Die Poesie des Tötens - Andrea Fehringer, Thomas Köpf - E-Book

Die Poesie des Tötens E-Book

Andrea Fehringer, Thomas Köpf

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Beschreibung

Sieben Wochen Vier Morde Eine Biografie Ein idyllischer Sommer in Wien: Zwischen italienischen Designermöbeln und geschmackvollen Kunstgegenständen genießt der erfolgreiche Ghostwriter Max West sein Leben mit Frau und Kind in vollen Zügen bis zu dem Tag, an dem Kleist in ihr Leben tritt. Der grausam vorgehende Serienkiller entführt die gemeinsame Tochter und zwingt Max dazu, in nur sieben Wochen seine mörderische Biografie niederzuschreiben sieben Wochen, in denen er seine Tochter in den Händen eines Psychopathen weiß...

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Ähnliche


Andrea Fehringer & Thomas Köpf

Die Poesie des Tötens

Thriller

»Der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig.« Predigt über 2. Korinther 3, 6b. 12-18

PROLOG

»Betriebsanleitung eines Serienkillers«

LEKTION EINS: HÄUTEN

Jemandem die Haut abzuziehen, ist erstaunlich einfach. Man braucht nur drei Dinge: ein Skalpell mit einer 21er-Sheffield-Klinge, Beethovens Neunte und eine ruhige Hand. Im Idealfall trägt das Objekt, nachdem man es an einen Stuhl gefesselt hat, eines meiner Gedichte vor: Roter Regen, Blutmond oder etwas in der Richtung. Dann kann man beginnen zu operieren.

Das Entscheidende ist nicht das bloße Schneiden oder Reißen von Haut. Die Kunst besteht darin, das Objekt am Leben zu erhalten, auch nachdem man ihm sein Gesicht von der Stirn bis zum Kinn abgezogen hat.

Dafür sollte man die richtigen Pharmazeutika verabreichen. Ich mache das so: 10 bis höchstens 15 Ampullen Lidocain à 100 Milligramm, jeweils aufgezogen in einer 10-Milliliter-Injektionsspritze. Es ist großartig. Das Objekt bekommt alles mit und kann sich während der Prozedur die ganze Zeit im Spiegel bewundern, fühlt aber keinen Schmerz, nicht den geringsten. Das ist wichtig. Keine Barbarei. Wir sind Künstler, keine Tiere. Zur Grundausrüstung gehören noch eine Präparierschere, eine kräftige chirurgische Pinzette, ein Lötkolben vom Baumarkt zum Kauterisieren und eine Packung Gazetupfer (10 x 10 cm). Ästheten können darüber hinaus auch noch eine provisorische Wanne anfertigen, damit das Blut schön abrinnt. Und ich empfehle, den Raum vorher schalldicht zu machen. Oder mit klassischer Musik zu arbeiten.

Die Neunte hat da wunderbare Stellen, um Schreie zu übertönen und die Nachbarn nicht zu beunruhigen. Heavy Metal ist mir zu brutal.

Gehäutet, das muss man wissen, werden nacheinander folgende Areale. Die gesamte Stirn. Die Schläfen. Beide Wangen. Das Kinn. Die Nase.

Die Sache läuft folgendermaßen ab, und jetzt gehen wir direkt hinein in die Szene. Das Ganze passiert in Wien. Es könnte überall auf der Welt passieren, in Schweden, in Frankfurt, in Illinois, aber nein, es passiert im verschlafenen Österreich. Dritter Juli, ein Mittwochmittag im Sommer, strahlend blauer Himmel, die Sonne steht hoch oben wie ein Ball aus brennendem Magnesium. Ganz Wien ist gedanklich am Badestrand. Ich nicht. Ich arbeite. Ich sorge für die Handlung. Mache den Plot. Gehe hinein in die Geschichte. Ins Buch. Ins Leben. Und dar über hinaus. Die Stadt dampft.

Ich befinde mich im feinen Döbling, jenem Teil der Stadt, der sich allein schon durch den Klang im Ausspruch von den anderen Wiener Bezirken abhebt, Döbling, wie Liebling. Mit einem Kleidersack über der linken Schulter und meinem Arztkoffer in der rechten Hand schlendere ich über Kopfsteinpflaster durch eine leere Gasse am Stadtrand, fast schon in den Weinbergen. Die Luft flirrt. Was für ein Tag. Kaiserwetter, das Schicksal zeigt sich von der Sonnenseite. Ich weiß es zu schätzen. Ah, dort drüben ist es schon. Das kleine Haus im Grünen. Ich war schon einmal hier, vor ein paar Tagen, ich kenne die Umgebung und den Besitzer. Er ist so allein. Ich klopfe an die terracottafarbene Holztür. Tock-tock. Warten. Schritte. Die Tür geht auf, nur einen Spalt. Vorsicht, will der Bewohner sagen. Tja, Vorsicht hättest du walten lassen sollen, indem du die Tür gar nicht erst aufmachst. Sie ist eine Handbreit offen jetzt. Ich lege den Kleidersack nieder, stelle den Arztkoffer daneben. Ich wirke freundlich auf die Menschen. Sie halten mich für einen von ihnen.

»Ja, bitte?«

Hannes Gartner heißt der Mann, aber das ist mir egal. Ich nenne ihn Objekt eins, nur weiß er das noch nicht. Verfilzte Haare, Bart. Kurze Hosen, modriges T-Shirt. Braune Ledersandalen. Alter-Mann-Look. Er riecht nach Schweiß mit einer schwachen Note Urin. Ich sehe in sein struppiges Gesicht. Trete die Tür auf. Gehe in die Wohnung. Angst in seinen Augen, sie flackert auf, vergeht dann aber nicht. Verfängt sich in der Dunkelheit. Bis zu diesem Zeitpunkt hat Hannes Gartner ein Leben in Bedeutungslosigkeit geführt. Eingekapselt. In einem Kokon, gesponnen aus Fäden von Nichts. Jetzt ändert sich das. Jetzt wird er sich öffnen und in die Geschichte eingehen, in meine. Als Objekt eins.

»Was zum –«

Ich ziehe ihm den Totschläger über den Kopf und treffe sehr elegant, seitlich an der Schläfe. Ein dumpfer Schlag, als würde man einen Kofferraumdeckel zumachen. Oder ein Schnitzel klopfen. Objekt eins ist ohnmächtig. Liegt auf dem Boden rührt sich – nicht. Gut so. Ich muss alles vorbereiten. Für die Operation. Objekt eins wird begeistert sein. Es liegt entschieden an ihm, inwieweit er sich auf die Sache einlässt. Schließlich verlange ich einiges von ihm. Objekt eins muss mir sein Gesicht geben. Sein struppiges Bartgesicht.

Aus der Tasche meiner Sommerhose hole ich den Spickzettel hervor, den ich vorherige Woche eigentlich nur so zum Spaß geschrieben habe, eher als Gedankenexperiment; da war noch nicht klar, dass ich ein Buch machen werde, meinen Roman. Der Spickzettel ist körperwarm, dort steht eine Liste, eine Dramaturgie:

Ablauf

Opfer wird auf einer Liege fixiert

Für gute Beleuchtung sorgen

Zurechtlegen des Instrumentariums

Lötkolben an die Steckdose

Betäuben des zu häutenden Areals

Seitliches Umschneiden des zu häutenden Areals

Freilegen der Haut mit der Präparierschere

Dazwischen Blutstillen mit dem Lötkolben

Objekt eins muss die ganze Zeit im Spiegel zusehen.

Der Vorgang der Häutung ist trotz erheblicher Verstümmelung bis zum Exitus völlig schmerzlos.

Jetzt bin ich, man darf es ruhig sagen, in einem Zustand fortgeschrittener Erregung. Aufgezogen wie eine Stahlfeder. Mein Blick schweift durchs Wohnzimmer. Hier ist Objekt eins zu Hause. So vegetierst du also. So sieht ein Leben ohne Sinn aus. Ein alter Fernseher, eine zerschlissene Couch, ein Radio mit Antenne. Dumpfe Brauntöne. Ein dunkler Teppich in Ocker. Staub auf der schwarzen Kommode. Ein Teller mit Essensresten. Die Behausung zeigt vordergründigen Grind. Dreck im Nobelbezirk. Reich, aber die Putzfrau wegschicken. Na ja, jetzt ist es zu spät.

Wenn Menschen ohnmächtig sind, machen sie sich schwerer, als sie im Wachzustand sind. Es braucht einen gewissen nicht zu unterschätzenden Körpereinsatz. Meinen, um genau zu sein. Ich schleife Objekt eins Richtung Keller. Hinunter, über die Treppe. Sein Kopf schlägt dumpf auf jeder Stufe auf. Sein schlaffer Körper lässt sich nur mühsam bewegen, aber die Schwerkraft macht mir nichts aus. Genau hier. Das ist der Platz, der ideale Ort. Der Keller der Entfaltung. Das Zentrum der Erlösung. Licht.

Alles auspacken. Ich sortiere meine Instrumente. Atme tief durch. Ein. Und aus. Ein. Und aus. Objekt eins, ich werde dich, wenn du wieder munter bist, bei lebendigem Leibe häuten. Danach, ganz am Schluss, werde ich dir ein weißes Hemd anziehen, eine gelbe Krawatte umbinden und dich in einen schwarzen Armani-Anzug stecken. Fürs Foto. Polaroide Momente, festgehalten für die Ewigkeit. Ist das nicht ein schöner Anfang? Sich so kennenzulernen? Er ist noch im Traumland. Ich hieve ihn auf einen Stuhl, schnalle ihn mit Kabelbinder fest und fixiere den Schädel hinten an der Lehne. Ich ziehe die Nadel auf. Lidocain. Die erste Ampulle. Nur ein kleiner Stich. Er wird nichts spüren. Ich bin kein Unmensch. Ich bin Poet. Einer, der ihm unter die Haut gehen wird. Ein Poren-Poet. Die Lider von Objekt eins zucken. Er öffnet die Augen.

»Hallo«, sage ich, »willkommen in der Geschichte.«

»W-w-wo …?«

Ich deute nach vorne. »Schau, dort ist der Spiegel. Kannst du dich sehen?«

»Hnnn!«

»Pschhh«, sage ich, »ganz ruhig. Ich, Christopher, werde dich darstellen. Sie nennen es präparieren.«

Er schluckt. »Wer... sind... Sie... Was... –« Ich frage: »Kennst du Roter Regen?«

»Was?«

»Roter Regen, das Gedicht. Kennst du es? Kannst du es aufsagen?«

»Sie sind verrückt. Vollkommen irre. Warum –«

»Oder Blutmond. Kennst du Blutmond? Kannst du es aufsagen?«

Er atmet pressluftartig. Die Augen ganz weit aufgerissen.

Er scheint langsam zu begreifen. Wenn Menschen in einer ausweglosen Situation sind, läuft das Hirn zur Hochform auf. Es versucht trotzdem einen Ausweg zu finden. Trotzdem. Das ist der Überlebenstrieb. Eine bemerkenswerte Kraft, wie ich sie leibhaftig mitbekomme.

Ich hänge das iPhone an die kleinen Bose-Boxen an, die ich mitgebracht habe. Play. Beethovens Neunte. Fulminanter Klang. Die Schreie kann man draußen gar nicht hören. Der Keller ist massiv, anscheinend gedacht als letztes Bollwerk, wenn die Welt untergeht. Ein Endzeitbunker. Überall Nahrung für die Zeit danach. Essen in Kisten. Reis. Dosensuppen. Erdäpfelgulasch. Zwölf Jahre haltbar. Die braucht er nicht mehr. Auch nicht die Rüben, die Linsen, das Öl, den Hafer, die Kleie und den Senf.

»Das mit dem Gedicht müssen wir noch hinbekommen, mein Freund. Du beleidigst den Dichter. So etwas tut man nicht. Aber wir haben genug Zeit. Wir werden alles üben. Roter Regen

– prasselt nieder – schulternass … jetzt du. So lange, bis du es auswendig kannst.«

»Hören Sie, ich – halt! Halt! Ich habe Geld! Viel Geld! Hier im Haus!«

»Ich brauche dein Geld nicht. Geld ist mir vollkommen egal. Wir müssen ein Buch machen. Einen Roman. Und dafür brauche ich etwas, das nur du hast. Dein Gesicht. Dein Leben. Dein Sterben. Du wirst nichts spüren. Aber du darfst zusehen. Die ganze Zeit. Das gehört zum Programm. Schau.«

Ich setze die Klinge ganz oben an der Stirn an, direkt am Haaransatz. Beim Film würde der Regisseur jetzt die Hand heben und Cut! rufen. Mein Film geht weiter. In Wahrheit hat er gerade erst begonnen. Ich schneide ins Fleisch.

1

Neun Sekunden Paradies. Max West stand vor dem Bücherregal und fuhr mit dem Finger über die Bestseller. Dreizehn Titel. Dreizehn. Wer hätte das gedacht. Es tat gut, die Buchrücken zu spüren. Gedruckte Freunde. Er hatte das Gefühl, immer noch mit den Werken verbunden zu sein. Mit den Silben, Sätzen, Kapiteln, den Szenen. Und mit den Menschen dahinter. Ein Bundespräsident, zwei Schauspieler, ein Minister, ein Erfinder, vier Sänger, sogar eine Schriftstellerin, ein Friedensnobelpreisträger, ein Mathematikgenie und ein Philosoph. Erstaunlich, warum diese Biographien so gern gelesen wurden. Er selbst las sie nicht. Er schrieb Biographien, aber einzelne Schicksale und fast gelebte Leben, selbst wenn sie noch so spannend sein mochten, interessierten ihn nur am Rande und schon gar nicht auf dreihundert Seiten. Als Leser war er eher der Thriller-Typ. Als Schreiber konnte er zu einem anderen Menschen werden. Und zwar nicht nur ein bisschen oder gut gespielt, wie man es aus Laientheatergruppen kennt; für ihn vollzog sich eine Metamorphose. Er konnte sich verwandeln und den Leser durch fremde Augen schauen lassen. Es war eine Gabe, und es hatte mit besonderem Einfühlungsvermögen zu tun. Spürsinn in seiner reinsten Form. Mit ganz genauen Beobachtungen. Mit Stimmungen. Und der Kunst zu erzählen. Geschichten erzählen, so wie es die Leute früher gemacht haben; sich auf den Marktplatz gestellt und kommt her gerufen haben, kommt her, ich erzähle euch eine Geschichte.

Neun Sekunden Paradies. Das war sein Durchbruch gewesen. Sein erstes Buch und gleich ein Bestseller. Über Frank Kemmerling. Neun Sekunden Paradies. Das war der Moment, als Kemmerling den Friedensnobelpreis entgegengenommen und die Augen geschlossen hatte, neun Sekunden lang. Alle Kameras waren auf ihn gerichtet, und die Zeit schien stillzustehen, als hätte man sie für den Augenblick konserviert. Max West hatte sich damals versprochen, diese neun Sekunden in sein eigenes Leben einzuarbeiten, jeden Tag neun Sekunden lang in seinem eigenen Paradies zu verbringen. Wo immer das sein mochte, was immer es war. Neun Sekunden gehen schnell vorüber. Manchmal dauern sie länger, dann wieder kürzer. Max hatte seine Insel gefunden und sich angewöhnt, sie zu besuchen. Mittlerweile konnte er es jederzeit. Er floh täglich. Dorthin, wo es leise war, wo es kein Getöse gab, wo nur das Meer rauschte und eine Möwe ihre Bahnen zog. Weißer Sand, neun Sekunden Paradies, dann schlug er die Augen auf und war zufrieden.

Der Tag war schön, so warm. Dritter Juli, und am Vormittag Temperaturen wie in der Karibik. Es war fast schon zu heiß, aber ihn störte das nicht, er genoss es. Er würde laufen gehen, hinunter zum Donaukanal, eine Stunde. Oder vielleicht nur eine halbe, hinauf in die Weinberge, mal sehen. Er hatte fixe Laufstrecken und entschied sich immer erst kurz vorher für die eine oder andere Route. Heute ließ er sich bewusst Zeit und bremste seine Gewohnheit. Änderte seinen Rhythmus. Er würde nicht schreiben, nein, er würde nicht einmal den Computer hochfahren. Höchstens die Mails checken, per Handy. Es war Mittwoch, und Max West hatte sich Urlaub zugesprochen, er hatte es sich laut vorgesagt, fast wie eine ärztliche Verordnung.

Er ging in die Küche und schaltete die Kaffeemaschine ein. Der Apparat trödelte beim Aufwärmen. Normalerweise ging Max das auf die Nerven. Auf den Mond können sie fliegen, dachte er, aber ein elektrisches Gerät, das nicht erst warm werden muss, bringen sie nicht zustande. Heute ließ er das Ding blinken, heute hatte er Urlaub. Toll, dachte er, ein Knopfdruck und fertig ist der Espresso. Im achtzehnten Jahrhundert war das alles nicht so einfach. Dort drückten sie auf einen Knopf, und es fuhr die Guillotine herunter. Zack. Auf Knopfdruck gab es den Tod, sonst nichts. Max schnaufte ein Lächeln heraus. Urlaubsgedanken eben. Manchmal war er sich selber unheimlich.

Er widmete sich dem Brimborium, das für ihn zum Kaffee gehörte. Max liebte dieses schwarze, heiße Gebräu, auch im Sommer. Für ihn war’s weniger ein Aufputschmittel, mehr ein Ritual der Ruhe. Mit einem Glas Wasser setzte er sich auf die Terrasse und sah hinunter auf den großzügig angelegten Garten. Es war ein kleiner Privatpark, der zur Villa gehörte. Sechseinhalbtausend Quadratmeter, und das in Wien. Das Anwesen glich einem Teppich aus Grüntönen, die frisch gemähte Wiese, Linden, Tannen, Büsche, dazwischen die Farbtupfer von Rosen, Krokus, Löwenzahn, Waldveilchen, Primeln, Wiesenkerbel und Schlüsselblumen. Das ist Livias Handschrift, dachte Max, bei mir wären sogar die Disteln eingegangen.

Ihn faszinierte der Ginkgo, der links vor der Terrasse thronte und zum Himmel hinaufreichte. Ginkgo, der älteste Baum der Welt. Seine Geschichte begann vor zweihundertfünfzig Millionen Jahren, als die Dinosaurier langsam den Planeten bevölkerten. Max fragte sich, wie die Erde damals ausgesehen haben mochte. Kein Mensch weit und breit. Nichts. Nur ein T-Rex rechts und ein Ginkgo links. Vielleicht sollte er einmal eine Kurzgeschichte schreiben, die in der Urzeit spielte, eine Lovestory unter Sauriern. Candlelight-Dino. Ein Lächeln umspielte seine Mundwinkel. Seine Phantasie war ein Rennpferd, das ständig mit ihm durchging, Livia wusste es nicht, und es war ihm auch peinlich, aber manchmal ging er in den Garten und umarmte den Ginkgo. So, wie jemanden, den man schon lange nicht mehr gesehen hatte. Livia würde das als Therapie auslegen, Doktor Baum, grüß Gott, kommen Sie näher, lassen Sie sich von mir umarmen, und der kleinen Ella würden vor Lachen die Tränen herunterkullern. Kinder lachen anders.

Max West nippte an seinem Espresso, hörte das freche Zwitschern der Vögel. Freches Zwitschern, dachte er, drei Fehler in zwei Wörtern. Erstens: Phrase. Warum eigentlich müssen Vögel, die zwitschern, automatisch frech sein? Zweitens: Zwitschern ist ein Zeitwort. Und Zeitworte, das war eine Grundregel für Schreibende, soll man nicht zum Hauptwort machen. Drittens: Schreib in Bildern. Ein Zwitschern sieht man nicht. Man sieht nur die Vögel, die ihre Schnäbel aufreißen, um zu zwitschern. Manchmal ging er sich selber auf die Nerven. Er konzentrierte sich wieder auf den Garten.

Dieser Platz in seinem Garten gab ihm unglaublich viel Kraft; die Natur, aber auch das Haus. Er fühlte sich, als wäre er hier genau richtig. Dort, wo er im Leben angelangt war. Er gehörte hierher, seine Frau, seine Tochter, alle drei. Als hätte man die Natur hier nur für sie geschaffen und das Haus um sie herum gebaut. Nach dem Laufen würde er lesen und ein bisschen in der Sonne liegen. Der Sommer war dazu da, wieder zu Kräften zu kommen. Ihm kam es so vor, als wäre er in letzter Zeit leergeschrieben, schlechter geworden, müde von der Last der Arbeit. Diesen Sommer, das hatte er allen geschworen, würde er für die Familie da sein. Ohne Wenn und Aber. »Wer’s glaubt«, hatte Ella gesagt und dabei gekichert, hihi!

»Der Papa, ohne Computer, haha.« Max hatte Livia Hilfe suchend angesehen, sie hatte mit den Schultern gezuckt, was hieß: Kinder lernen aus Erfahrung. Irgendwie konnte er sich aber aus der Nummer herausreden. Indem er vorschlug, wir könnten ein Eis holen, ein Eis vom Fronza. Wenn Themen in einen heiklen Bereich drifteten, Liebe und woher denn die Kinder kommen, vom Storch nämlich sicher nicht, wenn diese Fragen auf einen einprasselten, half ein Wort immer: Erdbeereis?

Müsste man einem Außerirdischen ein perfektes Leben beschreiben, würde man ein Filmporträt über uns drehen, dachte er: Die Wests. Ein Wiener Schicksal. Es gab ja auch gute Schicksale, nicht nur Aufstieg und Fall, Tod und Untergang. Max trank einen großen Schluck Wasser, kalt, klar und rein. Es rann ihm die Kehle hinunter, und er stellte sich vor, wie es seinen Organismus belebte, wie alles pumpte und lief, wie sein Körper arbeitete, ein kalorisches Kraftwerk. Heute lief es auf Sparflamme, es war Urlaub im kalorischen Kraftwerk. Bis zum frühen Nachmittag würde er faulenzen und sinnlosen Gedanken nachhängen, herrliche Vorstellung. Der Anruf änderte alles.

Sein Handy läutete. Er hätte es auf leise stellen können. Er hätte es liegen lassen können. Er hätte es verlieren können. Er hätte den Anruf ablehnen können, noch dazu stand Unbekannt auf dem Display. Er hätte es läuten lassen können. Er hätte unabsichtlich den Kaffee oder das Wasser über das Display schütten können. Aber nein, er wischte kurz über die Benutzeroberfläche. Annehmen. Das war der Moment, in dem alles kippte. Der Anruf änderte alles.

»Hallo?«

»Spreche ich mit Herrn Max West?«

»Ja?« Er ließ es wie eine Frage klingen.

»Ich heiße Christopher Kleist, grüß Gott, Herr West. Es tut mir sehr leid, Sie so direkt zu überfallen, aber mein Anliegen ist außerordentlich wichtig. Ich möchte ein Buch schreiben.«

»Schön für Sie«, sagte Max, »nur zu.«

»Nein, ich habe mich falsch ausgedrückt, sehen Sie, das Wort kann ja so irreführend sein. Was ich sagen wollte: Ich möchte mit Ihnen ein Buch schreiben. Nein, wieder falsch, ich möchte gerne mit Ihnen über mein Buch reden.«

Schon wieder so einer. Alle paar Wochen rief jemand an, der sein Leben für eine Sensation hielt, die unbedingt zwischen zwei Buchdeckel müsste. Schwätzer und Oberschlaue. Der hier drückte sich zumindest gewählt aus. Möglicherweise auch nur akademische Selbstverliebtheit. »Sorry«, sagte Max, »zurzeit nehme ich keine Aufträge an. Sommerpause.«

»Das glaube ich sofort, aber in diesem Fall, ich schwöre es Ihnen, Herr West, werden Sie begeistert sein. Ich möchte keinesfalls übertreiben. Meine Geschichte ist mit Sicherheit das Buch des Jahres. Wenn nicht des Jahrzehnts.«

Na bitte, was sag ich, dachte Max und verdrehte innerlich die Augen. »Das glauben alle. Wissen Sie, Herr –«

»Kleist, ja, bitteschön. Kleist. Wie der Schriftsteller.«

»Natürlich, Herr … von Kleist? Der Dichter hatte ein von vorm Kleist. Aber egal, wenn Sie meinen, dass Sie das verpflichtet, schreiben Sie Ihr Buch. Ich wünsche Ihnen viel Glück. Von meiner Seite kein Interesse. Danke schön.«

»Ich möchte nicht aufdringlich erscheinen, Herr West. Und ich weiß auch um all die schlechten Bücher dieser Welt, aber bitte glauben Sie mir: Das Buch, von dem ich rede, ist ein Weltbestseller. Ich schwöre es Ihnen. Die Geschichte ist einzigartig, und ich ersuche Sie nur, mir ein paar Minuten Ihrer wertvollen Zeit zu schenken. Sie werden es nicht bereuen.«

»Woher haben Sie meine Nummer?«

Die Frage schien ihn zu erheitern. »Diese Dinge sind heutzutage sehr leicht herauszufinden. Ich kann Ihnen das gerne zeigen.«

»Wollen Sie mich verarschen?«

»Ich bitte Sie, Herr West, klinge ich wie jemand, der Scherze treibt? Na also. Ich möchte Ihnen nur ein sensationelles Buch ans Herz legen. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Mit diesem Buch werden Sie in Hollywood berühmt. Es geht um sehr viel Geld. Um die Schnittstelle des Lebens. Die Kante des Seins. Vertrauen Sie mir, es ist nur zu Ihrem Besten.«

Max überlegte, ob der Typ ein Spinner war. Dieses Abwägen musste in Sekundenbruchteilen geschehen, sonst wurde man solche Leute nie wieder los. Sie hefteten sich an einen und bohrten mit Fragen durch jede Privatsphäre, wie menschliche Widerhaken. Es kam immer wieder vor, dass man ihm Manuskripte aufdrängte. Schauen Sie, das ist mein Stil. Sagen Sie, was halten Sie davon? Nur ein kurzer Kennerblick. Bitte seien Sie ehrlich. Geht das? Nicht schlecht, oder? Max fürchtete sich vor solchen Anliegen, insbesondere wenn sie aus dem Bekanntenkreis kamen. Jemand wollte Liebesgedichte von seiner Schwester mitbringen. O der eine sehr lange Kurzgeschichte über die traurige Kindheit in einem Tiroler Bergdorf. Die Aufarbeitung irgendeiner furchtbaren Vergangenheit. Psychiatrie in torkelnden Buchstaben. Meistens gelang es ihm, so etwas abzulehnen. Indem er auf seinen dichten Terminkalender verwies oder einen dringenden Abgabetermin erfand. Er hasste diese erbettelten Kritiken und Rezensionen. Diese Leute waren sich auch nicht zu schade, ihn zu bitten, nur einen klitzekleinen Termin mit seiner Verlegerin auszumachen, vielleicht mit einer Empfehlung; man möge das Manuskript nicht gleich wegschmeißen, sondern sorgfältig lesen und weiterreichen. Eine Frau hatte diesbezüglich sogar sexuelle Dienste in verschiedenen Ausprägungen angeboten. Er hatte dankend abgelehnt. Obwohl die Autorin aussah wie ein Pornostar am Zenit der Schaffenskraft. Schade eigentlich. Solche Geschichten gingen nie gut aus, das wusste er.

»Herr West? Sind Sie noch da?«

Er räusperte sich. »Ja, ja, wunderbar, ihr Buch. Ihre Lebensgeschichte. Was macht die Story so besonders?« Was mache ich denn da?, fragte sich Max, stelle ihm auch noch eine Frage, anstatt aufzulegen.

»Es geht um Konflikte, die aufgrund ihrer Ausrichtung dem Menschen das Letzte abverlangen. Es geht darum, Grenzen zu überschreiten. Angesiedelt ist das Ganze in der literarischen Welt, es hat im weitesten Sinn mit Medizin zu tun, mit neuen Erkenntnissen. Ich bin Arzt und möchte am Telefon nicht mehr dazu sagen. Die Details erörtere ich Ihnen dann persönlich. Nehmen Sie diese Chance an?«

»Ich … verstehen Sie … der Sommer ist eigentlich ohne Arbeit geplant … wissen Sie, was? Wir sollten … Sie sind Arzt? Weil ... obwohl ... also, ich weiß noch immer nicht, worauf Sie hinauswollen. Rufen Sie bitte nächste Woche an, und wir machen uns einen Termin aus, Ende Juli, okay? Dann können Sie in der Zwischenzeit an Ihrem Konzept feilen, und wir schauen uns das dann gemeinsam an. Gut? Auf Wieder –«

»Herr West, das Buch erlaubt keinen Aufschub. Wir stehen unter immensem Zeitdruck. Bitte glauben Sie mir.« In seiner etwas höheren, aber durchaus angenehmen Stimme schwang Leidenschaft mit. Der Mann klang auf seltsame Weise ehrlich. Wie jemand, der sich etwas Großes vorgenommen hat.

Max fasste sich ein Herz. Irgendetwas sagte ihm, dass das Begehr echt war. »Kommen Sie morgen Mittag bei mir im Büro vorbei, in Ordnung? Neunzehnter Bezirk. Direkt in Nußdorf.«

»Das ist sehr freundlich von Ihnen, Herr West, ich kenne die Adresse. Ehrlich gesagt, und bitte verstehen Sie mich nicht falsch, stehe ich direkt davor.«

»Wie bitte? Wo sind Sie?«

»Vor Ihrem Büro. Ich war gerade in der Gegend unterwegs und stehe praktisch vor der Tür. Wenn Sie mir fünf Minuten schenken, sind Sie auf dem besten Weg zu Ihrem vierzehnten Bestseller. Nur fünf Minuten Ihrer Zeit, mehr verlange ich nicht.«

Max dachte nach. Warum eigentlich nicht. Die interessantesten Menschen hatte er stets spontan kennengelernt. Den Bundespräsidenten an einem Büffet. Kemmerling traf er auf der Toilette nach der Nobelpreisfeier. Den Schauspieler Ian van Deyk lernte er kennen, weil er ihm peinlicherweise auf der Ringstraße in den Bentley hineingefahren war. Und jetzt ein Mann vor der Tür? Fünf Minuten an einem Mittwochvormittag im Sommer würde er schon opfern. Immerhin hörte es sich nicht so an, als ob der Anrufer der verträumten Annahme nachhing, man würde seine Lebensgeschichte für Gottes Lohn schreiben. Ghostwriter sind keine Gutmenschen, sie schreiben für Geld. Schreiben ist harte Arbeit. Das wussten die wenigsten.

»Kommen Sie herein«, sagte er und betätigte den elektrischen Türöffner.

Es klackte, die Tür wurde aufgedrückt, und der Fremde stand vor ihm. Schlank, aber nicht schlaksig. Mitte dreißig. Dunkle Haare, feine Gesichtszüge, gut einen Meter achtzig, etwa so wie Max selbst. Unscheinbar, fast bieder für sein Alter, wie ein Buchhalter auf Kundenbesuch. Er trug eine beige Sommerhose und ein graues kurzärmeliges Hemd, dazu schwarze Schuhe von Tod’s. In der Hand hatte er einen Arztkoffer. »Sie haben einen schönen Innenhof«, sagte er. »So alt. Stilvoll. Darf ich?«

Max nickte und bat ihn mit einer Geste ins Haus. Er gab ihm die Hand. »West.«

»Freut mich ausgesprochen Sie kennenzulernen, Herr West. Ihre Bücher haben mich tief in meiner Seele berührt.«

»Danke schön. Darf ich Ihnen einen Kaffee anbieten? Espresso? Cappuccino? Oder Tee?«

»Ein Glas Wasser, bitte. Im Sommer soll man viel trinken. Drei Liter. Ich habe mir das angewöhnt. Es ist gut für die Haut. Man bekommt automatisch einen frischeren Teint.« Er strich sich mit dem linken Mittelfinger über die Wange.

Max holte aus der Küche eine Karaffe mit kaltem Leitungswasser. Das Wiener Wasser konnte man getrost trinken. Es gab nicht viele Länder auf der Welt, wo Hochquellwasser einfach aus dem Hahn kam.

Der Fremde sah sich in dem großen Raum um. »Fantastisch. Ein kleiner Saal. Erinnert mich an ein Museum. Die Holzdecke ist schön.« Er sah sich um. »Oh, der Tisch. Und diese Vitrinen, überall Bücher, das zeugt von Geschmack und sorgt gleichzeitig für Ruhe. Als wäre man von stummen Denkern umgeben. Die Chesterfield-Garnitur. Und dieses Bild! Eine geheimnisvolle Frau, von der man nur das Dekolleté sieht und ihre Hand, die eine Schreibfeder hält, daneben das Tintenfass und ein weißes Blatt Papier. Welchen Brief die Dame wohl schreiben mag, hm? Das Bild passt perfekt hierher, Ihr Arbeitsbereich?«

»Ja«, sagte Max, betrachtete auch das Bild und lächelte. »Es war ein Geschenk, es wurde für mich gemalt.« Er sagte es fast ein bisschen schüchtern. Wenn Leute kamen und das Haus beäugten, hatte er manchmal das Gefühl, als müsste er sich schämen, in so einem Ambiente zu sitzen, »Meine Frau sagt immer: Große Ideen brauchen Raum.« Er lächelte wieder.

»Ihre Frau ist eine gescheite Person.«

Max wartete, ob noch etwas kam, aber der Mann sagte nichts.

»Bitte, kommen Sie weiter, folgen Sie mir, gleich hier die Glastür hinaus, wunderschöner Tag, nicht wahr? Nehmen Sie doch Platz.« Er zeigte auf den Glastisch, dann auf einen Polstersessel.

Der Mann ließ sich nieder. »Prachtvoll haben Sie es hier, ein Fleckchen Eden. Das muss für Kinder ein Traum sein, so aufzuwachsen.«

Sie saßen einander auf der Terrasse gegenüber. »Ist das ein Ginkgo?«, fragte der Fremde.

»Erstaunlich, dass Sie ihn erkennen. Die wenigsten Leute wissen, wie dieser Baum aussieht. Bei Ginkgo denken sie an Potenzkapseln aus der Apotheke.« Er dachte, der Witz würde das Gespräch ins Laufen bringen, aber der Mann verzog keine Miene. Irgendwie kam er Max bekannt vor. Livia und er machten manchmal dieses Ratespiel, wer welchem Hollywoodschauspieler ähnlich sieht. Und der Mann sah aus wie Edward Norton. Zumindest wie sein unscheinbarer Bruder. Wenn Livia hier säße, würde sie auf den Tisch hauen und Richtig! sagen. Genau!

»Ich habe fünf von Ihren Büchern mitgebracht.« Der Mann öffnete den Arztkoffer. »Es soll nicht unverfroren klingen. Aber: Würden Sie sie mir vielleicht signieren?«

Max fühlte sich geschmeichelt. »Klar. Gerne. Welche Bücher haben Sie denn dabei?«

Der Mann griff in die schwarze Ledertasche mit den runden Ausbuchtungen. »Hier. Das Leben und das Denken. Ein großes Werk. So tiefgründig in seiner philosophischen Grundaussage. Und doch so leicht zu lesen. Sie können mit Worten wirklich gut umgehen.«

»Ich werde gleich rot«, sagte Max. Er nahm das Buch, klappte es auf und griff zum Kugelschreiber, den ihm der Mann höflich hinhielt. Er schrieb: Man sollte Bücher lesen, die einen beißen und stechen. Viel Spaß. Das war sein Standardsatz, der kam immer gut an.

»Ah, Kafka«, sagte der Mann.

Max sah kurz auf, das hatte noch nie jemand gewusst.

»Allerdings nicht ganz korrekt. Es muss heißen: Ich glaube, man sollte überhaupt nur Bücher lesen, die … und so weiter.«

Max überging die Belehrung. Klugscheißer, dachte er.

Der Besucher nahm die vier anderen Bücher aus der Tasche.

»Held ohne Schild. Der Schluss war einfach der Wahnsinn. Anstreifungen. Da hat man beim Lesen das Gefühl, direkt dabei zu sein. Mittendrin, wenn große Politik gemacht wird. Das ist ein Stück österreichische Geschichte, was Sie da verfasst haben, Herr West. Und hier habe ich noch« – er deutete auf den nächsten Titel – »Die Möglichkeit einer Erlösung, Hut ab, und nicht zu vergessen das hier, mein persönlicher Favorit: Entenjagd im Februar. Ist schon eine Auszeichnung, wenn eine Schriftstellerin Sie beauftragt, ihre Biographie zu schreiben, weil die Autorin sich selbst für zu befangen hält, das muss man sich einmal vorstellen. Schräge Frau, aber cooles Projekt. Sie haben die ganz seltene Gabe, Herr West, Sie haben das gewisse Etwas. Sie können den menschlichen Kohlenstoff so lange zusammenpressen, bis ein Rohdiamant entsteht, und dann gehen Sie her und schleifen ihn auch noch. In meinen Augen schreiben Sie besser als Paul Schatz, Conrad Kronsteiner und Helena Schmidt-Lehner zusammen.«

»Übertreiben Sie nicht. Ich werde Ihr Buch deswegen nicht eher schreiben.« Max signierte beiläufig die Bücher, trank einen Schluck Wasser und stellte das Glas auf den Tisch, auf dem sich schon Wasserränder gebildet hatten. »Also. Was genau wollen Sie nun von mir, Herr … Karst. Pardon, Kleist?«

»Bitte nennen Sie mich Christopher.« Er packte die Bücher zurück in den Arztkoffer, machte die Schließe zu und klopfte noch zweimal auf die Schnalle, wie um zu sagen: Fürchtet euch nicht, ihr seid da drin gut aufgehoben.

»Meinetwegen. Christopher. Was liegt Ihnen am Herzen?« Max nahm ein Wiener Zuckerl aus seiner Hose, er liebte diese Dinger, seit er aufgehört hatte zu rauchen. Er wickelte das Bonbon aus und steckte es in den Mund. Einen Moment lang hielt er das Papier gedankenverloren in der Hand. An guten Tagen sammelte Livia ein Dutzend tonloser Ziehharmonikas ein, die Max aus dem Bonbonpapier bastelte und immer überall verteilte. Max ließ sie nicht irgendwo liegen, er platzierte sie so, dass sie eine Geschichte erzählten. Wenn Livia abends alle gefunden hatte, wusste sie nicht nur, was ihren Mann in den vergangenen zwölf Stunden beschäftigt hatte, sie wusste auch, wie er drauf war. Es war ein Spiel zwischen ihnen. Er schrieb ein Tagebuch ohne Buchstaben, sie las ein Seelenprotokoll ohne Worte. Eine Papierharmonika links am Tischrand hieß noch gar nichts. Aber in Zusammenhang mit den anderen elf ergab sie einen Sinn. Möglicherweise eine Zeichnung, wenn man die Fundorte mit Linien verband. Oder eine Story, die sich aus Stichworten ergab, sofern man die Stichworte erkennen konnte. Livia konnte das. Im Laufe der Zeit konnte sie es so gut, dass Max gezwungen war, sich immer kryptischere Verstecke einfallen zu lassen. Er schubste seine jüngste Ziehharmonika mit dem Zeigefinger einen Zentimeter weiter, dann sah er seinen Gast an, lehnte sich in den gepolsterten Sessel zurück und legte beide Unterarme auf die Lehnen. Die Pose signalisierte: Okay, ich höre zu.

»Wir leben in einer verqueren Welt, Herr West. Mir scheint, die Werte haben sich verschoben. Generell meine ich. Respekt, Familie, Zusammengehörigkeit, Leistung, Loyalität. Diese Grundpfeiler unserer Gesellschaft sind brüchig geworden, ich wage sogar zu behaupten, sie drohen einzuknicken.« Er legte die Stirn in Falten, als grübelte er über etwas anderes nach. »Ich möchte eine Geschichte erzählen, eine, die aus dem Mittelmaß heraussticht. Heutzutage erreicht man nur noch etwas mit Extremen. Man muss der Beste sein oder der Schlechteste, dann hat man die Aufmerksamkeit. Es gab da doch diese Story von dem unsäglichen Rapper, der so ein absurd schlechtes Video gedreht hat, Moneyboy hat er sich genannt, kennen Sie den?«

Max wurde wieder stutzig, der Mann schwafelte ihm zu viel. »Irgendwo habe ich was gelesen. Und? Was hat das mit Ihrer Geschichte zu tun?«

»Der Moneyboy hat sich positioniert. Als schlechtester Rapper der Welt. Auf YouTube ist das abgegangen wie eine Rakete. Der Typ hat sogar einen Plattenvertrag bekommen, das muss man sich einmal vorstellen. Was lernen wir daraus? Du musst ein Extrem darstellen, dann strahlen dich die Scheinwerfer an. Bist du mittelmäßig gut, bleibt dir höchstens der Schlagschatten. In dem Buch, von dem wir sprechen, haben Schicksale Platz. Drastische Veränderungen in ihrem Leben. Sie zeigen, wie man im Extremen strahlt.«

»Es ist mir noch nicht ganz klar, worauf Sie hinauswollen.« Langsam, aber sicher wurde Max ungeduldig. »Reden Sie von einem Sachbuch? Einem Roman? Einer Erzählung? Fangen wir ganz von vorne an. Wie sieht die Gattung Ihres Wunschbuches aus? Wo würde es in der Buchhandlung stehen?«

»Bei den Bestsellern, ganz oben.« Christopher lachte kurz auf, seine Miene wurde aber sofort wieder ernst. »Hm.« Mit dem rechten Zeigefinger machte er eine rotierende Bewegung neben seinem Kopf, um zu verdeutlichen, dass er nachdenke und ein spezielles Wort suche. »Es ist eine Art … Betriebsanleitung, die mir vorschwebt. Für besondere Individuen. Ganz schön heiß heute, nicht?« Er schob den Unterkiefer vor und blies sich selber Luft ins Gesicht. »Ich bin Mediziner, das habe ich, glaube ich, schon erwähnt, oder? Ja, und wie Sie wissen, gibt es in der Medizin verschiedene Sparten. Die Interne, die Chirurgie, die Neurologie und so weiter. Wenn Sie mich jetzt fragen, wo ein Buch über die moderne Medizin thematisch hinmüsste, würde ich sagen: Holistik. Der ganzheitliche Ansatz. Bachblüten plus Skalpell ist gleich Fortschritt. Diesbezüglich gibt es neue Entdeckungen. Auch in der Schmerztherapie. Ihre Aufgabe, und hier sehe ich die ganz große Herausforderung für den Erzähler … wie soll ich sagen ... die Schwierigkeit wird sein, meine Vita und die Forschungsergebnisse so zu kombinieren, dass ein großes Ganzes entsteht, ein opus magnum für die Nachwelt.«

»Sie wollen Ihre Lebensgeschichte, verwoben mit medizinischen Erkenntnissen, in einem Buch darlegen? Ist es das, was Ihnen vorschwebt?«

»Ich glaube, Ihr Blut stockt.«

»Wie bitte?«

»Die Ergebnisse, über die es zu berichten gilt, sind von außerordentlicher Wichtigkeit. Für die Menschheit, möchte ich fast sagen. Wir müssen wieder zu einer innerlichen Richtigkeit finden. Schichten ablegen, die ganze Patina. Erst dann kommen wir zum Kern der Sache. Ein Buch ist das richtige Medium dafür. Man soll es angreifen können, darin blättern, nachlesen, essenzielle Passagen vielleicht unterstreichen.« Er setzte eine imaginäre Linie unter einen Satz, der irgendwo in der Luft stand.

Max zuckte vor der Bewegung zurück.

»Ich zum Beispiel kann diese Dinge riechen. Ihr Blut stockt, es klumpt.« Christopher lächelte, ganz so, als hätte er die Zukunft prophezeit oder ein Geheimnis erraten.

Max starrte den anderen an. Irgendetwas stimmte nicht mit dem Typen. »Wovon reden Sie eigentlich?«

»Ihr Blut stockt, da bin ich mir hundertprozentig sicher. Es ist verstopft. Haben Sie sich das anschauen lassen? Blut sollte rein sein. Ganze Blutlinien sind kontaminiert. Ich finde das eine Schande.«

Die Stimmung kippte. Von einer Sekunde auf die andere. Vorher netter Plausch. Jetzt stechender Blick, dazu dieses Grinsen. Trotz der Temperaturen lief Max ein kalter Schauer über den Rücken. Schnell beenden, dachte er, ich muss ihn loswerden.

»So, ich denke wir haben genug miteinander geredet.« Max stand auf. Automatisch spannte er seine Muskeln an. Es war eine dieser Situationen, die man nicht genau einordnen konnte. Ein Moment, in dem man nicht wusste, was als nächstes kam. Anscheinend war der Typ durchgeknallt. Ein Irrer vor dem Herrn. Blut riechen. Es stockt. Was meinte er damit? Wahnphantasien eines Mediziners? Oh mein Gott, dachte Max, man muss so vorsichtig sein. Er konnte sich auf seine Reaktionen verlassen. Seit vier Jahren machte er regelmäßig Kampfsport, und diese Übungen gaben ihm vor allem eines: Sicherheit. Es war wie bei einer Versicherung gegen Brand im Haus. Du nimmst sie, hoffst aber, dass du sie nie brauchst. Ähnlich verhielt es sich mit körperlichen Auseinandersetzungen. Max wusste, dass er sich wehren konnte, wollte das aber keineswegs auf die Probe stellen. Er war Ghostwriter, kein Streetfighter. »Zeit zu gehen«, sagte er.

Ein Schalter legte sich um in dem Fremden. »Nein-nein-nein-nein-nein«, zischte er, dann schlug er mit der flachen Hand auf den Glastisch, dass es knallte und die Oberfläche zitterte. Gleich darauf kippte der Schalter wieder zurück, Christopher produzierte ein Lächeln aus Eis. »Wir sind noch nicht fertig. Setzen Sie sich hin.« Der Ton war leise, aber schneidend.

Max überlegte, ob der Freak ein Messer bei sich trug. Sein Kampftrainer hatte immer gesagt: Wenn dich jemand mit einem Messer angreift, renn weg. Du kannst nur verlieren. Erwischt er dich am Bauch, liegst du, und es ist aus. In diesem Fall konnte er nicht wegrennen, er musste sich stellen. Im Geist spielte er mehrere Varianten durch. Der Mann zieht ein Messer, Max kickt ihm mit dem rechten Fuß gegen den Kopf. Oder mit dem linken Knie gegen den Solarplexus. Ein Treffer mit dem Ellbogen, und aus. Das Gesicht schützen. Immer das Gesicht schützen. Automatisch nahm er die Arme hoch. Sein Körper war angespannt. Es konnte jede Sekunde losgehen.

»Was soll das jetzt werden? Chuck Norris? Bruce Lee?« Christopher zeigte mit dem Finger auf ihn. Er lachte wie ein Kind, das in der Schulklasse den Lehrer verhöhnt. »Ist jetzt aber nicht Ihr Ernst, oder, Herr West? Wollen Sie sich mit mir schlagen? Wollen Sie einen Kampf, Mann gegen Mann?« Er prustete heraus. Ein feiner Nebel von Speichel hinterließ zarte Spuren auf dem Glastisch.

Max wusste, dass er den Verrückten schnellstens aus dem Haus kriegen musste. »Hören Sie, Spaß beiseite. Ich sage es klar und deutlich. Das wird nichts. Kein Interesse. Kein Buch. Ich möchte mit Ihnen nichts zu tun haben und ersuche Sie höflich, mein Haus zu verlassen.« Max atmete dreimal tief durch. Der Adrenalinspiegel schoss hoch. Seine Sinne standen auf Alarm.

»Wer wird denn so schnell aufgeben, hm? War doch nur ein Test.« Christophers Gesichtszüge wurden weich.

Er sah so glaubwürdig aus, unfassbar. Er spielt Rollen, dachte Max. Er sieht sich in verschiedenen Charakteren.

»Wir beruhigen uns ganz schnell wieder und richten den Fokus auf die Arbeit, die vor uns liegt. Wir haben unglaublich viel zu tun, Max. Ich darf Sie doch Max nennen, oder? Sie und ich, wir bilden ein Gespann. Wir spielen ein Duett, wenn man so will. Für das Buch gibt es keine bessere Voraussetzung. Ich sehe schon den Film.« Er machte eine ausladende Geste mit beiden Händen. »Zumindest den Trailer. Was glauben Sie, wie sich die Medien auf so was stürzen. Die Geschichte wird explodieren, wie ein Feuerwerk zu Silvester. Das kann ich an dieser Stelle garantieren. Natürlich stehe ich dafür gerade. Ich sorge für den Inhalt. Wenn man davon ausgeht, dass der Plot den richtigen Zug hat, und das darf man wirklich«, Christopher hob die rechte Hand zum Schwur, »dann dürfte es Ihnen auch nicht sonderlich schwerfallen, das Handwerk des Schreibens beizusteuern. Ich rede davon, die Buchstabenkanone zu befeuern. Belletristik ist Ihre Domäne. Lyrik die meine. In Summe stellen wir die Ganzheitlichkeit im Schreiben dar.«

Der Mann war geistesgestört, daran bestand überhaupt kein Zweifel. Max hatte einen Wahnsinnigen in sein Haus gelassen, ihn hereingebeten, ihm Wasser gebracht, ihm Kafkas Worte geschenkt und nicht erkannt, was hinter dieser Stirn brodelte. »Ich möchte es nicht noch einmal sagen: Sie verlassen jetzt bitte mein Haus!«

Stahlgraue Augen fixierten ihn. »Pass auf, Max.« Ein Blick wie mit dem Rasiermesser gezogen, die Stimme dagegen war sanft, der Kontrast furchterregend. »Der Auftrag, den ich dir hiermit erteile, ist einfach. Du schreibst mein Buch, oder deinem Kind wird etwas passieren. Ella. Sie heißt doch Ella, nicht wahr?«

Max packte ihn am Oberarm. »Raus hier, du krankes Mistschwein!«

Christopher wand sich aus dem Griff, indem er die Arme hochnahm. »O-oh! Gleich handgreiflich. Kung Fu. Dachte nicht, dass Sie so ein Heißsporn sind. Ich hielt Sie mehr für einen Herrn mit ausgeprägtem Feinsinn.« Das höfliche Sie, das Christopher jetzt wieder bemühte, gab der Situation etwas Schauerliches. Er stand auf, machte gespielte Lockerungsübungen mit der Hüfte. »Ich gehe. Ja, Sie haben richtig gehört. Aber ich gehe nur aus einem ganz bestimmten Grund. Weil ich mich um den Plot kümmern muss. Um die Geschichte. Ums Leben. Und darüberhinaus.«

Christopher schnappte seinen Arztkoffer und ging vor zur Tür, die zum Innenhof führte. Zehn Meter trennten ihn vom Eingangstor, das auf die Straße hinausführte, aber bevor er den Hof überquerte, blieb er stehen und drehte sich um. »Ich komme wieder, Max. Vergiss nicht, was ich dir gesagt habe. Das hier ist mein Ernst. Bitte nichts missverstehen oder falsch interpretieren. Um es klar auszusprechen. Ich habe dein Kind entführt. Besser gesagt: entführen lassen, ich bin nicht allein. Hier braucht es mehrere Spezialisten, einer allein könnte das nicht bewerkstelligen. Ella ist in unserer Gewalt. Sie fürchtet sich. So süß, die Kleine. Sie fragt immerzu nach Mami und Papi. Wo ist mein Papi, kommt er bald? Und Mami, warum ist sie noch nicht da? Hu-hu! Was sagt man dazu.« Er hob die Schultern, ließ sie wieder fallen. »Uns steht eine großartige Zeit bevor. Alles hängt von dir ab, Max. Du hast es in den Händen. Du und niemand anderer. Wir sehen uns am Abend. Ich komme, sagen wir, um fünf? Ist fünf okay? Nicht zu früh. Lieber um sechs? Ist sechs besser? Gut, machen wir das. Im Sommer ist es so lange hell. Wir können in deinem schönen Garten sitzen und später den Ginkgo bestaunen. Das wird ein Spaß. Und bitte keine unüberlegten Aktionen. Keine Polizei. Kein Anruf, kein Kontakt, das ist lebenswichtig. Für Ella. Ein kleiner Wink Richtung Polizei, das wäre das Ende. Dann wäre es aus, bevor wir überhaupt begonnen hätten. Den Interruptus wünsche ich dir nicht. Hast du schon einmal die Niere eines Kindes in der Hand gehabt? Sie ist ganz warm. Aufpassen, das kann ich dir raten, gut aufpassen. Dasselbe gilt auch für deine reizende Frau. Livia musst du im Griff haben. Sie wird das schon verstehen. In diesem Spiel bin ich derjenige, der die Regeln macht. Der Regisseur, wenn du so willst. Der Dramaturg. Bei dem, was wir vorhaben, muss es einen Spielmacher geben, eine treibende Kraft, sonst bricht die Dramaturgie, der Zug unserer Geschichte. Wir müssen uns stetig weiterentwickeln. Wir fahren mit dem Pflug durch die Zeit, und die Zeit ist knapp, das kannst du mir glauben.«

Sein Ton war besonnen, ganz ruhig. Bevor er auf die Straße hinaustrat, drehte er sich noch einmal um. »Schreib mein Buch, oder dein Kind stirbt.«

2

Das Tor fiel zu. Max stand da, als hätte ihn jemand angespuckt. Schock ist ein Zustand von außerordentlicher Kraft. Der Kreis der Wahrnehmung verkleinert sich zu einem Punkt. Der Mann war weg. Er hatte sich aufgelöst wie ein Albtraum, wenn man die Augen öffnet, und dennoch blieben Reste auf der Netzhaut sichtbar, vage Umrisse, Silhouetten des Schreckens.

Max begriff nicht, was da eben geschehen war. Woher kam der Verrückte? Er kannte ihre Namen, Ella und Livia, gut, aber im Internet konnte das jeder nachlesen. Seine Adresse hatte er auch herausgefunden, seine Handynummer. Konnte das alles ein Scherz sein? Der abgedrehte Sketch eines Manikers. Ein Test? Hatte er nicht dieses Wort verwendet, Test? Wer sollte so etwas tun, und warum? Max dachte an den Blick des Verrückten. So sahen Menschen aus, die es ernst meinten. Er hatte nicht gewirkt, als würde er etwas ausprobieren. Der Typ war sich seiner Sache hundertprozentig sicher. Max hatte das einmal bei einem Besuch in einer Nervenheilanstalt gesehen, er recherchierte für ein Magazin, damals in seinen Anfängen als Journalist, und da war der Blick eines Weißhaarigen, der seine Mutter erstochen und ihr dann den Kopf abgetrennt hatte. Weil sie ihn immer Hasenfuß nannte. Einmal zu oft, und das war’s. Sein Blick war genau der gleiche wie bei diesem … Christopher. Kleist? War das sein richtiger Name? Wahrscheinlich erfunden. Er sah so entschlossen aus. Jemand, der nichts zu verlieren hatte. Solche Menschen konnte man nicht besiegen, oder? Max fragte sich, wie der Kampf ausgegangen wäre. Der Mann war ihm körperlich unterlegen, er war schmächtiger, aber was zählte das schon, wenn der Irrsinn dich leitet. Hatte er sich alles ausgedacht? Ella. Ein Kind entführt. Solche Sachen passierten nicht in Wien. Sie passierten ganz selten in Österreich, und schon gar nicht in Döbling, am helllichten Tag im Sommer. Der Mann hatte ganz ruhig gesprochen, besonnen, durchdacht. Als hätte er einen Plan, und sein Tun stünde fest, jeder Schritt. Konnte das alles wahr sein? Da kommt jemand daher, will über ein Buch reden, und dann ist man mitten in der Entführung des eigenen Kindes. Das war doch kein Kinofilm. Ruhig, Max, sagte er sich, ruhig, du musst dich konzentrieren. Alle Sinne auf das richten, was gerade geschehen ist. Beruhigen. Erst jetzt fiel ihm auf, dass seine Hände zitterten. Sein ganzer Körper fühlte sich an, als wäre er in Eiswasser getaucht worden, und das Anfang Juli. Er stand am vorderen Ende des Innenhofs, gleich beim Eingangstor zur Villa, und wusste nicht, was er tun sollte. Keine Polizei, hatte der Irre gesagt, kein Anruf, kein Kontakt, oder wie war das? Livia auch nicht, er müsse sie unter Kontrolle halten. Wieso? Vielleicht war der Typ aus der Psychiatrie entkommen. Oder ein Krimineller, ausgebrochen aus dem Gefängnis? Obwohl. Nein. Er sprach so gewählt. So drückten sich keine Verbrecher aus. Er war eher ein Gentleman. So benahmen sich die Kunden, für die Max Biographien schrieb, genau so. Elegante Bewegungen. Geschliffene Aussprache, wie bei einem Radiomoderator. Selbstbewusstsein in jedem Moment. Max merkte, dass er unter den Achseln schwitzte. Er konnte seinen eigenen Schweiß riechen. Plötzlich stand er unter Strom. Die Angst jagte durch seinen Blutkreislauf. Er atmete schneller. Warum konnte das … Wieso wollte er … Wer war dieser … Wann kommt … Und was … Er konnte keinen klaren Gedanken fassen, weil alle Sinne gleichzeitig zu arbeiten schienen. Eindrücke stürzten auf ihn ein wie eine Wand, die zusammenfiel. In einem Haus, das einstürzte. Max kam es vor, als befände er sich in einem Gebäude, in dem links und rechts Abrissbirnen hereinkrachten. Ganz ruhig, sagte er sich immer wieder. Jetzt zählt nur – nachdenken. Angenommen, der Typ sagte die Wahrheit. Angenommen, Ella wäre wirklich … Ausgeschlossen. Völlig unmöglich.

Max holte sein iPhone aus der Hosentasche. Er wischte mit dem Daumen übers Display, Livias Kontakt stand ganz oben unter seinen Favoriten, er tippte auf ihren Namen. Läuten. Warten. Läuten. Warten. Sie hob ab.

»Hi, Schatz, es ist ein bisschen ungünstig, wir fangen gerade –«

»Weißt du, wo Ella ist?«

»Natürlich. Im Kindergarten, wieso?«

Er hoffte, dass alles ein Irrtum war, wollte sie auch nicht unnötig aufregen. »Ah ja, ich wollte nur wissen, ob du sie hingebracht hast.«

»Ja? Und?«

»Gott sei Dank, alles klar. Alles passt, okay. Gut.«

»Max? Was ist los? Du klingst so komisch. Ist was mit dir?«

»Nichts Besonderes. Weißt du, ob sie jetzt noch immer im Kindergarten ist? Ich meine jetzt, in der Sekunde.«

»Ja, natürlich. Wo soll sie denn sonst sein? Warte kurz.«

Max hörte, wie seine Frau ihrem Patienten, dessen Stunde eben begonnen hatte, etwas zuflüsterte, vermutlich eine Entschuldigung für das Telefonat, dann war sie wieder bei ihm. »So, geht wieder. Ich bin jetzt rausgegangen. Max, bitte sag mir sofort, was los ist. Du hörst dich an, als wäre was passiert. Was ist denn?«

»Nichts. Wirklich. Gar nix. Nur eine ganz blöde Geschichte.

Kann man gleich wieder vergessen.«

»Was für eine Geschichte?«

Er seufzte. »Pass auf. Das klingt jetzt echt crazy. Da war so ein Typ. Hier bei uns daheim. Bei mir unten im Büro. Ich habe ihn reingelassen. Er wollte reden, wegen eines Buches. Es hat sich angehört wie ein Auftrag. Ein guter, durchaus. Ich weiß nicht, er hat so normal gewirkt, freundlich. Er wollte irgendeine Biographie besprechen, auch was Medizinisches, keine Ahnung, Er hat in merkwürdigen Fachbegriffen gesprochen, man konnte sich nichts darunter vorstellen. Und wir sitzen so da, draußen auf der Terrasse und plaudern, weißt du? Also er redet drauflos, irgendwelche Angaben, die keiner versteht, und mitten im Gespräch fragt er mich, ob ich weiß, dass mein Blut verstopft ist.«

»Wie bitte?«

»Ja. Total irre. Zuerst habe ich geglaubt, ich habe mich verhört, und nachgefragt. Da nickt der Typ nur. Irgendetwas klumpt, hat er gemeint, das Blut stockt, egal, jedenfalls war das eine Situation wie in einem Horrorfilm. Ich war mir nicht sicher, ob er nicht jeden Moment ein Messer zieht oder eine Pistole. Was weiß ich. Hallo, hörst du mich noch?«

»Ja, Max, und? Was ist mit der Ella?«

»Ich weiß nicht. Halt dich fest, er hat gesagt, ich meine, er … er …«

»Was? Jetzt sag schon!« Sie klang auf einmal lauter.

»Pass auf, Livia, das ist alles irre. Er hat gesagt, also, er hat die Ella entführt.«

Max hörte, wie sie nach Luft schnappte.

»Bitte, hör zu, ich wollte dich jetzt einmal anrufen. Ob du was weißt … wo sie ist. Wo die Ella ist. Das kann ja alles nicht wahr sein.«

»Hast du im Kindergarten angerufen?« Livia hörte sich gedämpft an, wie durch einen Trichter.

»Noch nicht.« Er schluckte. »Wie gesagt, ich wollte erst bei dir –«

»Wer ist der Mann? Wie heißt er? Wie schaut er aus?«

»Normal. Eher unscheinbar. Schlank, spitzes Gesicht, dunkle Haare. Typ Edward Norton. Er hat gesagt, er heißt Christopher. Christopher Kleist, wie der Dichter. Kennst du so jemanden?«

Sie überlegte. »Nie gehört. Wie kommt er zu dir? Was hat das auf sich? Glaubst du, der Typ war krank? Sag mir noch einmal ganz genau, was er dir erzählt hat.«

Max ging im Reden zurück ins Arbeitszimmer. Nervös stapfte er auf und ab. »Das können wir alles nachher durchgehen. Ich probier’s jetzt im Kindergarten. Noch einmal: Du hast sie ganz normal hingebracht, ja?«

»Ja, verdammt noch mal.« Livia klang wie im Streit. »Wie jeden Tag, dann bin ich in die Praxis gefahren. Soll ich anrufen?«

Max ging nicht näher darauf ein. Sein Mund fühlte sich ganz ausgetrocknet an. Obwohl er nicht viel geredet hatte. »Nein, ich melde mich gleich«, sagte er und legte auf. Im Speicher des Handys suchte er nach K. Kandera. Kallisto. Kernfelder … Koller … zu weit

… Kindergarten. Es dauerte eine Ewigkeit, bis sich die Verbindung aufbaute. Bis es läutete. Niemand hob ab.

Er rannte die Treppe hinauf ins Wohnzimmer und holte den Autoschlüssel. Er lag nicht dort, wo er liegen sollte. Max machte kehrt, rutschte auf dem Perserteppich aus und stieß eine Lampe um. Er spürte nichts. Rappelte sich auf. Vielleicht drüben auf der Kommode. Er rannte ins Vorzimmer. Da lag er. Er griff sich den Schlüssel und lief hinunter. Raus aus dem Haus, die dreißig Meter die Straße runter bis zur Garage. Shit. Garagendrücker vergessen. Noch einmal zurück ins Haus? Nein. Zeitverlust drei bis vier Minuten. Die Garage ließ sich auch mit einem Schlüssel öffnen, er hing an dem Bund, an dem auch der Autoschlüssel mit dem Emblem einer springenden Raubkatze baumelte. Hinein, längs durch die große Garage, die mehreren Nachbarn in der Gasse vorbehalten war, vorbei an den Autos. Bei Nummer vierzehn stand das rote Jaguar-E-Cabrio. Max schloss die Fahrertür auf und quetschte sich hinein. Er zitterte jetzt heftiger. Starten. Der Motor heulte auf. Bis nach vorne zum Sensor rollen, der das Garagentor aktivierte, es zog sich automatisch hoch. Raus und Gas. Trotz der Hitze ließ er das Verdeck zu, während er den Oldtimer durch die engen Gassen von Nußdorf manövrierte, vorbei an der Kirche, hinauf Richtung Grinzing, links und rechts die feudalen Häuser und die Heurigen, die Buschenschanken mit den Gastgärten, allesamt beliebt bei den Touristen. Die Straßen waren jetzt nahezu leer. Gute Verhältnisse, um zu rasen.

Sein Handy läutete. Livia stand auf dem Display.

»Und?«, fragte sie am anderen Ende der Leitung. »Weißt du schon was?«

»Nein.«

»Was heißt nein?«

»Im Kindergarten hebt niemand ab. Ich bin im Auto. Fahre jetzt hin.«

»Max, hat sich der Mann noch einmal gemeldet?«

»Nein, vergiss es. Das war … gar nichts. Ich melde mich dann bei dir. Keine Sorge. Alles okay. Es ist alles unter Kontrolle.« Er glaubte es selber nicht.

Die Ampel sprang auf rot, er fuhr trotzdem weiter. Zum Kindergarten waren es vielleicht zwölf Minuten, wenn man schnell fuhr. Er war in sieben dort. Als er aus dem Wagen sprang, roch die Luft nach verbranntem Gummi. Die Reifen.

Kindergarten Floh, stand auf dem Holzschild. Er sprintete zum Eingang, riss die Tür auf und versuchte sich zu orientieren. Für gewöhnlich wurde Ella von Livia hergebracht und wieder abgeholt.

Montag bis Freitag. Max konnte die Leiterin des Kindergartens nicht ausstehen. Sie kam ihm vor wie eine von diesen überheblichen Professorinnen für Kunstgeschichte, die sich zu Besserem berufen fühlten. Ihre Gestik sagte gleich beim Kennenlernen: Eigentlich bin ich dazu geboren, Meisterwerke auf eine Leinwand zu pinseln oder Götter aus Stein zu hauen oder komplizierte Figuren aus Ton zu formen, jedenfalls scheint mir alles besser, als diesen kleinen Fratzen die Zeit mit Spielen zu vertreiben. Hildegard Metznik hieß die Frau, sie hatte eine gefärbte graue Strähne im brünetten Haar, ein Spleen, den sie für originell hielt, und sie ließ sich mit Frau Magister ansprechen, typisch für Österreich, wo sich eine gehobene Beamtengattin immer noch gern Frau Hofrat nennen ließ. Max war erst ein einziges Mal hier gewesen, als sie Ella angemeldet hatten, und erinnerte sich wieder an die räumliche Aufteilung: rechts vorne die Spielzimmer und hinten der Aufenthaltsraum für die Betreuerinnen. Er wollte gerade Hallo? rufen, als eine Frau um die Ecke bog. Die Kindergartenchefin mit der Strähne. Sie trug ein giftgrünes Kostüm und hatte ein ungebügeltes Gesicht, kein Make-up. Ihr Wackelhals pendelte sich ein. »Ah. Sie! Sind Sie nicht … der Vater von der Ella? Wie sehen Sie denn aus? Ist Ihnen heiß? Sie wirken … äh, verschwitzt.«

»Jaja. Frau … Metznik. Das sind doch Sie, stimmt’s?«

Sie nickte langsam, während Max näherkam. »Ich suche die Ella? Wissen Sie, wo sie ist?« Er stieg von einem Fuß auf den anderen und fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn. Der ganze Nacken und der Haaransatz waren nass.

»Was ist denn los mit Ihnen? Ist was passiert? Die Ella. Hmm.

Ich glaube, sie wurde bereits abgeholt. Ich kann das aber noch –«

»Wie? Von wem? Wer hat sie abgeholt, wer?«

»Ich glaube, Sie vergreifen sich ein wenig im Ton, Herr West.«

Max’ Halsschlagader pochte, man konnte es sehen. Sein Gesicht wurde kantig. »Ich scheiß auf den Ton«, zischelte er. »Ich will wissen, wo mein Kind ist. Jetzt.«

Hildegard Metznik drehte sich pikiert um und ging vor bis zu einer Tür. Sie klopfte, wartete aber nicht auf eine Reaktion, sondern drückte die Klinke herunter und trat ein. Max blieb draußen auf dem Gang. Er wollte die Situation nicht noch weiter verkomplizieren. Er hörte, wie sie mit jemandem sprach.

»Servus Miriam. Tut mir ausgesprochen leid, dass ich deine Stunde störe. Aber ich habe hier einen … nun ja, Wilden. Wir wollen das später ausführen. Einen … Vater. Weißt du, wo die liebe Ella ist? Ist sie noch bei dir, oder hat sie die Renate beim Malen besucht?«

Eine junge Frauenstimme antwortete, Max verstand nur das Nein, der Rest ging im Kinderlärm unter.

»Bist du dir ganz sicher?« Kurzes Gespräch, Gemurmel. Schrilles Gelächter. Die Kindergartenleiterin kam wieder heraus. »Wie es aussieht, ist die Ella abgeholt worden. Von ihrem Onkel Alfred.«

Max unterdrückte den Impuls, der Hilde den Kopf vom wackeligen Hals zu schlagen. Sein Gesicht lief rot an vor Zorn. »Sind Sie wahnsinnig?«, brüllte er. Dann stoppte er sich. Er durfte keinen Verdacht erregen. Kurz schloss er die Augen, zog tief die Luft ein und sagte mit gepresster Stimme: »Das dürfen Sie doch gar nicht. Onkel Alfred steht nicht auf der Liste.«

Es war damals ein ziemliches Hin und Her gewesen, Max erinnerte sich genau. Die Liste. Wer darf Ella abholen, wer nicht. Hildegard Metznik hatte keine Zweifel gelassen. Wer nicht auf der Liste stehe, bekomme das Kind nicht ausgehändigt, da gebe es keine Ausnahmen. Punkt. Aus. Ende. Die übrigen Eltern würden das sehr schätzen, man wisse ja nie, sie verstehe gar nicht, warum die Wests

… Jaja, hatten Livia und er gesagt, außer ihnen hole sie eh niemand ab. Haha. Und jetzt gibt sie seine Tochter Onkel Alfred mit. Sie hatte keinen Onkel Alfred.

»Würden Sie mir das bitte erklären«, sagte Max. Und noch einmal: »Onkel Alfred steht nicht auf der Liste.«

»Doch«, sagte die Metznik.

»Nein«, sagte Max am Rande seiner Beherrschung.

»Doch«, sagte die Metznik. »Kommen Sie mit.«

Unendlich langsam ging sie vor Max her zu ihrem Büro, kramte in einer Schublade und zog schließlich einen Ordner heraus, in dem sie umständlich herumblätterte. Dann fischte sie ein Blatt Papier aus einer Klarsichthülle und hielt es Max hin. »Und wie er draufsteht.«

Nachträglich zu den vertrauenswürdigen Personen hinzugefügt, die Ella abholen durften, und offiziell mit Brief und Siegel genehmigt, stand unterhalb von seinem und Livias Namen:

Alfred West, Verwandtschaftsverhältnis: Onkel.

Das Schwein hat sogar unseren Namen gestohlen, dachte Max. Wann hatte der …? Wie konnte er ohne ihr Wissen …? Mit welchem Ausweis …? Wer war dieser Alfred West?

In dem Augenblick läutete sein Handy. Er hob ab und erkannte die etwas höhere Stimme sofort. Es war Christopher Kleist.

»Hallo Max, wie ich höre, sind Sie am Recherchieren. Dann werden Sie gerade entdeckt haben, dass wir an alles denken. Und alles können. Glauben Sie, ich lüge Sie an? Ach. Warum schenken Sie mir nicht einfach Ihr Vertrauen? Wir müssen uns näherkommen, das ist ganz wichtig. In jeder Hinsicht ist das wichtig, das sagt auch die kleine Ella.«

Max wandte sich von der Kindergärtnerin ab, behielt das Handy aber am rechten Ohr. Christophers Stimme kroch in sein Gehirn wie eine Schabe, er redete weiter in seiner bedrohlichen Lieblichkeit.

»Ich wollte nur noch einmal sichergehen und unsere Beziehung überprüfen. Vor allem, ob Sie den Teil verstanden haben, in dem es heißt, keine Polizei. Ich sage es vielleicht noch einmal, klar und deutlich. Keine Tricks. Kein Flunkern. Kein Wort zu irgendwem. Sonst – zimperzack! Würde der böse Zauberer im Märchen doch sagen, nicht wahr, Max? Zimperzack. Kennst du die Geschichte von dem bösen Zauberer, der die kleine Prinzessin aus der Burg entführt und ihr dann die kleinen Fingerchen abschneidet? Die Prinzessin schreit und weint, Papi, Papi. Aber da ist weit und breit kein Papi. Da sind nur die Drachen, die Dämonen, der Tod und der schwarze König, der schon einen Kindersarg hat zimmern lassen. Pass auf, jetzt kommt’s: das Zauberbuch. Das Zauberbuch kann die kleine Prinzessin retten. Ist das nicht ein feines Märchen. Zimperzack! Wir sehen uns am Abend.« Er machte eine Pause. »Das Leben braucht einen Dialog. Vielleicht kocht Livia was Leckeres für uns. Wir müssen uns unterhalten. Arbeit liegt vor uns, seitenweise Arbeit. Und je eher wir eintauchen in den Berg von Buchstaben, desto eher kriegst du dein Kind zurück. Bis dahin ist es noch ein weiter Weg für Märchenmänner, die auf einmal keine 31 Tochter mehr haben. Helden reisen durch das Tal der Leiden, steigen über den Berg der Sehnsucht und schwimmen durchs Meer der Hoffnung. Am Ende, Bruder Grimm, rettest du die kleine Prinzessin. Und wenn sie nicht gestorben ist, dann lebt sie … vielleicht heute Abend noch.« Er legte auf. Das Display war schwarz.

»Hat sich alles geklärt?« Hildegard Metznik hob die linke Augenbraue.

»Wie bitte?« Max konnte ihr nicht folgen. In seinem Kopf tobten Drachen. Zauberer schnitten Kindern die Finger ab. Überall Blut. Er fühlte sich benommen.

»Sie sehen aus, als hätten Sie einen Geist gesehen. Ist Ihnen nicht gut? Oder haben Sie was genommen? Tabletten? Drogen?«

Max musste sich zusammenreißen. Er sagte sich im Geiste vor, dass er jetzt kein böses Wort erwidern durfte, das Leben seiner Tochter stand auf dem Spiel. Er musste die arrogante Schnepfe hofieren.

»Aber. Also. Jessas. Mein Gott, wie dumm von mir, Frau … Magister. Das ist mir jetzt aber richtig unangenehm.« Er versuchte zu lächeln. »Wissen Sie, meine Frau hat das nur so nebenbei erwähnt, und ich dürfte es vergessen haben. So viel Arbeit. Das Schreiben. Die Hitze. Sie verstehen?« Er zeigte nach draußen, wo die Sonne grell strahlte, greller als sonst. »Wann ist denn der Onkel … Alfred gekommen, um die Ella abzuholen?«

»Moment.« Sie sah auf ihre alte goldene Rolex, anscheinend geerbt. »Unsere liebe Miriam hat gemeint, vor einer halben Stunde. Stimmt irgendetwas nicht? War das nicht gewünscht?«

»Doch, doch,«, sagte Max und winkte ab, »alles in Ordnung, alles bestens.«

»Sie wirken aber überhaupt nicht, als ob alles bestens wäre, Herr West.« Sie beäugte ihn eindringlich, wie ein Schulkind, das etwas angestellt hat. »Sollen wir Ihre Frau verständigen, oder ist mit dem Besucher etwas passiert? Sollen wir die Polizei rufen? Einen Arzt? Sie sind ganz weiß im Gesicht.«

Er fühlte, wie der Kloß in seinem Hals größer wurde. »Ich bitte Sie, wozu. Mir geht’s prächtig. Alfred ist mein kleiner Bruder, er war lange Jahre im Ausland und ist erst seit kurzem wieder da, seit kurzem …« Er stockte, suchte nach einem Weg, um die Situation abzufedern. Die Frau wollte ihm Schwierigkeiten machen, das war klar. Und er musste herauskriegen, wie er aussah, der kleine Bruder. Wenn es nicht Christopher war, dann hatten sie es tatsächlich mit mehreren Entführern zu tun. »Nur, damit alles seine Ordnung hat und wir wirklich vom selben Onkel Alfred sprechen, Frau Metznik: Wie sah er denn aus?«

»Blond, höchstens dreißig, durchtrainiert, extrem gut aussehender Mann. Wie ein Filmstar. Er trug einen weißen Anzug und sah aus wie ein Playboy in Monte Carlo. Miriam hat kurz mit ihm gesprochen, ich habe ihn nur von der Weite gesehen. Trotzdem, Ellas Onkel Alfred übersieht man nicht.«