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Die Idee der sympathischen, lebensklugen Denise von Schoenecker sucht ihresgleichen. Sophienlust wurde gegründet, das Kinderheim der glücklichen Waisenkinder. Denise formt mit glücklicher Hand aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren. Denise von Schoenecker steuerte die Tankstelle an, weil sie schon in Heidelberg festgestellt hatte, dass ihr Benzinvorrat nicht ausreichte. Der freundliche Tankwart füllte nach und polierte auch die Frontscheibe ihres Wagens. Denise bedankte sich und ging in den verglasten Verkaufsraum, um zu bezahlen. Als sie wieder ins Freie trat, sah sie ein kleines Mädchen aus dem Führerhaus eines Lastwagens klettern und rasch davonlaufen. Da das Kind sich mehrmals ängstlich umsah, wurde Denise aufmerksam. Anstatt zu ihrem eigenen Auto zurückzukehren, ging sie zu dem Lastwagen.Das Führerhaus war leer. Doch gerade in diesem Augenblick kam ein vierschrötiger Mann auf den Lastwagen zu.»Das Kind ist weggelaufen«, rief Denise ihm aufgeregt zu. »Dorthin, in den Wald.Der Fahrer hob die Schultern. »Dann ist sie also aufgewacht, die Kleine. Sie war todmüde. Ich hatte sie in meine Koje gepackt. Eigentlich wollte ich sie der Polizei übergeben. Bestimmt ist sie irgendwo ausgerückt. Es war kein vernünftiges Wort aus ihr herauszubringen.»Wo haben Sie das Kind aufgenommen?«, fragte Denise rasch.»An der Stuttgarter Ausfahrt.
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Seitenzahl: 150
Veröffentlichungsjahr: 2018
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Denise von Schoenecker steuerte die Tankstelle an, weil sie schon in Heidelberg festgestellt hatte, dass ihr Benzinvorrat nicht ausreichte. Der freundliche Tankwart füllte nach und polierte auch die Frontscheibe ihres Wagens. Denise bedankte sich und ging in den verglasten Verkaufsraum, um zu bezahlen. Als sie wieder ins Freie trat, sah sie ein kleines Mädchen aus dem Führerhaus eines Lastwagens klettern und rasch davonlaufen. Da das Kind sich mehrmals ängstlich umsah, wurde Denise aufmerksam. Anstatt zu ihrem eigenen Auto zurückzukehren, ging sie zu dem Lastwagen.
Das Führerhaus war leer. Doch gerade in diesem Augenblick kam ein vierschrötiger Mann auf den Lastwagen zu.
»Das Kind ist weggelaufen«, rief Denise ihm aufgeregt zu. »Dorthin, in den Wald.«
Der Fahrer hob die Schultern. »Dann ist sie also aufgewacht, die Kleine. Sie war todmüde. Ich hatte sie in meine Koje gepackt. Eigentlich wollte ich sie der Polizei übergeben. Bestimmt ist sie irgendwo ausgerückt. Es war kein vernünftiges Wort aus ihr herauszubringen.«
»Wo haben Sie das Kind aufgenommen?«, fragte Denise rasch.
»An der Stuttgarter Ausfahrt. Aber jetzt ist es mir egal. Soll sie doch selbst sehen, wie sie weiterkommt, die kleine Krabbe. Mit der Polizei würde ich mich wahrscheinlich nur unnötig aufhalten. Ich habe keine Zeit zu verschenken.«
Denise hörte dem Mann kaum noch zu. Seine persönlichen Motive waren ihr gleichgültig. Stuttgart also. Das war wenigstens ein Anhaltspunkt. Mehr wusste der Lastwagenfahrer ja nicht.
Denise hastete davon, auf das Waldstück zu. Dort führte ein schmaler, ausgetretener Pfad weiter. Es war anzunehmen, dass das kleine Mädchen diesen Weg benutzt hatte.
»Hallo – wo bist du?«, rief Denise laut. »Ich kann dich mitnehmen, wenn du willst.«
Keine Antwort. Denise sorgte sich um das fremde Kind. So ging sie langsam weiter und spähte aufmerksam hinter jeden Busch und Baum. Immer wieder rief sie mit ihrer warmen Stimme nach dem Kind, doch das kleine Mädchen blieb verschwunden.
Ich muss das Kind finden, dachte Denise. Was soll denn aus der Kleinen werden, wenn sich kein Mensch um sie kümmert?
Systematisch suchte Denise das Waldstück ab und entdeckte schließlich, als sie kaum noch Rat wusste, die kleine Ausreißerin. Schüchtern zusammengeduckt wie ein Tier hockte sie in einer Bodenvertiefung unter einem Busch. Es war reiner Zufall, dass Denise einen Zipfel des hellen Kleidchens bemerkt hatte.
»Du brauchst keine Angst zu haben. Ich möchte dir helfen.« Mit liebevollem Lächeln beugte sich Denise zu der Kleinen hinab. Dunkle Augen blickten scheu zu ihr empor. Es war ein hübsches Kind mit blondem Haar und runden Bäckchen, aber jetzt reichlich schmutzig.
»Aber ich mag nicht zurück«, flüsterte das Kind. »Und zur Polizei will ich auch nicht.«
»Ich nehme dich in meinem Auto mit. Aber zuerst gehen wir in die Raststätte und trinken Kakao. Oder magst du lieber Limonade haben?«
»Kakao«, kam es aus dem verschmierten kleinen Mund.
Denise streckte die Hand aus. Zögernd schmiegten sich die klebrigen Finger des Kindes hinein. Einträchtig kehrten die beiden auf dem Waldweg zur Autobahn zurück.
Hier stellte Denise fest, dass der Lastwagen längst abgefahren war. Insgeheim schüttelte sie den Kopf über das Verhalten des Fahrers. Hatte er sich gar nichts dabei gedacht, als er das Kind mitgenommen hatte? Was für einen Sinn konnte es haben, die kleine Ausreißerin von ihrem Heimatort wegzubringen? Oder hatte der Mann sich eine Belohnung versprochen?
Nun, sie würde das nicht erfahren. Möglicherweise war das Kind sogar einer Gefahr entronnen. Jetzt brauchte sie sich darüber keine Gedanken mehr zu machen. Sie konnte dafür sorgen, dass ihr Schützling sicher nach Hause gelangte. Vielleicht aber würde es sich auch als nötig erweisen, das Kind in Sophienlust aufzunehmen – im Haus der glücklichen Kinder.
Zunächst führte Denise das kleine Mädchen in den Waschraum des Rasthauses. So gut es ging, säuberte sie wenigstens Gesicht und Hände der kleinen Dame. Mit ihrem eigenen Kamm glättete sie das wuschelige Haar.
»So, nun siehst du schon recht nett aus. Sagst du mir, wie du heißt?«
Ein zögernder Blick aus den sprechenden dunklen Augen, dann kam die Antwort: »Ina.«
»Hast du noch einen zweiten Namen, Ina?«
»Nein, bloß Ina.«
»Nun, trinken wir erst einmal Kakao.«
Ina war damit durchaus einverstanden. Denise bewirtete sie mit Kakao und einem Schinkenbrot. Es zeigte sich, dass Ina ziemlich ausgehungert war. Um das schwankende Zutrauen der Kleinen nicht sogleich wieder ins Wanken zu bringen, hütete sich Denise, Ina auszufragen. Niemand wusste besser als Denise von Schoenecker, wie behutsam man in solchen Fällen sein musste.
Vielmehr begann Denise ein wenig von Sophienlust zu erzählen. Das war bisher noch immer das beste Rezept gewesen, um mit einem fremden Kind Freundschaft zu schließen.
»Willst du dann mit mir weiterfahren, Ina?«, fragte Denise.
»Ein Stück vielleicht.«
»Ich heiße Tante Isi, Ina. Wenn du einverstanden bist, bringe ich dich in ein schönes großes Haus. Dort wohnen eine Menge Kinder, die sich bestimmt freuen, wenn du kommst.«
»Aber sie kennen mich doch gar nicht, Tante Isi.«
»Das macht nichts. In dieses Haus kommen des Öfteren fremde Kinder. Wir müssen dann in Ruhe überlegen, ob du dort bleiben wirst. Zuerst einmal bekommst du ein schönes, gemütliches Zimmer mit einem Bett. Schwester Regine wird dich baden und dir saubere Sachen zum Anziehen geben. Dann kannst du dir Sophienlust anschauen. Da gibt es eine Menge zu sehen.«
»Sophienlust? Das ist ein komischer Name. Ist es lustig dort?« Inas Anteilnahme war geweckt.
»Ich denke, es wird dir gefallen. Das Haus hat früher einer lieben alten Dame gehört. Als sie starb, erbte mein Sohn Nick den Besitz. Seitdem leben in Sophienlust Kinder.«
»Was für Kinder, Tante Isi?«
»Kinder, die kein richtiges Zuhause mehr haben.«
»Erzähle noch mehr von Sophienlust.«
»Zu dem Haus, in dem sehr viel Platz ist, gibt es einen Park und dazu Ställe mit Tieren. Das wird dir sicherlich gefallen. Sogar Ponys haben wir, auf denen unsere Kinder reiten können, wenn sie mögen.«
»Richtige, lebendige Ponys? Keine aus Holz wie auf dem Rummelplatz?«
»Du musst sie dir selbst anschauen, Ina. Dann wirst du es wohl glauben.«
»Und dein Junge – der Nick – der ist auch dort?«
»Ja, du wirst ihn kennenlernen, Ina. Allerdings ist er inzwischen schon ziemlich groß geworden. Es ist viele Jahre her, dass wir nach Sophienlust kamen.«
Ina schien sich darüber keine Gedanken zu machen. Sie stellte noch einige Fragen, und Denise schilderte ihr das Kinderheim, das sie selbst gegründet hatte, um den Letzten Willen der Urgroßmutter ihres Sohnes Nick zu verwirklichen. Diese hatte bestimmt, dass im ehemaligen Herrenhaus des Gutes eine Zufluchtsstätte für Kinder, die in Not geraten sind, entstehen solle. Nick war damals erst fünf Jahre alt gewesen, hatte also sein Erbe noch nicht selbst antreten können. So war seiner Mutter die Aufgabe zugefallen, das Heim ins Leben zu rufen.
Der Kakao war ausgetrunken, von dem Schinkenbrot war kein Krümelchen zurückgeblieben. Denise bezahlte und ergriff vorsichtshalber Inas Hand. Ganz sicher konnte sie wohl nicht sein, dass die Kleine ihr nicht davonlaufen würde. Auf eine Ausreißerin konnte man sich nicht unbedingt verlassen. In dieser Hinsicht besaß Denise von Schoenecker Erfahrung.
Doch Ina dachte nicht mehr an Flucht. Sie kletterte auf den Rücksitz des Autos und ließ sich mit der weichen Decke umhüllen, die dort bereitlag. Sie war satt und zufrieden. Denise stellte fest, dass ihre Lider schwer wurden. Offenbar hatte sie in der Koje des Fernlasters noch nicht lang genug geschlafen.
Schon nach zehn Minuten schlief Denises Findling fest. Auch jetzt erinnerte das zusammengekauerte Kind ein wenig an ein kleines Tier. Warmes Mitleid überflutete Denises Herz. Sie war dem Schicksal dankbar, dass ihr Weg sie zu Ina geführt hatte. Zuversichtlich hoffte sie, dass sie dem kleinen Mädchen würde helfen können. Wie, das konnte sie vorerst allerdings nicht entscheiden, doch es würde sich im Laufe der Zeit schon herausstellen. Es musste einen Grund für Inas Flucht geben – und genau diesen wollte sie herausfinden.
Gewandt und sicher steuerte Denise von Schoenecker ihren Wagen über die Autobahn. Sie hatte in Heidelberg ihren ältesten Sohn Sascha besucht, der dort studierte, und gewiss nicht damit gerechnet, dass sie unterwegs ein Kind aufnehmen würde.
Denise warf einen Blick in den Spiegel und lächelte. Nun war Ina wenigstens in Sicherheit. Von Sophienlust aus wollte sie sich mit der Polizei in Verbindung setzen. Vor allem aber war sie entschlossen, die persönlichen Verhältnisse der Familie des Kindes gründlich zu erforschen.
Denises Gedanken wanderten voraus nach Sophienlust. Dort lebten heimatlose Kinder in einer glücklichen Gemeinschaft. Unzählige Kinderschicksale waren schon an Denise vorübergezogen oder von ihr beeinflusst worden.
Das Lächeln in Denises schönem, ebenmäßigem Gesicht vertiefte sich, als sie an ihren Mann dachte. Gewiss würde er sich liebevoll darüber lustig machen, dass sie schon wieder einmal die dringende Notwendigkeit gesehen hatte, sich eines Kindes anzunehmen. Glücklicherweise konnte sie sich darauf verlassen, dass Alexander ihr stets volles Verständnis entgegenbrachte. Obgleich die Arbeit in Sophienlust sie stark beanspruchte, beklagte er sich nie. Er nahm vielmehr gern an allem, was das Kinderheim betraf, Anteil und stand ihr oft mit Rat und Tat zur Seite.
Denise und Alexander von Schoenecker hatten einander vor vielen Jahren in Sophienlust kennengelernt. Alexanders Gut Schoeneich grenzte an die Fluren von Sophienlust. Damals war es um Ponys für die Kinder gegangen, und dann war für zwei vom Schicksal schon hart geprüfte Menschen ein tiefes, erfülltes Glück aus dieser Begegnung entstanden. Beide hatten damals bereits eine Ehe hinter sich gehabt, hatten den ersten Partner durch den Tod verloren gehabt. Alexander hatte Sascha und Andrea mit in die zweite Ehe gebracht – Denise Nick, der eigentlich auf den Namen Dominik getauft war. Die neu gegründete Familie lebte und wohnte seitdem in Schoeneich, obwohl Denises Tätigkeit in Sophienlust immer weitergegangen war. Frau Rennert war engagiert worden, die dem Kinderheim seitdem als Leiterin vorstand. Sie wurde von den Kindern zärtlich Tante Ma gerufen und entlastete Denise weitgehend, sodass ihr trotz ihres nimmermüden Einsatzes für die fremden Kinder ausreichend Zeit für die eigene Familie blieb. Diese Familie hatte sich um einen weiteren Sohn vergrößert, sodass das Glück von Eltern und Geschwistern vollständig geworden war.
Inzwischen besuchte auch Henrik längst die Schule. Wo waren nur die Jahre geblieben? Die Zeit schien unendlich schnell vergangen zu sein. Dennoch hatte der ständige Umgang mit Kindern und Jugendlichen Denise nicht altern lassen.
Ja, es war viel geschehen seit Denises Einzug in Sophienlust. Sascha und Andrea hatten ihr Abitur bestanden. Sascha studierte nun, während Andrea von der Schulbank weg den Tierarzt Dr. Hans-Joachim von Lehn geheiratet hatte. Mit ihm lebte sie in harmonischer, glücklicher Ehe in Bachenau, unweit von Sophienlust. Dort hatte Andrea – eine Tiernärrin reinsten Wassers – ein Heim für kranke oder heimatlose Tiere gegründet. Das Tierheim spielte bei den jungen Bewohnern von Sophienlust eine wichtige Rolle.
Denise hätte der kleinen Ina noch allerlei erzählen können, während der Fahrt, aber Ina schlief, und das war sicherlich gut so.
Denise dachte an Andreas Sohn, den kleinen Peter. Sie liebte ihren ersten Enkel innig. Er wuchs zwischen den vielen Tieren auf, die auf dem weitläufigen Grundstück seiner Eltern lebten. Gewiss würde er später einmal den Beruf seines Vaters erwählen und Tierarzt werden. Aber noch war Peterle ein winziges Bürschchen.
Die Fahrt ging weiter, ohne dass Ina erwachte. Denise verließ die Autobahn und fuhr durch die Kreisstadt Maibach. Hier besuchten die älteren Kinder aus Sophienlust das Gymnasium. Die kleineren gingen in Wildmoos zur Grundschule.
Schließlich erreichte Denise Bachenau. Sie verwarf ihren Gedanken, Andrea einen kurzen Besuch abzustatten.
Es war sicherlich richtiger, Ina sogleich in Sophienlust abzuliefern.
So fuhr Denise weiter und ließ den Wagen kurz darauf vor dem imponierenden Herrenhaus, das den Namen Sophienlust trug und auf den überraschten Fremden fast wie ein Schloss wirkte, ausrollen.
Frau Rennert, die das Auto gehört hatte, trat sogleich aus dem Portal. Sie zeigte keine besondere Verwunderung, als Denise auf das schlafende Kind wies. Es gehörte zum Alttag von Sophienlust, dass hier Kinder eintrafen.
»Wir müssen zunächst die Polizei verständigen«, erklärte Denise mit leiser Stimme. »Wahrscheinlich wird Ina irgendwo schmerzlich vermisst. Ich will nicht hoffen, dass sie vor Misshandlungen weggelaufen ist.«
Noch während Denise sich bemühte, das schlafende Kind aus dem Auto zu heben, schlug Ina die Augen auf.
»Wir sind da, Ina. Herzlich willkommen in Sophienlust.« Denise stellte Ina auf die Füße.
Die Kleine rieb sich die Augen und schaute sich verwundert um. »Wo sind die Kinder, Tante Isi?«
»Warte, du wirst sie gleich sehen.«
Tatsächlich tauchte nun vom Park her eine Gruppe von Kindern auf. Schon hatte sich auf geheimnisvolle Weise herumgesprochen, dass ein kleines Mädchen angekommen war.
»Siehst du, da kommen sie schon, Ina. Das ist Pünktchen. Ja, gib ihr nur die Hand. Hier sind Henrik und Peggy. Und diese beiden heißen Angelika und Vicky.«
Schwester Regine wurde gerufen. Sie umarmte Ina liebevoll. Dass es zunächst erforderlich war, die Kleine in die Wanne zu stecken und frisch einzukleiden, bedurfte keiner besonderen Erwähnung.
»Vielleicht kriegst du ihren vollen Namen aus ihr heraus, Pünktchen«, flüsterte Denise dem Mädchen zu, das seinen Namen den lustigen Sommersprossen verdankte. »Vorläufig weiß ich fast nichts über sie. Hinter Stuttgart hat ein Lastwagenfahrer sie mitgenommen. Ich gabelte sie an einer Tankstelle auf, als sie eben wieder davonlaufen wollte.«
Pünktchen nickte eifrig. »Ich will’s versuchen, Tante Isi. Hoffentlich kann sie bei uns bleiben. Bestimmt hat sie es nicht schön zu Hause. Sonst wäre sie doch nicht fortgelaufen.«
Denise betrat nun das Herrenhaus. Sie wusste, sie konnte Ina getrost Schwester Regines Fürsorge überlassen. Pünktchen war mit nach oben gegangen und würde gewiss während des Badefestes ein erstes Gespräch mit Ina führen.
Gemeinsam mit Frau Rennert ging Denise in das Zimmer, das sie am meisten liebte. Es war ein Raum, der noch ganz so geblieben war, wie er zu Lebzeiten der letzten Herrin von Sophienlust ausgesehen hatte. Schöne alte Biedermeiermöbel gaben diesem Zimmer eine ganz besondere Note. Von einer der Wände blickte ein Ölgemälde herab, das Sophie von Wellentin darstellte. Hier erledigte Denise gern ihre schriftlichen Arbeiten, hier pflegte sie aber auch Besucher zu empfangen. Der Geist der Stifterin schien hier auf geheimnisvolle Weise bis auf den heutigen Tag lebendig geblieben zu sein.
Zuerst rief Denise in Schoeneich an, um ihrem Mann zu erklären, warum sie später komme. Dann schilderte sie der Heimleiterin ihr Erlebnis an der Autobahntankstelle.
Frau Rennert äußerte herzliche Anteilnahme und auch Mitleid. Schließlich meinte sie mit ernstem Gesicht: »Wer weiß, was dahintersteckt, Frau von Schoenecker. Ich bin froh, dass Sie das Kind mitgenommen haben.«
»Wir werden sehen, ob unser Pünktchen etwas aus Ina herausfragen kann«, gab Denise zurück. »Anfangs war Ina offenbar fest entschlossen, kein Wort über ihre Herkunft zu verraten.«
Frau Rennert und Denise tauschten einen Blick. Sie waren schon oft mit der bedrückenden Tatsache konfrontiert worden, dass es Menschen gab, die ihre eigenen Kinder nicht liebten, ja, denen ein kleiner Sohn oder eine niedliche Tochter im Wege waren. Wie konnte man ein Kind nicht mit Liebe und Fürsorge umgeben? Wie war es einem Menschen möglich, einem hilflosen Kind wehzutun? Niemals würden sich diese beiden Frauen und ihre opferwilligen Helfer damit abfinden. Stets waren sie bereit, sich für das Wohl von Kindern einzusetzen, die der Hilfe bedurften.
Irmela, ein großes blondes Mädchen, brachte aus der Küche Tee. Sie fragte besorgt nach Ina. Doch Denise konnte ihr nichts sagen.
Nach einer ganzen Weile erschien Pünktchen.
»Nun, hast du etwas erfahren können?«, fragte Denise sogleich.
Pünktchen nahm sich ein Stück Gebäck, das Denise ihr anbot. »Ina kennt ihren Familiennamen nicht, Tante Isi«, berichtete sie. »Ich dachte zuerst, dass sie es nur nicht sagen will, aber sie weiß einfach nicht, wie sie heißt. Das ist sicherlich nicht gut, und die Polizei wird es schwer haben, ihre Familie zu finden.«
»Wie alt ist sie? Ich schätze, fünf.«
»Das stimmt, Tante Isi. Außerdem hat sie eine Mutti. Von einem Vati weiß sie nichts.«
»Glaubt sie, dass ihre Mutti sich um sie sorgt?«, warf Frau Rennert ein. »Mit fünf Jahren müsste sie das schon wissen.«
»Es scheint keinen besonderen Eindruck auf sie zu machen. Ihre Mutti ist nicht zu Hause oder so etwas. Man wird nicht richtig klug aus dem, was Ina zusammenredet. Es gibt auch noch eine Evi. Ob das Inas Schwester ist, konnte ich nicht herausfinden. Evi war nicht sehr nett zu Ina. Sie hat sie eingesperrt. Da ist Ina dann zum Fenster hinausgestiegen und weggelaufen. Ob sie schon länger unterwegs war, habe ich nicht herausgekriegt. Ich glaube, sie ist sich selbst nicht darüber im Klaren. Nach ihrer Mutti hat sie überhaupt keine Sehnsucht. Das finde ich ziemlich schlimm.«
Pünktchen kannte sich aus. Als winziges Ding war sie völlig verwahrlost von Nick im Wald bei Sophienlust gefunden worden. Damals hatte Denise erreicht, dass das Kind den lieblosen Verwandten weggenommen worden und in Sophienlust geblieben war. Verständlich, dass Pünktchen stets in Sorge war, ein Kind werde daheim nicht gut behandelt. Ihre eigenen bitteren Erfahrungen nach dem Tod ihrer Eltern lagen zwar viele Jahre zurück, blieben aber trotzdem unvergessen.
»Wir werden uns darum kümmern müssen«, sagte Frau Rennert begütigend. »Zuerst wollen wir festzustellen versuchen, ob ein Mädchen namens Ina irgendwo vermisst wird.«
Denise leerte ihre Tasse und stand auf. »Wollen Sie sich mit der Polizei in Verbindung setzen, Frau Rennert? Ich habe Ihnen ja alle Einzelheiten genau geschildert. Für den Anfang können wir leider mit genaueren Angaben nicht dienen. Hoffen wir, dass es bereits eine Vermisstenanzeige gibt. Dann sind wir auf Inas Angaben wenigstens nicht mehr angewiesen. Ich möchte jetzt nach Schoeneich fahren.«
»Aber du musst Ina vorher noch anschauen, Tante Isi«, warf Pünktchen ein. »Sie sieht jetzt sehr niedlich aus und ist ganz sauber geworden.«
»Natürlich gehe ich zu ihr, Pünktchen. Das ist selbstverständlich.«
Denise fand Ina im Wintergarten, wo diese den herrlichen bunten Papagei Habakuk bestaunte. Eben führte Nick ihr vor, dass der kluge Vogel sprechen konnte. Ina betrachtete dieses Wunder voller Staunen.
»Gefällt es dir in Sophienlust?«, fragte Denise und strich über Inas frisch gewaschenes Haar.
»Ja, es ist schön hier. Aber dein Nick ist schon so groß, Tante Isi.« Ina blickte an Nicks beachtlicher Länge empor.
»Nun ja, er ist eben tüchtig gewachsen, seit wir hierhergekommen sind, Ina. Du wirst auch eines Tages groß werden.«
Denise umarmte Ina zum Abschied. »Dann warst du auch mal klein, Tante Isi?«, wollte die Kleine nun noch wissen.