Die Plasmawelt - Michael Marcus Thurner - E-Book

Die Plasmawelt E-Book

Michael Marcus-Thurner

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Beschreibung

Wahrheit um jeden Preis?

In der öden Wüstenlandschaft des Planeten Marek fristet Gramo Darn sein Dasein als Gefangener in der beweglichen Stadt Kamandar, deren gesellschaftliche Strukturen streng hierarchisch gegliedert sind. Getrieben von der Ungewissheit seiner Herkunft versucht er das Geheimnis der wandernden Stadt zu ergründen. Doch in seinem Freiheitsdrang bringt er sich und den gesamten Planeten in allerhöchste Gefahr ...

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Seitenzahl: 512

Veröffentlichungsjahr: 2010

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Inhaltsverzeichnis
Das Buch
Der Autor
1 – VOR DER PLASMASÄULE
2 – DIE TREPPE HOCH
3 – JAGD
4 – WIEDERGEBURT
5 – PATHOGENESE
6 – IN LICHTEN HÖHEN: EIN VORMITTAG
7 – EIN GEEIGNETER PARTNER
8 – SIEG ÜBER DEN ALLESFRESSER
9 – KEULE DREIDREIACHT
10 – DAS ENDE EINER LINIE
11 – IN LICHTEN HÖHEN: EIN NACHMITTAG
12 – EIN NEUER HORIZONT
13 – AUF KAMANDARS SPUR
14 – DIE FRAU MIT DEM GOLDENEN HAAR
15 – RACHEGELÜSTE
16 – IN LICHTEN HÖHEN: EIN ABEND
17 – WEG OHNE WIEDERKEHR
18 – ERINNERUNGEN AN DIE REVOLUTION
19 – DAS VERSTECK
20 – DER WÄCHTER
21 – FLUCHTVORBEREITUNGEN
22 – DIE HURE
23 – DER SCHWALL
24 – BEAMTENLEBEN
25 – DIE UNSICHTBAREN
26 – INNERE OPPOSITION
27 – IM FREIEN
28 – FRÜHER, IN EINEM ANDEREN LEBEN
29 – EIN SPAZIERMARSCH
30 – IN LICHTEN HÖHEN: EINE NACHT
31 – BLENDWERK UND WAHRHEIT
32 – IN LICHTEN HÖHEN
Copyright
Das Buch
In der öden Wüstenlandschaft des Planeten Marek befindet sich die wandernde Stadt Kamandar, deren gesellschaftliche Struktur sich aus vielen verschiedenen Spezies zusammensetzt und die streng hierarchisch gegliedert ist: an ihrer Spitze steht ein grausamer und unerbittlicher Diktator, an ihrem Ende fristen Sklaven ein erbärmliches Dasein. Der Aufstieg in eine höhere Kaste ist so gut wie unmöglich. Gramo Darn, ein Humanes und Angehöriger der niedrigsten Gesellschaftsstufe, ist jedoch nicht bereit, sich mit seinem Schicksal als Sklave abzufinden. Als er die charismatische Onyx Derenge 108 kennenlernt, die eine kleine Rebellentruppe um sich geschart hat, schließt sich Gramo Darn den Aufständischen ohne zu zögern an. Doch in seinem Freiheitsdrang bringt er sich und den Planeten in allerhöchste Gefahr …
Der Autor
Michael Marcus Thurner, geboren 1963 in Wien, studierte Anglistik, Geographie und Geschichte. Insbesondere mit seinen gefeierten Romanen zur Zukunftssaga PHERRY RHODAN wurde er schnell einer der bedeutendsten Science-Fiction-Autoren. Thurner lebt und arbeitet in Wien. Zuletzt ist im Heyne-Verlag sein Roman »Turils Reise« erschienen.
1 – VOR DER PLASMASÄULE
Da ist dieses Leuchten. Es zeigt sich grünrotgelb, und es flimmert. Sinnverwirrend, nicht für die Augen eines einfachen Geschöpfes gedacht, wie ich es bin.
Kristallene Flitterfleckchen drehen sich, von einem zornigen Wind hochgewirbelt. Immer wieder, hoch und nieder. Ich starre mit tränenden Augen in dieses säulenartige … Ding, das sich weit nach oben erstreckt, sich im Nichts des Weltalls verliert. Einen Augenblick lang meine ich, etwas zu erkennen. Etwas, das an den Grundfesten aller Werte und Gesetzmäßigkeiten rüttelt, die wir Humanes als unabdingbar für unsere Existenz ansehen.
Aber nein, ich muss mich irren. Meine Gedanken verlieren sich rasch wieder im Spiel der Farbpartikel, und ich atme erleichtert durch.
Seltsame Musik begleitet den Wirbel. Sie ähnelt dem Klang einer ramaischen Stringharfe, der sich mit dem Geleit eines Boritoron-Horns verbindet. Das Spiel ist von einer nie geahnten Virtuosität und Intensität. Es vermittelt mir ein Potpourri unterschiedlichster Emotionen. Innerhalb von Sekundenbruchteilen wechselt meine Gemütslage, von Ehrfurcht über Abscheu und wilde Freude zu Gleichgültigkeit.
Das Leuchten beginnt zu riechen. Es erzeugt Wohlbefinden. Die Lust nach mehr. Nach Erhöhung, nach Errettung, nach … nach …
Die Plasmasäule rotiert ein Stückchen weiter, und sie kippt auf mich herab. Eine kilometerlange Strudelmasse, gewichtslos und dennoch inhaltsschwer, wendet sich mir zu, als hätte ich, dieses kleine, unbedeutende Leben, ihre Aufmerksamkeit erweckt. Die Säule öffnet einen winzig kleinen Spalt ihres Ichs, das nicht lebend und nicht tot ist, und gewährt mir einen Blick auf ihr Inneres. Gerade so viel, dass meine Neugierde geweckt wird und ein Gefühl der Sehnsucht in mir zurückbleibt, das ich niemals mehr wieder vergessen werde.
Die Säule aus opalisierendem Plasmaflitter will mich einsaugen, in sich aufnehmen. So wie alles Lebendige ringsumher. Ich strecke einen Arm aus, um ins Innere zu greifen. Im letzten Moment schrecke ich zurück. Tiefe, kreatürliche Angst hält mich davon ab, diesen Schritt zu tun. Ich ahne, dass er mich das Leben kosten würde.
Andererseits: Was ist ein bisschen Leben schon wert?
2 – DIE TREPPE HOCH
»Weiter!«
Ohne lange nachzudenken, gehorchte Gramo der Stimme. Er machte einen Schritt nach oben, die eiserne Treppe hinauf, eingeklemmt zwischen schwankenden Leibern.
Ihn fror. Er war nackt, wie alle seine Leidensgenossen. Sie drängten sich eng aneinander, wärmten sich gegenseitig.
Seltsame Fragen kamen ihm in den Sinn.
Wer bin ich?
Was bin ich?
Was tue ich hier?
»Weiter!«
Neuerlich schallte diese heisere, reibende Stimme durch den Raum. Sie zwang ihn, den nächsten Schritt nach oben zu machen, einem unbekannten Ziel entgegen.
Er war Gramo. Gramo … Darn. Die beiden Namen bildeten eine Einheit, und sie definierten ihn. Aber sie waren zu … zu … wenig. Es fehlte ihnen etwas.
Gramo drehte sich zur Seite, so gut er es inmitten der drängenden und schiebenden Masse konnte, und sah sich um. Links von ihm befand sich ein rostig-metallenes Geländer. Seinem Nachbarn quollen die Augen vor Schmerz aus den Höhlen. Der kahlköpfige Mann hatte alle Mühe, nicht das Gleichgewicht zu verlieren und zu verhindern, über die niedrige Absperrung geschoben zu werden.
Alle Humanes ringsum zitterten und stießen gegeneinander, blieben selten einen Moment lang ruhig. Sie waren wie Wogen, die mal hier-, dann dorthin klatschten.
Humanes.
Gramo verband eine vage Erinnerung mit diesem Begriff. Er besaß zwei Beine, zwei Arme, einen Kopf. Er war ein Säuger, und sein Metabolismus war höchst fragil. Andere Wesen besaßen bessere körperliche Voraussetzungen als er und seinesgleichen …
»Weiter!«
Neuerlich kam Bewegung in die Reihen der nackten, frierenden Geschöpfe.
Gramo blickte am Glatzkopf vorbei in die Tiefe und sah … nichts. Schmutzig grauer Nebel wallte hoch und verschleierte die Sicht. Er meinte, Dinge auszumachen, die sich bewegten. Doch das mochte Einbildung sein. Er fühlte sich erschöpft, seine Sinne überreizt.
»K…kalt«, sagte Gramo.
War dies seine Stimme? Sie klang dünn und schwach. Ganz anders als jene, die stets dieses eine Wort wiederholte und sie zwang, die Treppe hochzusteigen.
Der Kahlköpfige würdigte Gramo keines Blickes. Nach wie vor hatte er größte Mühe, sich gegen die anderen Humanes zu stemmen. So etwas wie Panik zeichnete sich in seinem Gesicht ab.
Gramo verstand: Die Unruhe wuchs, je näher sie ihrem Ziel kamen. Von unten wurde nachgedrückt, weiter oben befand sich ein Engpass. Eine Art Tor oder eine Schranke. Zwischen Druck und Entspannung entstanden Schwankungen. Amplituden, die heftiger wurden und einen beängstigend breiten Raum einnahmen.
»Weiter.«
Der Glatzkopf atmete pfeifend ein und aus. Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn, die Unterlippe war blutig gebissen. Der Handlauf des Geländers schnitt auf Höhe des Oberschenkels tief in sein Fleisch. Doch er sagte kein Wort. Er nahm die lebensbedrohende Situation mit unheimlich wirkendem Gleichmut hin.
Gramo fühlte eine weitere Woge auf sie zurasen. Sein rechter Nachbar gab den Impuls an ihn weiter, er gab sie an den Nebenmann zur Linken weiter. Die Welle erreichte einen Höhepunkt, um sich nur ganz langsam, zögerlich zurückzuziehen und dann in die Gegenrichtung auszuschlagen.
Gramo wollte nicht teilhaben an diesem schrecklichen Spiel. Womöglich hatte ein Einzelner seinen Nachbarn angerempelt und so eine winzige Wellenbewegung ausgelöst, die sich immer mehr verstärkt hatte.
Wer war er, dass er sich gegen die Masse wandte? Gegen Hunderte oder mehr Humanes, die hinter und neben und vor ihm standen; die nach oben drückten, einem ungewissen Ziel entgegen.
Wussten seine Nachbarn, was sie dort oben erwartete?
Der Kahlköpfige neben Gramo tat röchelnde Atemzüge. Er wollte etwas sagen, doch seine Stimme versagte. Er starb. Erstickt, zerquetscht und vom Geländer zerschnitten wie ein Stück Fleisch. Und in den letzten Augenblicken seines Lebens lächelte der Mann.
Das Gewoge ließ für eine Weile nach, als hätte sich das seelenlose Meer der Humanes ausgetobt und wäre zufrieden mit dem Erreichten. Der Tote, groß und schwer, rutschte langsam zu Boden, um dort Millimeter für Millimeter in Richtung Abgrund geschoben zu werden. Die Nachdrängenden scherten sich nicht um den Leichnam. Für sie war er bestenfalls ein Hindernis auf ihrem Weg dem Ziel entgegen. Beiläufig und uninteressiert stiegen sie über den Leichnam. Sie schubsten und traten, so lange, bis der Kahlköpfige über die schmale Treppenkante rutschte und ins Leere stürzte. In den Nebel hinab, der den Korpus alsbald verschluckte.
Fassungslos sah Gramo Darn dem Fall des Glatzköpfigen zu, und er wollte sich auch nicht abwenden, als der schon längst im Nichts verschwunden war und er selbst mit einem »Weiter« gezwungen wurde, den nächsten Schritt treppaufwärts zu tun. Er wartete auf das Geräusch des Aufschlags; doch es kam nicht. Der Abgrund schien bodenlos zu sein.
Gramos Magen rebellierte. Er wollte erbrechen; doch da war nichts, außer ein wenig Gallensaft, den er lautstark hochwürgte.
Niemand kümmerte sich um ihn. Oder doch? Musterten ihn die anderen Nackten aus den Augenwinkeln, warfen sie ihm verstohlene Blicke voll Furcht und Verlegenheit zu? Fürchteten sie ihn, machte sie seine Andersartigkeit nervös?
Bilde dir bloß nicht ein, besser als deine Leidensgenossen zu sein! Du hast geschwiegen, während der Kahlköpfige zu Tode gequetscht wurde. Ein einziges Wort hätte womöglich gereicht; ein lauter Ruf, um die anderen Humanes aus ihrer Lethargie zu reißen und sie daran zu hindern, nach oben zu drängen.
Warum fehlte ihm die Kraft, sich aufzulehnen?
Das Geländer schnitt nun schmerzhaft in seine Seite. Gramo fühlte klebrige Flüssigkeit an seinem Oberschenkel hinabrinnen.
»Weiter.«
Er wurde wiederum vorwärtsgeschoben. Noch ließ sich der Druck aushalten, noch fand er die Kraft, sich gegen seine Leidensgenossen zu stemmen.
Die Stimme klang nun näher. Sie wirkte gelangweilt; so, als würde der Sprecher den ganzen Tag lang nichts anderes tun, als dieses eine schreckliche Wort auszusprechen. Um eine endlos lange Schlange an Humanes an sich vorbeizukommandieren.
Gramos Füße waren wie betäubt; auch in Armen und Beinen verspürte er ein unangenehmes, eisiges Kribbeln. Das Atmen fiel ihm zunehmend schwerer. Kein Wunder; das Geländer machte einen Knick nach innen. Er und all die anderen Humanes wurden in den Hals eines Trichters gepresst. Wo sich vormals sieben oder acht Männer und Frauen nebeneinander bewegt hatten, fanden jetzt bestenfalls fünf von ihnen Platz – und noch hatten sie ihr Ziel längst nicht erreicht.
Ihr Ziel …
Gramo schob seinen Oberkörper ein Stückchen nach links, beugte sich über das Geländer, und blickte an seinem Vordermann vorbei. Er sah … nichts. Lediglich ein Tor; eine Verengung, die gerade mal zwei Humanes nebeneinander Platz bot. Soeben ertönte die Stimme des Unbekannten ein weiteres Mal, ein Mann und eine Frau zwängten sich durch die enge Öffnung. Sie zitterten, ihre Leiber waren von Kratzern übersät. Die letzten Meter hin zur Schleuse hatten ihnen das Letzte abverlangt.
Wir sind wie Vieh, dachte Gramo entsetzt. Wir werden durch ein Gatter in den Schlachthof getrieben, um dort zu Fleisch verarbeitet zu werden.
Ein Etwas raste über ihn hinweg. Es bewegte sich mit seltsamer Leichtigkeit und hinterließ einen ätzenden Geruch.
Ein Roboter!, kam es Gramo zu Bewusstsein. Ein Maschinenwesen, das wir Gorty nennen; das uns überwacht und gegebenenfalls einschreitet, wenn wir verbotene Dinge tun.
Warum wusste er dies alles? Unterschied er sich von den Humanes ringsum, oder gingen ihnen ähnliche Gedanken durch den Kopf?
Nein. Daran mochte Gramo nicht glauben. Er blickte in Mienen, in denen sich kaum so etwas wie Wissen oder Begreifen abzeichnete.
Ich gehöre nicht hierher! Ich gehöre nicht hierher, wiederholte er in Gedanken diese Worte wie ein Mantra. Sie gaben ihm Halt; sie machten ihn seiner Einmaligkeit inmitten einer Schlachtherde bewusst.
Er musste endlich etwas unternehmen; er musste auf diesen entsetzlichen Irrtum aufmerksam machen, der ihm widerfuhr. Er hatte hier nichts zu suchen.
»Weiter!«
Gramo machte den nächsten Schritt, der ihn dem Untergang näher brachte. Hatte der Kahlköpfige etwa gelacht, weil er wusste, dass ihm der einfache, billige Tod auf der Treppe weitaus leichter fallen würde als jener dort oben?
Ich muss mich gegen den Strom der Humanes stemmen und umkehren!, sagte sich Gramo. Dort unten im Nebel muss es jemanden geben, mit dem ich reden und den ich auf meine missliche Lage aufmerksam machen kann.
Warum bloß konnte er sich nicht daran erinnern, was sich in der Tiefe befand?
Er wartete geduldig, bis eine neue Körperwoge hoch schwappte und sie alle zu einer kompakten Masse zusammenquetschte. Sobald der Druck nachließ und in die Gegenrichtung ausschlug, arbeitete er mit. So fest wie möglich drückte, schob und rempelte er – und verschaffte sich einige Zentimeter Freiraum.
Gramo nahm keinerlei Rücksicht auf seine Nachbarn. Er zog an der etwas fülligen Frau, die hinter ihm eingeklemmt gewesen war, zwängte sich an ihr vorbei und nahm ihren Platz ein. So etwas wie Verwunderung zeichnete sich in ihrem tumb wirkenden Gesicht ab; doch sie nahm den Wechsel hin, ohne ein Wort zu sagen.
Gut. Gramo hatte einen Schritt gewonnen. Besser gesagt: Er war nicht noch weiter nach oben gedrängt worden – und er hatte es geschafft, sich umzudrehen.
Gramo blickte auf zweihundert oder mehr Humanes hinab. Männer und Frauen, jung und alt. Rothaarige, Blonde und Dunkelhaarige. Kleine und Große, Fette und Hagere.
Und keine Kinder.
Sie schwankten wie Rohrhalme in stürmischem Wind, je nachdem, wie stark der Druck der Nachdrängenden gerade war.
Ein kräftig gebauter Mann mit zerzaustem Haar war sein nächstes Hindernis auf dem Weg nach unten. »Du lässt mich vorbei!«, forderte Gramo mit eindringlicher Stimme.
Der Rotschopf reagierte nicht. Er starrte an ihm vorbei ins Leere.
»Du sollst mich nach unten lassen!«
Nichts. Kein Widerwort, kein Beiseiterücken.
Gramo packte kräftig zu und schob den Mann so weit zur Seite, dass er sich an ihm vorbeizwängen, eine Stufe nach unten steigen konnte.
Erstmals seit seinem Erwachen fühlte Gramo so etwas wie Zufriedenheit. Er hatte ein Ziel ausgemacht, und mit ein wenig Beharrlichkeit würde er es auch erreichen. Jede Woge, jeder Schritt, jeder Humanes, den er beiseiteschob, brachte ihn der Nebeldecke und damit den darunter verborgenen Geheimnissen ein kleines Stückchen näher …
Sandartiger Flitter rieselte auf ihn herab, eine Wolke üblen Gestanks breitete sich aus. Gramo sah nach oben – und erblickte etwas, das bestenfalls mit einer lumpigen, zerrissenen Decke zu vergleichen war. Die Ränder, an denen sich glitzernde, metallene Widerhaken fanden, bewegten sich. Gierig, verlangend.
»Umkehren!«, befahl das fliegende Geschöpf mit rauer Stimme. »Augenblicklich.«
Ein Gorty-Wächter!, wusste Gramo mit einem Mal. Der Hauch einer Erinnerung machte sich in ihm breit. Er soll verhindern, dass jemand Befehle missachtet. Jemand wie ich.
»Ich gehöre nicht hierher!«, rief er nach oben. »Ich habe keine Ahnung, wie ich auf diese Treppe gelangt bin, aber…«
»Umkehren! Letzte Warnung!«
Der Roboter kümmerte sich nicht um seine Versuche, sich zu rechtfertigen. Sein dünner Leib sank herab und kam einen halben Meter über Gramo zum Stillstand. Das Geschöpf dehnte sich aus und zog sich wieder zusammen. Feinste Blitze zuckten durch den metallen glänzenden Körperstoff, auf die Stahlspitzen zu.
»Du verstehst nicht…«
Das Maschinenwesen fiel auf ihn herab, fasste seinen Kopf und hüllte ihn ein, verfing sich mit den Widerhaken in der empfindlichen Haut seines Halses. Gramo schrie vor Schmerz auf, dann konnte er nicht mehr atmen. Das dünne Material schmiegte sich fester und fester um ihn, als wollte es ihn einblistern.
»Ruhig bleiben!«, forderte ihn der Roboter auf. »Andernfalls Exitus.«
Gramo sah die Blitzreflexe, die nun vermehrt über die Maschinenhaut zuckten, näher und näher kommen. Sie berührten die Gesichtshaut und erzeugten einen Juckreiz, der ihn nicht weiter kümmerte. Jener Schmerz, der von den unzähligen Wunden an seinem Hals ausging, ließ alles andere bedeutungslos erscheinen. Die Widerhaken des Gorty-Wächters bohrten sich tief in sein Fleisch, drangen immer tiefer. Sie wühlten und wühlten, so, als suchten sie nach Knochenmaterial, in dem sie sich verankern konnten.
Gramo wollte sich befreien, wollte die metallenen Dornen aus seinem Fleisch ziehen; doch schon die geringste Muskelanspannung führte dazu, dass sich der Leib des Robot-Wächters noch enger um seinen Kopf zusammenzog. Er sah, hörte und roch nichts, und er bekam keine Luft. Gramo hatte seinen letzten Atemzug vor einer halben Minute getan.
Ruhe bewahren!, mahnte er sich. Er meinte sich zu erinnern, dass er eine derartige Situation bereits einmal erlebt – und überlebt – hatte. Der Gorty folgte einem vorprogrammierten Schema. Er würde ihn nicht töten. Er hatte anderes vor.
Eine Falte des kühlen Stoffes zwängte sich zwischen seine Lippen. Sie presste die Zahnreihen auseinander, drang in Mund- und Rachenhöhle vor, immer tiefer. Elektrische Entladungen zuckten über die Schleimhäute an Zunge und Innenwangen. Das Material des Roboters dehnte sich aus, suchte sich einen Weg, hinab in die Luftröhre, bis es die Lungenflügel erreicht hatte.
Gramo war nun eine Minute oder länger ohne Sauerstoff, gefangen und umfangen von einem Maschinenwesen. Ein Gefühl eisiger Kälte und die Berührungen anderer Humanes waren seine einzig verbliebenen Verbindungen zur Außenwelt.
Gramo konnte nicht mehr; er stellte die qualvollen Versuche ein, Sauerstoff in seine Lungen zu pumpen. Seine Beine verloren den Halt, der Kreislauf versagte. Er würde sterben, eingeklemmt zwischen all diesen stumpfen Geschöpfen. Man würde ihn weiterschleppen, bis hin zum Tor. Dort erst würde er haltlos zu Boden rutschen, um von den Nachdrängenden zu einer blutigen Masse zertreten zu werden.
»Wach-Symbiose erreicht!«, hörte er die Stimme des Gorty-Wächters aus unmittelbarer Nähe.
Gleich darauf zischte die so dringend benötigte Luft in seine Lungen. Gierig atmete Gramo ein und aus, ein und aus. Anfangs hechelnd, dann immer ruhiger und regelmäßiger.
Er wollte husten, den Reiz im Rachenbereich loswerden. Es gelang ihm nicht. Irgendetwas hinderte ihn daran.
Der Roboter!, begriff er. Er war in sein Inneres vorgedrungen und übte nun Kontrolle über Teile seiner Körperfunktionen aus. Seine Atmung war fremdbestimmt, wie er auch seine Zunge nicht mehr frei bewegen oder sich artikulieren konnte.
Er öffnete die Augen.
Besser gesagt: Seine Augen wurden geöffnet. Der Gorty-Wächter riss die Lider gewaltsam auseinander und zwang ihn zu fokussieren.
Er sah die Humanes ringsum. Sie waren wie hinter einen Gaze-Schleier gepackt. Ein feiner Gitterraster legte sich über seine Sehorgane. Immer wieder huschten Blitze über die Iriden, ließen Gramo zusammenzucken. Da und dort befanden sich klar umrissene, dunkle Flecken. Das Geländer fehlte in seiner neuen Optik, wie auch die Gesichter der anderen Humanes aus seiner Wahrnehmung ausgeblendet wurden.
Langsam und sachte führte er eine Hand vors Gesicht. Er tastete über Nase, Wangen und Stirn. Seine »Haut« fühlte sich glühend heiß und spröde an; metallene Fussel blieben an seinen Fingern kleben.
»Weitergehen!«, befahl der Gorty.
Ein Schmerzimpuls entstand nahe seiner Nasenwurzel. Er brannte jedweden Gedanken an Widerstand aus seinem Kopf.
Gramo drehte sich um die eigene Achse und gliederte sich in die Masse der Wartenden ein. Er war hilflos, und am liebsten hätte er geweint vor Zorn.
Doch der Roboter gestattete es ihm nicht.
Während das Tor allmählich näher rückte, eroberte der Gorty-Wächter Gramos Ohren und Nase. Nach und nach schaltete er all seine Sinnesorgane aus und ersetzte sie mit Hilfe dieses gazeähnlichen Geflechts durch Teile des eigenen Selbst. Immer mehr Blitzimpulse tobten über die Oberfläche. Sie waren wohl Ausdruck einer erhöhten Rechnerleistung.
Gramo nahm keine Rücksicht mehr auf die Humanes rings um ihn. Er schob und zerrte und schubste; er wollte so rasch wie möglich nach oben gelangen. Sollten »sie« doch mit ihm machen, was sie wollten. Solange sie ihn vom Einfluss des Gorty-Robots befreiten, war ihm alles recht.
Er rempelte eine letzte Konkurrentin um den Zutritt zum Tor beiseite. Die Frau nahm es willenlos zur Kenntnis. Ein dunkler gewobener Vorhang versperrte ihm die Sicht auf das Dahinter. Gramo wollte die Finger ausstrecken und über das Material gleiten lassen, doch der Gorty verwehrte ihm die Bewegung.
Mehrere Widerhaken hatten sich nahe des Rückgrats ins Fleisch gebohrt. Nahm der Rechner etwa grundlegende Eingriffe in seinem neuronalen Bewusstsein vor und manipulierte seinen freien Willen?
»Weiter!«
Gramo tat einen Schritt vorwärts, der Gorty-Robot erlaubte es. Der Vorhang erwies sich als Nichts, als energetische Chimäre. Grelles Licht umfing ihn bei dem zweiten Schritt; sein symbiotischer Partner zwang ihn, die Augen zusammenzukneifen und neu zu fokussieren.
Er fand sich in einem riesigen Raum wieder, der von buntem Stimmengewirr erfüllt wurde. Ringsum befanden sich Schalter, an denen unzählige Humanes, nackt wie er selbst, auf eine Abfertigung warteten. Sie wurden gewogen, vermessen, durchleuchtet, gekennzeichnet, weitergeschoben, von einer Station zur nächsten. Und über all das Geschehen wachten … Engel.
»Sie sind wunderschön!«, hauchte er, und der Gorty ließ es geschehen. Gramos Knie drohten neuerlich einzuknicken. Doch diesmal waren es Freude und Glücksgefühle, die ihn überwältigten.
Jene Geschöpfe, die die Untersuchungen vornahmen, waren von ätherischer Anmut. Zarte Flügel, deren Federn sachte gegeneinanderklirrten und seltsame Melodien erzeugten, umrahmten golden leuchtende und Wärme spendende Antlitze. Die kleinen Gesichter-Sonnen waren von einer Vielzahl langer, elastischer Glieder umrahmt, die sich stetig in Bewegung befanden. Körper waren nicht zu erkennen. Hohe, runde Pulte fassten die Goldenen ein.
»Weiter!«
Gramo schreckte aus seinen Betrachtungen hoch. Links von ihm ruhte in einer mit trüber Flüssigkeit gefüllten Schale jenes Zwergwesen, das ihn Schritt für Schritt vorwärts getrieben hatte. Es war wie ein störender Klecks inmitten eines Bildes voll Leuchtkraft, Ausdruck und Substanz – und dennoch war Gramo glücklich, die Stimme des Kleinen zu hören. Bedeutete dies doch, dass er vor den ersten Schalter treten durfte.
Je näher Gramo dem Sonnenwesen kam, desto wohler fühlte er sich. Ob er wollte oder nicht – sein Herz öffnete sich, und er war bereit, jene Weisheiten zu empfangen, die der Goldene für ihn bereithielt.
»Deine Aufgabe ist erledigt«, wisperte das göttliche Wesen hinter dem Pult.
Augenblicklich löste sich der Gorty von ihm. Er tat es mit Brachialgewalt, als wäre er mit diesem Befehl nicht einverstanden. Er kümmerte sich nicht um Verletzungen, die er in und an Gramos Körper hinterließ. Seine Luftröhre brannte wie Feuer, durch seine Ohren hallten Donnerschläge, seine Zunge fühlte sich wie ein Stück rohes Fleisch an.
Und dennoch: Gramo genoss es, frei zu sein. Er sah, hörte und roch wieder mit seinen eigenen Sinnen! Der Gorty schwebte davon, auf eine Deckenklappe zu, die ihn wohl wieder hinab in die Halle der Wartenden bringen würde. Dort würde er lauern, auf weitere renitente Humanes, um sie maßzuregeln.
»Danke«, sagte er leise, tränenerstickt.
»Du musst das Vorgehen des Gorty entschuldigen«, hauchte der Goldene. Seine Federn bewegten sich im Takt der Worte und untermalten sie mit einer fremdartig klingenden Melodie. »Du hast dich ungewöhnlich verhalten und damit die üblichen Arbeitsabläufe gestört.«
»Es tut mir leid. Ich wollte nicht…« Die Worte gingen ihm aus. Dabei war jetzt der geeignete Zeitpunkt, um zu sagen, was zu sagen war. Dass er nicht hierhergehörte. Dass er nicht wusste, wie er auf die Treppe gelangt war. Dass … dass …
Die Federn klimperten und klingelten fröhlich, und die Wärme des Goldenen ließ ihn all seine Befürchtungen vergessen.
»Du heißt?«, fragte der Goldene.
»Gramo Darn«, antwortete er. Die anheimelnde Flüsterstimme seines Gegenübers vertrieb endgültig all seine Schmerzen.
»Und wie noch?« Der Goldene beugte sich ein wenig vor, die Hitze nahm zu.
»Vierzehn«, antwortete er leichthin. »Gramo Darn Vierzehn.« Die Erinnerung war von einem Moment zum nächsten da.
»Vierzehn? Das ist ungewöhnlich.« Seltsame Klumpen begannen den Sonnenkopf zu umkreisen. Sie wirkten wie Planeten oder Trabanten; womöglich waren sie so etwas wie Wissenszuträger. Datenkonvolute oder -Cluster, die der Goldene von irgendwoher angefordert hatte.
»Ungewöhnlich, aber durchaus im Toleranzbereich«, fuhr er nach einer Weile fort. »Mag sein, dass du einem Fehler im System zum Opfer gefallen bist.«
Einer der Sonnenstrahlen fiel auf Gramo und berührte ihn an der Stirn. »Folge nun der Spur zum nächsten Schalter.«
»Ich habe noch eine Bitte …«
»Man wird deine Fragen beizeiten beantworten. Ich wünsche dir ein schönes Leben, Gramo Darn Vierzehn.«
Er hatte den Eindruck, dass ihm der Goldene ein Lächeln schenkte. Die Wärme durchdrang ihn bis in die letzte Faser seines Körpers und löste den letzten Rest seiner Sorgen auf.
Der Aufstieg war beschwerlich gewesen; doch die Begegnung mit dem Engel entschädigte für alles. Gramo sah sich um. Was meinte der Goldene mit Spur?
Er fühlte ein Ziehen an der Stirn. Es machte sich um so drängender bemerkbar, je länger er an Ort und Stelle verharrte. Er tat einen Schritt nach links, das Ziehen wurde zu einem pochenden Schmerz. Also drehte er sich um und ging in die entgegengesetzte Richtung. Wohlbefinden erfüllte ihn; er hatte die Spur gefunden. Der Goldene hatte ihn durch seine Berührung imprägniert.
Es ging kreuz und quer durch die riesenhafte Halle. Gramo begegnete Nicht-Humanes, mitunter seltsamen Geschöpfen, deren Bezeichnungen ihm einfielen, sobald sie ihm vor die Augen kamen. Gramo lief einem aufgeregt mit den Flügeln flatternden Wesen über den Weg. Es summte zornig vor sich hin, die Farbe seines von kreisrunden Chitinplättchen umgebenen Leibes wechselte rasend schnell. Ein Ramaischer Treiber!, dachte Gramo und wich dem Geflügelten tunlichst aus. Und das dort hinten ist der Nachgebürtige eines Zystolischen Wassertreibers.
Endlich erreichte er sein Ziel. Einen Schalter, der von gleich zwei Goldenen besetzt war. Die Sonnenkörper berührten einander, die langen Strahlen – ihre Strahlenwurzeln?! – bildeten ein schier unentwirrbares Durcheinander.
»Wie ist dein Name?«, fragten die Goldenen im Chor. Sie jubelten und tirilierten, bewiesen ihm dadurch ihr ungeteiltes Interesse und ihre Zuneigung.
»Gramo Darn Vierzehn.«
»Vierzehn … so so. Bist du ein Auf oder ein Ab?«
Verdutzt starrte er die beiden Goldenen an. Bislang hatte er sich auf sein Erinnerungsvermögen verlassen können. Es hatte ihm Informationen geliefert, sobald er sie benötigte.
Doch jetzt versagte sein Gedächtnis. Er hatte keinen blassen Schimmer, was Aufs und Abs waren.
»Ein … Auf«, sagte Gramo zögernd. Er antwortete aufs Geratewohl, einem Instinkt gehorchend.
»Soso. Aha.«
Das Leuchten der beiden Goldenen ließ ein wenig nach. Mehrere ihrer Strahlenwurzeln tasteten nach ihm und streichelten mit ungeahnter Zärtlichkeit über seine Wangen. Ihr Licht und ihre Wärme beseelten ihn, schenkten ihm mehr Glück, als er meinte, ertragen zu können.
»Du lügst«, sangen die Goldenen im Duett. Weitere Strahlenwurzeln kamen auf Gramo zugeschnellt. Die Sonnenarme pressten sich auf seinen nackten Leib und überhitzten ihn, innerlich wie auch äußerlich. Er kochte im Sud der Glücksgefühle, er wurde über alle Maße für seine falsche Antwort mit einem Zuviel an Zuneigung bestraft. Die beiden Goldenen töteten ihn.
Gramo Darn Vierzehn starb in Ekstase.
3 – JAGD
Dämmerung. Zwielicht. Ein neuer Morgen bricht an.
Ich lasse meine Geißelhände durch das Korn gleiten und sondere Suchstaub ab. Mit seiner Hilfe kann ich die Spuren genauer analysieren, als es Maschinenwerk jemals zustande gebracht hätte.
Die Erde ist verbrannt und niedergetreten, es stinkt nach Urin. Das Feld ist vom Rand des Allesfressers gestreift worden. Es wird fünfzig oder mehr Jahre dauern, bis sich der Boden unter meinen Füßen vom Abdruck erholt, den das Monstrum hinterlassen hat.
Ich muss mich ranhalten. Die Nachhut der Truppen des Allesfressers ist bereits im Anflug. Sie wird ihre Arbeit mit erbarmungsloser Gründlichkeit erledigen, und ich tue gut daran, rechtzeitig das Weite zu suchen.
Mühsam erhebe ich mich und setze meinen Weg fort. Der Horizont ist mein Ziel, wie immer. Die Plasmawelt ist groß – und dann wieder auch nicht. Wo auch immer ich hinkomme, begegne ich den Spuren des Allesfressers. Er prägte meine Heimat, wie er auch mich prägte. Er pflanzt Furcht in meine Herzen, er lässt mich mein Leben mit der notwendigen Intensität genießen.
Rechts von mir bricht das Land ab. Gneis und Granit sind zu Sand zermahlen worden, feurige Lohen spritzen wie aus sprudelnden Quellen hoch. Sie bahnen sich mit aller Gewalt ihren Weg durch die vielen Spalten des zerstörten Untergrunds.
Durch das Gewicht des Ungeheuers hochgepresstes Grundwasser kämpft zischend gegen Hitze und Feuer und glühendes Gestein an; welches der beiden gegensätzlichen Elemente diese erbarmungslose Schlacht für sich entscheiden wird, steht noch nicht fest.
Ich bleibe neuerlich stehen und bohre meine Bodensporen so tief wie möglich ins Erdreich. Ich spüre die Veränderungen. Sie sind weitreichend, aber nicht katastrophal. So sehr das Werk des Allesfressers auch zu verachten ist: Sein Tun bringt Gutes hervor. Aus all diesen Zerstörungen erwächst Neues, Frisches. In einigen Jahren wird das Land von neuem erblühen, nach mehreren Dekaden werden die letzten Narben unter den Wurzeln kräftiger Bäume oder unter saftigen Wiesen begraben sein. Meine Heimat, eine Welt stetigen Wandels, lässt sich von den breiten Abdrücken des Monsters nicht besiegen.
Die Bodensporen saugen sich mit lebensnotwendigen Mineraliensäften voll. Ich fühle, wie Lebenslust und Zufriedenheit mit der aufgehenden Sonne wiederkehren. Ich bin alt. Uralt. Ich habe so viel gesehen, und nichts ist unveränderbar geblieben. Nichts, außer dem Allesfresser.
Er ist die Konstante im stetigen Wechsel der Zeitläufe. Vielleicht ist er so alt wie die Sonne selbst; vielleicht stammt er aus einer Zeit vor der Zeit?
Ich kenne die alten Geschichten, die davon erzählen, dass das Leben vor einigen tausend Jahren von einem Moment zum nächsten begonnen hätte, als wäre jemand in einen dunklen Raum getreten und hätte das Licht angeknipst.
Was, wenn es vor der Dunkelheit etwas anderes gegeben hat? Einen anderen Tag voll Licht und Schönheit? War dies die Epoche des Allesfressers gewesen, hat er irgendwie die lange Nacht überlebt und war in unsere Existenz herübergerutscht?
Die alten Geschichten! Ich glaube nicht an sie. Sie lenken von unseren Sorgen ab und versuchen, das Unerklärliche erklärbar zu machen. Der Allesfresser ist der Allesfresser, und er wird unsere Existenz für alle Zeiten bestimmen.
Die Nährbeine sind randvoll gefüllt. Ich ziehe die Bodensporen aus dem Erdreich und säubere sie sorgfältig. Nun fühle ich mich kräftig genug für die Jagd.
Die Sonne wärmt meine Glieder. Sie werden geschmeidig und jagdisch. Der Horizont ist mein Ziel, wie immer. Die Bodensporen haben auf meinem Weg dorthin zig Verletzte erfühlt – gut mundende Humanes, Treiber, Kentenzen und Mehrlings-Quariannen -, die ich töten und absorbieren kann. Ich danke dem Monstrum namens Allesfresser dafür, dass es mir die Jagd nach Fleisch erleichtert.
4 – WIEDERGEBURT
»Weiter!«
Ohne nachzudenken, gehorchte Gramo der Stimme. Er tat einen Schritt nach oben, die eiserne Treppe hinauf, eingeklemmt zwischen schwankenden Leibern.
Ihn fror. Er war nackt, wie alle seine Leidensgenossen. Sie drängten sich so eng wie möglich aneinander und wärmten sich gegenseitig …
Die Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag: Er hatte diesen Marsch hoch zum Ende der Treppe bereits einmal durchlebt! Er war an derselben Stelle zu sich gekommen, er folgte denselben Mechanismen des Aufstiegs, auf ein schmales Tor zu, hinter dem … hinter dem …
Nein. Er musste sich täuschen. Er war verwirrt und orientierungslos; völlig überfordert von all den Eindrücken, die sein Erwachen mit sich brachten.
»Weiter!«
Gramo wurde nach vorn gedrückt. In schrecklicher Stille und wie ein Mann befolgten die Humanes ringsum die Aufforderung.
Eine Aufforderung, die von einem gelangweilten, warzenübersäten Gnom mit menschlichen Zügen stammt, der in fauliger Flüssigkeit treibt …
Ein Schatten schwebte über ihn hinweg. Gramo wagte nicht, den Kopf zu heben. Er ahnte, dass es sich um ein tuchähnliches Geschöpf handelte, das an seinen Ausläufern lange Widerhaken trug.
Er war wiedergeboren worden; samt all seiner Erinnerungen an jene letzte Existenz, die nur wenige Stunden gedauert hatte.
War er in einer Endlosschleife gefangen; würde er immer und immer wieder dieselben Erlebnisse durchmachen? Oder besaß er eine Möglichkeit, sein Schicksal zu beeinflussen?
Gramo nahm die kleinen, aber feinen Unterschiede zu seiner vorherigen … Inkarnation mit einem gewissen Optimismus zur Kenntnis. Er fand sich diesmal im Zentrum der schiebenden und drängenden Massen von Humanes eingekeilt. Neben ihm stand kein Glatzkopf, und die Frau hinter ihm war von gänzlich anderer Statur als jene, die er gewaltsam beiseitegehievt hatte.
Gramo hatte definitiv kein Déjà-vu. Seine Theorie von einer Wiedergeburt gewann an Substanz; um so mehr, als er sich seines Namens erinnerte: Gramo Darn Vierz… Fünfzehn.
Er war womöglich die 15. Inkarnation ein und desselben Wesens! Jede einzelne von ihnen – von ihm! – war diese Treppe hochgestiegen; nackt, neugeboren und völlig unbedarft, um sich den Goldenen zu stellen und deren trügerischen Emotionsbildern zum Opfer zu fallen.
Warum aber konnte er sich nicht an Gramo Darn Eins oder Acht erinnern? Was unterschied seine jetzige und die vorherige Inkarnation von denen, die er zuvor durchlebt hatte?
Er war dankbar, dass ihn die Menge der Humanes im Gleichgewicht hielt. Je länger er über seine Situation nachdachte, desto tiefer verstrickte er sich in wirren Gedankenpfaden.
Fest stand: Wollte er seine Ausgangsposition diesmal nicht von vornherein verschlechtern, musste er sich unauffällig verhalten. Er durfte unter keinen Umständen einen Wächter-Robot auf sich aufmerksam machen, und er musste tunlichst die richtigen Antworten auf die Fragen der Goldenen finden. Andernfalls stand ihm ein weiterer Tod bevor.
»Du heißt?«
»Gramo Darn Fünfzehn.«
»Ein Fünfzehner. Ungewöhnlich, äußerst ungewöhnlich …«
Ein Goldener mit kurzen und breiten Strahlenwurzeln nahm ihn in Empfang. Seine Ausstrahlung war wiederum überwältigend – und doch empfand Gramo sie in Nuancen verändert. Dieser Vertreter des Sonnenvolkes gab sich unruhig, fast ein wenig gereizt.
»Folge der Spur, zum nächsten Schalter.« Der Goldene tastete über Gramos Stirn und hinterließ erneut ein Imprint, das ihn durch den Saal leiten würde.
Das weiß ich eh schon alles!, wollte Gramo sagen, doch er verkniff es sich. Er machte auf der Stelle kehrt und folgte den lenkenden Befehlen, quer durch den Raum. Es war weniger Betrieb als … als damals – wann auch immer das gewesen sein mochte. Die Anzahl der Humanes, die umherwanderten und dabei keinem erkennbaren Muster folgten, war annähernd die Gleiche; doch kaum ein Angehöriger eines anderen Volkes ließ sich blicken.
Die meisten Goldenen saßen teilnahmslos hinter ihren Schaltern. Sie wirkten müde und ausgebrannt. Ihre Leuchtkraft war gedämpft, so etwas wie Unlust ging von ihnen aus.
Zwei der Wesen, ineinander verschlungen, empfingen ihn am nächsten Schalter. Ihre Strahlenwurzeln hingen schlaff herab, nur die vordersten Spitzen bewegten sich.
»Name?«, fragten sie im Duett.
»Gramo Darn Fünfzehn.«
»Bist du ein Auf oder ein Ab?«
»Ein … Ab.«
»Man sieht es dir an.« So etwas wie Verachtung sprach aus den asynchron klingenden Stimmen. »Du bist ein Versager, und Versager werden auf Kamandar nicht besonders gut gelitten.« Der Hauch eines Lichtscheins erhellte die Sonnengesichter. »Gib dein Bestes, Gramo Darn Fünfzehn! Sieh zu, dass du diese neuerliche Chance zur Bewährung nutzt.« Die Goldenen richteten ihre Strahlenwurzeln steil in die Höhe. »Er blickt auf uns alle herab, auch auf dich! In seiner Güte schenkte er dir die Gnade einer weiteren Wiedergeburt. Er wird dich auf deinem zukünftigen Weg begleiten, und wenn er mag, was du tust, dann steht dir eine bessere Existenz bevor als jene, die wir dir diesmal bieten können.«
Kamandar? Er?
Immer mehr Fragen stellten sich Gramo. Und dennoch tat er gut daran zu schweigen. All die anderen Humanes ringsum wanderten ruhig und in sich gekehrt von einem Schalter zum nächsten. Mit jeder Frage hätte er Aufmerksamkeit auf sich gezogen – und sein Leben ein weiteres Mal riskiert.
»Du kannst gehen, Gramo. Folge der Spur.« Ein trauriges Federklingeln begleitete ihn zum Abschied, dann fielen die beiden Goldenen in eine Art Dämmerschlaf.
Gramo gab sich möglichst unbeeindruckt, während er den Vorgaben des Imprints an seiner Nasenwurzel folgte. Die Spur führte ihn an den Beginn einer ganzen Reihe von Pulten. Eine Frau mit schmalen Schultern und breit ausladenden Hüften wurde soeben abgefertigt. Gramo stellte sich hinter ihr an und wartete auf weitere Anordnungen.
Er wunderte sich über seine Gelassenheit. Natürlich empfand er Unbehagen, und natürlich fürchtete er sich vor einer weiteren tödlichen Berührung durch einen der Goldenen. Doch er war mehr als zuversichtlich, die Abfertigungsmaschinerie der Sonnenwesen diesmal heil zu überstehen.
Man vermaß Gramo, bestimmte sein Gewicht, die Beweglichkeit seiner Gelenke, die Körperkräfte. Er wurde Reaktions- und Belastbarkeitstests unterzogen, man ließ ihn sportliche Übungen vollführen, beurteilte seine soziale und emotionale Intelligenz. Die meisten Übungen bewältigte er, ohne außer Atem zu kommen oder nervös zu werden. Im Vergleich zu anderen Humanes, die vor ihm an der Reihe waren, schnitt er weitaus besser ab.
Stets befand sich ein Goldener in seiner unmittelbaren Nähe. Je besser seine Ergebnisse, desto intensiver das Leuchten der Goldköpfe. Zweifelsohne waren sie von seinen exzellenten Leistungen beeindruckt.
Als die Prüfungen ein Ende nahmen, war Gramo rechtschaffen müde. Im Kreis von drei Dutzend Humanes wurde er von Wächter-Robots in einen Hygieneraum geleitet. Er schrubbte sich Staub und Schmutz vom Leib. Die Enge, in der sich die meisten Prüfungen abgespielt hatten, der säuerliche Geruch nach Schweiß und menschlichen Ausscheidungen, die unangenehme Stille – dies alles machte ihm zu schaffen, wie auch immer stärker werdende Kopfschmerzen.
Nach einem kargen Mahl – das erste seines neuen Lebens! – warf er sich erschöpft auf eine der harten Pritschen im an die Hygienezellen angeschlossenen Schlafsaal. Mehr als fünfzig Humanes beiderlei Geschlechts füllten allmählich die Bettreihen links und rechts.
»Ihr bekommt fünf Stunden Zeit zur Erholung!«, quäkte ein Gorty-Wächter. »Diese Zeitspanne ist angemessen und auf euren Metabolismus abgestimmt. Das Verlassen des Saals ist nicht gestattet. Andernfalls müsst ihr mit Bestrafung rechnen.« Unruhige Wellen brachten seinen dünnen Körper zum Beben. »Nach der Ruheperiode erwarten euch Abschlusstests und individuelle Beurteilungsgespräche, die eine weitere Wachphase in Anspruch nehmen werden. Anschließend werdet ihr ausgerüstet, imprägniert und euren Arbeitsstätten zugeteilt.« Die Widerhaken des Gorty-Wächters glänzten im matten Licht des Raumes. Er verharrte einige Sekunden, als wollte er noch etwas hinzufügen. Schließlich schwebte er aus dem Saal. Die Türe fiel zu.
Den Arbeitsstätten zugeteilt… Das Prozedere des heutigen Tages diente, wie erwartet, dem Zweck, die Tauglichkeit der Humanes für bestimmte Aufgaben zu überprüfen. Je geschickter man sich anstellte, desto qualifizierter die Arbeit, der man sich von da an widmen sollte.
Gramo zog die dünne Decke über seinen Körper und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Die stechenden Schmerzen an den Schläfen ließen ein wenig nach. Er war zufrieden. Er hatte sein Bestes gegeben und die meisten Testreihen mit Bravour bestanden. Wenn er alle Anzeichen richtig deutete, würde man ihn für eine besonders verantwortungsvolle Aufgabe heranziehen.
Staubflitter rieselte von der Decke herab. Spuren, die die Gorty-Wächter hinterlassen haben …
Gramo war rechtschaffen müde, doch in seinem Kopf ratterte es unaufhörlich. Er meinte, aufgrund der wenigen Versatzstücke aus Erinnerungen und Ahnungen seine Situation allmählich besser einschätzen zu können.
Er war eine Arbeitsverpflichtung eingegangen, die strengste Geheimhaltung erforderte. Man hatte ihn und all die anderen Humanes rekrutiert und während des Transports hierher – wo auch immer sich dieses Hier befand – ruhiggestellt, um sie nun ihren Qualifikationen gemäß einzuteilen.
Irgendwo in seinem Hinterkopf formte sich der beunruhigende Gedanke, dass die Antworten auf all seine Fragen nicht so einfach waren, nicht so einfach sein konnten. Die Sache mit der Wiedererweckung … die Teilnahmslosigkeit der anderen Humanes … die mitunter strenge Trennung von den Angehörigen anderer Völker … Und was, verdammt nochmal, waren Aufs und Abs?
Gramo atmete tief durch. Morgen würde er erfahren, woran er wirklich war.
Er stützte sich hoch und sah sich um. Die Gesichter seiner Zimmergenossen waren leer. Manche schliefen bereits, andere starrten unbeteiligt gegen die Decke.
»Pst! Du da!« Gramo stieß den Nachbarn zu seiner Linken an. »Wie heißt du?«
Der Mann warf ihm einen teilnahmslosen Blick zu, bevor er sich umdrehte und ihm seinen verlängerten Rücken zukehrte. Deutlicher hätte er sein Desinteresse an einer Unterhaltung nicht kundtun können.
Gramo zuckte mit den Schultern. Sobald er seine Beurteilung in der Hand hielt und einer Arbeit zugeteilt worden war, würde man ihm zuhören müssen.
Am anderen Ende des Raumes entspann sich ein Gespräch. Gramo spitzte die Ohren und versuchte zu verstehen, was die Frau und der Mann einander zu sagen hatten.
Bemerkenswert! Sie sind, abgesehen von mir, die Einzigen, die Interesse an ihrer Situation zeigen. Sollte ich mich zu ihnen schleichen …?
Gramo entschied sich dagegen. Der Gorty-Wächter hatte mit Konsequenzen gedroht. Der ständig von der Decke herabsickernde Flitter deutete darauf hin, dass ein oder mehrere der Maschinenwesen mit Hilfe ihrer seltsamen Fähigkeiten den Raum unter Beobachtung hielten.
Nach einer Weile erhob sich die Frau. Sie schlüpfte unter die Decke ihres Nachbarn und presste sich eng an seinen Leib.
Sie lieben sich!, dachte Gramo irritiert. Sie benehmen sich wie Tiere, die bloß an die Erhaltung ihrer Art denken. Keinen Augenblick lang interessieren sie sich für die Dinge, die rings um sie geschehen.
Mann und Frau bewegten sich im Rhythmus. Sie unterdrückten allzu heftige Laute, und als die wacklige Liegestatt zu knarren begann, nahmen sie sich noch weiter zurück. Bereits nach wenigen Minuten endete der Liebesakt, gleich darauf schlüpfte die Frau zurück unter ihre eigene Decke.
Kein Gorty-Wächter war gekommen, um das Geschehen zu unterbinden. Bedeutete dies, dass die Maschinenwesen mit der Auslegung ihrer eigenen Befehle nicht gar so streng waren? Oder betrachteten sie Sexualakte der Humanes als etwas Selbstverständliches? Als Teil ihres animalischen Seins?
Wir sind Versuchstiere!, dachte Gramo entsetzt, nicht das erste Mal am heutigen Tag.
Er ließ sich nach hinten fallen. Er musste nachdenken, musste all die verwirrenden Eindrücke der letzten Stunden verarbeiten und ein sinnvolles Ganzes daraus formen.
»Kamandar …«, sagte er leise, »was bist du? Und wer ist er?«
Er hielt viele lose Enden in seinen Händen, und er ahnte, dass sich aus ihnen ein sinnvolles Ganzes ergeben würde. Er war der Lösung ganz nahe, gewiss …
»Aufwachen!«, plärrte der Gorty-Wächter.
Gramo Darn schreckte hoch. Was war geschehen? Warum ließ man ihn nicht schlafen?
»Zehn Minuten sind für Morgenhygiene und Frühstück vorgesehen. Anschließend folgt ihr wie gehabt euren Spuren. Ein Zuspätkommen wird nicht geduldet.« Die Krallen des Gortys kratzten wie zur Warnung über das Metall der Tür. Sie hinterließen deutlich sichtbare Spuren.
Gramo fluchte leise. Gegen seine Absicht war er eingeschlafen, noch bevor er seine Gedanken ordnen und ein Bild aus ihnen hatte formen können. Hatte man ihm und den anderen Humanes betäubende Drogen ins Essen gemischt?
Mehrere unterschiedlich geformte Gortys schoben kleine Frühstückstische vor die Betten. Von einer dampfend heißen Brühe ging verlockender Geruch aus. Doch das Süppchen entpuppte sich als übel schmeckende Tunke, die auf der Zunge einen metallisch-bitteren Geschmack hinterließ. Gramo nahm lediglich ein paar Löffel voll, würgte dann eine harte Kante Brot runter und wusch sich in der Nasszelle die Müdigkeit aus den Augen. Er sah fürchterlich aus, und er fühlte sich auch so. Die fünf Stunden Schlaf, die man ihnen zugestanden hatte, waren bei weitem nicht ausreichend gewesen.
Dennoch: All sein Ärger würde in wenigen Stunden ein Ende finden. Sobald Gramo die Abschlusstests hinter sich gebracht hatte und einem Arbeitsplatz zugeteilt wurde, erwartete er sich Antworten. Es musste sie geben. Man konnte die anderen Humanes und ihn nicht orientierungslos durch eine völlig fremde Welt tappen lassen.
Als er zu seiner Bettstatt zurückkehrte, wartete ein schmutzig graues Gewand auf ihn. Einfach geschnittene Sachen aus kratzigem Stoff, in dem wohl schon eine Unzahl anderer Humanes gesteckt hatte.
Es war ihm einerlei. Hose, Hemd und Strümpfe schützten, und sie gaben ihm das befriedigende Gefühl, ein Individuum zu sein. Kein gesichtsloses Wesen, das hin und her getrieben wurde.
Der Gorty-Wächter führte sie zurück in den Saal. Rege Betriebsamkeit herrschte nun. Die Goldenen arbeiteten im Akkord, um des Ansturms weiterer Zugänge Herr zu werden.
»Bald ist es vorbei«, machte er sich leise Mut, »bald.«
Seine Stimme klang seltsam in seinen Ohren. Kein Wunder, hatte er sie doch während des gestrigen Tages kaum gehört – und an das Davor besaß er keine Erinnerungen.
»Hallo!«, grüßte er die Frau, die in einer Zweierreihe neben ihm zu stehen kam.
Desinteressiert sah sie ihn an. Tiefe Schatten lagen unter ihren Augen, der linke Mundwinkel zuckte immer wieder unkontrolliert. Blonde, fettige Haarsträhnen hingen ihr ins Gesicht. Sie deutete so etwas wie ein Nicken an, bevor sie sich abwandte.
Gramo erkannte sie wieder. Sie war es, die gestern Sex mit einem ihr völlig fremden Mann gehabt hatte. Unwillkürlich rückte er einen Schritt ab.
Lächerlich! Er schätzte sich nicht als jemanden ein, der Vorurteile hegte. Gehegt hatte …
»Viel Glück!«, flüsterte Gramo ihr zu.
»Wie bitte?« Sie schreckte aus ihrem geistigen Leerlauf hoch. Ihre Stimme klang erschrocken.
»Ich wünsch dir viel Glück bei den Abschlusstests«, wiederholte Gramo, verwundert und erfreut gleichzeitig. Sie war die Erste, die auf seine Anrede reagierte.
»Danke«, murmelte sie.
Sie kämpfte mit sich, keine Frage. Es war, als würde sie allmählich aus einem irrealen Traum erwachen und nun mit denselben Fragen konfrontiert werden, die auch Gramo quälten. – Unterschied ihn das von seinen Leidensgenossen? Kehrte er früher als alle anderen Humanes aus stumpfer Teilnahmslosigkeit in die Realität zurück?
»Ich bin Gramo«, sagte er.
»O…Onyx.« Ihre Stimme klang verwundert.
»Gramo Darn Fünfzehn!«, hörte er einen Goldenen rufen.
Er trat vor einen der Rundschalter und bemühte sich um einen möglichst teilnahmslosen Gesichtsausdruck.
»Dein Abschlusstest«, sagte das Sonnenwesen. Mit einem der Strahlenwurzeln reichte es ihm ein nachlässig gefaltetes und versiegeltes Blatt Papier. Dort, wo der Goldene das Dokument berührt hatte, zeigten sich Sengspuren.
Gramo nahm das Schriftstück an sich, wie so viele Humanes vor ihm, und trat an einen freien Tisch hinter dem Schalter. Mehrere Wegwerf-Estats lagen bereit. Er setzte sich, aktivierte einen der Stifte und schrieb fein säuberlich seinen Namen in das vorgesehene Kontrollfeld. Der elektrostatische Imprint, violett bis gräulich gefärbt, erschien mit mehreren Zehntelsekunden Verspätung auf dem Dokument.
Die Versiegelung löste sich, nachdem er auf das Papier gehaucht hatte. Der einfache Test legitimierte ihn als Besitzer des Prüfbogens. Sorgfältig entfaltete Gramo das Papier und strich es mit dem Daumen glatt. Er ließ die Blicke über den ersten Teil der Fragen und die Kästchen mit zwei bis vier möglichen Antworten schweifen.
Dies alles erschien ihm derart leicht, dass er den Kopf schütteln wollte. Er unterdrückte tunlichst seine Regung. Unter keinen Umständen durfte er seine Andersartigkeit zur Schau stellen, nicht jetzt!
Mit Bedacht machte er sich an die Lösung der Aufgaben. Er bemühte sich, möglichst gleichmäßig zu arbeiten, wie eine Maschine. Immer wieder musste sich Gramo zurücknehmen, seine Ungeduld verbergen. Es war an der Zeit, dass diese Farce ein Ende fand.
Frage 25: Bist du bereit? Ja/nein?
Irritiert hielt er inne. Zögernd kreuzte er »Ja« an.
Eine Fangfrage. Man wollte seine Fähigkeiten zur Abstraktion ausloten. Verstand er die Botschaft hinter der Frage, ging er mit Optimismus an die Lösung eines Problems heran, traute er sich etwas zu?
Gramo hätte am liebsten über dieses Möchtegern-Psychospielchen gelacht. Andere Humanes mochten an Frage 25 scheitern und ratlos bleiben. Er aber hatte in seiner früheren Existenz gewiss mit derartigen Dingen zu tun gehabt. Eng umgrenzte Erinnerungsblöcke lieferten ihm die notwendigen Informationen und Zusammenhänge, sobald er sie benötigte.
Weiter.
Einige knifflige mathematische Probleme. Zahlenreihen. Fragen, die seine emotionale Intelligenz betrafen. Korrelate. Apperzeptive Rätsel …
Gramo wendete das Blatt.
Frage 33: Hast du es getan? Ja/nein?
Er setzte an, wollte »Ja« ankreuzen, zögerte. Er war versucht, zu einem Nachbarn am Nebentisch zu schielen. Reiß dich zusammen!, mahnte er sich. Man beobachtet dich sicherlich. Deine Reaktionszeit und deine Entschlusskraft sind ausschlaggebend, nicht die Antwort.
Er setzte sein Kreuz über das Wort »Nein«.
Frage 34: Worin liegt der Sinn?
Frage 35: Warum bist du dir so sicher?
Frage 36: Wann ist es so weit??
Gramos Hand zitterte. Es gab keine Antwortkästchen mehr, die er ankreuzen konnte. Leere Zeilen warteten darauf, ausgefüllt zu werden.
Nur keinen Fehler begehen, nicht jetzt! Dies alles sind Fangfragen. Um dich zu verwirren, um deine Gemütslage auszuloten und Auffälligkeiten festzustellen …
Ein Schrei gellte durch die Halle. Er ging Gramo durch Mark und Bein, denn er kündete von Wahnsinn. Er wollte aufspringen und sich umsehen. Im letzten Augenblick besann er sich seiner Rolle und wartete auf die Reaktionen der anderen Humanes ringsum. Unter keinen Umständen durfte er sich anders verhalten als sie.
Langsam, schwerfällig erhoben sie sich und blickten umher, als ein zweiter, langgezogener Klageton laut wurde. Gramo tat es seinen Nachbarn gleich. Wie in Zeitlupe drehte er den Kopf nach links und nach rechts, suchte nach dem Verursacher des Lärms, der mittlerweile auch Reaktionen bei den Goldenen auslöste. Sie hielten ihre Strahlenwurzeln weit von sich, wie abwehrende Stacheln. Ihre Köpfe verloren an Leuchtkraft, sie duckten sich tief ins Innere der sie umgebenden Pulte.
Ein Humanes, ein Mann, hastete zwischen Schalterreihen entlang, wich geschickt einem Gorty-Wächter aus, der seinen Kopf einwickeln wollte, schlitterte meterweit über den Boden, auf eine Tür zu. »Mich kriegt ihr nicht!«, rief er mit schriller Stimme, »nicht noch einmal! Ich weiß, was ihr von mir wollt; ich kann mich erinnern!«
Die Türe war verriegelt. Der Humanes drehte sich um, suchte nach einem anderen Ausgang aus der Halle. Er verhielt sich wie ein in die Enge gedrängtes Tier, das bis zum letzten Atemzug um seine Freiheit kämpfen wollte.
Tiere … ich weiß, was Tiere sind …
Der Gedanke erschien Gramo ungemein wichtig. Er besaß eine ganz besondere Bedeutung.
Die Gortys kreisten den flüchtenden Humanes ein. Ihre Ränder bewegten sich auf und nieder, auf und nieder. Die Widerhaken hatten da und dort feinste Düsen ausgebildet, die einen gelbgrünen Sprühnebel ausstießen.
Nervengift? Ein Betäubungsmittel? Gramo hielt unwillkürlich den Atem an. Die Szene spielte sich in unmittelbarer Nähe ab.
Der Humanes schrie ein weiteres Mal und warf sich nach vorne, vorbei an zwei seiner Gegner. Seine Kraft, seine Explosivität überforderte selbst die Rechner der Gorty-Wächter. Bevor sie sich auf die veränderte Situation einstellten, gewann der Flüchtende einen Vorsprung von mehreren Metern. Er hastete durch einen Gang an mehreren hintereinander angeordneten Pulten vorbei, parallel zu jener Reihe, in der Gramos Arbeitstisch stand.
»Helft mir!«, rief der Humanes im Vorbeilaufen seinen Artgenossen zu, »helft mir doch, ihr Narren! Lasst es nicht zu, dass sie euch ein weiteres Mal einteilen!«
Ein Gorty ließ sich auf den Flüchtenden hinabfallen. Er verfehlte dessen Kopf, streifte den Oberkörper und klammerte sich letztendlich am rechten Bein fest. Die Haken bohrten sich tief ins Fleisch; es knirschte vernehmlich, Blut spritzte.
Der Humanes ließ sich nicht stoppen. Er nahm den Schmerz nicht wahr, hastete weiter, im Zickzackkurs, einem unbestimmten Ziel entgegen.
»Wir müssen ihm helfen!«, hörte Gramo eine Stimme hinter sich. Er wandte sich dem Sprecher zu. Es handelte sich um einen ungewöhnlich schlank gebauten Kerl, dessen Hände sich schlossen und öffneten, immer wieder.
»Wir müssen ihm helfen!«, echote eine Frau dicht neben ihm. Sie hatte wie Gramo die Papiere des Abschlusstests vor sich liegen. Nun zerknüllte sie die Blätter und warf sie achtlos beiseite. Die Muskeln ihres Oberkörpers spannten sich unter dem eng anliegenden Gewand sichtbar an.
Weitere Humanes schlossen sich den Protesten an. Ihre Blicke klärten sich, sie erhoben ihre Stimmen. Immer lauter, immer fordernder.
Die Goldenen machten sich noch kleiner, duckten sich noch tiefer in die fragliche Sicherheit ihrer Pulte. Einzelne von ihnen bewegten die Strahlenwurzeln in verwirrenden Mustern, die Aufmerksamkeit erheischen und die Humanes besänftigen sollten. Doch die meisten der seltsamen Lebewesen verkrochen sich ängstlich.
Ein Alarmsignal erklang. Gramo sah zur Decke. Aus mehreren plötzlich entstandenen Lücken fielen graue Schatten. Hunderte Gorty-Wächter drangen in den Raum ein, flatterten unruhig umher, suchten nach dem Verursacher all dieser Aufregung – und hatten ihn rasch in dem einzelnen Flüchtenden ausgemacht.
Der Mann verlor an Kraft und Tempo. Er humpelte nur noch, streckte verlangend die Hände nach allen Richtungen aus. Der Gorty hatte seinen Unterschenkel fast zur Gänze durchtrennt. Er stand in einem bizarren Winkel vom Rest des Beines ab. Eine breite Blutspur machte die Schwere der Verletzung noch deutlicher.
Der Amokläufer kam geradewegs auf Gramo zu.
Er sah ihn an. Bittend, mit den Blicken um Hilfe flehend, während das Chaos ringsum einen vorläufigen Höhepunkt erreichte. Dreißig oder mehr Humanes hatten sich anstecken lassen und machten sich nun daran, weitere ihrer Artgenossen aus der Lethargie zu reißen. Sie schrien, schlugen wild um sich, warfen Gegenstände aller Art in Richtung der sanft dahintreibenden Gortys.
Die Mehrzahl der Menschen folgte dem Treiben verständnislos. Sie blieben verhangen in ihrem gedanklichen Halbschlaf und taten sich schwer, die Geschehnisse ringsum in ihr begrenztes Universum einzuordnen.
Der Verletzte war nur noch wenige Schritte von Gramo entfernt. Er fiel auf die Knie, kroch nun unter Schmerzen vorwärts. Eine Unzahl von Gorty-Wächtern umlagerte ihn. Ihre Körper blähten sich auf und fielen wieder zusammen. Hatten sie etwa Spaß an der Verfolgung? Wollten sie das Ende ihrer Jagd bis zur letzten Sekunde auskosten?
Gramo musste sich entscheiden. Jetzt! Schloss er sich der Revolution an, versuchte er, andere Artgenossen aus ihrer Lethargie zu reißen – oder gab er den Ahnungslosen?
»Bitte!«, flehte der Verletzte, »hilf mir …«
Gramo fühlte sich von anderer Seite beobachtet. Er drehte sich zur Seite – und erblickte Onyx. Sie stand wenige Meter von ihm entfernt, schräg versetzt hinter einem verwaisten Pult.
Sie schüttelte den Kopf. Tu es nicht, wollte sie ihm sagen, lass ihn verrecken; sonst bist du auch dran!
Der Verletzte erreichte ihn, krallte sich mit einer Hand an seinem Hosenbein fest und zog sich an ihm hoch, auf eine Reaktion hoffend. Ein zweiter Gorty flatterte fast gemächlich auf ihn hinab und setzte sich an seiner Schulter fest. Ein dritter fiel über den rechten Arm, ein vierter packte an den Genitalien zu.
Gramo stand still und bemühte sich um einen ausdruckslosen Blick. Er hatte sich entschieden. Die »Revolution« hatte keine Chance. Sie wurde von mehreren Hundert Gorty-Wächtern im Keim erstickt. Immer mehr der Aufständischen gingen zu Boden, meist mit verhüllten Köpfen.
Der Auslöser allen Aufruhrs sah Gramo in die Augen. Er war ruhig geworden, hatte all seine Schmerzen hinter sich gelassen. Er besaß die Gewissheit, dass seine Flucht gescheitert war, dass er sterben würde.
»Ich bin Seamos«, sagte er mit erschreckender Intensität, »und ich bin keine Nummer!«
Er blinzelte. Hustete schmerzverzerrt. Lächelte Gramo an – und sprang unvermittelt hoch, in einer letzten, großen Anstrengung. So sehr die Gortys auch an ihm zogen und zerrten, ihn pressten, kneteten und ihn zerfleischten: Sie konnten seine aus Verzweiflung geborene Tat nicht verhindern. Er stieß sich mit der Kraft des einen, verbliebenen Beins ab und stürzte übers Pult links von ihm, auf einen Goldenen zu. Er durchbrach das Gewirr der Strahlenwurzeln, fegte die leuchtenden Armäste beiseite und warf sich mit seinem ganzen Gewicht auf sein Opfer.
Ein Schrei erklang. Er entstand in Gramo, prägte sich in seinem Kopf ein.
Er tut uns weh, er tut uns weh!, jammerte die Stimme, um voll Hass fortzufahren: Er hat es gewagt, einen von uns anzufassen! Tötet sie alle, rottet diese Menschenbrut aus! Wir möchten sie brennen und leiden und sterben sehen …
Die Goldenen.
Sie enthüllten ihr wahres Ich. Sie legten offen, wie sie wirklich über die Menschen dachten.
Schmerz breitete sich von Gramos Kopf über den Nacken hinweg nach unten aus, um ihn zu lähmen, seiner Sinnesempfindungen zu berauben. Die Gortys fanden sich zu einem dichten Geflecht zusammen, das einen Großteil des Raumes einnahm und über ihren Häuptern schwebte. Sie emittierten nervenschädigende Strahlungen, und die Schreie ringsum bezeugten die grässliche Wirkung.
Als es endete – nach Sekunden? Minuten? -, herrschte unheimliche Stille. Da und dort rührte sich ein Humanes; eine Frau ächzte, eine zweite erbrach sich.
Gramo fühlte klebrige Feuchte an seiner Stirn. Er war gestürzt und hatte sich den Kopf an einer Tischkante angeschlagen. Mit einem Ärmel wischte er krustiges Blut ab. Andere Menschen kamen gleich ihm torkelnd auf die Beine. Viele von ihnen wirkten verwirrt, als könnten sie sich an nichts erinnern.
Er blickte zu Onyx. Sie saß auf einem Stuhl und streckte alle viere von sich. Doch sie war wach und krümmte den rechten Zeigefinger, der in Gramos Richtung deutete.
War diese winzig kleine Geste ihm zugedacht? Wollte sie ihm mitteilen, dass es ihr gutging, dass sie sich an ihre stille Übereinkunft erinnerte? Gramo konnte und wollte es nicht beurteilen.
Die Goldenen nahmen wieder ihre Arbeit auf, als wäre nichts geschehen. Der Arbeitsplatz rechts von Gramo blieb leer. An den Rändern des Pults zeigten sich tiefe Risse. Es verfiel zusehends. Mit dem Tod seines Benutzers starb auch das Möbel. Seamos hatte das Leuchtwesen in den letzten Sekunden seines Lebens mit in den Tod gerissen.
So bedauerlich Seamos’ Schicksal auch war: Gramo beglückwünschte sich zu der Entscheidung, ihm nicht geholfen zu haben. All jene, die den Aufstand mitgetragen hatten, waren verschwunden oder wurden soeben in aller Stille abtransportiert. Jeweils sechs Wächter-Robots trugen einen leblosen Humanes, drei an jeder Seite, die Widerhaken tief ins Fleisch des Menschen geschlagen.
Gramos Hass wuchs ins Unermessliche. Nur die Aussicht, all diesen Auswüchsen einer schrecklich entarteten Maschinerie bald zu entkommen, hielt ihn davon ab durchzudrehen.
Der Abschlusstest lief weiter, als wäre nichts geschehen. Die Gorty-Wächter zogen sich nach Beendigung der Aufräumarbeiten in ihre Dachnischen zurück. Die Goldenen übernahmen aufs Neue das Kommando. Ihre Stimmen hallten wie jeher durch den Raum, und sie strahlten Zuneigung aus.
Oh, wie Gramo diese sonnengleichen Wesen hasste! Sie hatten ihn hinrichten lassen, sie scherten sich um keinerlei moralische Werte, sie regierten gottgleich.
Und dennoch konnte sich Gramo nicht des Eindrucks erwehren, dass die Goldenen bloß winzige Zahnrädchen in einer ins Riesenhafte aufgeblasenen Maschinerie waren. Sie stellten Apparatschiks dar, denen er – hoffentlich! – für immer entkam, sobald er diesen Raum hinter sich ließ.
Aber wohin führte ihn sein Weg? Was erwartete ihn? Gramo fühlte, dass etwas Besonderes in ihm ruhte. Ein Geheimnis, das sich selbst schützte und noch nicht bereit war, ans Tageslicht zu kommen.
Er hatte Mühe, sich auf seine Aufgaben zu konzentrieren; um so mehr, da er nicht wusste, wie er mit den sinnlos erscheinenden Testfragen umgehen sollte. Er entschied sich letztlich dafür, kurze Antworten zu geben, die seine Verwirrung ausdrücken sollten. Er schrieb: »Keine Ahnung!«, oder »Woher soll ich das wissen?«, oder auch: »Ich bin müde.«
Nach einer Weile wurde Gramo aufgefordert, den Stift beiseite zu legen und den Testbogen an einem Schalter abzugeben.
»Danke, Gramo Darn Fünfzehn«, sagte der Goldene förmlich und mit einem gewissen Wohlwollen. »Du erhältst nun eine Mahlzeit. Anschließend bekommst du die Auswertungsergebnisse mitgeteilt. Ich bedaure die Verzögerung. Der Andrang ist derzeit groß, wie du siehst.«
Etwas Lauerndes lag in der Stimme des Sonnenwesens. Die Strahlenwurzeln wanderten unruhig in Gramos Richtung. Der Goldene wartete auf eine Reaktion; darauf, dass er durch Fragen verriet, sich seiner Lage weitaus bewusster zu sein, als er vorgab.
»Ja«, murmelte Gramo, und nochmals: »Ja.«
Der Goldene wartete einige Sekunden, und als ihm klarwurde, dass sein Gesprächspartner nicht mehr zu sagen hatte, fuhr er fort: »Nach der Auswertung erfolgt die Imprägnierung. Anschließend wird dir ein Betreuer zugeteilt, und du wirst angewiesen.«
Angewiesen?!
Der Goldene sprach in Rätseln; er machte sich einen Jux daraus, ihn im Unklaren zu lassen.
»Folge der Spur, Gramo Darn Fünfzehn«, sagte der Goldene. »Du kannst gehen.«
Seine Ausstrahlung vermittelte so etwas wie Enttäuschung. Hatte er etwa erwartet, dass er mehr Emotionen oder Eigeninitiative zeigte?
Folge der Spur… Dieser Satz war weitaus mehr als ein Befehl. Gramo hörte ihn viel zu oft. Er wurde ringsum tausendfach gewispert, als wäre er das Leitbild aller und müsste den Neuankömmlingen beständig vor Augen gehalten werden.
Gramo verließ den Schalter und fand sich vom leichten, unbestimmten Schmerzgefühl an der Nasenwurzel in Richtung einer offen stehenden Tür hingezogen.
Er fühlte Hunger. Das dürftige, rasch hinabgeschlungene Frühstück hatte ihn kaum gesättigt.
Man füttert uns wie Tiere, dachte er bedrückt.
Das Essen schmeckte fad, und wiederum wurden die Humanes gedrängt, so rasch wie möglich fertig zu werden. Frauen und Männer saßen sich schweigend gegenüber. Sie schaufelten die Nahrung in sich hinein, ohne Gefallen daran zu finden.
Gramo sah sich vorsichtig um. Onyx war nicht zu sehen. Nur zu gerne hätte er sich mit ihr ausgetauscht. Mit Gesten oder Berührungen, im Verborgenen – egal wie. Er benötigte jemanden, der ihm Halt gab in diesem Labyrinth, durch das er schlitterte.
Seltsam. Niemand im Raum war älter als vierzig Jahre. – Gab es auch eine Altersselektion? Und: Warum gab es Wiedergeborene unterschiedlichen Alters?
Gramos Kopf schmerzte. Er begann zu begreifen, was in Seamos vor sich gegangen war. Am liebsten wäre er seinem Beispiel gefolgt, hätte dem Druck nachgegeben, wäre schreiend losgelaufen, auf der Suche nach einem Ziel, nach jemandem, den er für seine Situation verantwortlich machen konnte. Je mehr Zeit er in dieser merkwürdigen Umgebung verbrachte und je mehr er über sich herauszufinden glaubte, desto rätselhafter erschien ihm seine Existenz.
War er in einem Traum gefangen, in einer Schleife sich endlos wiederholender Bilder oder Sequenzen? Lag er im Sterben, fantasierte er? Was war Realität, was Einbildung?
Drei Gorty-Wächter kamen dicht aneinander gedrängt in den Raum geschwebt. Gemächlich glitten sie über den Köpfen der Humanes die Tischreihen entlang. Immer wieder mal hielten sie an und ließen die Widerhaken gegeneinander klimpern. Es klang hässlich. Bedrohlich. Die Maschinen zeigten Präsenz; sie machten deutlich, dass sie jeden weiteren Protest der Humanes im Keim ersticken würden.
Ein Signal kündete vom Ende der Mittagspause. Die Menschen standen auf, trugen ihr Geschirr zur Ausgabestelle zurück und stellten sich in Zweierreihe an, um den Essensraum geordnet zu verlassen.
Gramo tat sein Bestes, nicht aus der Rolle zu fallen. Er ahmte die eckigen, marionettenhaften Bewegungen seiner Landsleute so gut es ging nach.
Der große Saal glänzte und leuchtete wieder in voller Pracht. Die letzten Spuren des Kampfes waren beseitigt, das leere Pult neu besetzt worden. Die Goldenen strahlten in hellerem Glanz als zuvor, ihre Strahlenwurzeln bewegten sich mit faszinierender Eleganz.
Folge der Spur!, dachte Gramo, als er das sattsam bekannte Ziehen im Gesicht spürte. Er gehorchte dem Drang und fand sich vor einem etwas abseits stehenden Pult wieder. Der Goldene, der sich um ihn kümmern würde, wirkte filigraner als seine Artgenossen – und vermittelte dennoch den Eindruck, ein besonders robustes Mitglied seines Volkes zu sein. Das Sonnengesicht zitterte ein wenig, die Strahlenwurzeln standen wie Stacheln ab.
»Tritt näher, Gramo Darn Fünfzehn!«, sagte der Goldene nach einer Weile.
Er gehorchte.