Die Perücke / D Perügge - Guy Krneta - E-Book

Die Perücke / D Perügge E-Book

Guy Krneta

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Beschreibung

Alles oder nichts. Alles fürs Theater macht die Regisseurin Rike. Kompromisslos widmet sie ihm ihr ganzes Leben. Nichts mehr vom Leben erwartet die junge Esther. Kompromisslos bringt sie sich um. Beiden gerecht zu werden versucht ein Ich-Erzähler. An der Seite Rikes wird er vom Regieassistenten zum Autor. Als Freund Esthers schaut er hilflos zu, wie sie verzweifelt. Guy Krneta hat aus einem Stück Lebens- und Theatergeschichte einen bewegten und bewegenden Roman geschrieben. Er führt uns in farbigen Porträts und Szenen neben den beiden Frauenfiguren eine Vielzahl von Theatermenschen vor Augen, leidenschaftlich dem Theater verschrieben die einen, opportunistisch das Theater nutzend die anderen. Der berndeutsche Originaltext wird im Mundart-Download zur Verfügung gestellt und bei Bühnenauftritten des Autors zu hören sein. Das Buch bietet dank der hochdeutschen Übersetzung von Uwe Dethier eine bestechende Fortsetzung des deutschsprachigen Theater- und Entwicklungsromans und zeigt das Theater, wie schon Goethe und Karl Philipp Moritz, als Medium der Selbstfindung eines jungen Menschen.

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Guy Krneta

Die Perücke / D Perügge

1. Auflage, 2020

eISBN 978-3-03853-167-8

© Der gesunde Menschenversand GmbH, Luzern

Alle Rechte vorbehalten

www.menschenversand.ch

Übersetzung: Uwe Dethier

Lektorat: Daniel Rothenbühler

Die Perücke

D Perügge

Guy KrnetaDie Perücke

Aus dem Berndeutschen von Uwe Dethier

Roman

I

Aufgefallen ist mir ihre Zigarettenspitze. Die ihr etwas Elegantes gab, vielleicht sogar etwas Frivoles, das gar nicht zu ihr passte. Sie war eher klein, zierlich, leicht gebückt, wie eine ältere Frau. Ein junges Gesicht, braune Locken, die Fransen abgeschnitten, wie selbst abgeschnitten, leicht schräg. Große Hände, violette Hose. Ein grüner Stoffregenmantel, den sie auch im Zuschauerraum nie auszog.

Ich hab oben im ersten Rang gesessen und runtergeschaut. Es war die erste Hauptprobe eines Stücks auf der großen Bühne, offen für Mitglieder des Hauses. Zu denen ich jetzt auch gehörte, seit zwei Wochen, als Hospitant auf der Werkstattbühne. Die meisten Leute im Zuschauerraum hatte ich kürzlich kennengelernt. Die Monique von der Requisite, die Rita, Gewandmeisterin, den Eric, technischer Leiter, die Mira, den Stefan und die Claudia aus dem Malersaal, den Herrn von Mandach, Verwaltungsdirektor.

Und eben die Rike. Sie hat unten am Regiepult gesessen und geraucht. Das offene Textbuch vor sich. Das Lämpchen schien auf das Textbuch und beleuchtete den Rauch, der aufstieg, im ansonsten dunklen Zuschauerraum. Rike war Dramaturgin bei der Produktion. Der Regisseur, paar Reihen weiter vorne, im weißen Hemd, schwarze Weste, hat geschwitzt. Ab und zu ist er zu Rike nach hinten, mit einem Glas in der Hand. Er hat ihr etwas ins Ohr getuschelt, was sie aufschrieb, und sich Weißwein nachgeschenkt. Die Flasche stand unter dem Regiepult. Wenn die Flasche leer war, ist Rike raus und hat ihm eine neue Flasche geholt. Am Ende der Probe haben die Mitglieder des Hauses geklatscht. Der Regisseur hat unterbrochen. Applaus vor der Premiere bringe Unglück. Er danke uns, dass wir zugeschaut hätten. Die Technik solle jetzt abbauen. Das Ensemble treffe sich in einer Viertelstunde zur Kritik in der Kantine.

Ich war zweiundzwanzig, als ich zum Theater kam. Ich hab das Studium abgebrochen, bin an die Pforte vom Stadttheater und hab gesagt, ich wolle mit dem Chefdramaturgen reden. Die Pförtnerin meinte, ich hätte einen Termin mit ihm, und hat versucht ihn zu erreichen. Als sie ihn nicht erreichte, hat sie sich entschuldigt. Es sei nicht das erste Mal, dass er Termine nicht aufgeschrieben habe. Ich solle in die Kantine runtergehen, warten. Den ganzen Tag hab ich in der Kantine gewartet. Ab und zu ist die Pförtnerin gekommen, um mir zu sagen, sie probiere es weiter oder jetzt habe sie ihn grad erreicht. Er sei leider noch in einer Sitzung. Wenn ich nicht mehr warten wolle, könnten wir einen neuen Termin ausmachen. Gegen Abend kam sie und sagte, jetzt sei er frei. Ich solle mit dem Aufzug in den achten Stock hochfahren.

Die Türe vom Büro war offen. Ich hab an den Türrahmen geklopft. Der Chefdramaturg saß am Schreibtisch. Der Schreibtisch voll mit Büchern und Papier. Der Chefdramaturg telefonierte. Er gab mir ein Zeichen, ich solle mich aufs Kanapee setzen. Vor dem Kanapee stand ein Tischchen, voll mit Büchern und Papier. – Spannend, spannend, sagte der Chefdramaturg ins Telefon. Er habe ihre Bewerbung gesehen. Interessante Biographie, ja. Sie wirke auf den Fotos übrigens sehr wandlungsfähig. Eine Vakanz hätten sie im Moment leider nicht. Aber vielleicht könnten sie sich mal kennenlernen, ganz unverbindlich, sie könnten zusammen essen gehen. Sie haben einen Termin abgemacht. Bis gleich, sagte der Chefdramaturg, lächelte und legte auf. Dann ist er wieder ernst geworden und mit dem Stuhl zu mir herübergerollt.

Es tue ihm leid, sagte er, dass er mich so lange habe warten lassen. Bei ihm im Kalender sei kein Termin eingetragen. Mit wem ich den Termin wohl abgemacht hätte. – Ich hätte keinen Termin abgemacht, sagte ich, ich sei spontan gekommen. Ich hätte das Studium abgebrochen und müsse zum Theater. – Der Chefdramaturg schaute mich über den Brillenrand hinweg an, als würde er mich nicht ganz ernst nehmen. Was ich denn gemacht hätte, bis jetzt. – Ich hätte Medizin studiert, sagte ich, aber ich wolle fürs Theater schreiben lernen. – Zum Schreiben müsse man nicht zum Theater, sagte er, das könne man einfach machen. Was ich denn schon geschrieben hätte. – Gedichte, sagte ich, Szenen, Lieder. – Ob ich etwas dabeihätte. Ich gab ihm das Büchlein mit Texten, das ich vorher extra noch im Kopierladen hatte binden lassen. Der Chefdramaturg hat drin rumgeblättert und laut vorzulesen angefangen:

würd man die die schaffen

schaffen lassen

und denen die schaffen

nicht noch zu schaffen machen

dann würd das schaffen

denen die schaffen

weniger zu schaffen machen

man würde die

die schaffen

nicht zu affen machen

Witzig, witzig, sagte er, ob die alle so seien. – Mir war’s unangenehm, dass der mir mein eigenes Gedicht vorliest wie einen Witz. – Ob ich nur Gedichte schreibe, fragte er. Und ob ich schon Stücke geschrieben hätte. Was er mir anbieten könne, wäre eine Hospitanz. Da könnte ich mal eine ganze Produktion von A bis Zett begleiten, sei allerdings nicht bezahlt. – Einen Lohn bräuchte ich nicht, sagte ich, ich hätte noch etwas Geld gespart. Ich hätte in den Semesterferien gearbeitet. – Dann frage er mich jetzt nicht, was ich geschaffen hätte, als was ich mich zum Affen gemacht hätte. Im Theater mache man sich übrigens auch zum Affen. Was er heute an Zeit verbracht habe mit sinnlosen Sitzungen. Statt dass man ihn habe schaffen lassen. Ich solle meinen Namen aufschreiben und die Telefonnummer, dann würden sie sich allenfalls bei mir melden. – Ich hab mich bedankt, den Namen und die Telefonnummer aufgeschrieben. Als ich raus bin, wusste ich, dass sich der bei mir nicht melden würde. Dass der mich schon vergessen haben würde, wenn ich aus der Türe raus bin.

Umso mehr hat mich überrascht, als ein paar Tage später die Sekretärin des Intendanten anrief. Sie hätten eine Produktion auf der Werkstattbühne, «Glückliche Tage» vom Samuel Beckett, und keinen Regieassistenten budgetiert. Ob ich eine Hospitanz machen wolle.

Die Rike hatte ihr Büro im Nebengebäude des Theaters, wo auch die Probebühnen drin waren. Ein großes Büro mit breiter Fensterfront, zusammen mit den Regieassistentinnen und Regie­assistenten. Ihr Pult, ein runder Tisch, der Fotokopierer, zwei Telefone, die Kochplatte. Es roch nach Zigarette, Kaffee und verbrannter Milch. Rike war Hausregisseurin mit zwei Inszenierungen im Jahr und Dramaturgin. Verantwortlich für die Woche der neuen Dramatik, die immer im Sommer, kurz vor Spielzeitende, am Theater stattfand. Rike konnte Gastspiele einladen, zeitgenössisches Theater aus dem deutschsprachigen Raum. Sie war jeden Abend unterwegs, Theater schauen.

Zwischen den Proben bin ich zu Rike ins Büro. Hab gelesen, fotokopiert, telefoniert und Rike erzählt, wie’s läuft auf der Probe. Weil wir keine Dramaturgie hatten bei unserem Stück, hat sich Rike bereit erklärt, unser Programmheft zu übernehmen. Sie fragte mich, ob ich helfen würde. Ich bin in die Bibliothek und hab alles ausgeliehen, was ich zu Beckett und dessen Stück «Glückliche Tage» fand. Stapelweise schleppte ich Bücher ins Büro. So ein kurzes Stück, dachte ich, und so viel Sekundärliteratur.

Als ich Rike erzählte, dass ich schreibe, fragte sie, ob ich ihr mal was mitbringen würde. – Das meiste sei Mundart, sagte ich. – Sie könne schon Mundart lesen, sagte sie, sie habe auch schon Mundart inszeniert. Am nächsten Tag brachte ich ihr das Büchlein, das ich für den Chefdramaturgen im Kopierladen hatte binden lassen. Als sie’s gelesen hatte, sagte sie, einzelne Texte gefielen ihr gut. In der Mundart noch besser als in der deutschen Übersetzung. Bei der Übersetzung gehe halt doch einiges verloren. Bei dem einen, dem vom Schaffen, verstehe sie, dass der Chefdramaturg mit dem was anfangen könne. Das sei auch so einer, der die Arbeit lieber delegiere.

Wenn wir keine Abendprobe hatten, bin ich mit Rike Theater schauen gegangen. Im Zug las ich den Stücktext, den sie mir ­kopiert hatte. Vor der Aufführung sind wir zusammen in die Kantine. Die Rike bestellte ein Glas Retsina und Brot und Olivenöl. Das war ihr Abendessen. Fast in jedem Theater kannte sie jemanden, von Festivals, aus dem Studium, aus der Dramaturgischen Gesellschaft. Die organisierten uns Karten, manchmal auch die Übernachtung.

Ich war fünf Wochen am Theater, als mich Esther anrief. Es sei wieder so weit, sagte sie, sie wolle sich noch von mir verabschieden. Mit Esther war ich zwei Jahre zusammen. Ein ewiges Hin und Her aus Zusammensein und Wieder-nicht-Zusammensein, Schlussmachen und Sich-neu-verabreden. Vor anderthalb Jahren hatte Esther versucht, sich das Leben zu nehmen. Sie hat mir später davon erzählt. Sie habe ihren Eltern einen Abschiedsbrief geschrieben, sei dann mit der Tram in die Stadt und habe von der Brücke springen wollen. Als sie auf der Brücke stand, sei ihr die Brücke zu wenig hoch vorgekommen. Drum sei sie quer durch die Stadt, zu einer anderen Brücke, von der sie dachte, die sei höher. Unterwegs habe die Polizei sie erwischt. Die Eltern hatten den Abschiedsbrief gefunden und die Polizei angerufen. Einen halben Tag habe sie auf der Polizeiwache gesessen, bis die Eltern sie gegen Mittag abgeholt hätten. Das Schlimmste sei die Autofahrt gewesen: Sie hinten, vorn die Eltern, alle schweigen. Zum Glück sei das alles weit weg, sagte die Esther, wenn sie davon erzählte. Wie aus einem anderen Leben.

Nach dem Abi hatte Esther eine Schneiderlehre angefangen. Sie habe genug von dem Kopfzeugs, wie sie sagte, wolle etwas Richtiges machen, etwas mit den Händen. Nach dem Selbstmordversuch unterbrach sie die Lehre, ist für ein halbes Jahr nach Schottland, Englisch lernen. Sie hat viel geschrieben, Briefe, ­Tagebücher, eigentlich mehr als ich. Dass ich das Schreiben zum Beruf machen wollte und zum Theater bin, beeindruckte sie und gleichzeitig machte sie sich darüber lustig.

Ich wolle sie noch mal sehen, sagte ich. – Gut, sagte sie, sie müsse noch packen. Wir haben abgemacht, in einer halben Stunde. Ich hab die Abendprobe abgesagt. Ich hätte Fieber, ließ ich dem Regisseur über die Pforte ausrichten. Dann bin ich mit dem Rad zum Bahnhof.

Der Regisseur, mit dem ich arbeitete, kam aus der freien Szene. Er habe schon mal Beckett inszeniert, erzählte mir der Chefdramaturg, drei Einakter, in einem freien Theater in Frankfurt. Es habe sogar eine Besprechung in der «Frankfurter Rundschau» gegeben. Mit «Glückliche Tage» tat sich der Regisseur eher schwer. Ein Stück, das mehr Regieanweisungen habe als Text, da könne er als Regisseur gar nicht viel machen. Das stehe und falle mit der Hauptdarstellerin. Bei uns war das die Marie-Luise Pfändler. Die ältere Dame im Ensemble. Wegen ihr, ließ der Chefdramaturg mal durchblicken, habe man das Stück überhaupt in den Spielplan genommen. Weil man ihr noch eine größere Rolle schuldig gewesen sei in der Spielzeit. Eine idealere Besetzung als die Marie-Luise Pfändler konnte ich mir gar nicht vorstellen. Eine großartige Schauspielerin, eine Dame von Welt, der man ansieht, dass sie viel erlebt und durchgemacht hat und dabei ihre Würde behält.

Eine Frau, die «Winnie» heißt, ist eingegraben bis zum Bauchnabel in einem Sandhügel. Im zweiten Akt ist sie eingegraben bis zum Hals. Hinterm Hügel versteckt sich eine zweite Figur, die «Willie» heißt. Von dem sieht man nur die Arme, den Hut und die Zeitung. Die Winnie redet ununterbrochen, manchmal mit dem Willie, meistens für sich. Er, hinter dem Hügel, antwortet sowieso nicht. Wenn er sich zu Wort meldet, liest er Schlagzeilen aus einer alten Zeitung vor. Genau fünfzig Worte habe der Willie in dem Stück, hab ich gelesen. Im englischen Original seien’s nur fünfundvierzig.

Die Winnie lebt in ihren Abläufen und Ritualen, die jeden Tag gleich sind. Aufwachen, den Morgen begrüßen, Zähne putzen, sich schön machen, Vorsätze fassen. Mit den beschränkten Möglichkeiten, die sie eben hat, eingegraben in dem Sandhügel. Sie kommentiert das, was sie macht, sagt Sachen, die sie schon x-mal gesagt hat, die sich wiederholen, und mit der Zeit vergisst sie, was sie schon gesagt hat und was sie noch sagen wollte. Sie redet in Zitaten, die sie nur noch bruchstückartig weiß und die immer bruchstückhafter werden. Beckett hat, als er das Stück selber inszenierte, in Stuttgart, Listen gemacht, da hat er aufgeschrieben, welches Wort und welche Formulierung auf welches weltliterarische Werk verweist. Das muss eine hochbelesene Person gewesen sein, die Winnie, hab ich gedacht. Bevor sie eingegraben wurde in dem Sandhügel.

Die Marie-Luise Pfändler hat gekämpft mit dem Text. Mit all den Wiederholungen und Banalitäten und Zitaten und abgebrochenen Sätzen. – Das Ringen mit dem Text sei gut, sagte der Regisseur, das solle sie beibehalten. – Sie ringe nicht als Figur, sagte Marie-Luise Pfändler, sie ringe als Schauspielerin. Sie könne sich all die Worte und Handlungen nicht merken, die Floskeln und Wiederholungen. Sie vergesse immer wieder, wann sie lächeln müsse. Wann sie aufhöre zu lächeln. Wann sie die Zahnbüste nehme und die Zahnpasta. Bei welchem Wort sie die Zahnpasta weglege und anfange die Zähne zu putzen. Wann genau sie die Brille nehme und weglege. – Dafür seien die Proben da, sagte der Regisseur, sie solle Geduld mit sich haben, wir hätten Zeit. Und vielleicht könne man auch etwas freier mit den vielen Regieanweisungen von Beckett umgehen. – Aber Marie-Luise Pfändler widersprach. Das Stück sei nicht von irgendjemand, sondern von Beckett. Und der Beckett notiere seine Stücke wie Partituren oder Choreografien. Da sei jedes Wort und jede Aktion genau gesetzt. Da komme es auf jede Pause an, jeden Blick, jede Geste. Und vielleicht habe sie deshalb solche Mühe, das Stück in ihren Kopf reinzubringen, weil sich das Stück im Alltag immer wieder mit der eigenen Lebenswelt verbinde. Das sei eine existentielle Erfahrung, die Beckett da verarbeite. Wenn man sich auf die einlasse, mit Haut und Haar, wie sie das tue, würde sie einen immer weiter runterziehen. Da stecke man buchstäblich mit der Winnie bis zum Hals im Grabhügel. Und das Einzige, was einem bleibe, sei nur, mit Beckett zusammen, grandios zu scheitern. Sie stehe jeden Morgen auf und denke: «Das wird wieder ein glücklicher Tag gewesen sein.» Und dann überlege sie, ob sie zuerst die Zahnbürste nehmen müsse oder vorher noch lächeln.

Ich saß am Regiepult, das Textbuch vor mir, Bleistift und Radiergummi. Hab aufgeschrieben, auf welche Bewegungen, welche Betonungen, welchen Subtext wir uns an welcher Stelle einigten. Bei der nächsten Probe wurde alles geändert. Ich hab die Aufschriebe ausradiert und neu mitgeschrieben. In einem Heft daneben notierte ich mir, was ich den Regisseur nach der Probe noch fragen musste, welche Sachen, die wir entschieden, Folgen hatten für den Bühnenbildner, für die Werkstätten, für die Schneiderei, für die Requisite. Überhaupt was ich zwischen den Proben noch alles erledigen musste, wen ich informieren musste, was ich vorbereiten musste für die nächste Probe. Von der anderen Seite her hab ich im Heft aufgeschrieben, was mir auf der Probe durch den Kopf ging. Nirgends, hab ich bemerkt, geht einem so viel durch den Kopf wie auf einer Probe, wo man als Hospitant sitzt und schaut, wie eine Schauspielerin mit einem Beckett-Text ringt. Gedichte, halbe Gedichte und Lieder haben angefangen mich zu bedrängen wie im Traum:

himmel. ross. erde.

das ist die geschichte vom himmel

die geschichte vom ross

die geschichte von der erde

der himmel reitet auf der erde

die erde reitet auf dem ross

das ross reitet auf dem himmel

ross. erde. himmel.

der himmel reitet auf dem ross

das ross reitet auf der erde

die erde reitet auf dem himmel

das ist die geschichte vom ross

die geschichte von der erde

die geschichte vom himmel

die erde bricht ein

das ross bricht zusammen

der himmel bricht auf

erde. himmel. ross.

das ross verglüht auf der erde

die erde verglüht am himmel

der himmel verglüht überm ross

es fängt an zu regnen

es fängt an zu glühen

es fängt an funken zu speien

himmel. ross. erde.

der himmel speit auf die erde herab

die erde speit auf das ross herauf

das ross fängt an zu regnen

der himmel reitet auf dem ross

das ross reitet auf der erde

die erde reitet auf dem himmel

Die Marie-Luise Pfändler ist schier verzweifelt. Sie hat sich geärgert über die Souffleuse, die nicht parat war. Ihr dann reingeht, wenn sie eine Kunstpause macht. Und sie hängen lässt, wenn sie Text braucht. Sie hat mit dem Finger geschnippt. Immer verzweifelter. Schließlich hat sie drauf bestanden, dass die Souffleuse hinter sie sitzen komme, hintern Hügel. So dass sie ihr mit den Füßen Zeichen geben könne. Marie-Luise Pfändler hat geschnippt und die Souffleuse mit den Füßen getreten, wenn sie nicht mehr weiterwusste. Bei der nächsten Probe hat sie sich entschuldigt, dass sie so grob getreten habe. Jetzt habe sie den Text geübt, mit ihrer Nichte zusammen. Jetzt brauche sie keinen Text mehr. Im nächsten Moment hat sie wieder angefangen zu schnippen und zu treten.

Der Regisseur probierte ruhig zu bleiben. Manchmal schaute er zu mir rüber und sagte leise: Das Stadttheäterle gehe ihm auf den Sack. Er wolle jetzt endlich mal anfangen können zu inszenieren und nicht immer der Tante zuschauen müssen beim Text-Lernen. In der Pause war er charmant zu Marie-Luise Pfändler. Hat ihr Komplimente gemacht. Wie gut sie heute aussehe. Wie sie Fortschritte mache mit dem Auswendiglernen. Sei ein anspruchsvoller Text, mit all diesen Wiederholungen und sinnlosen Sätzen. Sie solle sich Zeit lassen. Da müssten wir jetzt einfach durch.

 

II

Ich hab gern mit ihr in der Kantine gesessen, nach der Probe. Und wenn sich sonst im Theater alle geduzt haben, bei ihr hätt ich nie den Mut gehabt, sie nicht zu siezen. Sie war wirklich eine Dame. Eine lebende Legende. Ein Theatertier. Eine, wo man wusste, die stirbt nicht auf offener Bühne. Dafür hat sie zu viel Stil. Die geht ab, wenn sie muss, nach dem letzten Auftritt. Und dann fragen sich die Leute, warum sie beim Schlussapplaus plötzlich fehlt.

Marie-Luise Pfändler hat als junges Mädchen hier am Theater angefangen. Um die dreihundert Rollen hat sie gespielt. Aber von einer Rolle war immer wieder die Rede, in jedem Portrait über sie und fast in jeder Kritik: die Marie-Luise Pfändler als Käthchen in jener legendären Käthchen-von-Heilbronn-Inszenierung nach dem Krieg, damals noch unter ihrem Mädchennamen Petzold. Die die Leute gesehen haben und gewusst: Jetzt ist der Krieg vorbei. Jetzt fängt eine neue Zeit an.

Ich durfte als Hospitant mit ihr in der Kantine sitzen, durfte mit ihr ein Glas Wein trinken und sie hat erzählt. Von ihrem Hund, der grad wieder Durchfall hatte. Von all den großen Regisseuren, mit denen sie gearbeitet hatte. Von ihren Rollen und ihren Männern. Und dass das Theater eine Beziehung mit jemandem, der nicht vom Fach ist, schwierig macht. Weil am Ende halt eben das Verständnis dafür fehlt, was wir da machen. Dass wir meinen, mit jeder Premiere unsere ganze Existenz aufs Spiel zu setzen. Meinen, bei jeder Arbeit, das sei jetzt die wichtigste, auf die komme es an, auf die habe die Welt gewartet. Und am Ende ist’s wieder nur eine Premiere von einem Stück, das wir zehn oder fünfzehnmal auf der Bühne spielen. Und dann ist das Stück abgespielt. Und wir mit ihm weg und vergessen. Dass wir bereit sind, für so viel Vergänglichkeit unser Leben zu opfern. Rolle für Rolle spielen, und irgendwann nicht mehr wissen, wer, in all den Rollen, wir selber sind. Welches die Rolle ist, die wir gespielt haben auf dieser Welt. Und dass sie darum auch keine Kinder habe. Weil das mit dem Beruf und dem Leben, das sie geführt habe, nicht zu vereinbaren gewesen wäre. Sie wäre eine schlechte Mutter gewesen, hat Marie-Luise Pfändler gesagt. Auf der Bühne habe sie manche gespielt. Und jetzt müsse sie gehen, sie müsse noch mit dem Hund raus. Der habe immer noch Durchfall.

Ich hab sie bewundert, die Marie-Luise Pfändler, damals, als ich frisch ans Theater gekommen bin, als Hospitant. Ich hab noch wenige Menschen gekannt wie sie, die ihr ganzes Leben am Theater verbracht haben. Mich hat die Mischung fasziniert aus Zerbrechlichkeit, Selbstzweifel und dem Würdigen, Damenhaften auf der anderen Seite. Ich hab die Marie-Luise Pfändler weinen sehen auf der Probe, ich hab sie schimpfen hören, ich hab gehört, wie sie die Souffleuse fertig machte. Und sich im nächsten Moment entschuldigte. Pralinen auf die Probe brachte, für alle, und zwar die teuersten und besten, die’s in der Stadt gab.

Ich hab gefragt, wie’s früher war, die Arbeit mit all den berühmten Regisseuren, das Spielen von all den Rollen, das Zusammenleben mit all den Männern und ob’s dem Hund jetzt wieder besser gehe. Und einmal hat sie ihre Hand auf meine gelegt. Hat mir die Wange gestreichelt und gesagt, übrigens, am Theater würden alle sich duzen, sie sei die Marie-Luise.

Ich wollte viel von der Marie-Luise wissen. Und fragte sie einmal, wie das gewesen sei, damals, als Käthchen. Die legendäre Rolle in der legendären Inszenierung nach dem Krieg. Sie hat ihre Hand auf meine gelegt und gesagt, jetzt sage sie mir etwas, aber das müsse ich für mich behalten. Das Käthchen, das legendäre, habe sie nicht gespielt. Sie sei damals noch zu jung dafür gewesen. Das sei eine andere gewesen, die Marie-Luise Petzold, eine andere Schauspielerin. Früh gestorben. Sie sei ihr noch mal begegnet, an einem Theater. Und die Legende, dass Petzold ihr Mädchenname sei, das sei Quatsch. Sie habe nie geheiratet. Wär ja noch schöner. Auf die Idee, einen von den Männern, die sie hatte, zu heiraten, wäre sie nie gekommen. Die Geschichte habe ihr ein Kritiker angedichtet, vor vielen Jahren. Sie hätte vielleicht reagieren müssen, damals, habe es nicht gemacht. Und später sei’s zu spät gewesen. Jetzt lebe sie halt mit dieser Legende. Sie habe sie selber nie verbreitet, ihr aber auch nie widersprochen.

Wieso sie denn nicht widersprochen habe, sagte ich, wenn sie die Rolle doch gar nicht gespielt habe, das legendäre Käthchen, wenn das eine andere gewesen sei. – Was soll’s, hat Marie-Luise gesagt, sie habe über dreihundert Rollen gespielt hier im Theater. Ein Leben lang nur Rollen. Und in welcher man sie in Erinnerung habe, sei ihr eigentlich egal. Hauptsache, man habe sie in Erinnerung.

 

III

Esther und ich haben uns am Bahnhof getroffen. Beide mit dem Fahrrad. Esther auf dem Gepäckträger einen kleinen Rucksack und den Schlafsack. – Sie müsse gehen, sagte sie, es gehe nicht mehr. – Wohin sie gehe, fragte ich. – Fort, einfach fort, ins Ausland. Irgendwohin. – Sie dürfe nicht wieder versuchen, sich das Leben zu nehmen, sagte ich, das müsse sie mir versprechen. – Wir träfen uns zum Adieu-Sagen. – Was denn nicht mehr gehe, fragte ich. – Alles, das Zeugs, das sich immer wiederhole. Die Zustände unter Leuten. Das Gefühl, nicht wirklich dazuzugehören, obwohl sie mittendrin sei. – Das würde ich auch kennen, sagte ich, das sei kein Grund, sich das Leben zu nehmen. – Sie wisse, dass ich das auch kenne, sagte Esther. Aber vielleicht würde ich solche Sachen einfach weniger wahrnehmen als sie oder habe nicht den Mut, dazu zu stehen. Oder ich könne darüber schreiben, oder Theater machen. – Ich ließe sie nur gehen, sagte ich, wenn sie mir verspreche, dass sie sich nicht das Leben nehme. – Sie verspreche nichts, sagte Esther, das stehe mir gar nicht zu. – Ich wolle, dass sie die Nacht mit mir verbringe, sagte ich. Am Morgen ließe ich sie gehen. – Gut, sagte sie. Was wir machten? – Rad fahren. – Wohin? – Das sehe sie noch, sagte ich. Hab ihren Rucksack genommen, ihren Schlafsack und bei mir auf den Gepäckträger getan. Dann sind wir losgefahren.

Die halbe Nacht sind wir Fahrrad gefahren, ich immer voraus, die Esther hinter mir her. – Sie wolle wissen, wo wir hinfahren, sagte sie, sonst fahre sie nicht mehr weiter. Sie lasse sich von mir nicht zwingen, sinnlos Fahrrad zu fahren. Das sei idiotisch, was wir da machten. – Idiotisch sei, sagte ich, was sie machen wolle. Ob sie sich eigentlich vorstellen könne, was das für uns heiße, wenn sie sich das Leben nehme.

Wenn ich sah, dass ein Auto von Weitem entgegenkam, bin ich rüber auf die falsche Spur. – Ob’s mir noch gehe, sagte Esther, ich solle zurückkommen. – Warum, sagte ich. Wenn sie das Recht habe sich umzubringen, hätte ich’s auch. – Aber sie gefährde niemand anderen damit, sagte sie.

Plötzlich hielt sie an und sagte, sie fahre nicht mehr weiter. – Sie habe es versprochen, sagte ich. Wenn sie ihr Versprechen breche, würde ich meins auch brechen. – Ich sei ein Idiot, sagte sie, ich solle ihr den Rucksack zurückgeben und den Schlafsack und abhauen. – Sie sei der Idiot, sagte ich und bin wieder losgefahren. Nach einer Weile hab ich gemerkt, dass sie nicht mehr nachkam, und hab gewartet. Als sie immer noch nicht gekommen ist, bin ich umgekehrt und zurück. Die Esther saß am Straßenrand und schrieb einen Brief. Sie gab ihn mir, ohne was dazu zu sagen: «Kindskopf ist der Kindsköpfin davongefahren. Glaubt wohl, sie durch Abenteuer zu beeindrucken. Aber ich brauch kein Abenteuer, kein schlechtes Theater. Ich brauch mein eigenes Abenteuer, eines von innen. Ich hab einen Schlafplatz gefunden. Da geh ich jetzt hin. Wenn du willst, kommst du mit. Wenn nicht, lässt du’s halt. Ich fahr nicht länger mit dir durch die Nacht. Mir ist kalt, ich bin müde. Und du bist oberflächlich und peinlich.»

Ich würd ihr versprechen, dass wir in einer halben Stunde an einem Ort wären, wo wir schlafen könnten, sagte ich. – Warum sie mir das glauben solle. – Weil ich’s ihr verspreche. Ich halte meine Versprechen, im Gegensatz zu ihr. – Ich bin losgefahren, sie hinterher, Richtung Thunersee. Dort die Uferstraße lang. Schließlich kamen wir zum Ferienhaus meiner Großeltern. Der Schlüssel lag wie gewohnt unter der Steinplatte. Wir zogen die Schuhe auf dem Balkon aus und sind ins Haus hinein und haben uns mit den Klamotten ins ungemachte Bett gelegt. Wir deckten uns mit dicken Decken und Bettdecken zu. Ich hab die Esther umarmt. – Das wäre kitschig, sagte sie, wenn wir jetzt noch mal miteinander schlafen würden. – In drei Stunden müsse ich aufstehn, sagte ich. Ich hätte Probe, im Theater. Ich stellte den Radiowecker meines Großvaters.

Um sieben wurde ich von den Nachrichten geweckt. Sie solle liegenbleiben und ausschlafen, sagte ich zu Esther. Sie könne den Schlüssel einfach unter die Steinplatte legen, sie wisse ja wo. Ich hab ihr einen Kuss gegeben und bin raus ins Wohnzimmer. Dort hab ich einen Brief geschrieben. «Du kannst bleiben, so lange du willst. Im Moment kommt niemand her. Die Großeltern sind im Heim. Meine Eltern benutzen das Haus nicht. Ich sag niemandem, wo du bist. Gegen Abend komme ich vorbei. Ich lege dir achthundert Franken hin. Die hab ich verdient, in den Semesterferien. Du kannst sie mitnehmen, wenn du weggehst. Ich möchte, dass du lebst. Ich liebe dich.» – Danach bin ich mit dem Fahrrad nach Thun zum Bahnhof. Und dort auf den Zug.

Als ich die Rike kennenlernte, war sie achtunddreißig. Manchmal kam sie mir alt vor, in ihrem verrauchten Büro. Mit dem Milchkaffee auf der Herdplatte, den sie alle paar Stunden aufwärmte. Mit seiner dicken Hautschicht drauf. Die mit jedem Aufwärmen dicker wurde. Aber im nächsten Moment, wenn sie begeistert von einem neuen Stück erzählte, wenn sie etwas vorspielte auf einer Probe oder sich aufregte über den Intendanten und dessen überflüssigen Chefdramaturgen, hat sie jung gewirkt. Wie jemand, der sich weigert, erwachsen zu werden. Die Rike war Tag und Nacht im Theater. Außer Theater, hatte ich den Eindruck, gab’s nichts in ihrem Leben. Oder richtiger: Alles in ihrem Leben hatte mit Theater zu tun.

Um zwei Uhr nachts ist sie heim. Am Morgen um sechs saß sie wieder im Büro. Dort saß sie den ganzen Tag, wenn sie nicht auf die Probe musste. Am Abend ist sie los, Theater schauen. Wenn sie im Theater war und es dunkel wurde, ist sie eingenickt. Sie ist aufgeschreckt, hat versucht die Augen offen zu halten, nachher ist ihr der Kopf nach vorne gekippt, sie ist weggedämmert. Vielleicht ist das Theater der einzige Ort, wo die Rike schlafen kann, dachte ich. Am Ende hat sie die Aufführung analysiert. Welche Momente falsch inszeniert worden seien und warum der Abend als Ganzes missglückt sei. Ich wusste, dass Rike geschlafen hatte. Ich hatte daneben gesessen und zugeschaut, wie ihr der Kopf nach vorne kippte, wie sie aufschreckte und wieder wegdämmerte. Aber ihr Urteil war unerschütterlich. Wie wenn sie das Theater im Schlaf erfasst hätte. Wie wenn das Schlafen im Theater ihre Wahrnehmung noch geschärft hätte.

Normalerweise war es die Souffleuse, die als Erste auf der Probe war. Sie liess die Kaffeemaschine an und sammelte das dreckige Geschirr vom Vortag ein. Ich kam pünktlich zum Probenbeginn, manchmal sogar ein paar Minuten zu spät. – Wenn ich Assistent werden wolle, hat mir die Souffleuse mal gesagt, dann gehe das nicht. Als Assistent sei man eine Stunde vorher auf der Probe, würde alles vorbereiten, die Probebühne einrichten. Das sei die Aufgabe des Assistenten, nicht ihre, als Souffleuse. Eine Stunde vorher hab ich nie geschafft, und weiterhin hat die Souffleuse die Kaffeemaschine angemacht. Aber immerhin bin ich von da an nie mehr zu spät gekommen.

Heute war ich der Erste auf der Probe. Ich hab das Geschirr gespült, den Boden aufgewischt, die Kaffeemaschine angemacht, die Requisiten bereit gelegt. Als die Souffleuse kam, war sie überrascht. Was mit mir los sei. Ob ich auf der Probebühne übernachtet hätte, so verschlafen, wie ich aussähe.

Nach der Probe bin ich zu Rike ins Büro. – Sie könne nächstes Jahr auf der Großen Bühne das Kinderstück inszenieren, sagte sie, «Der schweizerische Robinson» von Johann David Wyss. Vielleicht kenne ich das Buch, sei in der Schweiz offenbar sehr bekannt. Der Intendant habe ihr den Stoff vorgeschlagen. Ob ich ihr helfen würde, eine Mundartfassung zu machen. – Ich wisse nicht, ob ich das könne, sagte ich. Das Buch kenne ich nicht. Aber Mundart würd mich interessieren. – Vielleicht könnt’ ich’s ja mal holen, das Buch, in der Bibliothek, sagte sie, seien vier Bände.

Gegen Abend bin ich zum Thunersee. Es war grad Sonnenuntergang. Im Gegenlicht der Niesen, das unglaubliche Dreieck, das sich im See spiegelt. Hat ausgesehen wie ein Vulkan. Den der Klee gemalt hat und der Hodler. So dass man den Niesen gar nicht mehr anschauen kann, ohne an den Klee und an den Hodler zu denken. Der Schlüssel von meinen Großeltern lag unter der Steinplatte. Im Haus war alles aufgeräumt. Auf dem Tisch im Wohnzimmer lagen fünf abgeschnittene Rosenköpfe, angeordnet zu einem kleinen Kranz. Mein Brief war weg, aber das Geld, die achthundert Franken, lag noch da.

Ich hab Esthers Eltern angerufen. Die Esther sei fort, sagte ich, ich wisse nicht wohin. Ich hätte ihr Geld mitgeben wollen, das habe sie liegenlassen. Eine Nacht lang hätt ich auf sie eingeredet, dass sie nicht wieder versuche, sich das Leben zu nehmen. Zuerst hatte ich die Mutter am Telefon, danach den Vater. – Ob sie Kleidung dabeihabe, wollte die Mutter wissen, und den Schlafsack. – Der Vater fragte, ob’s Anhaltspunkte gebe, wo sie hingereist sei. – Ins Ausland, sagte ich, Genaueres wüsste ich nicht, vielleicht habe sie’s selber noch nicht so genau gewusst. – Dann werde er jetzt Interpol benachrichtigen, sagte der Vater. – Ich hab probiert, ihn davon abzubringen. Wir müssten Vertrauen haben, sagte ich. Vielleicht melde sie sich ja.

Aber Esther hat sich nicht gemeldet. Nicht bei mir und nicht bei ihren Eltern. Alle zwei Tage hab ich die Eltern angerufen. Ich fing an, Esther Briefe zu schreiben. Dass ich nicht wisse, wo sie sei, was sie mache, ob sie noch lebe, dass ich einfach nur hoffe, sie tue sich nichts an. Ich sammelte alle Briefe und dachte, wenn sie zurückkommt, geb ich ihr die Briefe. Damit sie weiß, wie das für uns gewesen ist, damals. Damit sie begreift, was wir durchgemacht haben. – Ich hätte sie wahnsinnig gern, schrieb ich, auch wenn ich mir immer weniger vorstellen könne, wie das wäre, wenn sie zurückkäme. Eigentlich könne ich’s mir gar nicht vorstellen. Wir müssten von vorne anfangen. Viel verändern, miteinander lernen. Ich hoffe einfach, dass wir die Chance bekämen, uns noch mal neu kennen zu lernen. – Sie solle die Lehre abbrechen, schrieb ich. Sie solle schreiben, wie ich. Sie solle ans Theater kommen. Sie müsse die Rike kennenlernen. Ich wisse, dass sie mit Rike viel anfangen könnte. Die sei wie sie, die gehe keine Kompromisse ein. Die lebe das, wovon sie überzeugt sei. Ob sie «Glückliche Tage» vom Beckett kenne, hab ich geschrieben. Ich würde sie zu unserer Premiere einladen. Sie würde das alles verstehen, was wir da aufführten auf der Bühne. Sie kenne das alles, besser als viele andere. Und ich wünschte mir einfach, dass sie zurückkomme. Dass wir das alles noch mal miteinander teilen könnten.

Zwei Tage vor der Premiere lag an der Pforte eine Nachricht. Die Mutter von Esther habe angerufen. Ich bin zu einer Telefonzelle und hab zurückgerufen. Die Esther habe sich das Leben genommen, sagte ihre Mutter. Ich war überrascht, wie ruhig sie mir das sagte. Die Esther sei in Spanien von einer Brücke gesprungen. – Wann, fragte ich. – Vor vier Tagen. Ein Onkel sei hin, sie identifizieren. Ob ich etwas tun könne, fragte ich. – Ich bekäme dann eine Todesanzeige, sagte die Mutter. Danach haben wir aufgelegt.

Ich bin aufs Fahrrad und in der Stadt rumgefahren. Schließlich bin ich runter zum Fluss. Dort bin ich zum Wasser und hab angefangen zu weinen. Immer heftiger brach es aus mir raus, wie wenn etwas gerissen wäre in mir drin. Ich lag am Boden, mein Körper zog sich zusammen, ich fing an mich zu verkrampfen, mich einzugraben in die Kieselsteine am Ufer. Nach einer Zeit hat’s nachgelassen. Ich lag in den Kieselsteinen, erschöpft wie nach einem epileptischen Anfall, ausgeleert, und schaute in den Himmel. Ich bin aufgestanden und zurück ins Theater. Zweite Hauptprobe, offen für Mitglieder vom Haus. Sie sei froh, jetzt endlich mit Publikum spielen zu können, sagte mir Marie-Luise schon beim Kommen. Das habe ihr so gefehlt bis jetzt. Sie brauche einfach Reaktionen. Ich saß am Regiepult und schrieb auf, was mir der Regisseur ins Ohr tuschelte. Marie-Luise war großartig. Ein einziges Glück aus Geschwätz und Verzweiflung.

Am nächsten Tag kam eine Postkarte von Esther aus Spanien. Aus einem Ort namens Ronda in Andalusien. Sie würde sich bei mir entschuldigen, hat sie geschrieben. Ich müsse sie vergessen. Ich müsse jemand anders finden. Sie sei nicht die Frau meines Lebens. Von ihr sei nichts mehr übrig. Ich könne mir gar nicht vorstellen, wie wenig noch von ihr übrig sei. Als Beweis hat sie mir vier Fotos beigelegt aus einem Fotoautomaten in Spanien. Sie hat ausgesehen wie immer, das Gesicht leicht nach vorn gezogen, wie wenn sie grad geweint hätte. Ich dürfe nicht aufgeben, hat sie geschrieben. Ich müsse weitermachen. In mir lebe sie weiter. – Am Tag drauf ist das Päckchen gekommen mit ihrem Tagebuch und Nüssen und Blättern, die sie gesammelt hatte in Andalusien. Ich müsse das nicht alles lesen, ihr Buch, hat sie geschrieben, es sei zerstörerisch und schwarz. Ihr anderes Tagebuch, das etwas heiterer sei, das schicke sie ihren Eltern. Am gleichen Tag ließen mir ihre Eltern die Todesanzeige zukommen.

Wir hatten Premiere. Ich bin durch die Garderoben und hab allen Beteiligten das Programmheft von Rike und mir verteilt. – Umfangreich, sagte der Regisseur. Warum ich ihm das Material nicht schon vorher zur Verfügung gestellt hätte. Vielleicht wär das eine oder andere noch in die Inszenierung eingeflossen. – Die Rike kam zur Premiere. Die Marie-Luise sei wunderbar, sagte sie, mit der Inszenierung könne sie nicht viel anfangen. Dem Regisseur sei offensichtlich nichts in den Sinn gekommen zu dem Text. – Der Chefdramaturg brachte mir ein Glas Sekt. Wir haben angestoßen. Das werde gut mit dem «Robinson», sagte er. Die Rike hätte mich ja schon informiert. Er habe extra noch mal mit dem Intendanten geredet. – Marie-Luise hat mir gewinkt, sie wolle mich ihrer Freundin vorstellen. Der junge Mann, sagte sie, habe den Abend gerettet. Ohne ihn wäre sie eingegangen auf der Probe. Vom Regisseur sei ja nichts gekommen. Alles habe sie selber machen müssen. Aber das erfrischende Lachen von dem jungen Mann jeden Morgen auf der Probe. – Die Hauptleistung sei immer noch die ihre, sagte ich, sie trage den ganzen Abend. – Das schon, sagte Marie-Luise, aber man dürfe den Einfluss von denen hinter und neben den Kulissen nicht unterschätzen. Und dann gab sie mir einen Kuss und sagte, pardon, in ihrem Alter dürfe sie das.

 

IV

Der Intendant wusste, warum er den «Robinson» auf dem Spielplan haben wollte. Das bekannteste Buch aus der Schweiz, sagte er, nach «Heidi», vor allem im angelsächsischen Raum. In x Versio­nen erschienen, in x Bearbeitungen und Übersetzungen. X-mal verfilmt, unter anderem von Walt Disney: «The Swiss Family Robinson». Und auch wenn sich vielleicht nicht mehr so viele Leute an die Verfilmungen und Übersetzungen erinnern könnten und noch weniger Leute an das Original, das als Original niemals erschienen sei. Sondern nur in Bearbeitungen, die alle zurückgingen auf die eine Bearbeitung von dem einen Sohn des Autors. Der das Buch herausgegeben hat, viele Jahre nach dem Tod des Vaters, in vier Bänden: «Der schweizerische Robinson» von Johann David Wyss. Dieser Wyss war Münsterpfarrer in Bern. Und hat das Buch im Umfang von über tausendzweihundert gedruckten Seiten nach dem Tod seiner Frau zu schreiben angefangen, über mehr als zehn Jahre hinweg, zur Unterhaltung und Belehrung seiner vier Söhne. Und wenn sich also auch vielleicht niemand mehr erinnern konnte an den weltberühmten Roman von diesem Pfarrer Wyss, war schon der Titel «Robinson» eine sichere Nummer auf dem Spielplan. Und noch einmal sicherer durch das Prädikat «schweizerisch», was den Robinson zu einem von hier und von uns machte, einem Hiesigen, «Made in Switzerland». Und noch wichtiger als der Titel und die Swissness und alle Übersetzungen und Verfilmungen war vermutlich, dass sich eine große Stiftung anerboten hatte, einen namhaften Betrag zu spenden, wenn das vergessene Buch von dem vergessenen Autor im Stadttheater auf die Große Bühne komme.

Und als mich die Rike anfragte, ob ich mit ihr zusammen das Buch dramatisieren würde, es gebe zwar schon eine Dramatisierung aus den sechziger Jahren auf Englisch, die sei furchtbar und wir bräuchten sowieso eine Mundartfassung, bin ich in die Bibliothek und hab alle die vergriffenen Ausgaben geholt und zu lesen angefangen. Die Geschichte der Familie Robinson, Vater, Mutter, vier Jungs, die nach einem Sturm auf einer einsamen Insel stranden. Und dort anfangen, eine neue Schweiz aufzubauen, die perfekter ist als die Schweiz, die sie, die Familie Robinson, zur Zeit der napoleonischen Besatzung verlassen hat. Seitenweise wird geschildert, wie sie anfangen, sich auf der Insel einzurichten, eine Infrastruktur aufzubauen, die gigantisch ist und immer gigantischer wird, eine riesige Baumhütte, Sommerresidenz, Winterresidenz. Man staunt, was die alles können und bauen und zustande bringen und auf die Beine stellen, aber auf die Idee, einfach ein Schiff zu bauen, das sie wieder zurückbringt, oder das Schiff, das kaputt gegangen ist, zu reparieren, auf die Idee kommen sie nicht. Stattdessen sprengen sie das Schiff mit Schwarzpulver, damit die Bretter an Land geschwemmt werden und sie die auf der Insel verbauen können. Was die alles anpflanzen und ernten und sammeln und einfangen, an Tieren abknallen und zähmen und züchten. Das wird beschrieben in einer Ausführlichkeit, als ginge es darum, uns Lesende selber fit zu machen für so eine Wildnis. Die gar keine Wildnis ist, sondern eher ein riesiger Zoo und Botanischer Garten in einem, wo’s alles gibt, über hundert Tier- und Pflanzenarten von sämtlichen Kontinenten, aus allen Klimazonen, eine Artenübervielfalt, vereinigt auf einer einzigen Insel, nur Menschen hat’s keine. Was einen schon überrascht, bei all den Schätzen, die’s geben soll auf jener Insel.

Mehr als zehn Jahre lebt die Familie Robinson in jener Idylle. Wo die größte Gefahr von wilden Tieren ausgeht, mit denen man kurzen Prozess machen kann, wenn man Waffen hat, und endlos Munition. Was die Familie offenbar hat. Und jeder Sohn hat sein eigenes Waffenarsenal. So dass es einem schon fast wie ein Wunder vorkommt, dass die nicht eines Tages aus lauter Blödsinn auf die Idee kommen, mit all den Waffen, die sie haben, aufeinander loszugehen. Bis plötzlich, nach über tausend Seiten, eine junge Frau auftaucht, die Miss Jenny, zufälligerweise im Alter vom ältesten Sohn. Die ist auch gestrandet, vor drei Jahren, auf einer anderen Insel, und froh, dass sie jetzt nicht mehr allein sein muss auf ihrer Insel, die noch nicht so luxuriös ausgestattet ist wie diese.

Am Ende landet dann ein englisches Schiff. Mit einer weiteren Familie mit zwei weiteren Töchtern. So dass die Familie Robinson, die gar nicht Robinson heißt, erst spätere Bearbeitungen haben sie zur Familie Robinson gemacht, die zum Topos wurde, sich die Frage stellen muss, ob sie jetzt für immer auf der Insel bleiben wolle, möglicherweise mit den neuen Gästen, oder ob sie zurück nach Europa gehen wolle, zurück in die Schweiz, mit dem neuen Schiff, das angelegt hat, wo’s allerdings nur Platz für vier Personen gibt.

Und wenn der Intendant nicht gesagt hätte, wir könnten sehr frei mit dem Stoff umgehen, so frei wie der Wyss selber umgegangen sei mit dem originalen Robinson-Stoff, hätte ich der Rike wahrscheinlich abgesagt. Mir schien, dem Stoff fehle alles, was einen Stoff zum Bühnenstoff mache: die menschlichen Konflikte. Ab und zu streiten sich die Jungs ein wenig und wetteifern miteinander, dann liest ihnen der Vater die Leviten, dass sich’s gewaschen hat. Wenn dieser Fritz und dieser Ernst, dieser Jack und dieser Franz nicht ganz so tun, wie er’s, der Vater, gerne hätte. Dann redet der denen seitenlang ins Gewissen, und am Ende, wenn er lang genug gequatscht hat, der Vater, senken alle ihre Köpfe und dann ist Ruhe auf der Insel.

Sie stelle sich eine riesige Baumhütte vor, hat die Rike beschrieben. Die würde mitten in der Bühne hängen. Und man könne da nur mit Strickleitern rauf. Die könne man hochziehen, die Strickleitern, oder akrobatisch dran rumturnen. Sie stelle sich vor, das ganze Stück spiele um die Baumhütte herum, oder in der Baumhütte drin. – Mir hat die Idee gefallen. – Sie stelle sich vor, hat die Rike beschrieben, dass vielleicht die Mutter, anders als im Roman, unsere Erzählfigur wäre. Die Mutter, die als Einzige im Roman keinen Namen hat. Das gebe uns gewisse Freiheiten. Dass wir uns beispielsweise auch über den Vater und dessen Dogmen lustig machen könnten. Vielleicht sei ja die Mutter, so wie’s wirklich war im Leben von Wyss, in der Schweiz gestorben. Und den Zaubersack, den sie im Buch dabeihat, mit all den nützlichen Gegenständen, hätte sie auch auf der Bühne. Und könne als Erzählerin immer wieder einzelne Gegenstände aus dem Sack herausnehmen, die sie zum Erzählen brauche. Oder den Jungs geben, die Gegenstände, die’s einfacher machten zu überleben. – Sie stelle sich vor, hat die Rike beschrieben, unser Stück fange im Dunklen an. Dann plötzlich ein Blitz. Gewaltiger Donner. Dann höre man’s regnen. Wie im «Sturm» von Shakespeare. Am rechten Bühnenrand sehe man die Mutter, in einem Lichtkegel. Aus ihrem Zaubersack nehme sie einen Schirm, womit sie das Schiff und den Sturm andeuten würde. Und erzähle, wie’s dem Schiff ergangen sei in dem Sturm. Wie der gewütet habe, der Sturm. Sechs Tage habe der gewütet, sechs schlimme lange Tage. Und am siebten sei er weit davon entfernt gewesen zu ruhen. Rike hat’s auf Deutsch vorgesagt, ich hab mitgeschrieben und direkt in Mundart übersetzt.

Um was es denn gehe im Stück, fragte ich. Das Stück müsse doch einen Konflikt haben, etwas, was wir erzählen wollten. – Den Konflikt, sagte sie, sehe sie im Kampf der Familie ums Überleben. Das Kämpfen von Leuten, die eine Zivilisation gewohnt seien, mit einer angeblich noch intakten Natur. Die Natur als Utopie, etwas Unberührtes, wonach sich Menschen sehnten, während sie gleichzeitig alles täten, die Natur zurückzudrängen und zu beherrschen. Gut gefallen würde ihr übrigens auch das Sich-selbst-ausgesetzt-Sein der Familie, des überforderten Vaters mit den vier Jungs in unterschiedlichem Alter. Das gebe, fände sie, theatralisch viel her, Situationen, die wir gut auf heute und hier und uns übertragen könnten. Schließlich könnten wir auch die Miss Jenny etwas früher auftreten lassen, vielleicht so in der Mitte vom Stück. Dann käme was Neues dazu. Das Entdecken des weiblichen Körpers. Wie sich die vier Jungs hinterm Gebüsch verstecken und zuschauen würden, wie sich die Miss Jenny am Bach waschen würde. Plötzlich käme der Vater dazu, würde auch einen Moment lang schauen und nachher den Jungs eine Standpauke halten, die sich gewaschen hat. Bis einer, der Jüngste, vielleicht zum Vater sagen würde: Aber Vater, du hast doch auch zugeschaut.

Gewundert hat mich, dass man nirgendwo im Buch erfährt, warum die Familie überhaupt auf dem Schiff ist, das da kentert. Es gibt auch keine anderen Mitreisenden. Nur die Schiffsbesatzung, die in dem Moment, wo das Schiff kentert, das Schiff verlässt und danach nirgendwo mehr vorkommt. Entweder sind die alle weit draußen auf dem Meer ertrunken oder sie haben’s geschafft, irgendwo aufs Festland zu kommen mit ihren Rettungsbötchen. Ob das eine Flüchtlingsfamilie ist, haben wir uns gefragt, die in der Schweiz keine wirtschaftliche Zukunft hatte. Zu einer Zeit, in der die Schweiz noch ein Auswanderungsland war. Und die Heimatgemeinden den mittellosen Familien die Überfahrt zahlten, nach Amerika. Weil das die Gemeinde billiger kam. Und die Schiffsleute also eine Art Schlepper wären, die kein Problem damit haben, ihre Fahrgäste dem offenen Meer zu überlassen. Wo doch der Kapitän der Letzte sein müsste, der das kenternde Schiff verlässt.

Rike hat eine Zigarette angezündet und nachgedacht. Die Asche ist auf den Tisch gefallen, auf die weißen Blätter vor uns. Ich hab selber nie geraucht und nie das Bedürfnis gehabt zu rauchen. Mich hat das Rauchen nicht gestört. Eigentlich hab ich den Geruch sogar gemocht. Hatte für mich etwas von Nachtleben und Beiz, wenn er am Morgen in den Kleidern hing. Rike rauchte immer mit Filter. Mit einer schwarzen Zigarettenspitze, die sie alle paar Monate austauschen musste, weil die Spitze durchgebissen war. Mit Filter rauchen, hab ich gedacht, ist gar kein richtiges Rauchen, da bleibt ja das meiste im Filter. Die Rike hat beschrieben, was vorkommen könnte, was geredet werden könnte in unserem Stück, welche Szenen es geben könnte. Ich hab mitgeschrieben. Am nächsten Tag hab ich ihr den Text gebracht, den ich geschrieben hatte, nach ihren Ideen, in der Nacht. Wir sind die Texte zusammen durchgegangen, haben sie abgeändert, umgeschrieben und neue Texte und Szenen entworfen.

Nach ihrem Tod hab ich sie immer wieder gesehen, die Esther, auf der Straße, wie sie vorbeilief, mit ihrem kurzen Haar, in fremden Gesichtern, auf einmal, im Bus oder beim Arbeiten in der Bibliothek. Mit der Zeit hab ich sie weniger häufig gesehen. Aber es kam immer noch vor, dass ich sie plötzlich irgendwo lachen hörte und mich umdrehte. Was wäre wohl, hab ich gedacht, wenn sie plötzlich wieder käme. Wenn sie auf einmal da wäre, alles nur eine riesige Inszenierung gewesen wäre. Wie würde man mit ihr umgehen? Hätte sie überhaupt noch einen Platz unter uns?