliebt worden ist. Ich öffne den verblichenen braunen Geldbeutel und betrachte eine Weile das Foto in dem kleinen Plastiksichtfenster. Dann klappe ich ihn wieder zu und lege ihn neben mich. Unten, auf dem Boden der Büchse, liegen zwei goldene Ringe, ein Spielzeugpferd und ein goldenes Kreuz. Die fasse ich alle nicht an.

Ich schließe die Büchse wieder und lasse mich in mein provisorisches Kissen sinken. Ich halte den Geldbeutel fest und sehe das Bild an, bis ich einschlafe.

Aber meine letzten Gedanken gelten nicht der lächelnden Familie auf dem Foto. Sie gelten dem verbrennenden Jungen.

2. Unsichtbarkeit

Mittlerweile träume ich nicht mehr oft; ich zeichne stattdessen.

Ich schütte meine Albträume auf dem rauen Papier aus, das ich mir aus dem Altpapier der Rechnungsabteilung hole. Und ich höre zu. Ich lausche dem Flüstern und den Wortfetzen, die durch die kühle, antiseptische Luft schweben. Ich betrachte die flackernden Bilder, die in meinen Augenwinkeln auftauchen und gleich wieder verschwinden. Manchmal höre ich tagelang nichts und dann bricht es plötzlich über mich herein wie ein Tsunami, nur dass es sich anders als so eine Welle nicht wieder zurückzieht. Die Realität wird verdreht, bis meine Welt und die Welt meiner Erinnerungen, in der meine Familie noch am Leben ist, sich so sehr miteinander vermischen, dass ich nicht mehr weiß, was wahr ist.

Und dann ist da noch die Welt, die ich selbst erschaffe.

Mein Superheld hat einen Namen: Patient F. Bevor ich ins Krankenhaus gekommen bin, habe ich so gut wie nie gezeichnet. Nur irgendwelche Kritzeleien am Rand meiner Schulhefte. Aber mittlerweile zeichne ich ständig, fülle die Lücken zwischen den Minuten mit kräftigen Strichen und tief in den Höhlen liegenden Augen. Selbst, wenn ich es eigentlich gar nicht möchte.

Ich arbeite jetzt seit etwa einem Monat an der Geschichte von Patient F. Sie beginnt, bevor Patient F von der RAND Corporation gefangen genommen und für Experimente missbraucht wird. Patient F ist da noch ein ganz normaler Mann im Anzug, der all den langweiligen Dingen nachgeht, mit denen sich Männer im Anzug eben beschäftigten. Den Dingen, über die sonst niemand schreibt, weil alle wissen, dass Jungs sich nicht wirklich vor Clowns fürchten oder vor dreiäugigen Monstern mit langen Tentakeln, die aus den Tiefen eines Vulkans emporsteigen.Wenn Jungs nachts schreiend aufwachen, dann deswegen, weil sie wissen, dass sie früher oder später zu genau so einem Anzugträger werden und ihre Tage mit langweiligen Dingen verbringen müssen, bis sie von innen heraus verwesen. Bis ihre Haut verwelkt und aufbricht, sodass ihre Körperflüssigkeiten heraussickern und sie schließlich faulend und stinkend in ihrem Grab liegen und von der Welt vergessen werden, weil niemand sie für erinnerungswürdig hält.

Die Geschichte fängt an diesem Punkt an, weil es wichtig ist zu wissen, dass ein Superheld ohne Vergangenheit mal als Mann ohne Zukunft begonnen hat.

Für Patient F sind die Regeln der Zeit außer Kraft gesetzt. All die Schmerzen, die ihm von den Ärzten in ihren roten Laborkitteln mit ihren fünfzehn Zentimeter langen Nadeln und den glänzenden Knochensägen zugefügt werden, haben ihn vorübergehend von diesen Fesseln befreit. Er sieht, wer er war und zu was er werden wird, und er sieht all die Augenblicke dazwischen, die diese beiden Punkte miteinander verbinden. Seine gesamte Existenz breitet sich vor seinen Augen aus wie die Punkte in einem Pac-Man-Spiel, die er verschlingen muss, bevor die Gespenster ihn einholen und das Spiel vorzeitig beenden.

Als Patient F zum ersten Mal die Augen aufschlägt, ist er schon sein ganzes Leben lang Patient F. Er weiß, wer diese Männer sind und was sie ihm angetan haben. Er erinnert sich an den Mann im Anzug, auch wenn der Rest der Welt ihn vergessen hat. Er erinnert sich an jede einzelne Person, die er verloren hat, und auch an jeden, den sie ihm noch nehmen werden. Patient F hat eine Liste von Leuten, die er töten will. Er beginnt mit den Ärzten in den roten Laborkitteln.

Und arbeitet sich von dort aus vor.

So früh am Morgen ist das Krankenhaus still. Es schläft. Trotzdem huschen auch um diese Zeit vereinzelt Leute durch die Gänge – Pflegekräfte und Ärzte –, aber deren Routine kenne ich inzwischen. Der Wissenschaftler Werner Heisenberg suchte nach dem Chaos in geordneten Systemen, während ich die Ordnung in chaotischen Systemen gefunden habe. Chaos ist nur eine Ausrede für Menschen, denen die Geduld fehlt, die Muster zu erkennen.

Nicht weit von meinem Zimmer gibt es Duschen, die meistens leer sind. Darin riecht es nach Käsefüßen und Deo und der Wasserdampf hängt wie zäher Nebel in der Luft. Obwohl selten jemand herkommt, wasche ich mich zügig, um nicht erwischt zu werden. Dann durchstöbere ich die Schließfächer. Ich rede mir ein, dass ich kein Dieb bin, während ich ein weißes T-Shirt aus Nummer 13 und einen winzigen iPod aus Nummer 33 stehle. Aber das mache ich nur, weil ich keine andere Wahl habe. Bei meinem aktuellen iPod ist der Akku fast leer, und niemand denkt je daran, mal ein Ladegerät mitzubringen. Diesen iPod habe ich übrigens aus Schließfach Nummer 21; morgen früh lege ich ihn zurück. Die Ärzte haben normalerweise Wichtigeres im Sinn, als sich mit verlegten Gegenständen zu befassen.

Ich ziehe das weiße T-Shirt aus dem Schließfach an und die Jeans, die ich im Fundbüro entdeckt habe. Manchmal betrachte ich mich selbst als den Retter der verlorenen Dinge, jemanden, der sich all der Fundstücke annimmt.

Als ich mich angezogen, meine Zähne geputzt und mit den Fingern mein immer widerspenstiger werdendes Haar gekämmt habe, schleiche ich durch die Krankenhausflure in die Cafeteria. Das Roanoke General ist ein ausuferndes Gebäude, das deutlich unter mangelnder Planung leidet. Überall unfertige Flügel, die vergessen vor sich hin siechen. Es gibt hier so viele Flure, dass neue Pflegekräfte und Ärzte an ihrem ersten Arbeitstag zum Scherz ein Garnknäuel in die Hand gedrückt bekommen. Sie lachen darüber, aber spätestens, wenn sie ihren ersten Notruf bekommen und zehn Minuten brauchen, um aus dem Labyrinth herauszufinden, wünschen sie sich, sie hätten die Sache ernster genommen.

Ich habe mittlerweile eine vollständige Karte im Kopf und verirre mich nie. Ich weiß, wo sich all die verlassenen Räume befinden, wo die Geburtsstation und die Intensivstation liegen, wo sie die kranken Kinder unterbringen und wo sie die alten Leute verstecken, die wahrscheinlich nie wieder hier rauskommen. Ich bin der Sir Francis Drake des Krankenhauses und das hier ist mein Ozean.

Niemand achtet auf mich. Ich laufe mit den Händen in den Taschen und gesenktem Kopf durch die Flure und niemand schenkt mir einen zweiten Blick. Manche kennen mich schon, andere sind zu sehr damit beschäftigt, Krankenakten zu lesen oder auf ihren Handys herumzutippen, aber den meisten bin ich egal. Dazu habe ich eine Theorie. Ich glaube, dass Menschen, deren Beruf es ist, anderen zu helfen – Ärzte und Pfleger zum Beispiel oder Feuerwehrleute und Polizisten –, auch nur ein gewisses Maß an Freundlichkeit in sich tragen. Sobald sie einmal aufgebraucht ist, dauert es eine Weile, bis sich der Vorrat wieder füllt, und deswegen setzen sie sie bloß sparsam ein und ausschließlich gegenüber Leuten, die sie am dringendsten brauchen.

Ein junger Mann, der um fünf Uhr morgens durchs Krankenhaus läuft, hat für niemanden groß Bedeutung. Manchmal frage ich mich allerdings schon, ob die Leute mich überhaupt sehen können, und spiele mit dem Gedanken, mich einfach mal mitten in die Notaufnahme zu stellen, mit den Armen zu rudern und so laut zu schreien, wie ich kann. Einfach um zu sehen, was passiert. Ich mach’s aber nie. Viel zu riskant.

Arnold wartet bereits auf mich, als ich unter dem Rollgitter hindurch in die schwach beleuchtete Cafeteria schlüpfe. Er besteht darauf, dass alle ihn Arnold nennen statt Mr Jaworski, und wenn er besonders lustig sein will, spricht er es Ah-nold aus. Er ist selten lustig, was aber nicht daran liegt, dass er es nicht versucht.

»Du bist spät dran«, sagt er. Er tut so, als wäre er sauer deswegen, kriegt es jedoch nicht besonders glaubhaft hin. Das liegt an seinem Bart und dem Bauch. Selbst wenn er mit den Händen in den Hüften neben der Fritteuse steht und sich alle Mühe gibt, finster dreinzublicken, sieht er eher aus wie ein dickes rosa Knetmännchen als wie der Mann, der mich unter der Hand schwarz bezahlt, damit ich aufgewärmte Bratkartoffeln unter die Leute bringe.

Ich antworte nicht, sondern mache mich umgehend an die Arbeit. Ich fülle die Gewürzspender auf und schalte die Wärmelampen an. Die Cafeteria riecht nach gebratenem Speck und Eiern und einem Hauch von Marinarasoße. Bei diesem Duftmix fängt mein Magen an zu knurren. Wenn ich könnte, würde ich am liebsten hier übernachten. Der Rest des Krankenhauses hat diesen durchdringenden Geruch von Desinfektionsmittel, wogegen die Cafeteria eine Oase in der Duftwüste darstellt.

Aimee ist hinten und mit den Vorbereitungen beschäftigt. Sie spricht kaum mal zwei zusammenhängende Wörter mit mir und isst grundsätzlich nur, wenn niemand es mitbekommt. Ich hatte mal einen Hund, der war genauso. Wir haben ihn einen Tag, bevor er eingeschläfert werden sollte, aus dem Tierheim geholt. Die Leute dort meinten, er sei von seinen früheren Besitzern wohl misshandelt worden.

Ich habe auf Aimees spindeldürrem Körper nie irgendwelche Spuren von Gewalt entdeckt, aber wie bei ihrem Essverhalten bin ich sicher, dass es passiert.

Heute Morgen pfeift Arnold. Manchmal singt er, manchmal summt er. Heute pfeift er. Er erfindet seine eigenen Melodien auf Grundlage irgendwelcher Songfetzen, die er im Radio gehört hat. Die Töne trifft er dabei nur selten, doch trotzdem hört es sich am Ende ganz okay an. Wobei das im Grunde auch keine Rolle spielt: Arnold ist in dem Punkt so schamlos wie unmusikalisch.

Ich arbeite still vor mich hin, um nicht mit Arnold reden zu müssen. Wenn es etwas gibt, was er noch mehr liebt, als zu singen, dann ist das reden. Während meines Vorstellungsgesprächs hat er mich keine einzige Frage beantworten lassen. Stattdessen hat er mir von seiner Frau erzählt, die Anwältin ist, seinem Sohn, der Arzt wird, und seinem eigenen Master in Literatur. Das Einzige, was ich daran wirklich interessant fand, war die Tatsache, dass Arnold sechs Jahre aufs College gegangen ist, nur um jetzt in einer Krankenhauscafeteria zu arbeiten. Ich habe ihn allerdings nie gefragt, wie es dazu gekommen ist. Was Geheimnisse angeht, haben wir eine stille Übereinkunft.

Schließlich wird es Zeit aufzumachen. Aimee übernimmt die Kasse, während ich das Essen austeile. Das ist eine undankbare, langweilige Aufgabe, die es mir erlaubt zuzuhören. Obwohl ich vor aller Augen hinter der Trennscheibe stehe und wässriges Rührei auf Teller schöpfe, werde ich in dem Moment, in dem ich das alberne Haarnetz aufsetze, auf dem Arnold besteht, für die Leute zum Niemand. Immerhin besser, als unsichtbar zu sein.

Die meisten Gespräche drehen sich darum, welcher Arzt mit welcher Krankenschwester schläft, wer versehentlich einen Tupfer in einem Patienten vergessen hat oder wie oft Patient So-und-so mitten in der Nacht auf den Rufknopf gedrückt hat, obwohl er eigentlich hätte schlafen sollen. Triviales Zeug halt, das mich nicht die Bohne interessiert. Heute nutze ich die gleichförmigen Bewegungen, mit denen ich ein Tablett nach dem anderen volllade, um mich in eine Art Trance zu versetzen. Die Gesprächsfetzen wehen an mir vorbei, während ich sie nach Informationen über den verbrannten Jungen von gestern Abend durchsiebe.

Meine Gedanken kreisen um ihn, seit ich die Notaufnahme verlassen habe. Er hat sich tief in mein Gehirn gegraben und gärt dort nun vor sich hin.

Verbrennungen machen mir Angst. Damals, bei der Jugendfeuerwehr auf Wache 9, habe ich diesen Typen namens Smitty kennengelernt. Er war einer der coolsten Typen, die ich kannte. In seiner Freizeit ist er Motorrad gefahren und Fallschirm gesprungen und ohne Sicherungsseil irgendwelche Berge hochgeklettert. Smitty hatte keine Angst. Vor gar nichts.

Außer vor Verbrennungen. In seinem ersten Jahr als Feuerwehrmann wurde er in einem brennenden Haus von einem herabstürzenden Balken getroffen und eingeklemmt. Es brauchte drei Männer, um ihn zu befreien, und bis dahin hatte das Feuer bereits seinen Rücken verbrannt. Smitty zeigte mir Fotos von seinen Verletzungen und beschrieb mir die aufwendige Wundpflege und Hauttransplantationen bis ins kleinste Detail. Er sagte, es habe Tage gegeben, an denen er in einem fort durchgeschrien habe. Tage, an denen er den Tod mit offenen Armen empfangen hätte.

Und jetzt kann ich nicht anders, als mich die ganze Zeit zu fragen, ob der verbrannte Junge wohl gerade den Tod willkommen heißt – sogar dann noch, als Arnold mich anschnauzt, weil ich für Specknachschub sorgen soll.

Gleichzeitig weiß ich, dass das nicht sein kann. Weil Der Tod nämlich hier in einer Ecke steht und sich einen Becher Obstsalat genehmigt.

Es ist riskant, sie dabei so offen anzustarren. Sie hat meinen Namen auf ihrer Liste, und obwohl ich in Verkleidung vor ihr stehe, ist es nur eine Frage der Zeit, bis sie meine Maskerade durchschaut und dahinterkommt, dass ich nicht einfach bloß ein junger Mann bin, der schleimige Bratkartoffeln verteilt, sondern einer von denen, die sie längst hätte abholen sollen.

»Junge, wenn du nicht aufhörst, an mir vorbeizuglotzen, greif ich über die Trennscheibe da und zieh dir die Ohren lang.«

»Hey, Jo.«

Jo ist eine der Schwestern aus der Notaufnahme, die mir manchmal erlaubt, bei den guten Fällen zuzugucken. Sie hat die Statur eines Sumoringers, gierige braune Augen und jedes Mal, wenn sie lächelt, blitzt ihre Zahnspange auf. Gleich bei unserer allerersten Begegnung habe ich gelernt, dass sie jemand ist, mit dem man sich lieber nicht anlegen sollte. Sie gibt niemals auf, akzeptiert kein Nein und für einen Schokoriegel würde sie morden.

»Krieg ich hier irgendwann noch mein Essen oder muss ich mal ein ernstes Wörtchen mit deinem Vorgesetzten reden?« Jos Stirnrunzeln erstreckt sich über ihr gesamtes Gesicht.

Ich lasse die Kelle ins Rührei fallen und verschränke die Arme vor der Brust. »Ich behalte mir das Recht vor, meine Dienste gegebenenfalls zu verweigern«, sage ich. »Das gilt auch für dreiste Krankenschwestern.«

Jo und ich starren einander über die Trennscheibe hinweg an. Keiner von uns blinzelt, keiner gibt nach. Das hier ist die Berliner Mauer unter den Trennscheiben. Ich betrachte jede einzelne Falte auf ihrem Gesicht. Ich würde einen ganzen Tageslohn darauf verwetten, dass jede dieser Falten für einen Patienten steht, den sie verloren hat. Für jemanden, über dessen Tod sie zu Hause bittere Tränen vergossen hat, während sie ihren Kummer in einer Packung Eiscreme ertränkt und mit mehreren Stunden mieser Realityshows betäubt hat.

Jede dieser Falten hat einen Namen. Einer davon könnte der Name meines verbrannten Jungen sein.

»Ich bin heute echt zu hungrig, um mich auf deine Spielchen einzulassen, Drew.« Jo verdreht ihre großen braunen Augen und stupst ihr Tablett mit der Hüfte an. »Jetzt mach schon voll. Und sei bloß nicht knausrig mit dem Speck.«

Steven schiebt sich neben Jo in die Schlange und nimmt sich mit einer Plastikzange einen Bagel. Er ist heute besser drauf als gestern Abend; seine ganze Haltung ist irgendwie federnder, wodurch er mehr an einen Balletttänzer erinnert als an einen Krankenpfleger.

»Nimm dir die Worte der fiesen alten Jo nicht zu Herzen«, meint er. »Sie ist bloß schlecht gelaunt, weil sie gestern ein Feuerwerk aus Durchfall wegputzen musste, statt sich das echte Feuerwerk anzusehen.«

Jo haut Steven auf den Arm, während ich ihre Tabletts mit Essen volllade. Jo und Steven essen so ziemlich genau gleich viel, nur saugt sich bei Jo jedes Gramm Fett sofort an ihrem Hintern fest wie eine ausgehungerte Zecke, wohingegen Steven anscheinend nicht zunehmen kann – und damit immer gerne angibt. Am liebsten, wenn Jo in der Nähe ist. Und Kuchen.

Die zwei liefern sich ein kleines Wortgefecht, während ich weiter Essen austeile. Ich will sie gerade fragen, was sie über den Jungen von gestern Abend wissen, als Emma »Drew!« quiekt und zur Theke gerannt kommt. Ich glaube, wenn sie könnte, würde sie mich durch das Glas hindurch umarmen.

»Hey, Emma«, sage ich und zwinkere ihr zu. Emma ist ein nettes Mädchen, das mit Sitcoms und Werbefernsehen aufgewachsen ist. Sie ist das Gegenteil von Jo, der man ihren Kummer am Gesicht ablesen kann. Emma versteckt sich hinter einem breiten Lächeln und einem freundlichen Blick aus schlumpfeisblauen Augen.

Ich komme hinter dem Tresen hervor, um Emma zu umarmen. Unter dem beißenden Geruch von Desinfektionsmittel und Latex duftet sie immer ein bisschen nach Cookies.

»Und ich krieg keine Umarmung?«, fragt Jo.

»Der Junge hat Angst, unter deinem gewaltigen Busen verschüttet zu werden.« Steven zieht den Kopf ein und weicht Jos Hand geschickt aus.

Emma quetscht mir sämtliche Luft aus der Lunge, bevor sie mich loslässt. Aus dem Augenwinkel bemerke ich, wie mir Arnold vom anderen Ende der Essensausgabe aus einen finsteren Blick zuwirft, und renne schnell zurück an meinen Platz.

»Wie geht’s dir heute, Baby?«, fragt Emma.

Ich zucke mit den Schultern. »Isst du immer noch keine Kohlenhydrate?« Emma schüttelt den Kopf, also lade ich ihr eine doppelte Portion Rührei auf den Teller.

Jo versucht, sich heimlich ein Stück Speck von Emmas Tablett zu angeln, geht dabei aber nicht annähernd so geschickt vor, wie sie glaubt. »Jo, nimm deine diebischen Finger von meinem Speck oder ich breche sie dir.«

»Also«, sage ich, bevor Jo einen Streit mit Emma vom Zaun brechen kann, die trotz ihrer geringen Größe eine erbitterte Kämpferin ist. »Ist gestern Abend noch irgendwas Gutes reingekommen?«

Die drei Pflegekräfte sehen einander an und schieben ihre Tabletts dann einhellig zur Kasse weiter. Jo nimmt sich einen Becher Obstsalat aus dem Kühlschrank, als könne sie damit die siebenhundert hochgradig fetthaltigen Kalorien ausgleichen, die sie gleich vertilgen wird. Steven reißt die obere Hälfte seines Bagels ab und stopft sie sich in den Mund. Emmas Blick sagt deutlich: Verräter, bevor ihr Gesicht plötzlich aufleuchtet.

»Da war dieser eine Typ. Der mit der Schnittwunde am Arm.« Sie zwinkert den beiden demonstrativ zu. Trotzdem dauert es einen Moment, bevor sie auf ihren unbeholfenen Versuch anspringen, das eigentliche Thema zu umgehen.

Steven schnippt mit den Fingern und kippt dabei beinahe sein orangefarbenes Tablett um. Er schluckt seinen Riesenbissen Bagel runter und erwidert: »Richtig, der Mexikaner. Mit dem suppenden Arm.«

Jo lacht. »Ich glaube, mit dem Katheter hättest du ihn um ein Haar zurück in sein Heimatland gejagt.« Sie gibt Aimee ihre Kreditkarte und fragt: »Bis morgen dann, Drew?«

»Vielleicht.« Ich gebe momentan nur ungern feste Zusagen.

Steven wartet, bis Aimee sein Essen in die Kasse getippt hat, bevor er ein paar Geldscheine aus dem Gummibund seiner Arbeitshose zieht und sie ihr übergibt. Die Uniformen für die Notaufnahme leuchten in einem aggressiven Fuchsiarot, das die Pflegekräfte einhellig und aus vollem Herzen hassen.

Als Steven den Platz an der Kasse für Emma räumt, seufzt sie. »Du willst mehr über den Jungen von gestern Abend wissen, oder?«

»Emma …«, mahnt Steven.

Nicht über die Patienten reden. Das war eine der ersten Regeln, die sie uns bei der Jugendfeuerwehr beigebracht haben. Na ja, eingetrichtert trifft es wohl besser. Egal, ob Arzt, Krankenschwester oder Sanitäter – es ist nicht gestattet, mit Menschen, die nicht in den Fall involviert sind, über Patienten zu sprechen. Datenschutz und so.

Aber ich bezweifle, dass das der Grund ist, weswegen sie zögern, mir etwas über den verbrannten Jungen zu sagen.

»Früher oder später kriegt er es doch sowieso mit.« Emma seufzt erneut. »Ein paar Kids aus seiner Schule haben ihn angezündet.« Sie platzt einfach so damit raus, ohne es mit einer dicken Schicht Zuckerguss zu versüßen, was seltsam ist, weil sie Süßes doch sonst so gerne mag. »Sie haben den Jungen mit Alkohol übergossen und dann ein Streichholz drangehalten.«

Steven mustert mich mit dem gleichen abschätzenden Blick wie meine Mom damals, als ich zum ersten Mal einen Horrorfilm geguckt habe. Ich hatte sie wochenlang angebettelt, weil ich unbedingt Dream TerrorIX sehen wollte. Als sie schließlich nachgab, saß sie die gesamte Zeit neben mir, mit einem Auge beim Film, das andere unablässig auf mich gerichtet, während sie darauf wartete, dass mir das Ganze zu gruselig wurde. Ich verzog keine Miene, doch hinterher hatte ich einen Monat lang Albträume.

Falls Steven sich Sorgen macht, dass ich wegen des verbrannten Jungen Albträume haben könnte: Dafür ist es längst zu spät. Aber da ich das Resultat schon kenne, kann ich ja auch die Ursache erfahren.

»Warum haben sie ihn angezündet?«, frage ich.

Steven gibt sich geschlagen. »Die Polizei vermutet ein Hassverbrechen.«

»Geschehen Verbrechen nicht immer aus Hass?«

»Weil er schwul ist«, erklärt Steven.

»Oh.«

Jetzt verstehe ich, warum Steven und die anderen das vor mir geheim halten wollten. Sie wollten nicht, dass ich es mir persönlich zu Herzen nehme.

Doch zu wissen, dass ihm das jemand angetan hat, macht die Situation in meiner Erinnerung nur noch tragischer. Es fühlt sich an, als würde diese neue Erkenntnis in der Zeit zurückreisen und dem Ganzen mehr Schwere verleihen.

»Kennst du ihn?«, erkundigt sich Emma und ich frage mich, warum. Vielleicht habe ich meine Gefühle zu sehr nach außen dringen lassen.

»Wir kennen uns nicht alle untereinander«, entgegne ich unwirsch.

Steven versucht, die Stimmung mit einem amüsierten Glucksen aufzuheitern, das allerdings eine Oktave höher ausfällt als sein normales Lachen. Wir wissen alle, dass es aufgesetzt ist, spielen aber trotzdem mit – Emma, weil sie nicht weiß, wie sie sich sonst verhalten soll, und ich, weil ich keine Ahnung habe, was ich mit der neuen Information anfangen soll.

Der verbrannte Junge ist nicht bloß eine weitere Krankenhaustragödie, ein Vierter-Juli-Feuerwerksunfall. Er ist ein Opfer.

Ich zeige auf Jo, die uns mit unverhohlener Wut anfunkelt. »Du solltest das essen, bevor es kalt wird.«

Emma schnappt sich ihr Tablett, als sei das alles keine große Sache. Nichts Besonderes. Der verbrannte Junge ist nichts Besonderes. Ich wünschte, ich wüsste, wie sie das macht. »Ciao, Süßer. Wir sehen uns.«

»Worauf du einen lassen kannst«, erwidere ich, bemüht, so unbekümmert wie sie zu wirken.

Steven bleibt noch einen Moment stehen. Als Emma außer Hörweite ist, meint er: »Ich wollte nicht, dass du es auf diese Weise erfährst.«

»Es ist ja nicht so, als würde ich ihn kennen.« Und das stimmt auch – ich kenne ihn wirklich nicht. Trotzdem tut es deswegen kein bisschen weniger weh.

»Ich sollte dann mal los«, sagt er. »Kommst du klar?«

Ich setze ein Lächeln auf und winke zum Zeichen, dass er ruhig gehen kann. »Mir geht’s gut.«

Steven nickt und setzt sich in Bewegung, um Emma und Jo zu folgen. Er ist keine zwei Schritte weit gekommen, als es aus mir herausplatzt: »Wie heißt er?«

»Drew …«

»Ich krieg’s so oder so raus.«

Steven lässt den Kopf hängen und betrachtet einen Augenblick lang sein glibbriges Rührei. »Rusty«, antwortet er schließlich. »Rusty McHale.« Er schlurft zu seinem Platz, scheint aber das Interesse an seinem Essen verloren zu haben.

Ein paar Ärzte stellen sich in die Schlange und unterhalten sich dabei über irgendeine ganz besonders spannende Fettabsaugung. Ich blende sie aus.

Der verbrannte Junge hat jetzt einen Namen. Plötzlich frage ich mich, wie es ihm wohl gehen mag. In dem Moment bemerke ich, wie Der Tod sich von ihrem Tisch hinten in der Ecke erhebt. Sie hat lange dunkle Beine und um ihren Hals trägt sie einen Schal mit Blütenmuster. Sie sammelt ihre Abfälle feinsäuberlich zusammen und wirft sie in den Mülleimer, bevor sie davonschreitet. Ich hoffe, dass sie nicht vorhat, dem verbrannten Jungen einen Besuch abzustatten.

Rusty.

»Kennst du sie?«, fragt Aimee. So viele Wörter auf einmal habe ich noch nie aus ihrem Mund kommen hören. Sie lebt in Einsilbistan, in einem Haus aus Jas und Neins.

Ich schaue zu dem Tisch, an dem Der Tod gerade noch gesessen hat. »Nein«, antworte ich. »Und ich gebe mein Bestes, es dabei zu belassen.«

3. Übermenschliche Intelligenz

Die Leute sind satt und damit ist meine Arbeit getan.

Bevor ich gehe, gibt Arnold mir meinen Lohn. »Warum setze ich doch gleich noch mal meine Existenz aufs Spiel, indem ich dich schwarz bezahle?« Er überreicht mir den Umschlag und ich stopfe ihn in meine Gesäßtasche, ohne mir die Mühe zu machen, vorher nachzuzählen. Es stimmt immer auf den Cent genau und so nett es auch sein mag, Geld zu haben, bedeutet es mir nichts.

»Meine Eltern erlauben mir nicht zu jobben«, antworte ich. »Aber ich brauche das Geld fürs College.« In meinem Vorstellungsgespräch musste ich nur einmal das Wörtchen »College« fallen lassen und Arnold konnte mir den Job gar nicht schnell genug anbieten.

»Was glauben deine Eltern, wo du bist?«

Ich klemme das Skizzenbuch unter meinen Arm. Es quillt vor lauter Zeichnungen und Notizen zu Patient F förmlich über. Auch wenn ich die Notizen eigentlich gar nicht brauche. »Bei meiner Oma.«

»Aha«, sagt Arnold. »Liegt deine Oma denn wirklich hier?«

»Wo denn sonst?« Ich grinse. »Zimmer 1184. Eleanor Brawley.«

»Vielleicht überprüfe ich das bei Gelegenheit mal.«

»Tun Sie sich keinen Zwang an«, erwidere ich. »Ihre Soße kocht.« Ich zeige auf den größten Topf Marinarasoße, den ich je gesehen habe. Das Gebräu darin blubbert fröhlich vor sich hin und spritzt die Wand mit roten und orangefarbenen Ölklecksen voll. Arnold brummt etwas in sich hinein, was ein bisschen wie ein Schimpfwort klingt, vermutlich aber keins ist. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich Arnold noch nie habe fluchen hören. Nicht mal an dem Tag, als mir eine komplette Schale Makkaroni-Käse-Auflauf auf den Boden gefallen ist. Ich habe geflucht. Arnold hat einen lahmen Witz gerissen.

Während Arnold sich um seine Soße kümmert, schleiche ich nach draußen. Der Krankenhausgeruch trifft mich wie ein Schlag ins Gesicht, als ich aus der Cafeteria auf den sauberen weißen Gang hinaustrete.

Ich streife durch die Flure, ohne zu wissen, wohin. Ich bin ein Segelschiff, das sich von den Winden übers Meer treiben lässt, wie es ihnen gerade beliebt. Diese Winde flüstern Rustys Namen und so strande ich schließlich vor dem Eingang zur Intensivstation und linse durch den Spalt zwischen den beiden Türflügeln.

Auf der Intensivstation bringen sie die hoffnungslos Kranken unter, diejenigen, die sich mit letzter Kraft ans Leben klammern und kurz davor sind abzurutschen. Die Patienten, die am wahrscheinlichsten bald Besuch vom Tod auf ihren langen Beinen erhalten werden. Deshalb verbringe ich auch nicht allzu viel Zeit in diesem Bereich des Krankenhauses.

Ich wende mich zum Gehen. Rusty ist bloß ein armer, verbrannter Junge, der den Tag vermutlich nicht überleben wird. Es gibt keinen Grund für mich hierzubleiben.

Und trotzdem rühre ich mich nicht vom Fleck.

Auf dem Flur vor der Intensivstation herrscht Windstille und so dümpele ich antriebslos vor mich hin.

Die Türen gehen nach innen auf. Ich drücke mich an die Wand, um zu vermeiden, dass mich jemand sieht. Eine Krankenschwester in himmelblauer Uniform schiebt eine ältere Dame mit einer Sauerstoffmaske auf dem Gesicht an mir vorbei, ohne auch nur zu mir rüberzuschauen. Als sich die automatischen Türen wieder schließen, husche ich schnell hindurch und ins erste leere Zimmer, das ich finden kann. Der Aufbau der Intensivstation ähnelt dem der Notaufnahme: ein ovaler Raum, der einen Empfangstresen umringt wie ein eiförmiges Rad. Aber die Intensivstation sieht schöner aus, alles hier ist neuer. Überall stehen Monitore, die vor sich hin piepsen und zirpen, um den Pflegekräften mitzuteilen, dass ihre Patienten noch am Leben sind.

Zwei Krankenschwestern überwachen die Monitore mit einer Effizienz, die ich so beeindruckend wie furchterregend finde. Sie sind mehr Roboter als Menschen. Anders als bei meinen Pflegekräften in der Notaufnahme gibt es hier keine Schwätzchen, keine Witze. Die Schwestern auf der Intensivstation reden so gut wie gar nicht, und wenn sie es doch mal tun, dann immer in ernstem Tonfall.

Wenn mich eine dieser Schwestern hier entdeckt, werde ich mir vermutlich noch wünschen, dass Der Tod mich als Erste erwischt hätte.

Ich linse zwischen den beigefarbenen Vorhängen hindurch, weil ich rausfinden will, wo sie Rusty untergebracht haben. An der Wand hängt ein riesiger Monitor, auf dem Namen und Messwerte aufgelistet sind. Ich suche nach McHale und finde ihn auch. Hier ist er bloß eine Reihe von Zahlen. 97. 100/65. 36,5. 225. Puls, Blutdruck, Körpertemperatur und möglicherweise seine Zimmernummer. Ich weiß nicht, ob diese Zahlen etwas Gutes oder Schlechtes verheißen, aber immerhin bedeuten sie, dass der verbrannte Junge immer noch am Leben ist.

Die Krankenschwester, die mir mit der älteren Dame entgegengekommen ist, kehrt mit einem dampfenden Styroporbecher zurück. Wahrscheinlich Kaffee. Keine dieser Schwestern kommt mir bekannt vor, doch das heißt nicht zwangsläufig, dass ich sie noch nie gesehen habe. Ich schenke ihnen normalerweise genauso wenig Beachtung wie sie mir.

Die Schwester sagt etwas zu den anderen, was ich nicht hören kann, aber ich sehe deren Antwort: ein knappes Nicken.

Schwester Kaffeebecher betritt einen der Räume, während die anderen beiden draußen warten. Als sie zurückkommt, hat sie zwei Leute im Schlepptau, einen Mann und eine Frau, die beide ziemlich fertig aussehen. Sie sind zwar irgendwie da, mehr aber auch nicht, als würden sie sich gerade noch so ans Hier und Jetzt krallen. Ich werfe einen Blick auf die Zimmernummer: 225. Das müssen Rustys Eltern sein. Sie sind alt, aber nicht so alt, wie sie erscheinen: mit einem Schlag von vierzig auf fünfundsechzig.

Die anderen Schwestern huschen auf leisen Sohlen in Rustys Zimmer, während Schwester Kaffeebecher mit den McHales spricht. Rustys Eltern klammern sich an ihre Worte, als wären sie ein Hafen im Sturm. Ich stelle mir vor, dass sie zu ihnen sagt: »Ihr Sohn ist in guten Händen. Sie sind müde. Gehen Sie in die Cafeteria und trinken Sie einen Kaffee. Essen Sie eine Kleinigkeit.« Ich sollte sie warnen, dass sie von den Spaghetti lieber die Finger lassen sollten.

Während Schwester Kaffeebecher die McHales von der Station führt, schieben die anderen beiden Rusty aus dem Zimmer. Ich erhasche nur einen kurzen Blick auf ihn, aber ich kann ihn stöhnen hören. Die McHales zögern und drehen sich zu ihrem Sohn um. Schwester Kaffeebecher führt sie entschlossen nach draußen, damit sie gar nicht erst auf die Idee kommen, es sich anders zu überlegen. Was auch immer jetzt gleich passiert, sie will nicht, dass sie dabei sind. Vielleicht wegen Rusty, wahrscheinlich aber ihnen zuliebe. Die McHales bringen es sichtlich kaum übers Herz, jetzt zu gehen, aber sie tun es trotzdem. Möglicherweise gehen sie ja wirklich in die Cafeteria. Oder sie fliehen aus dem Krankenhaus und kommen nie mehr wieder. Ich könnte es ihnen nicht verdenken.

Schwester Kaffeebecher sagt etwas zu den anderen, bevor sie Rusty wegschieben. Als sie verschwunden sind, lässt sie den Kopf hängen. Vermutlich hat sie während der Kaffeepause versucht, sich einen Schutzpanzer zuzulegen, indem sie sich eingeredet hat, dass der Junge kein Kind ist, sondern Teil ihres Jobs. Doch der Panzer ist nicht annährend so dick, wie er sein müsste. In ihrer Position ist es eine Schwäche, sich so offen um jemanden zu sorgen.

Im nächsten Moment geht das Geschrei los. Unmenschliches, monströses Geheul. Bestimmt quälen die Schwestern dort hinten irgendein wildes Tier und nicht meinen verbrannten Jungen.

Aber natürlich ist er es, der da schreit, egal, wie sehr ich auch versuche, mich selbst zu belügen.

Als Rustys gellende Schreie in hysterisches Schluchzen übergehen und er immer wieder nach seinen Eltern ruft, die ihn so kaltherzig hier zurückgelassen haben, streicht sich Schwester Kaffeebecher die imaginären Falten aus der Uniform und trottet in Richtung der Folterkammer, in die ihre Kolleginnen Rusty verschleppt haben.

Noch eine Minute und ich halte es nicht länger aus. Meine Hände sind so fest zu Fäusten geballt, dass die Knöchel weiß hervortreten. Meine Fingernägel graben sich tief in meine Handflächen, wo sie kleine halbmondförmige Druckstellen hinterlassen, die schon bald vollkommen schmerzlos wieder verschwinden werden. Anders als Rustys Schreie, die mich noch verfolgen, als ich aus der Intensivstation stürme und durch die Flure davonrenne.

Es gibt nur einen Ort, wo ich jetzt hinwill. Einen Augenblick lang lehne ich mich gegen die Wand, um wieder zu Atem zu kommen. Rusty aus meinen Gedanken zu vertreiben, ist schwierig, eigentlich unmöglich. Ich versuche, mir vorzustellen, dass er Patient F ist, der gegen seine Fesseln kämpft, während die Ärzte in ihren roten Laborkitteln ihre Experimente an seinem zerschundenen Körper durchführen. Doch selbst wenn ich ihn in meinem Geist als Superhelden zeichne, macht das seinen Schmerz nicht weniger real.

Meine Füße tragen mich wie von selbst in die Pädiatrie. Hier ist alles viel bunter und fröhlicher. Der Rest des Krankenhauses ist so gestrichen, dass man auch ja nicht vergisst, dass man sich an einem ernsthaften Ort befindet, wo ernsthafte Dinge geschehen und ernsthafte Menschen arbeiten. Auf der Kinderstation dagegen herrscht eine wilde Mischung aus Farben, Clowns, Blumen und Spielzeug vor. Im Grunde könnte es der coolste Ort im ganzen Krankenhaus sein, wenn die kranken Kinder nicht wären.

Schwester Merchant sitzt an einem kleinen, unauffälligen Schreibtisch und füllt Krankenakten aus. Hier unten bemühen sie sich nach Kräften, ihren Patienten nicht permanent ins Bewusstsein zu rufen, dass sie sich in einem Krankenhaus befinden, aber natürlich ist das alles auch nur eine billige Illusion, die nicht über die Wahrheit hinwegtäuschen kann.

»Hey, Schwester Merchant«, sage ich. Ich versuche, mir ein Lächeln abzuringen, doch mehr als ein müdes Zucken der Mundwinkel bringe ich nicht zustande.

»Drew.« Schwester Merchants Lächeln reicht für uns beide. Sie strahlt die Ernsthaftigkeit einer Mom aus, auch wenn ich nicht weiß, ob sie alt genug ist, um selbst schon Mom zu sein. »Wie geht’s dir, Schätzchen?«

Ich schiebe die Hände in die Hosentaschen und zucke mit den Schultern. »Gut, denke ich.«

Schwester Merchant legt ihren Stift beiseite und schenkt mir ihre volle Aufmerksamkeit. Sie ist ziemlich hübsch und erinnert mich immer irgendwie an Marilyn Monroe, obwohl sie braunes Haar hat, das sie zu einem Zopf gebunden trägt. Manchmal versuche ich, sie mir außerhalb des Krankenhauses vorzustellen, aber das funktioniert nicht. Sie lebt hier, genau wie ich.

»Das ist schön«, erwidert sie. »Was macht deine Grandma?«

»Liegt immer noch im Koma.« Der Witz zündet nicht, also wechsle ich schnell das Thema. »Wie geht es Trevor und Lexi?«

»Trevor hatte eine schlimme Nacht, aber Lexi war in aller Herrgottsfrühe munter.«

»Wie immer«, sage ich. Eigentlich meine ich damit Lexi, doch in letzter Zeit trifft es auch auf Trevor zu. »Kann ich zu ihnen?«

Schwester Merchant sieht zu Trevors Zimmer hinüber. »Lass Trevor lieber noch ein bisschen ausschlafen. Aber Lexi könnte eine Pause gebrauchen. Sie büffelt gerade. Mal wieder.« So, wie Schwester Merchant »mal wieder« betont, brauche ich gar nicht nachzufragen, um zu wissen, was sie meint.

»Ich kümmere mich darum«, verspreche ich und diesmal fällt mir das Lächeln schon leichter.

»Das ist lieb. Versuch mal, ob du sie auch dazu bringen kannst, etwas zu essen.« Schwester Merchant widmet sich wieder ihren Akten und ich gehe in Lexis Zimmer. Ich gehöre nicht zur Familie, also dürfte ich eigentlich gar nicht hier sein, aber auf der Kinderstation werden die Regeln ein bisschen weniger streng gesehen. Hier ist alles willkommen, was die Patienten glücklich macht, und dazu zähle auch ich.

In Lexis Zimmer sind die Jalousien hochgezogen. Sie sind immer hochgezogen, selbst nachts. Die Aussicht ist nicht besonders toll: ein paar Stromleitungen, ein nichtssagendes graues Bürogebäude und ein heruntergekommenes Fast-Food-Restaurant. Das Meer ist keine drei Kilometer entfernt, aber von Lexis Zimmer aus kann man es nicht sehen. Eigentlich gibt es bei dem Panorama keinen Grund, die Jalousien hochzuziehen, doch Lexi besteht darauf und hat geschworen, jeden mit einem lebenslangen Fluch zu belegen, der versucht, sie runterzulassen.

Lexi ist nicht die Art von Mädchen, die einem in den Sinn kommt, wenn man an eine Krebspatientin denkt. Sie ist nicht supertapfer oder irgendwie schräg. Sie ist weder der coole Indie-Typ noch scheint ihr permanent die Sonne aus dem Arsch, egal, wie schlimm die Dinge auch stehen. Sie ist ein Bücherwurm und eine von diesen wissbegierigen Strebern, die sich ernsthaft darüber freuen, wenn sie über das verlängerte Wochenende zusätzliche Englischhausaufgaben aufbekommen.

»Was geht, A-Dog?«, fragt Lexi, ohne von dem Buch aufzusehen, das sie mit ihren blutunterlaufenen braunen Augen verschlingt. Sie ist dünner als eine Spaghettinudel und neben ihr auf dem Nachttisch steht eine Schüssel mit Haferbrei, die sie nicht mal angerührt hat. Am liebsten würde ich mir den Löffel schnappen und sie gewaltsam damit füttern, aber so kommt man bei Lexi nicht weiter.

»A-Dog?«, erwidere ich noch auf der Türschwelle.

»Nicht gut?«

»Mir gefällt Drewfus besser.«

Lexi sieht aus dem Augenwinkel zu mir rüber. »Warum überrascht mich das nicht?«

»Weil du das Genie bist, das alles weiß.« Ich betrete das Zimmer und reibe Lexi über den kahlen Schädel, bevor sie mich davon abhalten kann.

»Wieso wollen mir die Leute immer den Kopf reiben? Ich bin nicht Buddha, Alter.«

Ich wackele vielsagend mit den Augenbrauen. »Mädchen mit Glatze sind scharf.«

»Ach, bitte.« Lexi lehnt sich in ihr Kissen zurück, klappt das Buch aber immer noch nicht zu. Ich wette, sie glaubt, sie könne heimlich weiterlesen, während ich rede.