Die Perlenfischerin - Sabine Weiß - E-Book

Die Perlenfischerin E-Book

Sabine Weiß

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Beschreibung

Norddeutschland, an der Wende zum 13. Jh.: Bei der Zerstörung der alten Handelsstadt Bardowick wird die kleine Ida vom Rest ihrer Familie getrennt. Fortan wächst sie bei einer Einsiedlerin am Ufer des Flusses Ilmenau auf. In der Natur findet Ida Trost, und sie entwickelt ein Talent dafür, kostbare Perlmuscheln zu finden. Als sie Jahre später mehr über ihre wahre Herkunft erfährt, macht Ida sich gemeinsam mit ihrer Jugendliebe, dem Slawen Esko, auf die gefahrvolle Suche nach ihrer Familie. Ihr erstes Ziel: das noch junge Lübeck ...

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Inhalt

Cover

Über dieses Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

Zitate

Widmung

Personenverzeichnis

Prolog

1

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Epilog

Karte

Glossar

Anmerkung und Dank

Über dieses Buch

Norddeutschland, an der Wende zum 13. Jh.: Bei der Zerstörung der alten Handelsstadt Bardowick wird die kleine Ida vom Rest ihrer Familie getrennt. Fortan wächst sie bei einer Einsiedlerin am Ufer des Flusses Ilmenau auf. In der Natur findet Ida Trost, und sie entwickelt ein Talent dafür, kostbare Perlmuscheln zu finden. Als sie Jahre später mehr über ihre wahre Herkunft erfährt, macht Ida sich gemeinsam mit ihrer Jugendliebe, dem Slawen Esko, auf die gefahrvolle Suche nach ihrer Familie. Ihr erstes Ziel: das noch junge Lübeck …

Über die Autorin

Sabine Weiß, Jahrgang 1968, arbeitet nach ihrem Germanistik- und Geschichtsstudium als Journalistin. 2007 veröffentlichte sie ihren ersten Historischen Roman, der zu einem großen Erfolg wurde und dem viele weitere folgten. Im Sommer 2017 erscheint ihr erster Kriminalroman, »Schwarze Brandung«. Unabhängig davon, ob sie gerade einen Krimi oder einen Historischen Roman schreibt: Sabine Weiß liebt es, im Camper auf den Spuren ihrer Figuren zu reisen und direkt an den Schauplätzen zu recherchieren. Sie lebt mit ihrer Familie in der Nordheide bei Hamburg.

Sabine Weiß

Die Perlenfischerin

HISTORISCHER ROMAN

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Copyright © 2019 by Bastei Lübbe AG, KölnLektorat: Dr. Stefanie HeinenTextredaktion: Dr. Ulrike Strerath-Bolz, FriedbergUmschlaggestaltung: Johannes Wiebel | punchdesign, MünchenUnter Verwendung von Motiven von © akg-images und © shutterstock: Marben | Poter_N | Roberto CastilloKarte: Markus Weber, Guter Punkt, München E-Book-Produktion: two-up, Düsseldorf

ISBN 978-3-7325-6140-7

www.bastei-entertainment.dewww.lesejury.de

Wir steigen in denselben Fluss und doch nicht in denselben,wir sind es, und wir sind es nicht.

Heraklit, Fragmente

Es war schön verziertUnd prächtig geschmücktMit Perlen und Bändern.

Heinrich von Veldeke im Eneasroman über Didos Jagdgewand

Die Flussperlmuschel, deren Schönheit ich in Die Perlenfischerin feiere, ist heute vom Aussterben bedroht und auf der Roten Liste der gefährdeten Arten. Nur konsequenter Naturschutz kann die Flussperlmuschel retten, deshalb danke ich allen, die sich für den natürlichen Erhalt unserer Flüsse und Bäche einsetzen. Ihnen ist dieser Roman gewidmet.

Personenverzeichnis

Die Perlenfischerin ist eine Reise in eine faszinierende, bewegte Epoche. Das zwölfte und dreizehnte Jahrhundert waren Zeiten des Umbruchs, auch in der Ritterschaft. Damals drehte sich das Rad der Fortuna unaufhörlich. Ein Bauer konnte zum Ritter aufsteigen, ein Ritter zum Bauern herabsinken. Viele hörige Dienstmannen, die sogenannten Ministerialen, wurden je nach Talent, Willen oder Schicksal zu Edelfreien oder zu Bürgern. Der besseren Lesbarkeit halber habe ich aber zum Teil »Adeliger« und »Ritter« synonym verwendet.

Ida, Perlenfischerin

Gerold Ostmann, ihr Vater und Baumeister

Magda, ihre Mutter

Bendix, ihr Bruder und Goldschmied

Neslin, Wurzelweib

Esko, ein junger Slawe

Otmar und Rasmoda, seine Eltern

Svea und Arndt, seine Geschwister

Jusarius von der Heien, Edelmann

Lentz, sein Schildknecht

Historische Persönlichkeiten:

Kaiser Otto IV.

Wilhelm von Lüneburg

Helena von Dänemark

Pfalzgraf Heinrich

Otto iuvenis, auch genannt Otto das Kind

Kaiser Friedrich II.

Hermann von Salza

Heinrich von Schwerin

Winno von Rohrbach

Prolog

Tiefblauer und smaragdgrüner Grubenschmelz schimmerten durchscheinend auf dem Edelmetall, ganz so, als sähe man direkt auf einen Fluss. Die Perlen waren wie hingetupft. Sie hatte nicht gewagt, den juwelengeschmückten und mit Silber beschlagenen Prachteinband anzurühren, sondern nur ihre Augen über die Oberfläche wandern lassen. Nun strich sie doch sanft über das Perlmutt. Warum denn nicht? Perlen liebten die Haut, sie wollten getragen werden, sonst vergingen sie, lösten sich auf und wurden zu Sternenstaub. Behutsam hob sie den schweren Deckel an. Das Buch darunter war dünn, ein Bändchen nur. Unter ihren Fingern knisterte das Pergament wie brechende Eierschalen. Die Buchstaben waren kleine Kunstwerke, von liebevoller Hand gemalt.

Das Buch der Perlen, las sie.

Über die Perlen und ihre Schöpfung und warum sie allen Heiligen, Kaisern und Edlen als Schmuck dienen. Von den Legenden und Geschichten dieser Schätze der Natur sowie ihrer Verwendung zu Gottes Ruhm und des Menschen Freude.

Die Wertschätzung des Allerhöchsten ist es, die es mich wagen lässt, diese Zeilen niederzuschreiben, denn Perlen finden schon Erwähnung in der Heiligen Schrift. So wird in der Offenbarung die heilige Stadt Jerusalem beschrieben:

»Und die zwölf Tore waren zwölf Perlen

und jedes Tor war aus einer einzigen Perle

und der Marktplatz der Stadt war aus reinem Gold

wie durchscheinendes Glas.«

Die Heiligkeit der Perlen zeigt sich auch an den Gewändern, in die die Päpste und die Höchsten dieses Reiches gehüllt werden. Mit Hunderttausenden von Perlen sind die Gewänder des Kaisers und des Königs geschmückt, wenn diese in ihren heiligen Stand erhoben werden. Wer einmal den perlenübersäten Mantel oder die perlengetupften Handschuhe des Krönungsornats gesehen hat, wird diesen Anblick nie vergessen. Perlen zieren Altarkreuze und Kelche, Broschen und Ringe, Schwerter und Helme.

So stehen die Perlen also, diese lieblichen Kinder der Muschel, zwischen Himmel und Erde, zwischen Wunder und Wahrheit, zwischen Leben und Tod. Sie heilen die Krankheiten des Herzens, des Leibes und des Geistes. Derart begehrt sind Perlen, dass sie der Gegenstand von Liebe und Hass sein können. Ja, für Perlen soll sogar getötet worden sein …

Die Bilder, die diese Worte in ihr wachriefen, überwältigten sie. Perlenschmuck auf dem nackten Leib einer Frau. Rote Blutspritzer auf dem weißen Schimmer der Perlen. Eine Perle auf der welken Haut einer Toten. Ihr Blick verschwamm, und beinahe wäre eine Träne auf das kostbare Pergament gefallen.

1

Bardowick, im Jahre 1189 nach der Fleischwerdung des Herrn, 26. Oktober

Wenn doch das Seil um ihren Bauch nicht wäre, das sie zurückhielt! Ida zerrte an dem Hanf, kam aber keinen Schritt tiefer in den Fluss. Nur ein kleines Stück fehlte. Sie streckte sich noch einmal. Als es ihr endlich gelang, das Leinenhemd in die Strömung zu halten, war die Sechsjährige so gebannt von dem Anblick, dass sie kaum mehr spürte, wie ihr Körper eingeschnürt wurde. Immer neue Formen und Muster nahm der Stoff im Spiel der Wellen an. Wolkengleich waberte er, verwandelte sich in ein Schiff und gleich darauf in ein springendes Pferd.

»Ida, bist du denn noch nicht fertig? Deine Hände und Füße sind bestimmt schon halb erfroren!«

Das war ihre Mutter! Vor Schreck ließ Ida das Hemd los. Oje, sie hatte geträumt! Das Hemd sank, verschwand beinahe in den Strudeln, gerade noch konnte sie den letzten Zipfel packen. Wieder schaute sie den Bildern zu, die der Fluss ihr vor Augen stellte.

»Obacht!«, schrie ihre Mutter.

Im gleichen Augenblick wurde Ida am Seil zurückgerissen. Wasser spritzte auf ihren hochgeschürzten Kittel.

Ihr Bruder stand am Ufer, das Seil in den Händen. »Siehst du den Prahm denn nicht, Trödeltrine?«, fragte Bendix. Bis an den Rand war das Boot mit Salzfässern beladen und hielt direkt auf sie zu.

»Aua! Das tut doch weh!«, schimpfte Ida.

Es war doch gar nichts passiert! Was Bendix sich einbildete! Dabei war er gerade mal acht, bloß zwei Jahre älter als sie. Ida fuhr mit der Zunge in die Zahnlücke, die ihre Vorderzähne hinterlassen hatten. Da war er, der neue Zahn; eine Spitze schaute schon heraus. Bald war sie groß, dann konnte sie machen, was sie wollte. Dann musste sie nicht mehr am Flussufer festgebunden werden. Sie konnte es kaum erwarten!

Ida stakste an den Frauen vorbei, die ebenfalls an der Furt wuschen oder Wasser holten.

Ein Pferd wieherte nervös. Wie immer warteten an der Hügelburg am anderen Ufer der Ilmenau Frachtwagen darauf, nacheinander die schmale Holzbrücke zu überqueren, die einzige weit und breit. Pferden machte der breite Fluss ebenso viel Angst wie ihre Mutter; Magda sagte immer, die Ilmenau sei unberechenbar. Auch Ida hatte schon gesehen, wie ein Reiter in der alten, halb vergessenen Furt weggespült worden war – im Nu hatten die Fluten das kräftige Pferd mitgerissen. Das angstvolle Wiehern des Tieres war das Schrecklichste gewesen, das Ida je gehört hatte.

Die Mutter und Bendix hatten die saubere Wäsche bereits auf der Wiese zum Trocknen ausgelegt. Am Ufer nahm Magda Ida das Hemd ab und wrang es aus.

»Du bist ja ganz nass!« Ihre Mutter musterte sie streng. Ida schaute zu Boden und ließ andächtig den Flusssand zwischen ihren Zehen hindurchquellen. »Ich glaube, wir werden auch dich in der Sonne ausbreiten müssen, was meinst du, Bendix?« Ihre Mutter umfasste sie wie ein Paket. Feixend ergriff ihr Bruder Idas Fußknöchel. Sie trugen Ida ins hohe Gras und kitzelten sie durch. Ida giekste und strampelte erleichtert, denn sie fand es ganz schrecklich, wenn ihre Mutter zürnte. Als sie vor Lachen nach Luft japsten, ließen die Geschwister sich auf die Wiese fallen, doch ihre Mutter scheuchte sie wieder hoch.

»Steht auf! Die Erde ist schon zu durchgekühlt, ihr holt euch was weg. Hoffentlich lässt das bisschen Herbstsonne unsere Hemden überhaupt trocknen. Vor dem Frühling werden wir kaum noch einmal waschen können«, sagte Mutter.

Bendix war mit einem Satz auf dem Findling, aber Ida versuchte erfolglos, sich hochzuziehen, bis ihr Bruder sich erbarmte und ihr half.

Erst jetzt bemerkte sie, wie kalt ihr geworden war, und schmiegte sich an ihre Mutter. Die drei sahen dem Spiel von Sonne und Wolken auf der sanften, von Flussarmen durchzogenen Landschaft zu und beobachteten Schiffer, fahrende Kaufleute und Wäscherinnen. So wohlig und geborgen fühlte Ida sich, dass ihr die Lider schwer wurden. Müde ruhte ihr Blick auf Magdas Kette. Das Lederband mit einem Kreuz aus kleinen Flussperlen in der Mitte, das von Kugeln aus Bernstein, Glas und Holz eingerahmt wurde, baumelte über dem lindgrünen Kleid und war wunderschön, wie Ida fand. Wie herrlich die Sonnenstrahlen die Glasperlen zum Funkeln brachten! Und wie geheimnisvoll das Perlweiß schimmerte! Die Kette war zauberhaft – genauso wie ihre Mutter selbst. Magda hatte volles honigblondes Haar, reine Haut und kastanienfarbene Augen. Obgleich Ida kaum noch die Lider aufhalten konnte, mochte sie doch den Blick nicht von dem Farbenspiel abwenden.

»Erzähl uns die Geschichte von den Perlen«, bat Ida ihre Mutter schläfrig.

Magda kraulte ihr den Rücken. »Eines Abends, nachdem dein Vater ein paar Muscheln geerntet hatte und wir uns zu einer Muschelmahlzeit niedersetzten …«

»Nicht diese Geschichte. Die ist langweilig!«, unterbrach Bendix sie.

»Welche dann?«

»Na, die Geschichte … du weißt schon, Mutter …« Ida fiel es schwer, die richtigen Worte zu finden.

»Darüber, woher die Perlen wirklich kommen«, half Bendix ihr. Ida nickte.

»Ihr fragt mich, wie Perlen entstehen?« Ihre Mutter lächelte versonnen. »Es heißt, Perlen sind befruchtete Tautropfen. In klaren Nächten steigen die Muscheln an die Ufer und empfangen den himmlischen Tau. Danach ziehen sie sich zurück und ruhen, bis sie ihre Perlen gebären können. Manche behaupten allerdings auch, dass Perlen die Tränen der Engel sind. Und das Wunderbare ist: Flussperlen sind vollkommen, von Natur aus. Nichts kann der Mensch ihnen hinzufügen, um sie zu verbessern. Wir dürfen einfach nur über ihre Schönheit staunen. Glasperlen hingegen …«

Ihre Mutter beendete den Satz nicht, denn plötzlich begann die Glocke von Sankt Petri zu läuten, als hätte sie Schluckauf. Ida rieb sich überrascht die Augen. War schon wieder Zeit für die Messe? Jetzt stimmten auch die Glocken von Sankt Stephan an der Hude sowie der fünf weiteren Bardowicker Kirchen ein.

Bendix sprang auf. Seine Augen – so warmbraun wie die ihrer Mutter – waren weit aufgerissen. »Brennt es irgendwo?«, fragte er. Über den hohen Wall aus Erde und angespitzten Pfählen lugten die Holz- und Strohdächer der Häuser und Kirchen. Rauch war nicht zu sehen, doch das Glockengeläut ging weiter.

Magda war ebenfalls hochgeschnellt. »Ich weiß es nicht. Aber wir müssen auf jeden Fall in die Stadt zurück! Eilt euch!« Schon zog sie ihre Kinder mit sich. Auch die anderen Frauen rannten nun, als ginge es um ihr Leben. Was war denn nur los?

»Mutter, die Hemden!«, rief Ida.

»Was nützen euch die Hemden, wenn es euer Leben kostet!«, rief ihnen Zwartje, die Frau des friesischen Schiffers Poppo, im Vorbeirennen zu. Ihr Gesicht war rot und fleckig, und sie hinterließ vor lauter Eile eine Spur aus Wäschestücken.

Trotz der Mahnung klaubten Magda und ihre Kinder die Leinenhemden und auch Zwartjes Wäsche auf.

Am Stadttor, wo die Wachen den Eingang kontrollierten, herrschte Gedränge. Bauern und Handwerker, die auf den Feldern vor der Stadt gearbeitet hatten, stürmten genauso hinein wie die Händler, die auf dem Heerweg unterwegs gewesen waren. Ida machte dieser Tumult ganz kribbelig. Bendix hingegen schien Angst zu haben, obgleich er doch der Ältere war. Ida nahm seine Hand, bis sie endlich hinter dem schützenden Stadtwall angekommen waren.

Die Mutter fragte Vorbeieilende, warum die Sturmglocken läuteten, bekam aber keine Antwort. Das Gerüst des Fachwerkhauses, das ihr Vater gerade errichtete, war verlassen. Ein halb angesägter Balken, frischer Lehm und biegsame Ruten für das Flechtwerk lagen bereit. Wo war der Vater?

Magda schob ihre Kinder weiter. »Nach Hause, schnell!«

Idas Herz klopfte wild in ihrer Brust, und auch Bendix’ Hand war schon ganz schwitzig.

An ihrer Hütte kam Vater ihnen entgegen. Ida und Bendix flogen ihm in die Arme, und er hob sie beide hoch, als wären sie federleicht. Gerold Ostmann trug einen Dolch am Gürtel und war gerade dabei gewesen, sein dickes Lederwams zu schnüren. Er war ein Mann, den so schnell nichts ins Wanken brachte, mit starken Muskeln, kantigen Gesichtszügen und widerspenstigem dunkelbraunen Haar. Gleichzeitig hatte er ein empfindsames Gemüt, das ihn über aus dem Nest gefallene Vögel genauso weinen ließ wie über einen schönen Sonnenaufgang. Aber was Ida am besten fand, war seine Schnitzkunst. Erst vor ein paar Tagen hatte sie ein handtellergroßes Holzpferd von ihm bekommen.

Jetzt waren Gerolds Gesichtszüge von Besorgnis verfinstert. Er küsste seine Kinder auf die Stirn und setzte sie ab. Ida klammerte sich an ihn, sie wollte ihren Vater nicht loslassen. Aber Gerold umfasste Magdas Schultern.

»Geht in die Hütte und bleibt dort. Wenn es brenzlig wird, lauft rüber zur Petrikirche, dort seid ihr in Sicherheit«, sagte er eindringlich.

»In Sicherheit? Was ist denn los?« Ida fiel auf, dass die Stimme ihrer Mutter viel höher und dünner klang als sonst.

»Herzog Heinrich zieht mit seinen Truppen auf Bardowick.«

Die Augen ihrer Mutter weiteten sich angstvoll, was Ida nur noch mehr erschreckte.

»Herzog Heinrich ist doch nach England verbannt!«, sagte Magda und begann, die letzten Bänder an Gerolds Lederwams zu schließen, als könnte sie sich damit beruhigen.

Gerold sah sich fahrig um. »Nicht mehr. Lüneburg war ohnehin sein Eigengut, das konnte man ihm nicht nehmen. Jetzt hat er ein Heer um sich gesammelt und will das Herzogtum Sachsen wieder in Besitz nehmen, das meldete ein Bote. Stade hat sich ihm anscheinend schon unterworfen. Angeblich will Herzog Heinrich nun die Schmach rächen, die die Bardowicker ihm bei seiner Abreise zugefügt haben. Der Löwe will uns Klauen und Zähne spüren lassen.«

Ida hatte schon Bären und Wölfe gesehen, die gefährliche Klauen und Zähne hatten und im Winter um die Stadt strichen, aber was war ein Löwe? Ratlos sah sie ihren Bruder an. Auch Bendix schien nicht zu verstehen, worum es ging. Dass die Lage jedoch ernst war, begriffen sie beide.

2

Zu den Waffen! Zu den Waffen!«

Jungen trommelten die wehrfähigen Männer Bardowicks zusammen. Auch Gerold schlängelte sich zwischen den kopflos fliehenden Menschen hindurch, um sich zur Stadtverteidigung zu melden. Hirten trieben Ochsen, Schweine und Ziegen über den Marktplatz. Bauern blockierten mit ihren Karren die Gassen, ohne zu wissen, wohin. Die Erde um Bardowick war fruchtbar. Um diese Zeit wurden vor allem weiße Rüben und Zwiebeln geerntet; die Schweine mästete man in den Wäldern mit frischen Eicheln. Jetzt allerdings riss eine Schweinehorde den Zaun eines Stadtgartens um und machte sich über die Gemüsefelder her, von denen wohl nicht viel übrig bleiben würde. Zwischen dem Stadtbauern und dem Hirten brach sofort ein Streit aus. Und noch immer drängten sich Schutzsuchende durch das westliche Stadttor, durch das der Hellweg, der Haupthandelsweg, führte. Unerbittlich kündigte sich die Dämmerung an. Bald würden sie Freund und Feind nicht mehr unterscheiden können.

Nun rächte es sich möglicherweise, dass ihr Lehnsherr, Herzog Bernhard von Sachsen aus dem Geschlecht der Askanier, den Stadtwall nicht hatte ausbessern lassen. Mit düsterer Miene reihte Gerold sich ein, um eine Waffe in Empfang zu nehmen.

In einiger Entfernung beobachtete er, wie Hermanus von Sturtenburtle vom Wehrgang aus seinen Rittern Anweisungen erteilte. Ein weiterer Ritter wies den Häuslingen ihre Aufgaben zu. Auch Johan und Waldeko, zwei von Gerolds Bauhelfern, waren im ersten Trupp. Auf der anderen Seite des Platzes informierte Ratsherr Beringius Tode die Bardowicker Bürger. Viele der Kaufleute hatten prächtigere Harnische und Schwerter als mancher Ritter, doch man merkte ihren ungelenken Bewegungen an, dass das Kämpfen ihnen nicht im Blut lag.

Jetzt kam auch Gerolds Freund Poppo heran. Der friesische Schiffer, der erst seit ein paar Jahren in Bardowick lebte, schwitzte so stark, dass seine weißblonden Locken sich wild kräuselten. »So eine Hatz! Hätte eine Salzfracht bis Artlenburg gehabt und musste stattdessen ein paar Leute bezahlen, damit sie meinen Prahm und die Fässer in Sicherheit bringen. Dabei wird die Ware an der Elbe erwartet! Die Verzögerung könnte mich den Kunden kosten!«

Ein fein gekleideter Tuchhändler, dem es sichtlich missfiel, Schlange stehen zu müssen, musterte Poppo missbilligend. »Stadtverteidigung ist die erste Bürgerpflicht!«

»Mit Verlaub: Was glaubt Ihr, was ich hier tue?«, fragte Poppo beherrscht und sah auf den Mann hinab, was ihm bei seiner Größe nicht schwerfiel. Dann neigte er sich Gerold zu und senkte die Stimme: »Ich verstehe die Panik nicht. Ich denke, dieser Heinrich ist verfemt, verbannt, rechtlos. Warum machen wir nicht die Tore zu und warten ab, bis der Spuk vorüber ist?«

»Weil es leider kein Spuk ist. Herzog Heinrich will Rache, heißt es«, mischte sich Rikolf ein. Der Gehilfe des Münzers hatte das Reihenende ignoriert und gesellte sich gleich zu seinen Freunden, was Unmut bei den Wartenden auslöste. Niemand wagte jedoch, sich zu beschweren, denn Rikolf genoss seiner Position wegen Respekt.

»Rache wofür?«, fragte Poppo.

Rikolf ließ einen Bardowicker Pfennig von seinem Daumen springen und fing ihn geschickt wieder auf, schwieg aber.

Gerold hob die Schultern. Obgleich es schon acht Jahre her war – er hatte damals gerade seinen zwanzigsten Sommer gesehen –, machte ihn die einstige Dummheit etlicher Bewohner Bardowicks noch immer wütend. »Meine Schuld war es nicht«, knurrte er schließlich.

Fragend sah Poppo von einem zum anderen. Schließlich erbarmte Gerold sich, seinen Freund ins Bild zu setzen. »Heinrich war zu jener Zeit Herzog von Sachsen und Bayern und kämpfte mit Kaiser Friedrich Barbarossa um die Macht. Der Löwe gegen den Rotbart – das weißt du, oder?«

Poppo nickte ernsthaft.

»Als Herzog Heinrich unterlag, wurde er in die Verbannung nach England geschickt. Auf dem Weg suchte er in Bardowick Quartier – aber die Bewohner sperrten ihm die Tore. Ja, mehr noch: Sie verspotteten ihn wegen seines Wappentiers als zahnlosen Löwen. Manche zeigten ihm sogar den nackten Arsch. Das hat er wohl nicht vergessen«, berichtete Gerold. Vor ihnen bekam ein Küfer einen rostigen Wurfanker zugeteilt. Gleich wären sie an der Reihe. Es wurde auch Zeit, denn das Getrappel auf dem Wehrgang nahm zu. »Wer hätte denn auch ahnen können, dass Herzog Heinrich zu neuer Macht kommen würde?«, setzte Gerold hinzu.

Noch einmal ließ Rikolf seine Münze hochschnellen. »Der Herzog hat die passende Gelegenheit erkannt. Gerade erst ist der Kaiser zum Kreuzzug ins Heilige Land aufgebrochen. Außerdem ist Heinrichs Weib in Braunschweig gestorben. Er ist sozusagen gezwungen, zurückzukehren und seine Besitzungen für sich zu reklamieren.«

Nun bekamen sie ihre Waffen in die Hand gedrückt. Skeptisch wog Gerold das schartige Kurzschwert in den Händen. Damit sollte er Ritter bekämpfen? Vielleicht sollte er lieber seinen Nachbarn, den Schmied Claus bitten, ihm einen anständigen Zweihänder zu leihen.

»Weiß man, wie viele auf Bardowick ziehen?«, fragte Gerold den Waffenmeister.

»Ein paar Hundert, heißt es. Graf Bernhard von Ratzeburg sowie die Grafen von Wölpe und Schwerin unterstützen Herzog Heinrich, genauso wie manche Lüneburger Edelleute.«

»Und unser Stadtherr? Wurde Herzog Bernhard von Sachsen zu Hilfe gerufen?«, wollte Poppo wissen, während er eine stumpfe Pike in Empfang nahm.

»Was geht’s dich an!«, blaffte der Waffenmeister ungeduldig und wedelte sie weiter. »Tut eure Pflicht und schnackt hier nicht herum!«

Schon wurden sie von den Rittern auf den Wehrgang getrieben. Als sie hinaufgeklettert waren, berichtete Rikolf: »Die Boten an Herzog Bernhard sind unterwegs, das weiß ich von meinem Meister. Der Askanier ist zwar für den Landfrieden verantwortlich, aber ob er Bardowick zu Hilfe eilen wird, bezweifelt Meister Aluardo. Dieser Ort hat seine besten Zeiten hinter sich, meint er. Als die Stadt noch an der Grenze zum Heidenreich lag, war Bardowick bedeutend. Aber heute, wo die Grenzmarken viel weiter im Osten liegen, werden die wichtigen Geschäfte in Lübeck gemacht. Die Lüneburger hingegen wollen schon lange das alleinige Münz- und Zollrecht für die Gegend. Der Bardowicker Denar soll der Vergangenheit angehören. Die wollen verhindern, dass andere Orte an ihrem weißen Gold, ihrer ach so kostbaren Saline mitverdienen. Dabei gab es Bardowick schon lange, bevor ein Jäger einer weißen Sau nachstellte und so die Salzquelle entdeckte.« Rikolf spielte auf die Gründungslegende Lüneburgs an, die besagte, dass ein Jäger eine schneeweiße Wildsau verfolgt und herausgefunden hatte, dass sie sich in der Sole gesuhlt hatte.

»Solange Lüneburg keinen anständigen Hafen hat, ist es auf Bardowick angewiesen«, meinte Gerold.

»Das ist nur eine Frage der Zeit«, war Rikolf überzeugt.

Gerold fürchtete insgeheim, dass sein Freund die Lage richtig einschätzte. In den vergangenen Jahren waren bereits viele Handwerker aus Bardowick abgewandert. Noch konnte man in der Stadt gut leben. Magda wollte ihre Heimat um keinen Preis verlassen, schließlich war ihr Vater hier Stadtschreiber gewesen.

Sie hatten ihre Posten eingenommen. Hochkonzentriert suchte Gerold die Landschaft ab. Von wo würden die Truppen kommen? Vermutlich von Westen, schließlich war Herzog Heinrichs letzte Station Stade an der Elbe gewesen. Dieser Angriffspunkt wäre vorteilhaft für die Bardowicker, weil dort der hohe Wall und ein Graben die Stadt umspannten, auch machten Seitenarme der Ilmenau die Gegend tückisch. Auf der Ostseite Bardowicks, bei der Hude und der Kirche Sankt Stephan, war der Wall deutlich niedriger. Gerold war für eine Erhöhung des Walls gewesen, aber die Räte waren der Meinung gewesen, dass der Fluss Schutz genug bot. Breit und tief war die Ilmenau ja, aber im Osten befanden sich auch die Brücke und die alte Furt.

Noch war kein Feind zu sehen. Gerold holte den Schleifstein aus seinem Beutel. Während er die Klinge des Kurzschwerts bearbeitete, sah er auf Bardowick hinunter und dachte darüber nach, was sein Gefährte gesagt hatte. Bardowick war ein kleines Städtchen mit einer großen Geschichte, worauf die Bewohner sehr stolz waren. Der legendäre Kaiser Karl hatte Bardowick vor einigen Hundert Jahren als einen von neun Grenzhandelsplätzen zwischen Elbe und Alpen benannt und hier Heerlager gehalten. Von hier aus wurden die Slawen zum christlichen Glauben bekehrt, von hier aus wurde der Handel mit den östlichen Völkern getätigt, von hier aus wurde der Waffenhandel mit den Nachbarn kontrolliert. Auch die Kaiser Lothar und Friedrich waren hier zu Gast gewesen. Hier kreuzten sich die Handelswege, die Ostsee und Flandern, Nordsee und Alpen verbanden.

Und vor allem: Hier war seine Heimat. Gerold war in der Nähe auf einem Hof geboren worden und hatte als Junge in Bardowick Arbeit gefunden. Mit Fleiß hatte er es vom Handlanger zum Zimmermannslehrling gebracht, hatte gelernt, Häuser aus Fachwerk zu errichten, und galt inzwischen als bester Baumeister der Stadt. Er konnte sich nichts Schöneres vorstellen, als Familien ein bequemes Zuhause und Bürgern einen angenehmen Ort für ihre Geschäfte zu bauen. Wenn es so weiterging, könnte er sich bald ein eigenes Fachwerkhaus leisten. Kaum konnte er es abwarten, seiner geliebten Frau und seinen Kindern ein besseres Leben zu bieten. Für sie war er sogar bereit, eine Waffe in die Hand zu nehmen.

In diesem Augenblick trug der Wind das Donnern von Hufen zu ihnen. Aus dem Wald brachen die ersten Ritter. Poppo stieß einen wilden Kampfschrei aus und reckte seine Pike in die Höhe, als müsste er sich selbst Mut machen. Es ging los.

Noch nie hatte Gerold ein derartiges Aufgebot gesehen. Etliche Hundert Ritter, die in ihren Kettenhemden und mit den Topfhelmen, die das ganze Gesicht verbargen, einschüchternd wirkten. Schlachtbeile, Streitkolben und Breitschwerter blitzten im fahlen Licht. Dazu die prächtigen Schlachtrösser, die farbenfrohen Fahnen und Satteldecken. Das Fußvolk beeindruckte durch die schiere Menge. Nun öffnete sich die Menge wie von unsichtbarer Hand und machte einem Reiter Platz, der sich gemessen auf das Stadttor zubewegte. Er war nicht besonders prächtig gekleidet, aber die Ehrerbietung, mit der ihm alle begegneten, ließ Gerold ahnen, dass er Herzog Heinrich vor sich hatte. Der Adelige vom Stamm der Welfen war alt, bestimmt schon sechzig, aber noch von kräftiger Gestalt. Das Leben hatte tiefe Furchen in sein Gesicht gegraben.

Der Bannerträger neben dem Herzog hob die Stimme: »Öffnet die Tore und huldigt eurem alten und neuen Lehnsherrn Herzog Heinrich von Sachsen, genannt der Löwe!«, forderte er.

Hermanus von Sturtenburtle deutete vom Stadtwall aus eine Verbeugung an. »Wir grüßen den edlen Herzog Heinrich respektvoll. Wir können ihm und seinen Mannen jedoch kein Quartier gewähren, denn er ist nicht mehr unser Herr«, antwortete er ruhig.

Ein Raunen ging ob dieser Provokation durch die Reihen der Bardowicker. Nicht jeder schien mit dem Verhalten des Ritters von Sturtenburtle einverstanden, und manche verließ wohl auch angesichts des feindlichen Heeres der Mut.

Die Antwort wurde nicht gut aufgenommen; noch mehr Ritter schlossen zu ihrem Anführer auf. »Wisset, dass dieses Betragen als Verrat am Herzog der Sachsen gewertet wird und ihr bestraft werdet«, verkündete der Fahnenträger.

Das Murren der Bardowicker wurde bei dieser Drohung lauter. Hermanus von Sturtenburtle ließ sich davon nicht beirren. »Wir verraten den Herzog der Sachsen nicht. Im Gegenteil: Wir stehen fest zu Herzog Bernhard aus dem Hause der Askanier«, verkündete er.

Lautstark schmähten die fremden Ritter sie jetzt als Verräter. »Der Askanier ist ein Raubritter. Er hat sich unser Lehen widerrechtlich angeeignet«, widersprach Herzog Heinrich nun selbst.

»Hütet Eure Zunge, Herzog. Die Entscheidung des Kaisers solltet auch Ihr anerkennen.«

»Nicht, wenn der Kaiser ungerecht entschieden hat.«

Auf einmal ging alles sehr schnell. Herzog Heinrich machte eine knappe Geste, und gleich darauf flogen Befehle von Mann zu Mann und lösten eine Kette von Handlungen aus. Die Schützen legten ihre Armbrüste und Bogen an. Ritter zogen ihre Schwerter oder hieben mit der flachen Seite ihrer Streitäxte auf ihre Schilde. Das Getöse ließ Gerold erschaudern. Söldner schwärmten aus. Wenig später hörten sie es in dem benachbarten Wäldchen hämmern und krachen. Fußtruppen schafften Erde und Buschwerk heran, um den Graben vor dem Stadtwall zuzuschütten. Noch konnten die Bardowicker nichts tun, als zusehen. Die erzwungene Untätigkeit brachte Gerold beinahe zum Platzen.

Rikolf hielt ihm bebend seine Waffe hin. »Ich fürchte, jetzt wird es ernst«, sagte er. Gerold schliff sogleich los. Mit einer stumpfen Pike würde sein Freund nichts gegen den Feind ausrichten.

Ein Warnschrei erklang. Instinktiv duckte Gerold sich hinter die Palisade. Der erste Pfeilschauer der feindlichen Bogenschützen pfiff über sie hinweg. Er fuhr herum. War schon jemand getroffen worden? Ein Brandpfeil hatte ein Strohdach am Marktplatz entflammt. Frauen und Kinder rannten mit ledernen Löscheimern herbei, doch das Feuer war für sie unerreichbar.

Bardowick stand in Flammen.

Die Erregung durchzuckte Gerolds angespannte Muskeln. Er musste etwas tun! Die Bardowicker Bogenschützen feuerten nun ihrerseits Pfeile ab, aber Gerold und seine Gefährten waren weiter zur Untätigkeit verdammt. Als Rikolf bei den Löscharbeiten helfen wollte, befahl ein Ritter ihn zurück an seinen Platz. Gerold sah am Fluss etwas aufflammen – die Mühle brannte! Und da war etwas auf dem Wasser: Angreifer hatten einen Nachen gefunden und steuerten nun von der Flussseite auf die Stadt zu.

»Achtung! Angriff am Fluss!«, brüllte Gerold und konnte sich gerade noch ducken, als etwas an ihm vorbeipfiff. Der Armbrustbolzen schlug einem seiner Kampfgefährten in die Brust. Sogleich eilten andere herbei, um ihm zu helfen. Aus seinem Versteck beobachtete Gerold, wie Bardowicker Bogenschützen auf die Marianus-Brücke rannten und mit Brandpfeilen der Bootsfahrt ein Ende machten. Als der Nachen in Flammen aufging, retteten sich die Angreifer an Land, wo sie weiter beschossen wurden. Alle wussten, wie ernst die Lage war. Wenn ein feindlicher Trupp den niedrigen Abschnitt des Stadtwalls oder die Brücke erreichen würde, sähe es übel für Bardowick aus.

Nun stürmte der erste Kampftrupp über den zugeschütteten Graben und versuchte, das Stadttor aufzuhebeln. Von der Brustwehr aus wurden Pfeile auf die Angreifer abgefeuert, prallten jedoch zumeist von deren Rüstungen und Kettenhemden ab.

Das Fußvolk kam aus dem Wald zurück, die Männer rannten mit eilig zusammengestoppelten Leitern zum Stadtwall. Auch an ihrem Abschnitt der Palisade kraxelten die ersten Angreifer hoch. Poppo versuchte, mit einer Hakenstange die Leiter umzustoßen, was aber nicht gleich glückte. Gerold warf Rikolf seine Pike zu, der sie geschickt auffing und dem ersten Mann, der sich am oberen Ende der Brustwehr sehen ließ, in den Leib rammte. Halb im Taumel gelang es dem Angreifer, Rikolfs Arm zu packen, sodass der Münzgehilfe halb über die Brüstung gerissen wurde. Gerold hechtete zu ihm und ergriff den Freund gerade noch am Gürtel. Aneinandergekrallt hingen Angreifer und Verteidiger über den spitzen Pfosten.

»Stich ihn ab!«, schrie Rikolf panisch.

Gerold holte aus, doch sein Blick verfing sich im Gesicht seines Feindes. Von Schmerzen und Pockennarben gezeichnet, mit trüben Augen, die nicht weniger angstvoll wirkten als Rikolfs. Gleichzeitig gelang es dem Pockennarbigen, den Arm um Rikolfs Hals zu legen und ihn zu würgen.

»Mach schon!«, presste Rikolf hervor.

In einer fließenden Bewegung bohrte Gerold die Pike tiefer in die Brust des Angreifers und hämmerte ihm dann gegen die Brust, bis der Griff sich löste. Kurz wankte der Mann – dann stürzte die Leiter um. Gerold riss seinen Freund zurück. Rikolf landete sicher auf dem Wehrgang. Aufatmend sahen sie hinab. Am Fuße der Holzpalisade rappelte sich ihr Angreifer wieder hoch – da gab ihm ein Pfeil den Rest. Andere waren sofort da, um die Leiter wieder aufzurichten.

Ein weiterer Trupp Fußvolk brach aus dem Wald. Die Kerle schleppten einen mächtigen Baumstamm, den sie an einem Ende grob behauen hatten.

»Mauerbrecher«, konstatierte Rikolf tonlos. »Ich mu… muss mir eine neue Waffe holen.«

Gerold stieß scharf die Luft aus. »Rammböcken wird der Stadtwall kaum standhalten.« Kurzentschlossen drückte er seinem Freund sein Kurzschwert in die Hand und sprintete den Wehrgang hinunter.

Auf dem Marktplatz herrschte Tumult. Verwundete wurden weggetragen, aber Gerold sah auch schon Tote. Die Kirchen Sankt Fabiani und Sankt Petri wurde verrammelt. Frauen und Kinder bildeten Ketten von den Brunnen zu den Bränden. Gerold erstarrte, als er seine Kinder unter den Helfern entdeckte. Er hatte Magda doch befohlen, in der Hütte zu bleiben! Eilig rannte er zu ihnen und fasste seinen Sohn an der Schulter. Bendix war der Ältere, der Vernünftigere, wenn er auch für sein Alter sehr verträumt war. Der Junge schrak bei seiner Berührung heftig zusammen.

»Was macht ihr denn hier?«, fragte Gerold donnernd. Bendix’ Lippen bebten, als würde er gleich weinen. »Wo ist eure Mutter?«, setzte Gerold hinzu und bemühte sich, seine Stimme im Zaum zu halten.

»Mutter hilft in der Petrikirche den Verletzten. Da sind wir aber nur im Weg. Wir …«, stammelte Bendix.

»Vater!« Ida hatte ihn erst jetzt bemerkt. Sie umarmte ihn überschwänglich. »Wir wollten auch helfen!«

Plötzlich angerührt, sah Gerold in die Gesichter seiner Kinder. Wie mutig sie waren, aber auch wie zart, wie zerbrechlich! »Seid vorsichtig, hört ihr! Wenn Gefahr droht, dann lauft zu eurer Mutter oder versteckt euch in der Hütte. Bleibt immer zusammen! Und passt aufeinander auf!«, sagte er eindringlich.

Hinter ihnen krachte etwas gegen das Stadttor. Holz splitterte. Gerolds Augenlid zuckte vor Erregung. »Ich muss weiter!«

»Kannst du nicht bei uns bleiben?«, flehte Bendix.

»Ich werde woanders dringender gebraucht!« Das Herz pochte wie eingeschnürt in seiner Brust, als er sich abwandte. Was redete er da? Wer konnte ihn schon dringender brauchen als seine Familie?

Einige morsche Pfosten des Stadtwalls hatten bereits nachgegeben. Eisenbewehrte Hände versuchten, den Spalt von außen aufzuhebeln, während sich die Ritter im Inneren bemühten, sie aufzuhalten.

»Wo ist der edle Herr zu Sturtenburtle? Oder Ratsherr Tode? Wir müssen Holz heranschaffen! Ich muss …«, sprach Gerold verschiedene Kämpfer an. Doch niemand schenkte ihm Gehör. Schließlich entdeckte er die beiden. Offenbar trug der Vertreter des Lehnsherrn mit dem Repräsentanten der Bürgerschaft ein hitziges Wortgefecht aus. Die Ritter und Kaufleute, die sich ebenfalls in der Nähe der leer geräumten Waffenkammer befanden, lauschten dem Disput angespannt. Reichte es nicht, dass sie von außen angegriffen wurden? Musste auch im Inneren Zwietracht herrschen?

»Wir brauchen Holz, um die Stadttore und den Wall zu verstärken!«, platzte Gerold zwischen die Männer.

Der Ritter sah ihn unwirsch an. »Was will er? Hat er nichts Besseres zu tun, dieser Nichtsnutz?!«

Ratsherr Tode sprang Gerold bei. »Das ist Meister Gerold, unser bester Zimmermann. Wenn er sich weiter so auszeichnet, könnte er unser Baumeister werden. Sein Wort hat also Gewicht«, erklärte er. Hinter ihnen war das erneute Krachen des Mauerbrechers zu hören. Der Ratsherr zuckte zurück. »Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt für die Planung von Bauten«, versuchte er, Gerold nun doch abzuwimmeln.

»Mit Verlaub: Jetzt ist der letztmögliche Zeitpunkt, um die Stadttore und den Wall auszubessern, bevor sie vollständig aufbrechen und wir überrannt werden«, beharrte Gerold.

»Wir werden doch ohnehin überrannt!«, nahm Harksen, ein älterer Pelzhändler, Gerolds Worte auf. Die Angst stand dem Händler ins Gesicht geschrieben, und er hatte den Kopf so tief zwischen die Schultern gezogen, als wollte er am liebsten in seinem Otterfellmantel verschwinden. »Warum huldigen wir nicht einfach dem Löwen? Was hat Herzog Bernhard denn schon für uns getan?«, richtete Harksen jetzt das Wort an die Zuhörer. »Nie lässt er sich hier blicken. Die Besatzung, die er in Bardowick eingesetzt hat, ist gerade groß genug, um uns auszupressen – aber nicht groß genug, um die Stadt zu schützen.«

Beifällige Rufe waren zu hören. Auch Gerold hätte beinahe eingestimmt. Hermanus von Sturtenburtle und seine Männer waren hartherzige Besatzer, die nur die Einnahmen des Askaniers, nicht das Wohl der Stadt im Sinn hatten.

»Herzog Heinrich hat sich schon früher großzügig gegenüber Bardowick gezeigt«, mischte sich ein Fischhändler ein.

»War das bevor oder nachdem er Lübeck und Lüneburg den Vorzug gab?«, ätzte ein Ritter aus Sturtenburtles Gefolge.

Der Pelzhändler machte eine wegwerfende Handbewegung. »Wenn wir uns dem Löwen unterwerfen, wird er uns vielleicht wieder in seine Gunst aufnehmen. Er kann ja jetzt jeden Verbündeten gebrauchen.«

Die Männer, die bislang nur zugehört hatten, redeten nun durcheinander. Die Ritter beschimpften die Kaufleute als Verräter, die Bürger die Adeligen als leichtsinnig.

Plötzlich ein Brüllen: »Habt ihr Waschweiber wirklich nichts Besseres zu tun, als hier die Zeit mit Gezeter zu verplempern, während an der Kampflinie die Menschen verrecken?!« Hermanus von Sturtenburtle war hochrot angelaufen. Beschämt und wütend senkten die Ritter die Augen. Sturtenburtle wies auf den Pelzhändler. »Werft diesen Aufrührer in den Kerker!«, befahl er.

»Ich habe nichts getan!«, protestierte Harksen.

Der Ritter spie vor ihm aus. »Nichts getan?! Hochverrat nenne ich das, wenn Ihr dazu aufruft, zu Herzog Heinrich überzulaufen! Für diesen Verrat würde ich Euch töten, wenn dieser Tag nicht schon genug Blut gesehen hätte!«

Die Adeligen packten Harksen, aber der Pelzhändler bäumte sich in ihrem Griff auf. »Es ist doch wahr! Wo bleibt denn die versprochene Verstärkung? Herzog Bernhard lässt uns hängen! Ich bin nicht der Einzige, der so denkt. Er ist ein schlechter Stadthe…« Das letzte Wort ging in einem Stöhnen unter, denn Sturtenburtle hatte ihm mit dem Eisenhandschuh eine Maulschelle verpasst.

Der Ritter sah in die Runde. »Gibt es sonst noch jemanden, der sich gegen Herzog Bernhard aussprechen möchte?«

Eingeschüchtert zogen sich die restlichen Bürger wieder auf ihre Posten zurück. Hermanus von Sturtenburtle zog seinen Handschuh wieder hoch. »Und du kommst mit«, wandte er sich an Gerold und stiefelte voraus.

Beunruhigt folgte Gerold. Was hatte der Ritter vor? Wollte er ihn bestrafen, weil er es an Respekt hatte mangeln lassen?

Erst am östlichen Stadtwall hielten sie an. Hier an der Hude wurden Güter zwischengelagert und Boote ausgebessert. Gerold erkannte Kisten mit Krügen aus dem Rheinland, Specksteinschalen aus Schweden und einzelne Mühlsteine. Der Stapel Bauholz war jedoch kümmerlich, denn die Bretter und Balken waren dünn und kurz. Damit konnte er nichts anfangen.

Der Ritter ließ das Tor im Stadtwall öffnen. Sogleich flüchteten Bogenschützen von der Brücke in den Schutz des Walls. Auf dem Fluss trieben die brennenden Reste eines Frachtkahns. Vor der Motte im gegenüberliegenden Vresdorp tobten ebenfalls Kämpfe. Neben ihnen schlugen zischend Pfeile ein.

Sturtenburtle wies auf die Brücke. Er hatte tatsächlich eine Aufgabe für ihn.

3

Als Ida erwachte, war sie allein. Sie zitterte vor Kälte. Der weiche Körper ihrer Mutter, der sie im Schlaf gewärmt und geschützt hatte, war verschwunden. Die Hand ihres Bruders ebenso. Und ihr Vater? Wo war ihr Vater? Das Mädchen fuhr auf. Bleiches Mondlicht sickerte durch die Ritzen der Hütte, aber das zaghafte Singen des ersten Vogels verriet ihr, dass es bald dämmern würde. Leises Schnarchen drang an ihr Ohr. Konzentriert spähte Ida ins Dunkle. Die alte Ermengard und die vier Mägde lagen noch immer vor dem Herd. Sie hatten von einem Meierhof in die Stadt fliehen müssen; Mutter hatte sie gestern aufgenommen. Nein, vorgestern war es gewesen. Die Zeit flog nur so dahin, seit sie eingeschlossen waren.

Ida dachte an den Moment zurück, als alle Glocken zu läuten begonnen hatten. Zweimal war es Nacht geworden, seit die bösen Ritter angefangen hatten, Bardowick zu belagern. Bendix und sie hatten geholfen, die Feuer zu löschen, bis ihre Beine sie nicht mehr hatten tragen können. Kaum eines der unzähligen Häuser war abgebrannt. Es war beinahe wie ein Spiel gewesen – wenn die Großen nur nicht so ernst gewesen wären. Allerdings hatte sich der Schreiner-Jan bös die Finger verbrannt, als er eine Feuerkugel aus einem Strohhaufen geklaubt hatte. Er hatte sehr geweint, und Ida hatte ihn nicht trösten können. Jan war zu den Verletzten in die Petrikirche gebracht worden.

Ihren Vater hatte Ida nur kurz gesehen. Er hatte mit anderen Männern die Brücke teilweise abgerissen. Sie hatte sich darüber gewundert; die Brücke war doch so wichtig für die Stadt! Aber Mutter hatte erklärt, so solle verhindert werden, dass Feinde über den Fluss in die Stadt eindrangen. Mit dem Brückenholz waren die Stadttore und der Wall verrammelt worden. Nicht dass sie dabei zugesehen hätte – sie hatten so viel zu tun! Gestern war Ida vor lauter Erschöpfung beinahe im Stehen eingeschlafen. Auch jetzt musste sie wieder gähnen. Es war aber auch sehr stickig in ihrer Hütte! Seit sie die fremden Frauen aufgenommen hatten, war es viel zu eng hier. Die Mägde weinten oft, und die alte Ermengard hielt selbst im Schlaf ihren Tontopf umklammert wie einen Schatz. Merkwürdig! Ida hätte nur zu gern gewusst, was darin war.

Ida umschloss ihr Schnitzpferd mit der Hand und schlich auf Zehenspitzen zur Tür. Als sie diese aufschob, gackerte und flatterte es laut. Dieses dumme Huhn! Hoffentlich hatte es auf der Türschwelle wenigstens ein Ei gelegt – aber nichts da. Es war dunkel und still. Waren die grimmigen Männer verschwunden, die Pfeile über die Holzpalisade geschossen und mit Feuerkugeln geworfen hatten? Die Rücken der Tiere, die sich auf der Straße drängten, ragten im Nebel auf wie Hügel. Pferde standen mit tief hängenden Häuptern, Ochsen scharrten schnaubend im Straßenkot.

Da bog ein Mann um die Ecke. Mit halb gespanntem Bogen schob er sich durch die Herde. Er entdeckte Ida sofort. »Was willst du hier draußen, Kind? Geh wieder ins Haus, aber schnell!«, befahl er.

Eingeschüchtert schloss Ida die Tür. Ermengard stöhnte im Schlaf. Also war die Gefahr noch immer nicht gebannt. Idas Hals wurde eng, und sie fuhr mit der Zunge in ihre Zahnlücke. Sie wollte nicht bei diesen Fremden sein! Warum hatten ihre Eltern und Bendix sie alleingelassen?

Entschlossen schob Ida sich zurück auf die Straße. Der Bogenschütze war weg. Sie huschte im Schutz der Holzmauern gen Petrikirche. In einiger Entfernung sah sie den Stadtwall. An dem Wehrgang lehnten Gestalten; bei einem der Männer schien es, als würde nur noch sein Speer ihn aufrecht halten. Schliefen sie etwa? War ihr Vater einer von ihnen? Wie gerne würde sie mal über die Holzspitzen der Stadtmauer blicken! Aber erst musste sie ihre Familie finden. Vielleicht würde ihr Vater sie nachher mitnehmen, damit sie die fremden Ritter zu sehen bekäme. Glänzende Rüstungen hatten sie gehabt und bunte Federn auf den Helmen, das hatte zumindest der Sohn des Schmieds erzählt. Auch die Pferde der fremden Ritter sollten angeblich groß und schön sein.

Ein zweiter Bogenschütze kam vorbei. Ida versteckte sich hinter einem Karren. Ihr Holzpferdchen presste sie gegen die Brust, und sie erstarrte, als wäre sie eine der Heiligenfiguren in der Kirche. Er bemerkte sie nicht. Schließlich war er außer Sicht. Sie war schon immer die Beste im Versteckspiel gewesen! Besser als ihr Bruder Bendix allemal.

Endlich ragten die hölzernen Türme von Sankt Petri vor ihr auf. Sie war die größte Kirche Bardowicks, und manche nannten sie einen Dom, obwohl das nicht stimmte, sagte Vater. Der Kirchenraum war durch Talglichter und Kerzen spärlich erhellt; das leise Stöhnen der Verletzten drang an Idas Ohr. Der Kirchenboden war ein einziges Deckenlager. Es stank so sehr, dass Ida ein flaues Gefühl im Magen bekam. Vor dem goldverzierten Altar, den Holzstatuen und den Silberleuchtern knieten die Stiftsherren und beteten, wispernd wie Mäuse auf dem Dachboden.

»Da bist du ja, Schlafmütze!« Ida zuckte zusammen. Bendix war neben ihr aufgetaucht. Er hatte einen Ledereimer mit Wasser vor der Brust, den er am Boden untergefasst hatte, weil er so schwer war.

»Warum habt ihr mich nicht geweckt?«, fragte Ida vorwurfsvoll.

»Das haben wir versucht, aber du hast geschlafen wie ein Murmeltier. Nicht einmal meine Hand wolltest du loslassen, du Dummerchen.«

Sie war kein Dummerchen! Ida schluckte ihren Ärger herunter. »Warte, ich helfe dir!« Vorsichtig senkte Bendix den Eimer ab. Sie teilten sich den Griff und balancierten das Wasser ins Kirchenschiff, ohne einen Tropfen zu vergießen. Ihre Mutter kniete zwischen den Verletzten und half einem Mönch, einen Pfeil aus dem Rücken eines Mannes zu ziehen, der ohrenbetäubend brüllte. Ida stellte den Eimer ab und kam verängstigt und zugleich fasziniert näher. Am liebsten hätte sie sich sofort in die Arme ihrer Mutter geworfen. Da löste sich mit einem Ruck die Pfeilspitze aus dem Fleisch. Der Schrei brach ab. Ihre Mutter drückte einen Lappen auf das Loch, aus dem das Blut pulste.

Trost suchend wollte Ida sich an den Rücken ihrer Mutter schmiegen. »Jetzt nicht!«, wies diese sie scharf ab. Ida zuckte. Plötzlich war ihr zum Weinen zumute. Sie wollte, dass alles wieder so war wie früher. Sofort!

Bendix nahm ihre Hand. »Komm, lass uns gehen«, flüsterte er.

In diesem Augenblick wandte ihre Mutter sich um. Ihr Gesicht war beinahe so blass wie das Flussperlenkreuz, das an ihrer Kette hing. Feine Falten zeichneten ihre Wangen und die Stirn. »Wir brauchen mehr Tücher, um die Blutung zu stillen!«, rief sie.

»Tücher? Aber woher?«, wollte Bendix wissen.

»Sucht die anderen Helfer, euren Vater – einerlei! Aber schnell, Kinder, schnell!«

Bendix lief los. Er wollte Idas Hand abschütteln, aber Ida mochte ihren Bruder nicht loslassen. Der Blutgeruch überall verursachte einen ekligen Geschmack in ihrem Mund.

»Geht schon, worauf wartet ihr noch!«, trieb ihre Mutter sie an.

Ida folgte Bendix, bei ihm fühlte sie sich wohler. Glücklicherweise fanden sie einen der Stiftsherren, der ihnen die Beschaffung der Tücher abnahm, sie dann allerdings aus dem Gotteshaus scheuchte.

Draußen atmete Ida auf. Sie war froh, wieder an der frischen Luft zu sein. Gerade trieb die Sonne einen rosa Keil in das Grau des Oktoberhimmels. Bald würde es hell werden.

Erneut tastete sie nach Bendix’ Hand, doch dieses Mal entzog sich ihr Bruder ihr gleich. Ida wurde traurig. »Wo ist Vater?«

»Weiß nicht. Bei dem edlen Herrn von Sturtenburtle? Seine Männer haben einen von Herzog Heinrichs Rittern gefangen genommen. Wollen wir uns mal hinschleichen, um uns die Rüstung anzusehen? Ganz aus Gold soll sie sein.«

Skeptisch sah Ida ihren Bruder an. »Woher weißt du das?«

»Der Schreiner-Jan hat’s erzählt.«

Dann würde es wohl stimmen. Der Schreiner-Jan log nicht. »Wollen wir nicht lieber bei Mutter bleiben?«, fragte Ida unsicher.

»Der sind wir nur im Weg.«

»Oder was spielen? Verstecken vielleicht?«

»Bei Nacht? Außerdem sollen wir nicht draußen rumlaufen. Da gehen wir lieber in die Hütte zurück.«

»Nicht in die Hütte.« Ida schob die Zunge in die Zahnlücke. Konnte es nicht wie früher sein? Wenigstens für einen kurzen Moment? »Bitte, lass uns was spielen, nur ganz kurz«, quengelte sie.

Ihr Bruder verdrehte die Augen. »Na gut, aber lauf nicht zu weit weg. Versteck dich, ich zähle.« Bendix legte die Handflächen über die Augen und drehte sich um.

Ida hatte kaum damit gerechnet, dass ihr Bruder zustimmen würde, und blickte sich eilig um. Wo sollte sie sich nur verstecken? Und nicht so weit weg, was sollte das bedeuten? Zu leicht durfte sie es Bendix auch nicht machen. Vielleicht hinter die nächste Häuserreihe? Sie steckte ihr Holzpferdchen in die Gürtelschnur und sprintete los, tapste durch Schweinekot, versuchte, ihn von ihrem Lederschlappen abzuschütteln, hüpfte weiter, verschwand hinter der nächsten Ecke. Sie wollte in einen Verschlag, aber da tauchte die rotfleckige Schifferfrau Zwartje mit einem großen Balken in den Händen auf und fauchte sie an, sie solle sich verziehen, hier würde jetzt abgesperrt.

Was für eine komische Frau, dachte Ida. Zwartje hatte sich nicht einmal bedankt, als sie ihr die verlorenen Wäschestücke zurückgebracht hatten. Mutter hatte gemeint, sie solle sich darüber nicht grämen, manche Menschen mache die Angst eben schroff.

»Ich komme!«, hörte Ida aus der Ferne Bendix’ Stimme.

Idas Kopf flog herum. Jetzt schon? Noch immer hatte sie kein gutes Versteck. Vielleicht an der Hude? Waren an der Flussseite nicht die Fässer, Ballen und Karren der Händler gelagert worden, die beim Angriff der feindlichen Truppen in Bardowick Schutz gesucht hatten?

Nach einem kurzen Lauf war sie da – und erstarrte. Warum trieben sich die Ochsen jetzt ausgerechnet hier herum? Die gewaltigen Tiere jagten ihr eine Heidenangst ein. Aber die Ochsen würden Bendix vielleicht auch irritieren, was wiederum gut für ihr Spiel war. Ida duckte sich und schlug einen Bogen um die Herde. Zwischen Bauholz und Küferwerkzeug lag ein Fass auf der Seite – das war genau richtig! Ida schlüpfte hinein, zog die Beine an und schlang die Arme darum. Ganz klein machte sie sich. Ihr Atem klang laut in dem Fass, und es stank nach altem Fisch. Vielleicht sollte sie sich doch ein besseres Versteck …

Gerade als sie von Neuem den Kopf aus dem Fass steckte, entdeckte sie die Gestalt. Hochgewachsen, in feinem Umhang. War das ein Mann oder eine Frau? Und was tat die Gestalt hier? Mit der Rute trieb sie die Ochsen beiseite, schlug sie immer wieder, weil es ihr nicht schnell genug ging. Ein Hirte war das nicht, dafür war der Umhang zu fein. Die Gestalt hatte den Holzwall erreicht und machte sich an der Pforte zu schaffen. Stark war sie – das musste ein Mann sein! Aber was wollte er da? Schon flog das Tor auf. Ida sah den nebelverhangenen Fluss und die halb abgebrochene Brücke. Gebannt beobachtete sie, wie sich die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne auf der Wasseroberfläche spiegelten. So hoch stand die Ilmenau, dass die Hufe der Ochsen, die der Mann nun aus dem Tor trieb, schmatzend einsanken. Wollte er die Tiere ertränken? Sie mochte Ochsen nicht besonders, aber einem Lebewesen so etwas anzutun war grausam!

»Ida? Wo bist du?«

Die Stimme ließ Ida zusammenzucken und erfüllte sie gleichzeitig mit einem warmen Gefühl.

Was machte ihre Mutter hier? Sie wollte kein Donnerwetter hören!

»Komm zu mir. Komm in die Kirche, dort ist es sicher. Ich wollte vorhin nicht …« Mutter sorgte sich! Ida wollte gerade aus dem Fass klettern – da wurde der Tonfall ihrer Mutter schrill: »Was tut Ihr da?« Unwillkürlich zog Ida sich wieder ins Fass zurück. »Bitte nicht!«, schrie ihre Mutter.

Etwas fauchte, gefolgt von einem dumpfen Schlag. Ida spürte es in ihrem Hals puckern; das Blut rauschte in ihren Ohren. Was war geschehen? Sie musste sich zwingen, über den Fassrand zu lugen. Ihre Mutter lag auf der Erde. Die Gestalt stand über ihr und hieb und trat auf sie ein.

Tränen schossen in Idas Augen. »Mutter!«, schrie sie.

Die Gestalt fuhr herum und suchte die Umgebung ab. Ehe Ida wieder im Fass verschwunden war, hatte sie halb verschwommen das Gesicht des Schlägers gesehen. Sie tastete nach ihrem Holzpferdchen, wollte es tröstend an sich drücken, doch es war nicht mehr da. Sie musste es verloren haben, aber wann?

In diesem Augenblick brach die Hölle über sie herein. Getöse neben ihr. Ein Lärm, wie sie ihn noch nie gehört hatte. Sie zuckte bis zum Fassboden zurück. Ein Brüllen, als ob sich jemand sehr wehgetan hätte. Scheppern von Metall. Etwas platschte durchs Wasser. Krachen. Knirschendes Holz.

Ida hielt sich schluchzend die Ohren zu. Schrie von Neuem: »Mutter! Vater! Hilfe!« Wie gellend ihre Stimme klang! Ein gleißender Pfeil bohrte sich vor dem Fassrand in die Erde. Was sollte sie tun? Da wurden die Flammen schon vom Schlamm gelöscht. Durchdringend roch es nach Feuer. Sie musste ihrer Mutter zu Hilfe kommen! Und was war mit Bendix? Ob ihr Bruder ebenfalls zur Hude gekommen war? Ida wischte sich Schnodder und Tränen in den Ärmel, kroch schneckengleich zum Fassrand und schob ihren Kopf hinaus.

Sie sah den Pferdehuf nicht kommen. Das Hufeisen schrammte an ihrem Kopf entlang und hieb ihn in die weiche Erde. Wie weh das tat! Funken tanzen vor ihren Augen. Panisch rang Ida um Atem, sog Schlamm ein, schmeckte Dreck. Sie stemmte sich mühsam hoch, aber es war, als könnten ihre Arme sie nicht halten. Alles drehte sich um sie – glänzendes Metall, bunte Pferdedecken, blitzende Schwerter. All ihre Kraft musste sie zusammennehmen, um nach ihrer Mutter zu sehen. Überall waren jetzt Ritter, Pferde und Ochsen. Ein Gewirr von Hufen und Beinen, besudelt und um sich tretend. Wie sollte sie nur durch das Getümmel zu ihrer Mutter kommen? Aber sie musste es wagen! Ida nahm ihren Mut zusammen. Sie zitterte so sehr, dass ihre Zähne aufeinanderschlugen. Brandpfeile trafen auf die gegenüberliegenden Holzhütten. Schon loderten die Flammen auf – niemand war da, um sie zu löschen. Sie musste zwischen den unzähligen Beinen zu ihrer Mutter kriechen, wollte bei ihrer Mutter sein, ihre Mutter würde sie in Sicherheit bringen. Sie kam auf die Knie, noch immer halb im Fass, als wäre es ihr Schneckenhaus. Etwas Heißes rann über Idas Gesicht, fahrig wischte sie es ab. Rote Schlieren auf ihrer Haut. Sie verstand nicht, was passiert war, begriff es einfach nicht.

Ein Poltern hinter ihr, ein Schatten – zu schnell. Ida fuhr herum. Sie konnte dem Reiter, der über Holzstapel und Fass sprang, nicht ausweichen. Ein Ritter von finsterer Gestalt, das Gesicht von einem Helm verdeckt, dunkle Schlitze statt Augen. Ein Hinterlauf des Pferdes blieb am Holz hängen. Schon gerieten die Balken und Bretter ins Rutschen. Das erste Brett traf sie im Rücken, schmetterte sie erneut in den Dreck. Gerade noch konnte Ida die Arme um ihren Kopf schlingen, als eine Holzlawine auf sie niederging.

4

Magda! Bendix! Ida! Wo steckt ihr?«

Gerold drängte sich zwischen den Fliehenden hindurch, die von panischem Schrecken erfasst durch die Gassen liefen. Die Nachricht, dass die feindlichen Truppen durch das östliche Stadttor gebrochen waren, hatte sich in Windeseile unter den Eingeschlossenen verbreitet. Viele Häuser brannten; Flammen schlugen hoch in den Himmel. Die vielen Toten, Verletzten, die Zerstörung schmerzten ihn – etliche der Häuser hatte er mit seinen Helfern errichtet. Er sah sich um. Überall wurden erbitterte Kämpfe ausgetragen. Ritter hieben mit ihren Langschwertern scheinbar wahllos auf die Menschen ein. Welcher Weg war überhaupt noch sicher?

Vor ihm trat einer der Angreifer die Tür der Schmiede ein und zerrte Claus an den Haaren heraus. Weitere Kämpfer drängten sich an ihnen vorbei ins Haus. Gerold müsste dem Schmied zu Hilfe kommen, aber er hatte seine Waffe verloren. Während er sich noch hilflos umsah, wurde Claus das Schwert in die Brust gerammt. Erschrocken wich Gerold zurück. Claus war ein gottesfürchtiger Mensch und ein ehrlicher Handwerker gewesen; dieses Schicksal hatte er nicht verdient – das hatte niemand verdient. Das Kreischen einer Frau war zu hören, Kinderweinen. An der nächsten Ecke wurde einer Bürgerin vor den Augen ihrer Kinder Gewalt angetan. Gerold wollte es nicht sehen – und sah es doch. Die Hilflosigkeit trieb ihm die Hitze ins Gesicht. Es waren zu viele Angreifer – er konnte nichts tun, um der Frau zu helfen. Seine Sorge war beinahe übermächtig. Seine Frau und seine Kinder – er musste zu ihnen!

Gerold zog den Kopf zwischen die Schultern und taumelte weiter. Versuchte, den Kämpfen aus dem Weg zu gehen, und musste doch an ihnen vorbei. Aus dem Augenwinkel sah er den Dolch, der in seine Richtung ausgeholt wurde – gerade noch konnte er sich wegducken. Geistesgegenwärtig warf er sich dem Kämpfer in die Beine und riss ihn um. Bevor dieser den Dolch von Neuem erheben konnte, hatte Gerold ihn schon mit einem Faustschlag unschädlich gemacht. Er konnte zwar nicht mit dem Schwert kämpfen wie die Ritter – aber stark und wendig, das war er als Zimmermann! Gerold entrang dem leblosen Mann den Dolch und hastete weiter. Gleich hatte er seine Hütte erreicht.

Als er die offen stehende Hüttentür und die abgerissenen Fensterläden sah, schwante ihm Böses. Aus dem Inneren seines Hauses war Gepolter zu hören. Er stürzte hinein. Ihre wenigen Habseligkeiten lagen verstreut herum. In dieses Haus waren sie als frisch vermählte junge Eheleute eingezogen, hier hatten sie zwei Kinder bekommen und großgezogen – und jetzt war alles zerstört. Sein Zirkel und Magdas Stickrahmen – zerbrochen. Idas Stoffpuppe – zerrissen. Die Flöte, die er für Bendix aus einem Schwanenknochen geschnitzt hatte – kaputt. Magdas guten Umhang hatte einer der Krieger, die ihre Habseligkeiten durchwühlten, übergeworfen. Erinnerungen überschwemmten Gerold, ungefragt und in dieser Situation unerwünscht. Das Geld für den Stoff hatte Gerold sich vom Mund abgespart. Magda hatte das Leinen selbst gefärbt, ein Kleid und einen Umhang daraus genäht und beides sorgfältig bestickt. Mit geballten Fäusten wollte Gerold sich auf den Plünderer stürzen – doch im letzten Augenblick zog er sich zurück. Es war sinnlos, sich auf noch einen Kampf einzulassen. Er musste Magda und die Kinder finden. Das war das Einzige, was zählte. Aber wo waren sie? Wieder auf der Straße, sah er sich ratlos um.

Zwischen den Trümmern der gegenüberliegenden Häuserzeile entdeckte er Muhme Ermengard. Sie kauerte auf der Erde. Mit einer Hand grub sie, mit der anderen presste sie den Tontopf an sich.

Gerold packte ihren Arm. »Wo ist meine Familie?«

Die Alte heulte auf, ihr Gesicht angstverzerrt. »Was weiß denn ich?« Sie riss sich los, um weiterzugraben.

»Ihr müsst meine Fam…« Bevor er weiterfragen konnte, schleuderte ihn unvermittelt ein Tritt zu Boden.

»Hau ab, das ist meine Beute! Gib her, Alte!«

Ein hagerer Kerl mit brennendem Blick versuchte, Ermengard den Tontopf zu entringen, doch die Greisin klammerte sich daran fest. Gerold sprang auf die Füße und stürzte sich auf den Mann. Der Plünderer wehrte sich verbissen. Er warf Gerold eine Handvoll Dreck in die Augen und trat ihm gegen die Brust. Gerold krachte auf einen Schutthaufen und rang nach Luft.

»Her damit!«, hörte er den Plünderer zischen.

Halb blind rieb Gerold sich den Sand aus den Augen. Jetzt sah er, dass der Plünderer den Tontopf an sich gebracht hatte und ihn auf den Schädel der Greisin niederkrachen ließ. Mit einem dumpfen Knacken brach der Topf, und Münzen ergossen sich über den Körper der alten Frau. Woher hatte Ermengard das Geld? Dieses Geheimnis würde sie wohl mit ins Grab nehmen, denn ihre blutüberströmten Züge wirkten schlaff. Triumphierend raffte der Plünderer das Geld auf.

Die unmenschliche Grausamkeit ließ Gerold aufbrausen. Wutentbrannt stürzte er sich auf den Mann. Der Plünderer war jedoch durch seinen Erfolg gestärkt und skrupellos. Sie kämpften erbittert. Gerold drohte schon zu unterliegen, da trieb jemand dem Plünderer einen Dolch in den Hals, und er sackte schwer verwundet über Gerold zusammen.

Sein Retter war Meister Volkwart, der Ratsherr, für den er das Fachwerkhaus errichtete; das stellte Gerold fest, als er sich hochrappelte. Überrascht dankte er ihm. »Habt Ihr meine Familie gesehen?«, setzte er etwas atemlos hinzu.

Volkwarts Augen wanderten ungläubig über Ermengards Münzschatz, der auf der Erde verstreut war. »Ich habe schlechte Nachrichten. Mein Fachwerkbau ist ein Raub der Flammen geworden. Ihr werdet neu anfangen müssen. Wenn wir denn überhaupt überleben und von meinem Besitz noch etwas übrig ist«, sagte er abgelenkt.

Was interessierte Gerold jetzt die Baustelle? Häuser konnten wieder aufgebaut werden! »Meine Familie. Habt Ihr sie gesehen?«, insistierte er.

»Nein. Ihr solltet es in der Petrikirche versuchen. Dort haben sich einige Frauen und Kinder verschanzt«, sagte er. »Und mein Haus …« Der Ratsherr wischte den Dolch an Ermengards Kleid ab.

»Über den Bau sprechen wir, wenn wir das hier hinter uns haben«, versicherte Gerold ihm. »Gott sei mit Euch.«

Noch immer stand Volkwart über die Tote gebeugt. »Und mit Euch«, sagte er abwesend.

Gerold wandte sich ab. Er wollte gar nicht wissen, ob Meister Volkwart die Gelegenheit nutzte, um Ermengards Münzen an sich zu bringen. Er hatte nur ein Ziel: die Petrikirche!

Auf dem Weg kamen ihm Bardowicker Bürger und Handwerker entgegen. Obgleich die meisten nur mit Speeren und Forken bewaffnet waren, wirkten sie wild entschlossen.

Der Münzmeister Aluardo sprach Gerold an: »Komm mit! Am Flussufer wird jeder Mann gebraucht!«

»Dort sind unsere Feinde also eingedrungen? Ich wusste es – der Wall war dort zu niedrig!«

Der ältere Mann stützte sich auf sein Schwert und presste nach Luft ringend die Hand in die Seite. »Ich glaube kaum, dass das der Grund für den Angriff dort war. Angeblich tauchte aus dem Nichts ein Ochse auf und wies den Feinden den Weg durch die Furt. Jetzt hält die Ilmenau sie nicht mehr auf. Hermanus von Sturtenburtle versucht, die Feinde mit seinen Mannen zurückzudrängen, aber Herzog Heinrich hat einfach zu viele Ritter bei sich«, sagte Aluardo.

Er wollte Gerold mit sich ziehen, doch dieser zögerte. »Was ist mit den Frauen und Kindern?«, fragte er.

»Wenn es uns nicht gelingt, die Stadt wieder abzuriegeln, werden auch unsere Familien nicht überleben!«

Quälend langsam kämpften sie sich ins östliche Stadtviertel vor. Während rund um die Kirchen viele Häuser von den Flammen bislang verschont geblieben waren, lag hier alles in Trümmern. Gerold fiel es schwer hinzusehen. Nur selten entdeckte er ein Wirtshausschild im Dreck, einen ausgehöhlten Baumstamm, der als Brunnen diente, oder die Reste eines Grubenhauses. Überall säumten Leichen den Weg, und Körperteile ragten zwischen dem Schutt auf. Vereinzelt bargen Mutige die Verletzten und schafften sie auf Tragen oder mit Karren fort.

Gerade erst war es Meister Aluardo und ihm gelungen, einen feindlichen Ritter niederzustrecken. Allerdings hatte sich Gerold bei dem Kampf eine Armwunde zugezogen. Er riss einen Streifen vom Wams des Ritters und verband mit zusammengebissenen Zähnen den Schnitt in seinem Oberarm, der dumpf pulste. Er war kein Krieger, war es nie gewesen, und er wollte es auch nicht sein. Er wollte aufbauen, nicht vernichten! Als er fertig war, sah er sich um – und stutzte. Das Muster auf dem Fensterladen kam ihm bekannt vor. Hier hatte das Haus seines Freundes Poppo gestanden! Jetzt war der Besitz des Schiffers ein einziger Trümmerhaufen.

Hatte sich dort etwas bewegt? Wie betäubt ging Gerold auf den Hausschutt zu. Er meinte, ein leises Wimmern zu hören. Aluardo mahnte zum Aufbruch, doch da hob Gerold schon das halb verbrannte Holz weg. Ein Haarschopf kam zum Vorschein, ein fleckiges Gesicht – Zwartje. Poppos Frau lebte noch! Gerold rief nach seinem Kampfgefährten. Gemeinsam befreiten sie die Frau aus dem Schutt. Zwartje war schwer verletzt. Ihre Augen fanden nichts mehr, woran sie sich festhalten konnten, und ihr Atem ging schnell. Jetzt, wo sie vor ihm lag, wagte Gerold nicht mehr, sie anzufassen.

»Für die können wir nichts mehr tun! Wir müssen zur Hude!«, drängte der Münzmeister und hielt ihm das Schwert hin, das er dem Ritter abgenommen hatte. Doch Gerold kniete sich neben die Schwerverletzte.

»Die Balken haben … unser Heim nicht geschützt …«, stieß Zwartje keuchend hervor. »Wo ist … Poppo? Ist er … in Sicherheit?«