Gefährlicher Sog - Sabine Weiß - E-Book

Gefährlicher Sog E-Book

Sabine Weiß

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Beschreibung

Wer einmal in den Sog gerät, kann sich nur schwer befreien ...

Als sich der Seenebel vor Hörnum lichtet, gibt er bei den Tetrapoden am Strand eine Männerleiche frei. Auf den ersten Blick ist ersichtlich: Auf das Opfer wurde brutal eingestochen. Dreiundzwanzig Messerstiche zählt Gerichtsmediziner Sebastian Gerlich, zwei davon waren tödlich. Die eilig angereiste Kriminalkommissarin Liv Lammers und ihre Flensburger Kollegen ermitteln in alle Richtungen. Bald wissen sie: Der Tote heißt Timur Roters, hat zusammen mit seiner Frau Merret als Sozialpädagoge in einer Jugendwohngruppe gearbeitet und sich durch seine liberale Einstellung Feinde gemacht. Doch reicht das, um einen solchen Sturm der Gewalt zu entfesseln?

Liv Lammers ermittelt in ihrem achten Fall auf Sylt, Deutschlands beliebtester Urlaubsinsel

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Über das Buch

Über die Autorin

Weitere Titel

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Impressum

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Anmerkung und Dank

Über das Buch

Wer einmal in den Sog gerät, kann sich nur schwer befreien … Als sich der Seenebel vor Hörnum lichtet, gibt er bei den Tetrapoden am Strand eine Männerleiche frei. Auf den ersten Blick ist ersichtlich: Auf das Opfer wurde brutal eingestochen. Dreiundzwanzig Messerstiche zählt Gerichtsmediziner Sebastian Gerlich, zwei davon waren tödlich. Die eilig angereiste Kriminalkommissarin Liv Lammers und ihre Flensburger Kollegen ermitteln in alle Richtungen. Bald wissen sie: Der Tote heißt Timur Roters, hat zusammen mit seiner Frau Merret als Sozialpädagoge in einer Jugendwohngruppe gearbeitet und sich durch seine liberale Einstellung Feinde gemacht. Doch reicht das, um einen solchen Sturm der Gewalt zu entfesseln? Liv Lammers ermittelt in ihrem achten Fall auf Sylt, Deutschlands beliebtester Urlaubsinsel

Über die Autorin

Sabine Weiß, Jahrgang 1968, arbeitete nach ihrem Germanistik- und Geschichtsstudium als Journalistin. Seit 2007 veröffentlicht sie erfolgreich Historische Romane, seit 2016 zusätzlich Krimis um Kommissarin Liv Lammers und ihr Team. Mit deren Fall DÜSTERES WATT gelang ihr 2022 der lang verdiente Sprung auf die Bestsellerliste. Wenn Sabine Weiß nicht auf Recherchereise für ihre Bücher ist, lebt sie mit ihrem Mann und ihrem Sohn bei Hamburg.

Weitere Titel der Autorin:

Aus der Reihe um Liv Lammers

Schwarze Brandung

Brennende Gischt

Finsteres Kliff

Blutige Düne

Tödliche See

Düsteres Watt

Zornige Flut

Historische Romane

Hansetochter

Das Geheimnis von Stralsund

Die Feinde der Hansetochter

Die Tochter des Fechtmeisters

Die Arznei der Könige

Die Perlenfischerin

Der Chirurg und die Spielfrau

Krone der Welt

Gold und Ehre

Blüte der Zeit

SABINE

WEISS

GEFÄHRLICHERSOG

Sylt-Krimi

Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Originalausgabe

Copyright © 2024 by Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- und Data-Mining bleiben vorbehalten. Lektorat: Dr. Stefanie Heinen Covergestaltung: Manuela Städele-Monverde Covermotiv: © Trevillion Images: Silas Manhood | Susan O’Connor Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck ISBN 978-3-7517-4775-2

Sie finden uns im Internet unter luebbe.de Bitte beachten Sie auch: lesejury.de

1

Hörnum, 7. April, 21.55 Uhr

Die Aussicht durchs Bullauge: eine düstere Suppe. Der stahlgraue Regenvorhang floss direkt in das Tintenschwarz des Meeres. Trotzdem war es ein verlockender Anblick. Er sehnte sich nach frischer Luft, denn der intensive Farbgeruch bereitete ihm Kopfschmerzen. Und sein Rücken erst! Er stemmte sich hoch, legte die Hände auf die Hüften, dehnte die Rippen, bis er den Schmerz nicht mehr ertrug.

Alter Mann. Der liebevoll spöttische Ton, in dem die Worte in seinem Kopf hallten, hellte seine Laune nicht auf, sondern zog ihn weiter herunter. Alles, was er sich aufgebaut hatte, stand auf dem Spiel. Wieder starrte er auf das, was vor ihm auf dem abgewetzten Holztisch lag. Wenn sich seine Probleme doch in Luft auflösen würden. Wenn er irgendwie …

Sein Blick blieb auf seinem Handrücken hängen. Der Kugelschreiber hatte geschmiert, und nun sah es aus, als hätten sich die Punkte zwischen Daumen und Zeigefinger vermehrt. Knasttränen. Entschlossen versuchte er, die Tinte abzurubbeln. Er brauchte nicht noch mehr Tattoos, die ihn an seine Taten erinnerten.

Ein Poltern ließ ihn auffahren. Er glaubte, Schritte zu hören, Stimmen. Es würde doch nicht ernsthaft jemand … Fahrig versuchte er, alle Aufmerksamkeit auf sein Gehör zu richten. Er hörte das leise Glucksen der Wellen gegen den Schiffsrumpf. Das Ächzen der wettergegerbten Planken. Klackernd spielte der Wind mit der Takelage. Sonst nichts. Er musste sich geirrt haben.

Nur der Klabautermann. Sein heiseres Lachen klang schaurig, auch in seinen eigenen Ohren. Langsam drehte er durch.

»Für heute reicht’s. Es reicht schon lange«, murmelte er und machte sich ans Aufräumen. Ein letzter Check der Kajüte, dann schleppte er sich die schmale Stiege zum Deck hoch. Das Segelboot lag ruhig im Wasser. Es war Baujahr 1962 und inzwischen wieder einigermaßen in Schuss. Wenn er daran dachte, wie die Töhop ausgesehen hatte, als er sie vor einem Jahr unter schäbigen Planen in einem Unterstand entdeckt hatte – ein halbes Wrack war sie gewesen. Der Erbe des verwahrlosten Grundstücks in Dithmarschen hatte es kaum erwarten können, es loszuwerden. Zunächst hatten sie den Stahlrumpf ausgebessert und mit Antifouling behandelt. Sie hatten den Motor und die hydraulische Lenkung auseinandergebaut, jetzt waren die Verschleißteile an Deck und das Teakholz an der Reihe. Bald würden sie zu einem ersten Segeltörn aufbrechen können.

Sobald er das Deck betrat, riss der Wind an ihm, schleuderte Meersalz auf seine Haut. Der Hafen von Hörnum schimmerte trüb im Licht vereinzelter Lampen. Nachdem der März stürmisch und kalt gewesen war, hatte sich der April bislang mild und trocken gezeigt; heute war es tagsüber sogar ungewöhnlich warm gewesen. Jetzt war davon nichts mehr zu merken.

Gegenüber schaukelte der Muschelkutter im Nordwind. Groß war das Schiff, die hohen Ausleger verschwanden im Regendunst. Jemand hatte vergessen, den Strahler auszuschalten. Vielleicht war es aber auch eine Vorsichtsmaßnahme gegen die dreisten Diebstähle der letzten Zeit. In ihm brandete Groll auf. Gerade wollte er sich abwenden, als er am Rande seines Gesichtsfelds eine Bewegung wahrzunehmen meinte. War jemand auf dem Kutter?

Er kniff die Augen zusammen und starrte ins Zwielicht. Sein Blick blieb an der nächstgelegenen Muscheldredge hängen. Wie ein offenes Maul hing das Schleppnetz an seinem Stahlrahmen. Rostig, in den Kettengliedern und an der Schlickrolle noch Reste des Meeresbodens, den es zerstört hatte. Noch ehe die Wut aufflammen konnte, die ihn bei diesem Anblick sonst immer packte, registrierte sein Gehirn, was es bislang anscheinend hatte ignorieren wollen.

Schlagartig legte sich eine eiserne Hand um seine Brust. Er keuchte. In dem Schleppnetz lag etwas. Nein, in der rostigen Todesfalle lag jemand. Glänzend umgaben die langen Haare das bleiche Gesicht, die Kleidung hing nass am Körper, darunter ein verzerrter Schatten in der Pfütze. Schlaff, todesgleich hing der Körper da. Hatte er etwas damit zu tun? Zuzutrauen wäre es ihm!

Wie eingefroren fixierte er die Gestalt, fassungslos und zugleich voller angespannter Hoffnung, dass sie sich rühren würde. Bitte, beweg dich!

Er wusste, wer das war. Vielleicht war es auch seine Schuld. Tu was! Du musst etwas tun! Ein Ruck durchfuhr ihn.

Mit wenigen Schritten war er an der Reling, auf dem wie ausgestorben daliegenden Hafenkai. Seine Hände zitterten so, dass er das Smartphone kaum aus der Hosentasche bekam. Sollte er den Krankenwagen rufen, die Polizei? Lieber nicht, noch nicht. Er musste zu hundert Prozent sicher sein, wer das war. Was da los war. Musste Hilfe leisten, wenn es noch möglich war.

Er rannte zu dem Kutter, hechtete an Deck, der Adrenalinstoß unterdrückte seine Rückenschmerzen. Gespannt bis in die Haarspitzen lauschte er. Seine Gedanken überschlugen sich. Sollte er sich bemerkbar machen? Oder lieber erst einmal die Lage sondieren? Herausfinden, ob noch jemand an Bord war? Er entschied sich für Letzteres.

Im Schutz der Wandschatten schlich er vorsichtig voran. Sein Puls hämmerte in seinen Ohren. Die Gestalt im Schleppnetz – das Bild hatte sich in seine Netzhaut eingebrannt. Hatte ihr Körper gezuckt? Dann war noch Leben in ihr!

Der Fischgeruch, der von den Planken aufstieg, ließ ihn würgen. Ein Schritt noch, dann würde er in den Schein des Strahlers treten.

Das LED-Licht wirkte in den Nieselschleiern trübe, tauchte das Schiffsdeck in einen Weichzeichner. Dennoch erkannte er die Gestalt jetzt. Zart schimmerten ihre Adern durch die Haut. Er zuckte zurück. War das wirklich eine Pfütze unter dem Körper? Oder war das Blut?

Sein Mageninhalt schoss hoch, unaufhaltsam. Er taumelte, seine Finger fanden keinen Halt. Krampfend erbrach er sich auf das Schiffsdeck.

Schutzlos, wie er war, sah er den Schatten nicht, der sich ihm näherte. Als er ihn bemerkte, war es zu spät.

2

Hörnum, 8. April, 6.10 Uhr

Mit dem letzten Rundumschlag mit dem Klapphocker hatte Martina Knirps die Möwen endlich verscheucht. »Haut bloß ab, ihr Biester!«, rief sie den Vögeln nach. Dann wandte sie sich ihrem Patenkind zu, das sie bei dem Schlag beinahe gestreift hatte.

»Och nö, musste das sein?« Fünsch blickte Simon auf das Frikadellenbrötchen, das er vor Schreck fallen gelassen hatte und das nun im feinen Sand lag.

»War keine Absicht. Aber wenn diese Promenadengeier uns weiter nerven, fangen wir gar nichts.«

»Das ist eine Silbermöwe. Larus argentatus. Die bekannteste Möwe der Nordsee. Die Jungvögel sind drei Jahre lang graubraun gefleckt, aber schon so groß wie –«

»Ich weiß!« Schroff unterbrach Martina den Vortrag ihres Patenkinds. Simon war nun wirklich ein Klugscheißer! Sie freute sich immer auf ihre gemeinsamen Ausflüge, und die Reise nach Sylt war ein besonderes Geschenk gewesen. Aber der oberlehrerhafte Ton, den er sich mit seinen zwölf Jahren bereits angewöhnt hatte, strapazierte ihre Nerven. Auch wenn es natürlich toll war, wie sehr er sich für die Natur interessierte. Auch hatte ihr sein Vorschlag geschmeichelt, gemeinsam angeln zu gehen. Das machte er normalerweise nur mit seinem Vater. »Klasse, wie gut du dich mit den Vögeln auskennst«, setzte sie deshalb versöhnlicher hinzu.

»Dad hat mir extra ein Buch über die Tierwelt an der Nordsee besorgt. Du darfst es dir gern mal ausleihen«, sagte Simon gönnerhaft und kontrollierte seine Angel; noch immer hatte kein Fisch angebissen.

Dad. Wie die Kinder heute redeten! Martina entgegnete nichts, sondern klappte den Hocker wieder auf und ließ sich darauf sinken. Sie klaubte zwei Schokoriegel aus dem Rucksack. Für ihren Geschmack war es viel zu früh, und dann noch so ein ungemütlicher Tag. Gestern hingegen hatte man bereits den Sommer erahnen können. Sehnsüchtig blickte sie auf den blassgelben Streifen, der zwischen Dunst und Dunkelheit kaum auszumachen war. »Das wird doch heute nichts mit dem Angeln. Schau dir mal diese trübe Brühe an. Das ist ja wie im schottischen Hochmoor …«

Simon wischte den Sand von der Frikadelle. »Seenebel. Ein interessantes Wetterphänomen. Er entsteht, wenn der Temperaturunterschied zwischen Wasser- und Landoberfläche hoch ist. Genau richtig, um Wolfsbarsche zu fangen. Die mögen es, wenn das Wetter verhangen ist. Was meinst du, wie cool das aussieht, wenn die Sonne aufgeht!«

Wenn sie die Sonne denn heute überhaupt zu Gesicht bekommen würden. Trotzdem rührte seine Begeisterung Martina. »Ist es nicht noch zu früh im Jahr, um Wolfsbarsch zu fangen?«, fragte sie.

»Eigentlich schon. Aber der Klimawandel zerstört nicht nur unsere Welt, sondern bringt auch die Gewohnheiten der Tiere durcheinander. Wir sind genau zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Morgens beim ersten Licht kommen die Räuber nah ans Ufer.« Noch einmal kontrollierte Simon seine Ausrüstung, dann warteten sie schweigend.

Martina ließ ihren Blick über den weiten Sandstrand schweifen. Als sie von ihrem Ferienapartment hierhergestapft waren, waren die Straßen wie leer gefegt gewesen. Auch jetzt war noch niemand unterwegs. Über den nahe gelegenen Tetrapoden zankten die Möwen kreischend. Die vierfüßigen Betonblocksteine waren echte Schandflecke, und für den Küstenschutz hatten sie auch nichts bewirkt – im Gegenteil, die Südspitze Sylts schrumpfte und schrumpfte. Den Möwen schienen sie jedoch zu gefallen. Sie machten Beute. Nur bei ihnen: nicht das kleinste Zupfen an der Angelschnur.

»Wollen wir uns auf die Tetrapoden stellen und von da aus angeln? Die Möwen scheinen reichlich Fische zu finden«, schlug Martina vor.

»Da stehen wir viel zu unsicher. Du musst Geduld haben«, sagte Simon altklug.

»Ach, echt?« Sie biss sich auf die Zunge. Die spitze Bemerkung war ihr herausgerutscht. Wer ist hier die Erwachsene? Ihr Patenkind hatte recht; mit ihrer Geduld war es nicht weit her. »Ich werde das mal auskundschaften.«

Simon verschränkte die Arme vor der Brust und fixierte die Stelle, an der das Nylon im Meer verschwand, als könnte er den Fang damit beschleunigen. »Tu, was du nicht lassen kannst. Aber beklag dich nachher nicht, wenn du dir beim Klettern den Fuß verdrehst.«

Klugscheißer schreibt man mit drei S. Schlecht gelaunt stapfte Martina durch den feuchten Sand auf die Steinklötze zu. Es war inzwischen hell genug, um zu sehen, wohin sie trat. Der Meeresgeruch wurde schnell intensiv. Algig. Oder war ein totes Tier angeschwemmt worden? Ihr wurde flau. Eigentlich standen Simon und sie doch gut am Sandstrand. Was wollte sie also hier? Sie wollte schon umdrehen, als sie etwas Großes an der Wasserlinie zwischen den Betonblöcken entdeckte. Was war das?

»Und, wie ist es da?«, rief Simon ihr zu. »Soll ich unsere Leinen einholen, die Sachen packen und nachkommen?«

»Noch nicht!« Abgelenkt hob Martina die Hand. Gebannt ging sie auf den Fund zu. Sie wollte das nicht sehen, wusste aber gleichzeitig, dass sie nachsehen musste. Dass sie Gewissheit haben musste. Sonst würde ihr Kopfkino den Rest des Tages die Breitwand ihres Gehirns bespielen.

Die Möwen stoben schimpfend auf. Sicher nur ein toter Seehund. Sie würde den Fund den Seehundjägern oder der Kurverwaltung melden und dann ihre Ruhe haben. Doch als Martina die wachsweiße Haut mit dem schrill roten Keil sah, der das Fleisch aufgebrochen hatte, war ihr klar, dass dies ein Fall für die Polizei war. Einen Fisch würden sie heute ganz sicher nicht mehr fangen.

3

Flensburg, 7.25 Uhr

Stumpfe Gewalt gegen den Hals. Die Tatwaffe konnte nicht gefunden werden … Frische Reifenspuren auf dem Vorplatz, die jedoch weder mit dem Opfer noch mit einem Täter oder möglichen Zeugen in Verbindung gebracht werden konnten, was möglicherweise an der abgelegenen Lage der Tierpension liegt …

Die letzten Worte des Polizeiberichts las Liv schon nicht mehr, sondern vervollständigte sie in Gedanken. Ihr Blick wanderte zu dem Franzbrötchen vor ihr auf dem Schreibtisch. Zucker und Zimt waren zu einer knusprigen Kruste karamellisiert, und es duftete himmlisch. Doch das Frühstück musste warten. Es war still im Kommissariat. Kein brandheißer Fall hielt sie auf Trab, nur Routinearbeiten. Akten, Berichte, Fortbildungen, Aussagen vor Gericht. Sie hatte sich vorgenommen, vor Frühstück und Dienstbesprechung einige Akten des Cold Case noch einmal durchzugehen, der ihr im Hinterkopf herumspukte. In den mehr als drei Jahren, die sie nun schon für das K1, die Mordkommission der Polizeidirektion Flensburg, arbeitete, hatte sie in ruhigen Phasen immer wieder ungelöste Altfälle gesichtet. Dieser Fall jedoch, bei dem kurz nach der Wende in Westerwall auf Sylt die Betreiber einer Tierpension ermordet worden waren, hatte sie besonders gepackt; vermutlich, weil die Kinder sich vor dem Täter versteckt hatten und einige Tage neben den Leichen ihrer Eltern hatten ausharren müssen. Eine Horrorvorstellung! Die Spuren hatten damals aufs Festland geführt.

Liv erhob sich und trat an die Karte von Schleswig-Holstein, die einen Großteil der Bürowand bedeckte. Vor ihr breitete sich das nördlichste Bundesland aus, eine weite Fläche zwischen Nord- und Ostsee, Dänemark, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern und Niedersachsen. Farblich hervorgehoben war das weitläufige Einsatzgebiet der Polizeidirektion Flensburg. Sie suchte den Punkt auf der Karte, an dem sich die Spuren verloren hatten. Eine frühere Ziegelei in einer abgelegenen Gegend, keine Straßen in der Nähe, auf die Touristen sich verirrten. Wer auch immer diesen Hof angefahren hatte, hatte vermutlich dorthin gewollt. Doch auch in dieser Hinsicht hatten die Kollegen sorgfältig gearbeitet; sie hatten sich überall im Umfeld über Autosichtungen erkundigt.

Sie suchte Straßen und Wege ab, in der Hoffnung, dort einen Hinweis zu finden. Sollte weiterhin kein aktueller Fall dazwischenkommen und ihre Aufmerksamkeit fordern, würde sie die Orte aufsuchen, die mit diesem Altfall in Verbindung standen. Natürlich würde sie nach so langer Zeit nichts mehr finden, was auf den Doppelmord verwies. Aber manchmal half die Auseinandersetzung mit konkreten Dingen und Schauplätzen dem Gehirn eher auf die Sprünge als intensives Aktenstudium.

Gedankenverloren ging Liv ans Fenster und blickte auf das Zentrum Flensburgs hinaus. Die bunten Häuser des Kapitänsviertels und die spiegelnde Fläche der Förde waren mehr zu ahnen als zu sehen. Dafür entdeckte sie auf dem Fußweg zur Polizeidirektion ihren Kollegen Andreas Bork, der von seiner Lebensgefährtin Babsi und deren zwei kleinen Kindern zum Kommissariat begleitet wurde. Er nahm das Gesicht seiner Freundin in die Hände, lächelte sie an und verabschiedete sich mit einem Kuss und einer innigen Umarmung. Es freute Liv, dass Andreas, der früher das Image des harten Kerls gepflegt hatte, mit seiner neuen Familie glücklich war. Er war noch gar nicht lange wieder im Dienst, hatte nach einer Kopfverletzung während eines Einsatzes wochenlang im Krankenhaus gelegen und anschließend eine Reha durchlaufen.

Liv trat zurück an den Schreibtisch und wollte gerade ein Stück ihres Franzbrötchens abzupfen, als das Telefon klingelte. Sie griff zum Hörer. »K1, Kriminalkommissarin Lammers. Moin. Wie kann ich helfen?«

»Hey, Liv, du bist’s! Schön, deine Stimme zu hören. Ich fürchte allerdings, ich brauche mal schnell deine Chefin.« Momke klang so gestresst, dass Liv sich eine Nachfrage verkniff und ihn sofort durchstellte.

Gespannt heftete sie die Unterlagen zurück in die Akte. Momke Nebber war nicht nur ein früherer Schulkamerad und Freund, sondern auch bei der Kripo Sylt. Wenn er so dringend Hilke Hasselbrecht sprechen wollte, würde sie für diesen Altfall wahrscheinlich kaum noch Zeit haben – dann gab es etwas Brandeiliges.

Wie Momke war Liv im beschaulichen Morsum im Osten Sylts aufgewachsen. Sie hatte die Insel geliebt, gehasst und sich aus dem Herzen gerissen. Lange hatte es gedauert, die alten Wunden zu heilen. Doch jetzt, wo sie ihre Liebe zu Sylt wieder zuließ, nahm sie jedes Verbrechen persönlich, das auf diesem meerumtosten Fleckchen Land verübt wurde.

»Ist endlich mal wieder was los?« Auf einmal stand Andreas in der Tür, die Haltung so breit, als wollte er ihr den Durchgang versperren. Er trug das Haar kurz rasiert, was ihm etwas Grobschlächtiges gab. Nach wie vor war die Haut um seine Narbe herum kahl.

Sie sah ihn an. Sein Ton stieß ihr auf, richtiggehend sensationsgeil klang er. Seit sie ihn kannte, gehörte er zu den Kollegen, die immer Action brauchten. Brachten nicht einmal der Unfall und sein neues, stabileres Privatleben ihn zu etwas mehr Besonnenheit?

»Möglicherweise«, sagte sie ausweichend. »Momke telefoniert gerade mit Hasselbrecht.«

Einen Augenblick später rief Hasselbrecht ihre Mordkommission zusammen, und nur wenige Minuten danach versammelten sich die Ermittler im Besprechungszimmer. Hilke Hasselbrecht war eine stattliche Dame mit Kostüm und Perlenkette, deren voluminöse Föhnfrisur selbst turbulentesten Einsätzen standhielt. Wie immer wirkte sie auch jetzt hochkonzentriert. »Die Kripo Sylt hat soeben einen Leichenfund gemeldet. Eine Anglerin hat den männlichen Toten auf den Tetrapoden bei Hörnum entdeckt«, berichtete sie.

»Eine Wasserleiche? Also Selbstmord?« Andreas unterstrich seine Fragen mit einem enttäuscht klingenden Schnalzen; eine neue Angewohnheit, die enervierend sein konnte.

Hilke Hasselbrecht runzelte die Stirn. »Es wurde anscheinend scharfe Gewalt zum Nachteil des Opfers ausgeübt. Nicht unmöglich, aber auch nicht wahrscheinlich, dass der Mann sich die Einstichstelle in der hinteren Rippengegend selbst beigebracht hat. Andreas, Sie übernehmen die Teamleitung und machen sich so schnell wie möglich mit Liv auf den Weg. Ich setze den Staatsanwalt ins Bild.«

Liv unterdrückte ein Seufzen. Ausgerechnet heute war ihr Teampartner Hennes wegen einer Aussage vor Gericht. Auch sonst war die Mordkommission unterbesetzt, da ihre Kollegin Wanda in Elternzeit war. Ersatz war nicht leicht zu bekommen, denn die Behördenmühlen arbeiteten langsam, und viele Abteilungen waren am Limit. Dass die Teamleitung von Fall zu Fall wechselte, war üblich. Und Andreas war längst einmal wieder an der Reihe gewesen. Nach seinem Unfall und der Reha hatte er zunächst Startschwierigkeiten gehabt, dann jedoch gute Arbeit geleistet.

Andreas sah auf seine Smartwatch. »Lammers, du benachrichtigst KT und Rechtsmedizin«, ordnete er dann in einem Befehlston an, der Liv aufstieß. »In einer Dreiviertelstunde fahren wir los. Wir haben keine Zeit zu verlieren.«

Eine halbe Stunde später schloss Liv ihr Häuschen im Kapitänsviertel auf. Lachen perlte ihr entgegen, und sie erinnerte sie sich daran, dass Elise Frühstücksbesuch hatte. Schwanzwedelnd kam ihr ihr Hund Zorro entgegen, und sie begrüßte ihn flüchtig. Ihre Großmutter saß im Kreis ihrer Freundinnen im frisch renovierten Wohnzimmer. Auf dem Esstisch standen um den Brötchenkorb verteilt etliche Schälchen mit Krabben und Farmersalat, Käse und Wurst.

Kurz kam Liv in den Sinn, was sie verloren hatten. Noch immer schreckte sie nachts manchmal mit panisch pochendem Herzen auf. Was für ein Glück, dass sie hier inzwischen wieder so gemütlich zusammenleben konnten!

Als Elise sie sah, sprang sie auf und lief ihr entgegen; ihr flotter Kurzhaarschnitt und ihr junger Blick straften die unzähligen Fältchen Lügen. Niemand hätte ihr ihre siebenundsiebzig Jahre angesehen.

Liv grüßte in die Runde und bemerkte, wie eine von Elises Freundinnen unauffällig die Sektflasche vom Tisch verschwinden ließ; manchen war es für Alkohol nie zu früh. Sie lächelte. »Lasst euch nicht stören. Ich muss nur ein paar Sachen zusammenpacken.«

Als Liv in ihrem Zimmer verschwand, kam Elise ihr nach. »Wohin geht’s denn, Lütte?«

»Nach Sylt.«

»Schon wieder? Fährt Sebastian auch?«

Liv nickte. »Er ist ebenfalls auf dem Weg.« Es war schon absurd genug, dass sie die Heimat ihrer Kindheit und Jugend ausgerechnet durch ihren Beruf wiederentdeckt hatte. Noch verrückter erschien es ihr, dass sie nun mit einem Rechtsmediziner zusammen war. Obgleich sie erst zweiunddreißig war, hatte ihr Leben doch schon viele überraschende Wendungen genommen. Viele davon hatten mit Sylt zu tun. Ich bin mit dieser Insel verbunden, in guten wie in schlechten Zeiten. Erst seit Kurzem schien etwas Ruhe eingekehrt zu sein. Zu Elise und Sanna, ihren Herzensmenschen, hatte sich Sebastian gesellt. Und auch mit den Traumata ihrer Vergangenheit hatte sie inzwischen abgeschlossen, zumindest kam es ihr immer öfter so vor. Einzig das Verhältnis zu ihrer Schwester Annika war nach wie vor ein wunder Punkt. Daran zu denken, vermied Liv, so gut es ging.

Sie warf Unterwäsche, einen Wollpullover und ihren Badeanzug in eine Reisetasche. An der Nordsee wusste man nie genau, welches Wetter einen erwartete, aber Baden ging für ein Nordlicht wie sie immer. »Weißt du, wo meine dicke Wollmütze und die neue Windjacke sind?«

»Ich glaube, Sanna hatte beides neulich an.«

Liv unterdrückte einen Fluch. Das war der Nachteil, wenn man eine sechzehnjährige Tochter mit einer ähnlichen Statur hatte. Sie ging in Sannas Zimmer, wo das übliche Chaos herrschte: Bücherstapel, eselsohrige Notizblöcke und Mappen, Berge getragener und sauberer Kleidung, dazwischen Teller und Schalen, auf denen Essensreste festgetrocknet waren. Liv unterdrückte einen Aufschrei. Entwickelte Sanna sich zu einem Messi? Oder war es normal für Jugendliche, sich wie ein Bär im Winterschlaf in ihrer Höhle zu verkriechen? Unter der Bettwäsche entdeckte Liv die Sporttasche ihrer Tochter. Sie wühlte darin herum, schob Prospekte über ein Auslandsjahr und verschwitzte T-Shirts beiseite.

»Nach den Katalogen habe ich Sanna schon x-mal gefragt. Und die Klamotten müffeln. Sanna könnte wirklich mal aufräumen, wenn sie von der Schule zurück ist«, sagte sie genervt.

Elise lächelte. »Ja, könnte sie. Aber du weißt ja, wie das ist: In dem Alter sind andere Dinge tausendmal wichtiger. Außerdem glaube ich, dass Jugendliche Unordnung gar nicht wahrnehmen. Das ist dem jugendlichen Gehirn nicht gegeben. So’n büschen Chaos – das ist doch kein Malheur.«

Ihre Großmutter verschwand, und Liv suchte weiter nach ihren Sachen. Sie konnte sich nicht daran erinnern, wie sie selbst in dem Alter gewesen war. Sanna war zur Welt gekommen, als Liv sechzehn gewesen war, und sie hatte kämpfen müssen, um ihr neues Leben und die Schule unter einen Hut zu bekommen. Einzig Elise hatte sie zu verdanken, dass sie die damalige Situation bewältigt hatte.

Endlich hatte sie ihre Mütze gefunden. Aber was war das? Liv tastete den kleinen, harten Gegenstand ab, ließ ihn aber schließlich abgelenkt fallen, ohne ihn aus der Tasche zu holen. Die Zeit drängte. Noch immer keine Spur der Windjacke. Dafür hing die gesteppte neongrüne Collegejacke, die Sanna neulich auf einem Flohmarkt erstanden hatte, über der Stuhllehne.

Liv schlüpfte hinein. Passt doch. Das hatte ihre Tochter davon! Draußen hupte es. Eilig holte sie ihre Reisetasche, lief die Treppe hinunter, zog einen selbst gestrickten Loop über und band ihre langen rotblonden Haare zurück. An der Tür reichte Elise ihr ein in Butterbrotpapier gewickeltes Brötchen, das Liv zu ihrem noch immer unangetasteten Franzbrötchen legte. Sie schloss ihre Großmutter in die Arme.

»Hol di fuchtig, Lütte!«, sagte Elise.

»Ich passe immer gut auf mich auf. Was soll mir schon passieren?«

Kaum hatte Liv auf dem Beifahrersitz Platz genommen, gab Andreas Gas. »Endlich!«, knurrte er. »Wir müssen den Autozug um 10.35 Uhr bekommen.«

Viel zu schnell fuhr er durch die schmalen, am Hang gelegenen Gassen von Sankt Jürgen. Fußgänger drückten sich neben Kübeln voller blühender Narzissen an eine Hauswand. Liv wurde in den Sitz gepresst. »Von Niebüll gehen ständig Autozüge ab, da musst du niemanden totfahren, um einen bestimmten zu erreichen«, sagte sie mühsam beherrscht.

»Wenn dir mein Fahrstil nicht passt, kannst du aussteigen.« Ohne eine Antwort abzuwarten, betätigte Andreas die Kurzwahltaste seines Handys. »Läuft der Erste Angriff? Was ist mit der Absperrung? Sind die Suchhunde benachrichtigt?«, blaffte er in den Lautsprecher.

Liv verdrehte die Augen. Das konnte ja heiter werden.

Als sie endlich den Verladebahnhof in Niebüll erreicht hatten, war Liv nass geschwitzt. Andreas hatte auf der Landstraße telefonierend etliche Trecker überholt und war dabei mehr als einmal nur knapp vor dem Gegenverkehr eingeschert. Ihre zunehmend angesäuert geäußerten Bitten, nicht so zu rasen, hatte er ignoriert.

Erst als sie auf den Autozug fuhren und so zum Stillstand gezwungen waren, wurde auch Andreas ruhiger. Im Wagen vor ihnen perlte Champagner in Gläsern, das sah sie durch die Frontscheibe. Viele Urlauber genossen das Sylt-Flair schon auf der Anreise. Ob mit dem Zug, dem Autozug oder mit der Fähre – die Fahrt auf die beliebteste Insel der Deutschen dauerte ihre Zeit. Also wechselte man sofort in den Urlaubsmodus und feierte bereits den Weg angemessen.

Liv sah in den Rückspiegel. Im Auto hinter ihnen öffnete Karlpeter Botersen-Evers, der Chef der Kriminaltechnik, mit schicksalsergebener Miene eine Salatschale. Er bemüht sich tapfer, alte Gewohnheiten abzulegen.

Andreas hingegen kurbelte das Fenster herunter und zückte eine E-Zigarette. Jetzt fiel es Liv ein: Der harte Gegenstand in Sannas Sporttasche war die Kartusche einer E-Zigarette gewesen. Seit wann rauchte ihre Tochter?

Andreas schnalzte. »Du freust dich bestimmt, auf die Insel zurückzukehren. Wann beziehst du eigentlich deine fette Friesenvilla?«

Obgleich Liv wusste, worauf ihr Kollege anspielte, fragte sie unschuldig: »Von was für einer Villa redest du?«

Eine dicke weiße Wolke zog aus dem Fenster und mischte sich mit der Nordseeluft. »Na, die aus deinem Erbteil.« Grinsend wandte Andreas sich zu ihr. »Man erzählt sich, du hättest es gar nicht mehr nötig zu arbeiten.« Seine Hand wanderte auf ihren Oberschenkel. »Du bist eine gute Partie.«

Liv kam das Auto auf einmal sehr eng vor. »Lass das!«, sagte sie scharf.

Langsam zog er die Hand weg.

»Das geht dich nichts an.« Beherrschter setzte sie hinzu: »Aber ehe du mich die ganze Zeit damit nervst: Ich habe das Erbe ausgeschlagen.«

Andreas starrte sie fassungslos an. »Du spinnst!«

Liv schüttelte den Kopf. Der Tod ihres Vaters, eines Sylter Immobilienmoguls, und die Eröffnung des Testaments hatten für Gerede gesorgt. Sie hatte versucht, die Gerüchte zu ignorieren, denn sie hatte genug mit dem zu tun, was die Vorfälle des letzten Herbstes in ihr selbst aufgewühlt hatten. Und das Testament ging nur sie und ihre Familie etwas an. »Das ist alles, was ich dazu sagen werde – kapiert? Jetzt lass mich in Ruhe telefonieren. Wir benötigen die Strömungsdaten des Bundesamts für Seeschifffahrt und Hydrografie. Das sollte wichtiger sein, als sich mit Klatsch und Tratsch zu beschäftigen.«

4

Hörnum, 12.05 Uhr

Der Himmel wölbte sich kobaltblau über ihnen, nur in den Heidesenken neben der Landstraße hing noch der Seenebel, von dem in den Regionalnachrichten die Rede gewesen war. Liv bedauerte das. Sie erinnerte sich an Tage auf Sylt, an denen bei klarem Himmel und Sonnenschein dichte Nebelschleier über die Insel gewabert waren – ein magischer Anblick. Die Landstraße führte sie schnurstracks in den Süden der Insel. Braun lagen Glocken- und Besenheide da. Büsche und Bäume wirkten aus der Ferne kahl, die ersten Knospen noch winzig klein. Doch bald schon würden die Stechginster ihr knallgelbes Feuerwerk entzünden. Liv konnte es kaum erwarten. Der Winter war ihr in diesem Jahr besonders trüb vorgekommen.

Schon lenkte Andreas den Dienstwagen nach Hörnum, den südlichsten Ort der Insel, hinein. Im Ortszentrum mit seinen Läden und Gaststätten bog er vor dem Supermarkt rechts ab. Wenig später parkte er am Rande der Straße Süderende hinter den Einsatzwagen der Kollegen.

Erleichtert stieg Liv aus. Eine salzige Brise schlug ihr ins Gesicht, spielte mit ihren Haaren.

Momke Nebber kam ihnen entgegen. Mit seinem blonden Schopf und den roten Wangen erschien er Liv immer wie ein erwachsener Michel aus Lönneberga. Statt der von ihm geliebten farbenfrohen Kleidung trug er heute jedoch Preußischblau; einzig das Halstuch war türkis. Er wollte Liv begrüßen, doch Andreas kam ihm zuvor: »Du kannst auf dem Weg Bericht erstatten.«

Momke zog die Augenbrauen hoch und lächelte Liv entschuldigend an, dann wartete er darauf, dass die Kriminaltechniker zu ihnen stießen. »Wir haben erst einmal einen Spurenpfad eingerichtet, wobei das in dieser Umgebung natürlich schwierig ist«, begann er schließlich. »Das Spurenzelt ist bereits über dem Leichnam errichtet.«

Liv nickte. Es war wichtig, dass nicht noch mehr Spuren vernichtet oder gar versehentlich neue gelegt wurden.

»Dann schauen wir uns das Ganze mal an.« Karlpeter Botersen-Evers und seine drei Mitstreiter liefen mit ihrem Equipment voraus, Liv und ihre Kollegen folgten.

Sie passierten einen Streifenpolizisten, der Unbefugte fernhalten sollte, und bogen auf einen Sandweg ein, der durch die Dünen führte. Liv ließ den Blick schweifen. Was sie sah, weitete ihr Herz und ernüchterte sie zugleich. Obgleich die Südspitze Sylts von Naturschutzgebieten umgeben war, drang die Bebauung immer weiter in die empfindliche Landschaft vor. Die Menschen liebten die Natur der Insel, gleichzeitig zerstörten sie sie. Als Jugendliche war Liv gegen die Bauwut auf die Straße gegangen und hatte sich darüber mit ihrem Vater gefetzt. Heute wehrten sich Naturschutzverbände und Bürgervereine, doch der Raubbau ging unvermindert weiter. Musste immer die Gier über die Vernunft siegen?

»Sicherheitshalber haben wir noch nichts angefasst, obgleich uns die Inselverwaltung im Nacken sitzt. Ihr wisst sicher, dass die Osterferien gerade begonnen haben. Das ist der inoffizielle Saisonstart. Die Insel erwacht aus dem Winterschlaf – viele Quartiere sind ausgebucht«, erklärte Momke.

Andreas hielt sich am Rande des Weges. »Bis Ostern haben wir den Fall hoffentlich gelöst und sind wieder zu Hause bei unseren Lieben. Das ist ja noch fast zwei Wochen hin. Vielleicht stellt sich auch heraus, dass der Tote hier lediglich angespült wurde und der Fall in einen ganz anderen Zuständigkeitsbereich gehört.«

Liv schwieg zu den Spekulationen ihres Kollegen. Zunächst wollte sie sich mit den Begebenheiten des Falls vertraut machen. Sie hatten inzwischen den weiten Sandstrand erreicht. Der Wind brauste, und die Brandung begrüßte sie tosend. Leicht schief und doch stabil erhob sich ein Spurenzelt über dem südlichen Rand der Betonklötze. Sie füllte ihre Lunge mit der frischen Nordseeluft und spürte neue Energie in sich. Rechter Hand ging es zur Strandsauna und zum Restaurant Kap Horn, links von ihnen erstreckte sich das graue Band der Tetrapoden und schließlich die unberührte Küste bis zur Inselspitze, der Hörnum Odde. Sie liebte dieses Fleckchen Erde, das bei Sonnenschein etwas Südseehaftes hatte.

Neben ihnen versuchte eine Dreizehenmöwe quäkend, eine größere Sturmmöwe zu vertreiben. Einige Polizisten suchten den Strand und die Dünen ab. Andere redeten an der Flatterbandabsperrung mit Touristen, die wissen wollten, was los war. Auch die ersten Pressevertreter waren schon da, wie Liv erkannte.

»Scheußliche Dinger«, nörgelte Andreas, während er sich an einem der übermannsgroßen Tetrapoden festhielt, um Sand aus seinem Schuh zu klopfen. »Dieser Küstenschutz ist doch eh Blödsinn. Der Meeresspiegel steigt, und irgendwann werden die Stürme die Insel einfach wegspülen.«

Liv wäre am liebsten direkt weitergegangen. Sie konnte es kaum erwarten, die Ermittlungen aufzunehmen. Um über Sinn oder Unsinn der Küstenschutzmaßnahmen zu diskutieren, fehlte ihr die Geduld.

Momke hingegen schüttelte ungehalten den Kopf. Er war Lokalpatriot durch und durch. »Küstenschutz ist kein Blödsinn«, widersprach er. »Sylt hat eine wichtige Wellenbrecherfunktion. Jeder Cent, der hier in den Küstenschutz fließt, ist gut investiert. Die Tetrapoden sind allerdings Teil des Problems. Durch sie hat sich auf der Leeseite der Insel der Sandabbau um ein Vielfaches verstärkt. Trotz ihrer sechs Tonnen wurden sie unterspült und sogar versetzt. Weißt du noch, Liv, wie fein der Sand war, als wir Kinder waren?«

»Puderfein«, bestätigte Liv. »Den gibt es jetzt nur noch in den Dünen – der Rest wurde nach Amrum geschwemmt.«

»So ein Quatsch. Hier ist doch überall welcher!«, schimpfte Andreas.

»Das ist größtenteils Sand, der über Aufspülungen hierhergeschafft wird«, hielt sie ihm entgegen.

Sie lief weiter, und Momke folgte ihr. »Wo ist denn Hennes geblieben? An seine brummige Art habe ich mich ja gewöhnt. Aber dieser Kollege …«, sagte er mit gedämpfter Stimme.

»Der ist noch bei Gericht, kommt nach«, sagte sie. »Wurde jemand auf Sylt, Amrum, Föhr oder Rømø vermisst gemeldet?«

»Meines Wissens nicht, aber die Kollegen im Revier gehen gerade die Meldungen von den umliegenden Inseln und Küstenorten durch«, berichtete Momke.

Andreas überholte sie mit großen Schritten und steuerte direkt auf die ältere Frau und das Kind zu, die in einiger Entfernung neben ihrer Angelausrüstung im Sand saßen. Während die Angelweste des Jungen sich vor lauter Blinkern und Bändern beulte, wirkte Martina Knirps auf Liv, als habe die Angel sie gefangen. Ausführlich ließen sie sich von ihr erzählen, wie sie die Leiche gefunden hatte. Leider hatten weder die Frau noch ihr Patenkind einen anderen Menschen am Strand oder ein Boot in Küstennähe beobachtet.

»Wenn Ihnen oder Simon noch etwas einfällt, was für uns von Belang sein könnte, können Sie sich jederzeit melden«, verabschiedete Liv die beiden.

Als sie kurz darauf eine Bewegung zwischen den Dünen entdeckte, schlug ihr Herz schneller. Sie hatte Sebastian nur zwei Tage nicht gesehen, und doch kam es ihr vor, als sei es ewig gewesen.

Auch Andreas hatte ihn bemerkt. »Da ist ja die Rechtsmedizin endlich!« Er feixte. »Gut, Lammers, sag ihm Hallo, aber lenk den feinen Doktor Gerlich bloß nicht so lange ab.«

Liv ignorierte Andreas’ Bemerkung und ging Sebastian einige Schritte entgegen. Wie so oft war sie verlegen, wenn sie ihren Freund in einer beruflichen Situation traf. Professionalität war ihnen beiden wichtig. Sebastians Locken waren zerzaust, und die Sommersprossen auf seinem Nasenrücken schienen dunkler zu werden, sobald er ins Küstenlicht trat.

Sebastian umarmte und küsste sie kurz, aber innig. Dann wandten sie sich gemeinsam dem Spurenzelt zu, aus dem in diesem Moment einige Kriminaltechniker traten. Es war am äußersten Rand der Tetrapoden aufgebaut und wurde teilweise vom Meer umspült. Botersen-Evers erteilte ihnen die Erlaubnis hereinzukommen. Sie schlüpften in Schutzanzüge, zogen Schuhschützer und Handschuhe an. Innen flapperte der Wind am Kunststoff der Zeltwände; das Glucksen des Meeres drang nur noch gedämpft zu ihnen. Ohnehin war Liv so auf den Toten konzentriert, dass sie ihre Umgebung in diesem Augenblick kaum noch wahrnahm. Der Mann lag verdreht und auf dem Bauch zwischen Sand und Beton. Schwarze, etwa schulterlange Haare mit grauen Strähnen klebten an seiner Haut. Sein Oberkörper war nackt, dazu trug er Jeans und Socken, aber nur einen Turnschuh. In seiner Seite war eine scharf umrissene Wunde zu erkennen. Am Kopf, vor allem in Augennähe, war das Fleisch zerfetzt; vermutlich hatten sich die Möwen daran gütlich getan. Auch an den Händen gab es Wunden; möglicherweise Abwehrverletzungen. Sein Alter war schwer zu schätzen; er mochte Mitte dreißig sein.

Liv hatte schon öfter Wasserleichen gesehen. Diese sah nicht aus, als hätte sie lange dagelegen. Dennoch konnte es gut sein, dass die Wellen den Körper in diese Position gebracht hatten.

»Wir haben den Leichnam spurenkundlich untersucht, abgeklebt und wieder in die Auffindesituation gebracht, obgleich das Meer die meisten Spuren weggespült haben dürfte«, berichtete Botersen-Evers. »Immerhin konnten wir unter den Fingernägeln Substanzen sicherstellen. Im Umfeld der Leiche wurden keine weiteren Spuren gefunden.«

»Dann darf ich?« Nachdem Botersen-Evers seine Zustimmung signalisiert hatte, öffnete Sebastian seinen Tatortkoffer und machte sich an die Arbeit. Zunächst untersuchte er die Leiche äußerlich, vor allem die Wunden, und maß die Körpertemperatur, wobei er die Ergebnisse direkt in ein Diktiergerät sprach.

Liv trat einen Schritt näher. Der Tote trug um das Handgelenk mehrere Freundschaftsbänder und Eintrittsbänder von Konzerten und Festivals. Wenn sie Glück hatten, waren einige mit personalisierten Ticketnummern versehen, anhand derer sie die Identität des Toten feststellen konnten. Arme und Hände wiesen Kratzer und Schnitte auf, die sowohl Treibverletzungen als auch Abwehrverletzungen sein könnten. Liv fiel eine Tätowierung zwischen Daumen und Zeigefinger der rechten Hand auf.

»Das Tattoo haben wir fotografiert. Solche Knasttränen sind nichts Besonderes, aber vielleicht findet ihr trotzdem einen Treffer in der BKA-Datenbank«, sagte Botersen-Evers.

Vorsichtig drehte Sebastian den Leichnam um. Liv sog scharf die Luft ein. Andreas wich einen Schritt zurück. »Heilige Scheiße!«, stieß er aus.

Der Oberkörper des Toten war mit klaffend roten Kerben übersät. Ein Schlachtfeld auf engstem Raum.

Der Kriminaltechniker nickte verständnisvoll. »Unserer ersten Zählung nach wurde der Mann von achtzehn Messerstichen getroffen. Aber das werden Sie sicher genauer bestimmen, Doktor Gerlich. Das Verletzungsbild ist etwas unübersichtlich, wie man unschwer erkennen kann.«

»Zumindest hat sich die Frage erübrigt, ob wir es mit einem Tötungsdelikt zu tun haben«, sagte Liv schneidend. »Vermutlich hat jemand skrupellos, brutal und mit großer Wut auf den Mann eingestochen.«

Andreas nickte. »Das muss ein Irrer gewesen sein. Und dieser Irre läuft noch immer frei auf der Insel herum.«

Dieser Einschätzung konnte Liv nicht zustimmen. Ein Täter musste ihrer Erfahrung nach nicht verrückt sein, um derart gewalttätig über jemanden herzufallen. Doch sie wollte keine fruchtlose Diskussion anzetteln. »Sieht nach einem Overkill aus«, hielt sie fest. Von einem Overkill oder Übertöten sprach man, wenn exzessive Gewalt ausgeübt worden war, obgleich das Opfer bereits gestorben war. Allerdings gab es keine Definition, ab wie vielen Messerstichen man von einem Overkill ausgehen musste; manchmal wurden zehn schwere Stichverletzungen genannt, manchmal mehr als ein Dutzend.

»Die überbordende Aggression kann auf eine persönliche Beziehung zwischen Täter und Opfer hindeuten. Andererseits kann die Tat auch unter Alkohol- oder Drogeneinfluss verübt worden sein. Aber auch das ist Spekulation, solange wir nicht wissen, wie lange der Leichnam im Wasser gelegen hat, und die zurückliegenden Strömungsverhältnisse nicht kennen«, sprach Liv ihre Gedanken aus. »Die Strömungen um Sylt sind sehr stark und variieren je nach Tide. Insbesondere an der nahe gelegenen Hörnum Odde ist die Nordsee heftig in Bewegung. Dort klafft das Hörnumtief, in dem während einer Tide über fünfhundert Millionen Kubikmeter Wasser mit einer Geschwindigkeit bis zu eins Komma fünf Metern pro Sekunde zwischen Sylt und Föhr hin- und herströmen.«

»Besserwisserin«, brummte Andreas.

Liv fing Sebastians genervten Blick auf. »Es wäre hilfreich, wenn ihr mich jetzt in Ruhe meine Arbeit machen lassen könntet«, sagte er.

Als die Bestattungsunternehmer den Leichnam abtransportierten, kamen sie noch einmal zusammen. Trauben von Schaulustigen hatten sich inzwischen an den Absperrungen versammelt. Noch immer suchten Polizisten Strand und Dünen nach Spuren ab. Einer war mit einem Metalldetektor unterwegs. Etliche Spurenmarken tupften die Landschaft.

»Dann schießen Sie mal los!«, forderte Andreas.

Sebastians Kiefermuskeln spielten. Liv wusste, wie ungern er sich zu vorläufigen Urteilen hinreißen ließ, gleichzeitig kannte er natürlich die Notwendigkeit erster Anhaltspunkte. »Ich habe dreiundzwanzig Stichwunden festgestellt, die ich bei der Obduktion genauer untersuchen muss, um mehr zur Tatwaffe sagen zu können. Das Opfer hat sich heftig gewehrt, worauf die Abwehrverletzungen hinweisen.«

»Ein dynamisches Geschehen also«, hielt Liv fest.

Sebastian nickte. »Das Opfer könnte in das Messer hineingegriffen haben, um den Angriff abzuwehren, darauf weisen Verletzungen im Bereich der Beugesehnen der Finger und der Hohlhände hin. In einigen Wunden konnte ich Partikel sicherstellen, möglicherweise Plastik.«

»Wurden die Partikel hineingeschwemmt?«, fragte Liv.

»Eher mit der Klinge beim Stich hineingetrieben.«

Wie hart muss man zustechen, damit Plastik in einer Wunde stecken bleibt?, schoss ihr durch den Kopf. »Vielleicht hat man dem Opfer einen Müllsack über den Kopf gezogen und dann zugestochen«, mutmaßte sie.

»Möglich. Hinweise auf die genaue Substanz wird die chemische Analyse liefern«, wich Sebastian aus. »Die Liegezeit im Wasser kann höchstens wenige Stunden betragen haben, denn ich konnte lediglich schwach ausgebildete Waschhautbildung feststellen.«

Andreas machte mit der Zunge eine schnelle Folge schnalzender Geräusche. »Und die Todeszeit?«

Diese Frage hassten Rechtsmediziner besonders, da war Sebastian keine Ausnahme. »Der Tod trat vor zwölf bis fünfzehn Stunden ein, mehr lässt sich derzeit noch nicht sagen«, antwortete er kurz angebunden. Er packte seinen Tatortkoffer und wandte sich ab.

»Wie ist es mit Fingerabdrücken?«, hielt Andreas ihn auf.

»Die Fingerbeeren sind aufgeweicht, aber ich hoffe, mit dem Thanatoprint-Verfahren bessere Ergebnisse liefern zu können.«

Liv folgte Sebastian, um sich zu verabschieden. Er hatte von dem Verfahren bereits erzählt. Mithilfe verschiedener Einbalsamierungsflüssigkeiten war es möglich, auch bei verwesten oder anderweitig beschädigten Leichen Fingerabdrücke wiederherzustellen. Immerhin drei Viertel aller so behandelten Fingerabdrücke waren für einen Abgleich im Automatisierten Fingerabdruck-Identifizierungssystem des Bundes und der Länder, dem AFIS, geeignet. Dennoch war ein Fingerabdruck allein keine Garantie für eine Identifikation – dafür musste eine passende Vergleichsprobe im AFIS vorhanden sein. Waren die Fingerabdrücke des Toten nicht im System, sah es schlecht aus.

Er lächelte sie zaghaft an. »Soll ich mich mal umhören, ob ich uns für nächstes Wochenende eines dieser grauenhaft überteuerten Apartments buchen kann, damit wir uns sehen können?«

»Lass uns abwarten, was der Tag noch bringt. Zur Not können wir vielleicht bei Katharina oder Peet unterschlüpfen«, schlug sie vor. Ihre Freundin und der neue Freund ihrer Großmutter nahmen sie, wenn möglich, gern auf.

»Das wäre am einfachsten. Falls es Larissa schlechter geht, muss ich ohnehin umplanen.«

»Klar.« Liv lächelte verständnisvoll. Sie rechnete es Sebastian hoch an, dass er sich so fürsorglich um seine kranke Ex-Frau und den gemeinsamen Sohn Noah kümmerte – und das neben seinem aufreibenden Vollzeitjob. Dass ihre Beziehung dabei zu kurz kam, schmerzte zwar und ließ sie immer wieder an ihrer Zukunftsfähigkeit zweifeln, doch gegen diese Gefühle kämpfte sie an. Ihr ging es gut. Andere hatten nicht so ein Glück. Außerdem bemühte Sebastian sich, jede freie Minute mit ihr und Noah zu verbringen.

Sie küsste ihn noch einmal. Irgendwann würde sie sich hoffentlich an das logistisch herausfordernde Leben einer Patchworkfamilie gewöhnen. »Vielleicht haben wir den Fall bis dahin ja schon abgegeben, weil er in den Zuständigkeitsbereich einer anderen Dienststelle fällt«, sagte sie.

»Das reicht jetzt langsam, Lammers! Genug geturtelt!«

Liv fuhr herum. Was bildete Andreas sich ein?

»Und ihr dahinten, trödelt nicht, sondern macht ein bisschen schneller!«, setzte ihr Kollege fauchend hinzu.

Die angesprochenen Polizisten fuhren auseinander. Liv schüttelte unwillig den Kopf. Dieser schroffe Ton war ein weiteres Zeichen für Andreas’ fehlende Führungsqualitäten. Sie hasste es, wenn andere behaupteten, sie hätten es »ja gewusst«. In diesem Fall war es allerdings keine Überraschung. Es war lediglich die Frage, wie lange ein Team unter Andreas’ Leitung funktionieren würde.

5

Westerland, 17.25 Uhr

»Das fasse ich nicht!«

Andreas klang so aggressiv, dass Liv die Hand über den Telefonhörer legte und sich umwandte. Was war denn jetzt schon wieder? Ihr Kollege stand neben Momke, dessen Wangen noch röter glühten als üblich, und dem Sylter Polizisten Urs, der auf den Boden starrte, als habe er dort etwas verloren.

Die Spurensuche am Strand hatte auf den ersten Blick keine entscheidenden Hinweise zutage gefördert. Kein Portemonnaie war angespült worden, weder Ausweis noch Handy, und auch die Tatwaffe blieb verschwunden. Das Ergebnis der rechtsmedizinischen Untersuchung würde ebenfalls noch auf sich warten lassen. Die Kommissare waren daher ins Polizeirevier im Kirchenweg gefahren und hatten dort die Aufgaben verteilt. Liv hatte sich intensiv mit den Strömungsgeschwindigkeiten beschäftigt und wusste inzwischen, dass die Strömung in den Stunden vor dem Leichenfund nordwärts gerichtet gewesen war. Aber ob der Tote in Hörnum ins Wasser geraten war, auf einer der anderen Inseln oder sogar in St. Peter-Ording oder Husum und von dort aus mit dem Sog nach Sylt geschwemmt worden war, war fraglich. Vielleicht hatte der Täter den Leichnam auch vom Inselinneren hierhergeschleppt und von den Tetrapoden aus dem Meer übergeben. Noch hatten sie keinen Hinweis, der die eine oder andere Theorie belegte oder verwarf. Auch die Tätowierung und die Kleidung hatten sie bislang nicht weitergebracht; beides war zu weit verbreitet.

»Wir hätten schon lange wissen können, wer unser Toter ist. Aber unser Kollege hier hat es verbaselt!«, schimpfte Andreas.

Liv trat zu den dreien. Der Streifenpolizist blies sichtlich bekümmert die Wangen auf. Urs war Anfang zwanzig und hatte ein weiches Gesicht, das die kindlichen Züge noch nicht ganz verloren hatte. Auf seinem Hals leuchteten rote Flecken.

»So schlimm wird’s schon nicht gewesen sein«, sagte Liv. »Was ist passiert?«

Dankbar über den verständnisvollen Ton sah Urs sie an. »Heute Morgen hat eine Frau angerufen und ihren Mann vermisst gemeldet. Er ist letzte Nacht nicht nach Hause gekommen. Ich sagte ihr, bei einem erwachsenen Mann könne das schon mal vorkommen. Sie solle sich später noch einmal melden, wenn er dann noch immer nicht aufgetaucht sei.«

»Hat die Anruferin denn einen Verdacht geäußert, dass Leib und Leben ihres Mannes in Gefahr sein könnten?«, wollte Liv wissen.

»Eben nicht! Sonst hätte ich anders gehandelt! Ich kenne die drei Kriterien für eine Vermisstenfahndung: Eine Person hat den gewohnten Lebenskreis verlassen, der derzeitige Aufenthaltsort ist unbekannt, und eine Gefahr für Leib und Leben kann angenommen werden.«

»Alles richtig gemacht also, Urs.« Liv sah ihn aufmunternd an. »Passt die Beschreibung denn auf unseren Toten?«

»Das habe ich geprüft, als die ersten Infos über den Leichenfund eintrafen. Ich dachte, vielleicht könnte er es ja doch sein …« Urs stieß seufzend die Luft aus. »Das Alter kommt hin. Und dann habe ich festgestellt, dass der Vermisste aktenkundig ist: Timur Roters, achtunddreißig Jahre alt, geboren als Sohn einer Deutschen und eines türkischstämmigen Einwanderers in Hamburg. Er war wegen Drogendelikten und Körperverletzung im Gefängnis, ist seitdem aber sauber – das hat er zumindest in einem Interview erzählt, das ich bei einer Schnellrecherche gefunden habe. Seit einigen Jahren lebt er auf Sylt, war zunächst als Sozialarbeiter eines Jugendheims tätig und leitet jetzt die Wohngruppe Di Tökumst bei Tinnum, also eine stationäre Jugendhilfeeinrichtung.«

Er hielt Liv einen Zettel hin. »Ich habe ein Foto ausgedruckt und die Kontaktdaten seiner Frau sowie die Adresse aufgeschrieben.«

Andreas riss ihm das Foto aus der Hand. Nach einem flüchtigen Blick darauf verkündete er: »Das ist unser Toter.« Er reichte Liv den Ausdruck.

Sie ließ das Gesicht auf sich wirken, verglich es mit ihrer Erinnerung. Der Tod und die Liegezeit im Wasser veränderten Gesichter stark, und doch war die Ähnlichkeit frappierend. Sogar die Tätowierung war in der Akte vermerkt.

»Hast du bei der Frau nachgefragt, ob Roters in der Zwischenzeit wieder aufgetaucht ist?«, wollte Liv von Urs wissen.

»Noch nicht. Ich wollte … nicht schon wieder etwas falsch machen.«

»Besser so«, sagte Andreas streng. »Wir übernehmen das. Momke, du rufst da an. Finde bei der Gelegenheit gleich heraus, bei welchem Zahnarzt Roters ist – dann können wir uns dort den Zahnstatus beschaffen, um ihn mit dem der Leiche abzugleichen. Lammers, du machst der Rechtsmedizin Dampf.«

»Und was machst du?«, fragte Liv, der langsam die Geduld ausging.

Ohne ihre Frage zu beantworteten, wandte Andreas sich Rabia zu, die zu ihnen getreten war. Die burschikose Sylter Kommissarin hatte eine Nachricht für ihn. »Doktor Gerlich hat gerade angerufen. Er konnte die Fingerabdrücke mit dem Thanatoprint-Verfahren wiederherstellen und schickt uns eine Datei.«

Erstaunt hob Liv die Augenbrauen. Das war schnell gegangen. Sebastian musste die Analyse sofort in die Wege geleitet haben. Gleich darauf scharten sich Andreas, Urs und Momke gespannt um den Computer, an dem ein Kriminaltechniker den Abgleich mit den im AFIS hinterlegten Fingerabdrücken vornehmen würde. Liv hingegen ging an den Schreibtisch zurück, an dem sie gearbeitet hatte, gab den Namen »Timur Roters« in die Suchmaschine ein und überflog, was sie über ihn und die Wohngruppe finden konnte. Sie wollte die Zeit nutzen, denn der Abgleich der Fingerabdrücke konnte dauern.

»Treffer!«, rief Andreas und packte bereits seine Jacke. »Los geht’s! Informieren wir die Angehörigen und die Kollegen über Timur Roters’ Tod, und nutzen wir den Überraschungsmoment!«

Liv sprang auf. »Das kannst du nicht ernst meinen! Eine Todesnachricht zu überbringen ist doch kein ermittlungstaktischer Schachzug! Mal ganz abgesehen davon, dass wir uns in einem sensiblen Gebiet bewegen werden. Die jungen Leute sind ja nicht ohne Grund in der Wohngruppe. Vielleicht haben sie psychische Probleme oder sind traumatisiert. Da kannst du doch nicht einfach mit der Nachricht hereinplatzen, dass Roters tot ist! Sie kannten ihn gut, hatten zu ihm vermutlich eine vertrauensvolle Verbindung. Von den Angehörigen ganz zu schweigen! Soweit ich weiß, hat er die Wohngruppe zusammen mit seiner Frau Merret geleitet; auch die Tochter lebt dort.«

Andreas wirkte konsterniert. »Was schlägst du vor?«

»Wir rufen das Kriseninterventionsteam an und sorgen dafür, dass sie bei Bedarf psychologischen Beistand vom Festland bekommen. Und als Erstes telefonieren wir mit Hasselbrecht.«

Andreas überholte einen Transporter, auf dessen Pritsche Reetbündel gestapelt waren. Er hatte darauf bestanden, selbst zu fahren, und Liv hatte keine Lust gehabt, auch noch darüber zu diskutieren. Ein Fehler! Seit Hilke Hasselbrecht ihren Vorschlag zum weiteren Vorgehen unterstützt hatte, schmollte Andreas ohnehin. Dabei folgten sie lediglich der Standardprozedur.

Um sich abzulenken, konsultierte Liv auf dem Tablet die Informationen, die ihre Kollegen und sie zusammengestellt hatten. »Roters war eine interessante Persönlichkeit. Im Internet ist ein Interview zu finden, in dem er glaubwürdig darüber spricht, wie er Drogen und Kriminalität hinter sich ließ, um als Streetworker zu arbeiten«, berichtete sie.

»Nur weil er sich gut verkaufen kann, heißt es noch lange nicht, dass stimmt, was er sagt.« Ungeduldig klopfte Andreas auf das Lenkrad. »Typen wie den kenne ich. Tun geläutert und halten anderen ihr soziales Engagement vor, dabei gehen sie heimlich weiter ihren kriminellen Machenschaften nach. Würde mich nicht wundern, wenn das Drogenscreening Roters’ neues Image Lügen straft. Und dann diese Knasttränen …«

»Die Bedeutung von Tränen-Tattoos sind umstritten –«, begann Liv.

Andreas fiel ihr ins Wort. »Jede Träne steht für einen Mord!«

»Nicht unbedingt«, widersprach sie. »Die Tätowierung kann auch ein Zeichen der Trauer sein, wenn ein nahestehender Mensch Opfer eines Verbrechens wurde. Ein allgemeines Zeichen für einen Gefängnisaufenthalt. Oder man lässt sich die Tränen lediglich aus Solidarität stechen – wie Amy Winehouse.«

Sie betrachtete Andreas von der Seite. Nur weil ihr seine draufgängerische, schroffe Art nicht gefiel, war er noch lange kein schlechter Polizist. Das durfte sie nicht vergessen. Hilke Hasselbrecht hatte sich bestimmt etwas dabei gedacht, als sie ihm die Teamleitung übertragen hatte. Andererseits hatte er schon früher Grenzen überschritten, als es um Minderjährige gegangen war. »Wie kommt eigentlich deine Freundin damit klar, dass du allem und jedem misstraust?«, fragte sie wider besseren Wissens.

»Die fühlt sich gut von mir beschützt, danke der Nachfrage.« Er schnalzte. »Es ist sicherlich nicht leicht, seine Naivität abzulegen, wenn man wie du in der heilen Sylt-Welt aufgewachsen ist.«

Ärger kochte in Liv hoch, und einen Moment lang spielte sie verschiedene Antworten durch. Dann aber entschied sich zu schweigen. Was wusste Andreas schon über die Welt, in der sie aufgewachsen war? Und was ging ihn das an? Angesichts dessen, was ihnen bevorstand, war dieser Streit die Mühe nicht wert.

»So ein Projekt für schwer erziehbare oder delinquente Jugendliche muss den Syltern ein Dorn im Auge sein«, setzte er nach.

Jetzt reichte es aber. »Ganz und gar nicht!«, brach es aus ihr heraus. »Es hat schon immer Kinderheime auf Sylt gegeben, beispielsweise in Morsum. Das Klappholttal, die heutige Akademie am Meer, hat nach dem Zweiten Weltkrieg Hunderte Kriegswaisen aufgenommen. Auch heute gibt es auf der Insel etliche Erholungsheime und Gästehäuser für Kinder und Jugendliche sowie Schullandheime.«

»Die Kinder und Jugendlichen dort sind aber nicht kriminell.«

»Ob sie das sind, wissen wir von den Bewohnern der Jugendwohngruppe bislang ebenso wenig.«

»Wir werden es dank der neuen EU-Vorschriften auch nur schwer herausfinden. Die sind doch nur dafür ausgetüftelt worden, uns das Leben schwer zu machen!« Er schnalzte unwillig.

Liv wusste, worauf er hinauswollte. Das Gesetz zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten in Jugendstrafverfahren und das damit verbundene Gesetz zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung hielten Polizei und Justiz auf Trab und sorgten noch immer für Diskussionen. Sie widersprach: »Das ist doch totaler Unsinn! Die neuen Regeln dienen dem Schutz Minderjähriger. Ich gebe aber zu, dass sie noch alltagstauglicher werden müssen.«

»Hauptsache, du hältst mir etwas entgegen. Manchmal glaube ich, das hat System.«

Sie fuhren vor Westerland von der Landstraße ab und zwischen Wiesen und Ackerland hindurch. Liv unterdrückte ein Seufzen und sah aus dem Fenster. Von den Büschen stoben Schwärme kleiner Vögel auf, Stare. Auf einem Tümpel schwammen Gänse, und in der Ferne stemmten sich Radfahrer gegen den Wind. Schilder warben für den Inselzoo in Tinnum. Schließlich bogen sie in einen Sandweg ein, und nach einiger Zeit erreichten sie einen Bauernhof, der von noch kahlen Hainbuchenhecken eingefasst war.

Di Tökumst, verkündete der Schriftzug in Graffiti-Sprühfarben auf einem aus Altholz gezimmerten Schild.

»Di Tökumst – was soll das eigentlich heißen?«, meinte Andreas.

»Das ist Sölring – Sylterfriesisch – und bedeutet ›die Zukunft‹.« Ein guter Name, fand Liv. In Schleswig-Holstein gab es viele Jugendhilfeeinrichtungen, Kinderheime und sogar ein Jugendhafthaus, die Jugendanstalt Schleswig. Kinder und Jugendliche, denen es nicht möglich war, bei ihren Eltern aufzuwachsen, konnten in einer Wohngruppe untergebracht werden, wo sie mit pädagogisch ausgebildeten Betreuern lebten. Ziel war es, irgendwann in die eigene Familie zurückzukehren oder als Volljährige die eigenen vier Wände zu beziehen.

Sollte es bei all diesen Einrichtungen nicht immer darum gehen, dass die jungen Menschen, für die dort gesorgt wurde, trotz eines schwierigen Starts eine gute Zukunft hatten?

Erst als sie auf den Hof fuhren, erkannte Liv, wie weitläufig die Hofstelle war. Im Mittelpunkt stand ein lang gezogenes Backsteingebäude mit Reetdach. Es war eines der selten gewordenen utlandfriesischen Häuser, ehemals Wohnstätte friesischer Siedler. An das Hauptgebäude grenzten Ställe und Schuppen, weitere waren auf dem Gelände verstreut, einige sahen baufällig aus. Dazu gab es zwei offensichtlich neue Gewächshäuser. Mehrere Jugendliche und Erwachsene bevölkerten den Hof. Zwei Mädchen striegelten Pferde. Ein unscheinbarer zierlicher Jugendlicher schob einen Karren voller Pferdemist. Ein anderer – schwarz, mit einem Haarband gebändigter Krauskopf – bearbeitete eine Holztür mit Schmirgelpapier und Farbe. Eine Frau stand vor einem rustikalen Grill, auf dem Würstchen und Gemüse schmurgelten, die Gummistiefel bis zum Rand dreckbespritzt, das karierte Flanellhemd in den Bund der Jeans gesteckt. War das Merret Roters? Und wo waren die zwei anderen Jugendlichen, die hier lebten? Wo der weitere Sozialpädagoge?

Liv versuchte, sich die Situation und die Reaktion auf ihre Ankunft einzuprägen. Rap-Beats brandeten zu ihr herüber. Immerhin Tupac und keiner dieser Deutschrapper, deren musikalische Ideenlosigkeit und dumpfe Texte sie kaum ertrug. In den Unterlagen hatte sie gelesen, dass die Bewohner der Einrichtung zwischen fünfzehn und siebzehn waren. Ihre Blicke waren neugierig, manche wirkten abweisend. Der Schwarze rief dem Unscheinbaren etwas zu; dessen Gesicht verdüsterte sich schlagartig.

»Normale Familien können sich Ferien auf dem Bauernhof nicht mehr leisten, und Jugendlichen, die ihre Eltern und Lehrer in den Wahnsinn treiben oder straffällig werden, wirft man dieses Freizeitvergnügen nach!«, zischte Andreas. »Aggressive Krawallbrüder, wie wir sie mehr als einmal erlebt haben! Eingesperrt gehören die!«

Liv hielt unwillkürlich den Atem an. Die Flensburger Innenstadt hatte tatsächlich länger unter Gruppen gewaltbereiter Jugendlicher zu leiden gehabt. Vermehrt war es zu Raubüberfällen, Körperverletzungen und Diebstählen gekommen. Zeitweise hatte die Polizei die Innenstadt deshalb zum »gefährlichen Ort« erklären müssen. Nur dadurch hatte sie die Möglichkeit gehabt, Personen auch verdachtsunabhängig zu kontrollieren. Gleichzeitig hatten sie die Polizeipräsenz und Straßensozialarbeit verstärkt. Andreas hatte schon damals zu den Kollegen gehört, die auf diese Situation besonders wütend reagiert hatten.

»Du kennst diese Jugendlichen doch noch gar nicht, weißt nichts über sie«, sagte Liv.

»Wird schon einen Grund geben, warum ihre Eltern sie nicht mehr haben wollten.«

Fassungslos sah Liv ihren Kollegen an. Sosehr sie sich bemühte, die Entscheidung ihrer Chefin zu respektieren, war sie doch überzeugt, dass Andreas nicht der Richtige für die Teamleitung in diesem Fall war. So, wie er die Sache anging, würden sie nicht unvoreingenommen arbeiten können. Sie würde mit ihrer Chefin darüber sprechen müssen.

Sie stieg aus, stützte sich auf das Autodach und sah ihn durch das offene Fenster noch einmal an. Die Frau kam ihnen entgegen, die Grillzange noch in der Hand. »Ich nehme an, du bist professionell genug, dich in dieser Situation mit deiner persönlichen Meinung zurückzuhalten«, sagte Liv.

»Darauf kannst du einen lassen.«

6

»Andreas Bork und Liv Lammers von der Kripo Flensburg«, stellte Liv ihren Kollegen und sich vor. »Wir würden gern in Ruhe mit Ihnen reden, Frau Roters.«

Merret Roters wirkte angespannt, ihr Lächeln war gezwungen. »Wir haben gerade angegrillt. Möchten Sie ein Würstchen? Wir haben auch fleischlose.«

Liv wollte ablehnen, Andreas aber sagte: »Da sage ich n–«

»Nein, danke«, unterbrach Liv ihn. Hatte er etwa vor, an einer Bratwurst zu knabbern, während sie die Todesnachricht überbrachten? »Können wir ins Haus gehen?«

Fahrig wischte Merret Roters sich über die Stirn. »Natürlich. Elanie, übernimmst du mal?«, rief sie.

Eines der Pferdemädchen blickte auf. Sie trug ebenfalls Flanellhemd, Jeans und Gummistiefel, ein langer blonder Zopf baumelte über ihrer Schulter. »Ich bin hier noch nicht fertig!«

»Das Pferd muss warten. Oder Vivien soll weiterstriegeln.«

Sichtlich widerstrebend übergab Elanie dem anderen Mädchen die Bürste und sagte etwas. Vivien lachte. Ihre Haare waren strähnig, die Beine streichholzdünn, das Gesicht von Akne gezeichnet. Den großen Busen schien sie unter einem extraweiten Pulli verstecken zu wollen.

Kichernd kam ein Pärchen aus dem Haus. Sie, in weißer Jeans und Shirt viel zu schick für einen Bauernhof und auffällig geschminkt, trug einen Napfkuchen in den Händen. Er, muskulös, die Haare zu einem schwarzen Irokesenschnitt frisiert, umarmte sie von hinten und küsste ihren Hals. Sie zog den Kopf zwischen die Schultern und krümmte sich, seine Küsse schienen sie zu kitzeln. Als sie Liv und Andreas sahen, warfen sie Merret Roters einen verunsicherten Blick zu.

»Ist irgendwas passiert? Was Schlimmes?« Die Stimme des Mädchens klang dünn, als habe es schon viel zu oft erlebt, dass Katastrophen in sein Leben einbrachen.

Der Jugendliche – Liv schätzte ihn auf etwa siebzehn – schob sich schützend vor sie. Schwarze Cargohose, Geldbörse an langer Silberkette in der Hintertasche, Edelstahlringe, enges Shirt, unter dem sich die Muskeln abzeichneten.

»Die Herrschaften wollen nur kurz mit mir reden«, sagte Merret Roters beruhigend. »Schau doch bitte schnell nach den Würstchen, Alicia. Ich fürchte, die brennen sonst an. Und du kannst den Tisch decken, Nico.«

Der Jugendliche verschränkte die Arme vor der Brust, wobei sich seine Armmuskeln beeindruckend abzeichneten. Auf seinem T-Shirt war ein Anarchie-A zu sehen. »Was wollen die Cops hier? Das sind doch Cops, oder?«, fragte er argwöhnisch.

»Um unsere Besucher kümmere ich mich. Deck du schon mal den Tisch«, sagte die Erzieherin ruhig. Sie wandte sich an Liv. »Kommen Sie?«

Sie betraten die schmale Querdiele des Bauernhauses, der man die vielen Jahre und Bewohner ansah: gewölbte, abgewetzte Fußbodendielen, Geruch von kaltem Rauch. Die Möbel in dem Raum, der früher wohl der »Döns«, die alltägliche Wohnstube, gewesen war, wirkten zusammengesucht und alt, doch bunte Decken und Schaffelle machten den Raum gemütlich. Kerben und Wasserflecke zeichneten den großen Holztisch in der Mitte. Liv entdeckte ein mit Taschenbüchern bestücktes Bord, Gesellschaftsspiele, Holztiere auf einem Regal, die für kleine Kinder zu sein schienen. Verkohltes Spaltholz lag im Kamin, und Liv konnte sich vorstellen, dass die Jugendlichen und ihre Erzieher hier abends gemütlich beisammensaßen.

Merret Roters hantierte in der offenen Küche mit Bechern und Kannen. An der Wand hing ein Arbeitsplan. Jede Stunde schien verplant, daneben gab es Wochendienste. »Sie möchten bestimmt etwas trinken. Ich habe frisch aufgebrühten Tee; Zitronenmelisse aus unserem Garten.« Unvermittelt wandte sie sich um. Ihre Augen waren weit.

Sie ahnt etwas.Der starre Blick eines Tieres im Scheinwerferlicht.

»Es geht sicher um die Vermisstenmeldung. Ich habe Ihrem Kollegen schon am Telefon gesagt, dass Timur noch nicht wiederaufgetaucht ist. Sein Auto ist auch weg. Allmählich mache ich mir wirklich Sorgen. Er würde die Jugendlichen, unsere Tochter und mich nie einfach alleinlassen. Ohne ein Wort.« 

»Setzen wir uns doch.«

Merret Roters stellte Becher, die Kanne und eine Keksdose auf ein Tablett und kam Livs Aufforderung nach. Ein angenehmer Zitrusduft breitete sich aus. Doch Merret Roters schien ihn nicht wahrzunehmen. Angespannt, die gefalteten Hände zwischen die Oberschenkel geschoben, sah sie die Ermittler an.

»Wir haben eine schlechte Nachricht für Sie, Frau Roters. Ihr Mann wurde tot aufgefunden. Wir gehen von einem Gewaltverbrechen zu seinem Nachteil aus.« Andreas’ sperrige Formulierung hallte in der Stille nach.

Unvermittelt sprang Merret Roters auf. »Der Tee!« Sie wollte die Becher vom Tablett nehmen, doch sie glitten ihr aus den bebenden Fingern und zerschellten auf dem Fliesenboden. Merret Roters bückte sich, um die Scherben aufzuheben, zitterte jedoch zu stark.

Liv hockte sich neben sie und berührte sacht ihren Arm. Derartige Übersprunghandlungen kamen häufig vor, wenn jemand etwas Schreckliches erfuhr. Das Gehirn wollte dann, dass man sich mit etwas beschäftigte, sich ablenkte, damit man nicht vor Trauer in eine Starre fiel. »Mein Beileid, Frau Roters. Das muss ein Schock für Sie sein.«

»Ich … Ich verstehe das nicht«, stammelte diese. Hilfesuchend sah sie Liv an, fiel ihr dann in die Arme.

Einige Atemzüge lang hielt Liv die bebende Frau fest. Erst dann führte sie sie zum Tisch zurück, und Andreas berichtete sachlich, was vorgefallen war.