Die Rache im Flaschenhals - Andreas Arz - E-Book

Die Rache im Flaschenhals E-Book

Andreas Arz

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Beschreibung

Zwei Jahre sind seit dem sensationellen Fund des Schatzes im Flaschenhals und dem Verschwinden Achmandors vergangen. Wieder erschüttern mysteriöse Morde den Rheingau. Kommissar Kießling und sein Team ermitteln. Sind der Orden und ihr totgeglaubter Anführer Achmandor womöglich zurückgekehrt? Birgt der Freistaat Flaschenhals weitere Geheimnisse?Im Freistaat Flaschenhals des Jahres 1921, kurz nach dem Ersten Weltkrieg, überlegen Peter und seine Freunde, wie sie den Schatz, den sie einst auf einem gekenterten Rheinschiff gefunden haben, vor den dunklen Mächten in dieser Zeit verbergen können. Seltsame Begebenheiten in den Lagern der französischen Besatzer bergen eine große Gefahr für ihr Leben und das ihrer Lieben. Es beginnt ein Kampf auf Leben und Tod, der vor der Gegenwart nicht Halt macht.Der zweite und abschließende Teil des Überraschungserfolges »Der Schatz im Flaschenhals«.

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Die Rache im Flaschenhals Die Fortsetzung von »Der Schatz im Flaschenhals«von Andreas Arz

Prolog

Zwei Schüsse hallten durch das Rheintal, gefolgt von einem Schrei. Schwer getroffen taumelte der teuflische Achmandor zurück und ließ das Messer fallen, mit dem er auf Kommissar Kießling eingestochen hatte, der vor ihm lag. Das Boot, auf dem der Kampf um Leben und Tod stattgefunden hatte, raste auf einen großen Felsen im Rhein zu. Arnold schleuderte die Pistole auf den Boden des Bootes, von dem aus er aus kurzer Distanz auf Kießlings Angreifer im anderen Boot gefeuert hatte. Er fuhr heran, signalisierte dem Kommissar mit lauten Rufen, herüberzuspringen, bevor er mit Achmandor am Felsen zu zerschellen drohte. Mit einem beherzten Sprung schaffte es Kießling auf das sichere Boot und die beiden Freunde sahen zu, wie Achmandor in seinem Boot gegen den Felsen krachte und von der Strömung des Rheins verschlungen wurde.

Zwei Jahre waren seitdem vergangen und bis heute wachte Arnold Jäger schweißgebadet auf, wenn ihn diese Stunden im Traum verfolgten. Nie war er dem Tode so nahe gewesen, zu keiner Zeit vorher war ihm bewusst gewesen, dass es erbarmungslose Mächte gab, die vor nichts zurückschreckten, um ihre niederträchtigen Ziele durchzusetzen. War das die Reifeprüfung, ein Teil des Erwachsenwerdens gewesen? Doch der Preis war zu hoch, damals verlor er fast sein Leben. Der Lohn für diese Strapazen war im Gegenzug kein geringer. Nachdem er mit Kommissar Kießling, dessen Assistentin Ella und dem Pathologen Dr. Berger den mordenden Orden um seinen Anführer Magnus Frater Achmandor ausgeschaltet und daraufhin das Ziel der Begierde, den Goldschatz, auf dem Friedhof in Ransel gefunden hatte, war seine Geschichte das große Thema in allen Medien. Viele neue vermeintliche Freunde tauchten auf und wollten Teil des Lebens des heldenhaften Arnold Jäger sein. Ihm selbst war der Rummel unangenehm. Als bescheidener Jungwinzer war er solchen Lärm nicht gewohnt. Ihm fehlten Ruhe und Besinnung, um diese hochemotionale Zeit besser verarbeiten zu können.

Kommissar Kießling, Ella und Dr. Berger erging es nicht anders. Ihre Leistungen wurden hochgelobt, Kießling gar als »Superbulle« in den Zeitungen gefeiert. Es hagelte Auszeichnungen, Ehrungen und Beförderungen, und sie genossen die hohe Anerkennung in der Bevölkerung. Alles nichts für den kernigen Kommissar. »Brauch ich nicht!«, waren seine Worte, wenn ein Journalist anfragte oder er mit Lob überschüttet wurde. Er war glücklich, wenn er nach Dienstschluss auf seiner Harley Davidson durch den Rheingau brettern konnte, um im Idealfall bei seinem neuen Freund Arnold ein Glas Riesling zu trinken.

Anderen war es nicht so gut ergangen. Pfarrer Jonas, der durch seinen Verrat am Orden vielen Menschen das Leben gerettet hatte, wurde zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Vor Gericht bereute er seine Taten und seine Mitgliedschaft in einem derart ruchlosen Orden zutiefst. Dennoch sprach ihn das weltliche Gericht nicht von seinen Sünden frei, und so akzeptierte er seine Strafe stillschweigend.

Der Schatz aus dem Flaschenhals wurde kurz nach dem Fund ausgegraben und von Wissenschaftlern in mühsamer Kleinarbeit monatelang katalogisiert und untersucht. Immer wieder berichteten die Forscher der Öffentlichkeit beeindruckt, welch bedeutender Fund entdeckt worden sei. Viele Menschen pilgerten nach Lorch und Ransel, um die Schauplätze der aufregenden Geschichte selbst zu erkunden. Auf dem Höhepunkt der Begeisterung kündigte das Wiesbadener Museum eine Ausstellung an, in der jeder den Schatz aus dem Freistaat Flaschenhals würde bewundern können.

Bei all dieser Aufregung übersah man jedoch, dass Achmandors Leiche nicht gefunden worden war. Wochenlang wurden die Ufer des Rheins nach den sterblichen Überresten des Verbrechers abgesucht. Aber Achmandor wurde nicht gefunden. Die starke Strömung des Flusses trug ihren Teil dazu bei. Am Ende hieß es, der Rhein habe ihn verschlungen und nicht mehr ausgespuckt. Damit war das Thema für die meisten erledigt, und das Leben ging weiter.

Für Arnold und Kießling war das Thema aber noch lange nicht vorbei. Bei jedem Schatten, der sich in der Dunkelheit bewegte, drehten sie sich um und gaben sich ihrer Angst hin, die ihnen seit jenem Tag in den Knochen steckte. Keiner von beiden konnte an den Tod Achmandors glauben. Sie bezeugten zwar, wie sein Körper von zwei Kugeln getroffen mit einem Boot auf dem Rhein an einem Felsen zerschellte. Doch Achmandors Hass und die Sorge, dass der Scherge irgendwann hassgetrieben zurückkehren könnte, war in ihren Köpfen fest verankert. Auch weil in den vergangenen zwei Jahren am Rhein keine menschlichen Überreste an Land gespült worden waren, bestand ihre Angst weiterhin.

Dr. Berger und Ella hingegen schlossen schnell mit der Vergangenheit ab. Der Gerichtsmediziner war kurze Zeit nach den Vorfällen wieder voll in seinem Element und konzentrierte sich auf die Aufgaben, die auf seinem Tisch in der Pathologie in Wiesbaden landeten. Ella hatte es geschafft, ihre Geiselnahme durch den Orden hinter sich zu lassen. Sie war eine selbstbewusste Frau und fand schnell zurück in ihren Alltag.

Der Kontakt war geblieben. Die Ereignisse der Vergangenheit schmiedeten die Gruppe fest zusammen, was zu einer tiefen Verbundenheit führte. Nicht selten trafen sie sich auf ein Glas Wein in der Laube von Arnolds Nachbarn Willi. Für ihn war die Bekanntschaft mit Arnold die Initialzündung für seinen Rentneralltag. Als gute Seele, die immer ein offenes Ohr für alles und jeden hatte, stand er Arnold mit Rat und Tat zur Seite. Insbesondere wenn es darum ging, Feinheiten aus seinem Weinkeller zu verkosten.

Der Tag, an dem der Schatz aus dem Flaschenhals endlich der Öffentlichkeit präsentiert werden sollte, rückte näher. Die Presse wartete in freudiger Erregung und die Kulturwelt stand ihr darin in nichts nach. Es lief eine große Werbekampagne, weit über die Grenzen des Rheingaus hinaus bis in die letzte Ecke des Landes. Doch wie der Volksmund weiß, werfen große Ereignisse ihre Schatten voraus und so erzeugte die Ausstellung ein Gefühl des Unbehagens bei Kießling und Arnold. Zwar fühlten sie in den vergangenen zwei Jahren ständig von Vorahnungen verfolgt, doch mit dem näher rückenden Termin der Ausstellungseröffnung erst wurden sie greifbar. Es schien, als breite sich über alle ein riesiger Schatten aus, dessen Ausmaß niemandem bewusst war. Kießlings alter Ausbilder an der Polizeischule hatte seine Schüler immer mit schlauen Sätzen zu beeindrucken gewusst. Einer davon war dem Kommissar in Erinnerung geblieben:

»Fragt euch immer, ist die Geschichte abgeschlossen oder wurde nur ein Kapitel beendet?«

Kapitel 1

Pfarrer Jonas im Gefängnis

Der aufkommende Abend vertrieb das Sonnenlicht aus der Wiesbadener Justizvollzugsanstalt. Es dauerte nicht lange, bis die Gänge nur noch von dreckigen Lampen spärlich beleuchtet waren, die graue Wandfarbe mutierte zu einem bedrückenden, schwarzen Schleier. Die meisten Gefangenen waren in ihren Zellen und die Schließer sicherten eine Tür nach der anderen. Das Knarren der alten, schweren Zellentüren war das einzige Geräusch, das noch in den Gefängnishallen zu hören war. Es war ein deprimierender Ort, kein Platz für Menschen, die ihre Sünden bereuten und Buße tun sollten. Doch diese Menschen hatten keine andere Wahl. Alle hatten ihr Schicksal selbst gewählt und sich für den dunklen Weg entschieden, einen Weg, der sie hierher geführt hatte. Für die einen würde es eine lange Zeit hinter diesen Mauern werden, andere hatten die Möglichkeit, nach kurzer Zeit wieder in ein normales Leben zurückzukehren. So unterschiedlich die Menschen in diesem Gefängnis waren, eines verband sie: Schuld!

Auch Pfarrer Jonas trug Schuld auf seinen Schultern. Zwar wurden durch seine Einsicht viele Leben gerettet und Unheil abgewendet, doch kam diese Umkehr zum Guten zu spät. Oft fragte er sich während seiner Haftstrafe, ob er an irgendeinem Punkt in seinem Leben einen anderen Weg hätte gehen können. Er fühlte sich wohl in der Stadt Lorch, hatte viele Freunde und sich ein neues Leben aufgebaut, fernab seiner dunklen Vergangenheit, die ihn letzten Endes doch wieder eingeholt hatte. Der Tag, an dem er zu seinem Mobiltelefon griff und dem teuflischen Achmandor nach Jahren der Stille berichtete, dass ein Stück des Schatzes aus den Zeiten des Freistaats Flaschenhals in Lorch wieder aufgetaucht war, war so ein Scheidepunkt gewesen. Denn der Anruf löste eine Verkettung von Elend und Tod aus, an dessen Anfang der Lorcher Museumskurator Dr. Meinhaus stand. Oft gingen Pfarrer Jonas die immer gleichen Fragen durch den Kopf: ›Was wäre gewesen, wenn ich an diesem Tag das Telefon in der Schublade gelassen hätte? Wären die Ereignisse nicht so gekommen, wie sie eingetreten waren? Oder hätte sich alles nur zeitlich verschoben? Vielleicht wäre der Schatz im Flaschenhals niemals gefunden worden und kein Leben hätte derart tragisch enden müssen.‹ Fragen, die im Nachhinein niemand beantworten konnte. Fest stand, dass Pfarrer Jonas an diesem Tag zu seinem Telefon gegriffen und damit das Todesurteil für Dr. Meinhaus unterzeichnet hatte. Diese Schuld hatte er zu tragen und niemand konnte sie ihm abnehmen.

Nachdem er zwei Jahren seiner Gefängnisstrafe abgesessen hatte, wurde er vorzeitig entlassen. Die Umkehr zum Guten und seine Hilfe, durch die auf der anderen Seite viele Leben gerettet worden waren, rechnete ihm das Gericht an. Seine Haftstrafe wurde zur Bewährung ausgesetzt und plötzlich war Licht am Ende des Tunnels zu sehen. Wenige Tage musste er noch im Gefängnis überstehen, bis ihn ein neues Leben in Freiheit erwartete. Nachdem der Ausschuss seine Freilassung bewilligt hatte, überlegte Pfarrer Jonas, wie seine Zeit nach dem Gefängnis aussehen könnte. Die katholische Kirche sprach eine Suspendierung aus. Mit dieser Beugestrafe wurde ihm die Amtsausübung verboten, aber das Leben bot so viele neue Möglichkeiten. Dieser Gedanke spendete ihm Trost in den dunklen und tristen Nächten im Gefängnis, die langsamer verstrichen als am Tag. Aber immer wieder verschwand die Hoffnung, die von den Gedanken an die Freiheit ausgelöst wurde, so schnell, wie sie gekommen war. Düstere Erinnerungen tauchten auf und brachten Pfarrer Jonas bis an den Rand der Verzweiflung. Auch im Gefängnis verfolgte er die Presse und hörte ständig Neuigkeiten über den legendären Schatz im Flaschenhals. Die Neuigkeiten lösten sich rasend schnell ab, jede Meldung wurde fast täglich von einer neuen Sensation abgelöst. Auf eine Nachricht wartete er allerdings vergeblich: »Achmandors Leiche nach langer Suche aus dem Rhein geborgen.« So sehr er sich wünschte, diese Schlagzeile morgens in der Zeitung zu lesen, so sehr wurde er jeden Morgen aufs Neue enttäuscht. Das war sein Alltag, der durch seine Freilassung endlich wieder Sinn erfahren sollte.

Es war kalt an diesem Abend. Ein muffiger Geruch dominierte Pfarrer Jonas Zelle so intensiv, dass ihm das Atmen schwerfiel. Er lag auf seinem Bett und lauschte, wie die Schließer eine Tür nach der anderen schlossen und sicherten. Sein Blick war auf die Decke gerichtet. Er fixierte das schummrige Licht und hoffte, dass die Nacht schnell vorbeigehen würde. Keine Minute länger wollte er in diesem Loch verbringen. Die Türgeräusche wurden weniger, die Beamten waren fast durch mit ihrer Arbeit. Schon hörte er die Nachbartür ins Schloss fallen und wartete, dass seine Tür als letzte in der Reihe geschlossen werden sollte. Doch nichts passierte, es blieb still. Kein Ton drang mehr vom Gang in seine Zelle. Pfarrer Jonas stutzte, da seine Tür weiterhin offen stand. Irritiert schaute er auf die geöffnete Tür. Dann war ein lautes Klacken zu hören und im selben Moment erloschen die Lampen auf dem Gang, nur eine dürftige Notbeleuchtung spendete etwas Licht. Pfarrer Jonas beschlich ein ungutes Gefühl. Irgendetwas stimmte hier nicht. Hatten die Wärter seine Zelle einfach vergessen? Andere plausible Erklärungsversuche gingen ihm durch den Kopf, aber keiner war realistisch. Niemals würde das Gefängnispersonal eine Zelle vergessen. Die Schließung erfolgte nach einem strengen Protokoll. Was war hier los?

Der suspendierte Pfarrer richtete sich auf und setzte sich mit geradem Oberkörper auf die Bettkante. Noch immer fixierte er die offene Tür. Langsam stand er auf und ging vorsichtig in Richtung Gang. Er blickte sich kurz in seiner Zelle um, suchte nach einem Gegenstand, mit dem er sich vielleicht verteidigen könnte, aber er fand nichts Brauchbares. So bewegte er sich immer weiter nach vorn, lauschte dabei auf jeden Ton, der seine Ohren erreichte. Dann steckte er den Kopf vorsichtig durch die geöffnete Tür und blickte prüfend in beide Richtungen. Bedingt durch das schummrige Licht konnte er nicht viel erkennen, weshalb er sich nur langsam durch den Gang vorantastete. Pfarrer Jonas wurde die Situation immer unheimlicher. Selbst am Ende des Ganges, wo die Wärter ihre Stube hatten, brannte kein Licht. »Wo sind die nur alle?«, fragte er sich. Schweißtropfen bildeten sich auf seiner Stirn und bahnten sich langsam ihren Weg über das Gesicht. Mit seinem Ärmel trocknete er die Augen, damit sie nicht brannten und er weiterhin seine Umgebung sehen konnte.

Plötzlich blieb er stehen. In einem Schattenfeld vor ihm hatte sich etwas bewegt. Er starrte aufgeregt auf diesen Punkt im Gang. War dort wirklich etwas oder spielte seine Fantasie ihm einen Streich? Sekunden verstrichen, ohne dass er sich rührte. Zögernd setzte er seinen Weg schließlich fort und ging auf den Schatten zu. Je näher er kam, desto größer wurde seine Nervosität. Etwas war in diesem Schatten, das die Quelle für seine Anspannung sein musste. Er war überzeugt, dass er sich nicht irrte, hoffte aber im gleichen Moment, dort nichts zu finden. Dann hörte er ein Geräusch. War es leises Atmen? Er blickte nach vorn. Aus dem Dunkel funkelten zwei Punkte auf der Höhe seines Kopfes, die ihn zu fixieren schienen. Als er den Atem nun klar hören konnte, blieb Pfarrer Jonas wie versteinert stehen. Die Augen näherten sich und eine Silhouette zeichnete sich in der Dunkelheit ab und dann erkannte er eine Ordenskutte. Eine helle Reflexion zog seinen Blick nach links unten. Die Reflexion schnellte nach oben und aus dem Schatten stürmte eine Gestalt auf ihn zu. Ein Messer blitzte auf und fuhr in Richtung seiner Kehle. Pfarrer Jonas riss die Arme hoch, konnte den Angriff abfangen und wurde von der Wucht des Stoßes an die Wand geschleudert. In den Zellen knarrten die Betten. Die anderen Gefangenen nahmen die Kampfgeräusche wahr und pressten ihre Ohren neugierig an die Türen, um zu erfahren, was vor sich ging.

Pfarrer Jonas wehrte sich mit ganzer Kraft gegen den Angreifer, der mit aller Macht versuchte, das Messer in der Kehle des Pfarrers zu versenken. Mit den Armen versuchte Pfarrer Jonas, die Hiebe von seinem Körper fernzuhalten. Dabei fuhr die Klinge durch seine Gefängniskleidung ins Fleisch und schnitt tiefe Wunden in seinen Körper. Sein Blut klebte an der Wand und verteilte sich auf dem Boden. Immer wieder griff sein Gegenüber an. Pfarrer Jonas konnte nicht um Hilfe rufen, denn seine Luft reichte gerade noch, sich auf den Beinen zu halten und sich nicht seinem Schicksal zu ergeben. Die Gefangenen schlugen mit den Fäusten an ihre Türen, denn sie hatten erkannt, dass draußen jemand um sein Leben kämpfte, und hofften, dass sich ein Mithäftling gegen die ungeliebten Wärter auflehnte. Nie hätten sie gedacht, dass einer von ihnen gerade einen unerbittlichen Überlebenskampf auf dem Flur ausfechten musste.

Pfarrer Jonas Schreie wurden lauter. Mit letzter Kraft stieß der ehemalige Priester seinen Kontrahenten von sich und versuchte, in seine Zelle zu flüchten. Schwer verletzt schleppte er sich über den Gang und stürzte in seiner Zelle zu Boden. Als er sich umdrehte und nach oben blickte, stand der Ordensbruder mit gezücktem Messer in der Tür. Blut tropfte von der Klinge auf den Boden. Schwer gezeichnet blickte Pfarrer Jonas in die Augen seines Gegners. Sie glühten und waren voller Hass, der ihm entgegenschlug. Langsam bewegte er sich auf den am Boden liegenden Häftling zu. In den anderen Zellen lauschten die Insassen wie gebannt den Geschehnissen, hofften, endlich mehr von den Ereignissen da draußen zu erhaschen. Doch es wurde still. War der Kampf etwa schon vorbei? Plötzlich erfüllte ein gellender Schrei den Gefängnistrakt, der selbst den eingesperrten Mördern das Blut in den Adern gefrieren ließ. Viele ließen von ihren Türen ab und begaben sich in die Mitte ihrer Zellen, starrten auf die Tür. Was war da draußen passiert, das diesen entsetzlichen Schrei ausgelöst hatte? Die Zeit verstrich, ohne dass etwas passierte. Erst Minuten später durchbrachen schnelle Schritte die Stille auf dem Gang, danach war es wieder ruhig. Dann ertönte ein lautes Klacken und das Licht im Trakt ging an. Mehrere Beamte stürmten mit gezücktem Schlagstock hinein und blieben kurz an der Stelle stehen, wo der Kampf entbrannt war, und starrten entsetzt auf das Blut. Ein Beamter zeigte auf die offene Tür von Pfarrer Jonas’ Zelle. Schnell eilten die Wärter an das Ende des Ganges und blickten in die Zelle. Einer von ihnen wandte sich beim Blick in den Raum sofort ab und wich tief entsetzt zurück. Die anderen schauten erschrocken in den Raum. Der erste Wärter fand zuerst seine Sprache wieder und murmelte schockiert: »Was in Gottes Namen ist hier passiert?«

Einige Sekunden später antwortete sein Kollege: »Eins kannst du mir glauben, das hier hat nichts mit Gott zu tun!«

Die drei aus der Laube

Es war ein Tag wie aus dem Bilderbuch. Die Nachmittagssonne verlieh der Luft einen zarten Hauch von Wärme und strahlte dabei majestätisch in das Rheintal. Die Bürger der Rheingauer Weinstadt Lorch schlenderten gemütlich an der Rheinpromenade entlang und genossen das Leben. In den Weinbergen klapperten ein paar Traktoren, die die geernteten Trauben in die Keller transportierten.

Wie viele andere Lorcher wollten drei Männer an diesem Nachmittag ein paar entspannte Stunden genießen. In einer kleinen Weinlaube, die versteckt im Hinterhof von Willi Laggei lag, machte der es sich mit seinem Nachbarn, dem Winzer Arnold Jäger und dem Kriminalhauptkommissar Maximilian Kießling gemütlich. Auf dem Tisch reihten sich ein paar Weinflaschen aneinander, die sich mit der Zeit auf drei Gläser verteilten. Die Stimmung war locker, alle drei waren bester Stimmung. Kießling erzählte von vergangenen Fällen, die Willi wiederum mit seinem unnachahmlichen Charme kommentierte.

»Eines kann ich euch sagen, das war einer der absurdesten Fälle, die ich jemals aufklären musste.«

»Na, jetzt bin ich aber mo gespannt«, sagte Willi, dessen ausgeprägter Lorcher Akzent jeder Konversation eine heitere Note verlieh.

»Ja, dann fall mir nicht immer ins Wort. Hast mittlerweile deine Nase auch schon wieder viel zu tief ins Glas getunkt«, scherzte Kießling und fuhr fort: » Also, dieses Mannsbild wollte seine Frau mit Schlaftabletten umbringen. Anstelle der Tabletten mischte er ihr allerdings eine Überdosis Abführmittel in den Abendtee.«

Arnold und Willi grinsten bis über beide Ohren. Kießling erzählte seine Geschichten voller Inbrunst und gestikulierte dabei mit Händen und Füßen.

»Dieser Spezialist hatte die Schlaftabletten im Medizinschrank versteckt und als er zur Tat schreiten wollte, griff er zur falschen Packung.«

»Wie kam es raus, dass er seine Frau umbringen wollte? Hätte ja auch einfach ein dummer Zufall sein können«, fragte Arnold.

»Seine Frau ging immer nach dem Abendtee ins Bett. Er verließ noch mal die Wohnung, angeblich, um einen Spaziergang zu machen. Danach wollte er nach Hause zu kommen, seine tote Frau vorfinden, um daraufhin dramatisch den Notarzt zu alarmieren.«

»Und das ging in die Hos’!«, folgerte Willi.

»Im wahrsten Sinne des Wortes. Anstelle seiner toten Frau fand er eine ganz andere Situation vor, als er erwartet hatte.«

»Das kann ich mir vorstellen«, sagte Arnold und lachte lauthals. »Aber wie kam es nun am Ende des Tages raus?«

»Nun ja, als er nach Hause kam und feststellte, dass er das falsche Medikament erwischt hatte, versuchte er seine Frau auf der Toilette zu erwürgen. Dabei hatte er nicht mit den Verteidigungskünsten seiner Gattin gerechnet, die ihm mit dem Porzellanhalter der Klobürste eins über den Schädel zog.«

»Herrliche Geschichte, wie ging es zu Ende?«

»Ein Nachbar rief die Polizei, da die ganze Szene nicht in Zimmerlautstärke ablief. Auf dem Polizeirevier gestand der Mann letztlich seinen diabolischen Plan.«

»Na des is’ ja mal ‘ne heitere Geschicht’«, sagte Willi und hob sein Weinglas.

Die drei stießen mit ihren Weinrömern an und nahmen einen beherzten Schluck vom Riesling. Nachdem sie ihre Gläser wieder auf dem Tisch abgestellt hatten, verzog Arnold seine Miene und wirkte bedrückt.

»Was is’ los, Bub?«, wollte Willi wissen.

»Ach, es ist eigentlich nichts, aber in den letzten Tagen sind die Zeitungen voll von der Ausstellung des Schatzes und das Telefon steht nicht mehr still, weil permanent Journalisten anrufen und eine Stellungnahme wollen.«

Kießling stimmte mit ein: »Da kann ich ein Lied von singen. Unsere Presseabteilung geht mir schon seit Tagen auf den Keks, ich solle doch offiziell an der Eröffnung teilnehmen. Das stehe unserer Dienststelle gut zu Gesicht.«

Es war Kießling und Arnold deutlich anzusehen, dass neben den Pressegeräuschen und der wachsenden Aufmerksamkeit für ihre Personen noch etwas anderes an ihnen nagte. Willi hatte in dieser Hinsicht wieder einen guten Riecher und fühlte den beiden auf den Zahn.

»Jetzt babbelt nit um de’ heiße Brei, da is’ doch noch was anderes?«

Arnold schluckte, schaute tief in sein Weinglas und nahm einen kräftigen Schluck, der fast einem Seufzer glich.

Kießling überlegte kurz und sagte dann bedrückt: »Alle plappern nur noch von dieser verdammten Ausstellung und dem tollen Schatz. Dass das Ding einige Opfer gefordert hat und Arnold und ich fast bei den Fischen im Rhein gelandet wären, davon redet niemand.«

Willi nickte. Er konnte sich vorstellen, auf was der Kommissar hinaus wollte.

»Ich versteh euch, Jungs, so ein Erlebnis is’ nit einfach wegzustecke’.«

Ein kurzes Schweigen erfüllte die Runde. Dann sprang Arnold auf, griff nach der Weinflasche und füllte schwungvoll die Gläser auf.

»Jetzt aber Schluss mit dem Trauerspiel, wir sind hier ja auf keiner Beerdigung. Lasst uns lieber noch ein paar feine Gewächse probieren.«

Das war die perfekte Reaktion zum richtigen Zeitpunkt. Willi und Kießling stimmten sofort mit ein und ließen die Gläser klingen. Die Stimmung stieg wieder und die Mienen der drei hellten sich auf.

Auf der Straße vor dem Haus fuhr unterdessen eine Zivilstreife der Polizei vor. Die Geschwindigkeit und das stümperhafte Einparken auf dem Bordstein ließen erahnen, dass etwas passiert sein musste. Kießling war in der Weinlaube bereits auf den Lärm von der Straße aufgemerkt geworden. Als Polizeibeamter waren ihm diese Geräusche geläufig und sie bedeuteten nie etwas Gutes.

Aus dem Wagen stieg Kießlings Assistentin Ella Nilsson. Sie ließ die Autotür halb offen stehen und ging durch das Eingangstor geradewegs in die Laube.

Willi begrüßte Ella überschwänglich: »Ei, das hübsche Fräulein Nilsson, welch Glanz in meinem Garte.« Dabei stand er auf und drückte Ella.

Sie freute sich ebenfalls, Willi wiederzusehen, besonders aber Arnold, dem sie über Willis Schulter einen sanften Blick zuwarf.

Kießling unterbrach die Begrüßungsszene: »Ella, ich hoffe, du bist hier, um mit uns ein Glas Wein zu trinken. An meinem freien Tag akzeptiere ich keine andere Erklärung für spontane Besuche.«

Ella löste sich vorsichtig aus Willis Umarmung und rückte dann mit der Sprache heraus.

»Ich habe versucht, dich telefonisch zu erreichen, aber es ging nur die Mailbox ran.«

»Wie ich sagte … freier Tag!« Kießling strahlte sie an und erhob erneut das Weinglas.

»Ich habe schlechte Nachrichten, es gab einen Vorfall in der JVA«, sagte Ella.

»Was ist passiert?«

Ella beobachtete einen Spatzen, der neben dem Tisch kleine Krümel aufpickte. Ihr war bewusst, dass die Information Kießling und Arnold aufschrecken würde. Sie selbst hatte ebenfalls ein traumatisches Erlebnis durchgemacht und jetzt drohte alles wieder hochzukommen.

»Pfarrer Jonas ist gestern Abend im Gefängnis ermordet worden.«

Es wurde totenstill in der Laube. Alle waren wie erstarrt, selbst Willi fehlten die Worte.

»Was ist passiert?«, fragte Kießling.

»Ich denke, das erzähle ich dir besser unterwegs.«

Ella wollte bewusst keine Details weitergeben. Ihr waren schon einige Umstände durch die Meldung der Gefängnisleitung bekannt und sie war sich sicher, dass der mysteriöse Tathergang alte Narben aufreißen würde.

Kießling stand auf und spülte den Schrecken mit einem kräftigen Schluck Wein runter.

»Fahren wir!«

Ella nickte und winkte Arnold mit einer kurzen Handbewegung zum Abschied zu. Der erwiderte die Geste mit einem Lächeln, erhob sich dann aber von der Bank und rief den beiden hinterher: »Meldet euch, wenn ihr Genaueres erfahren habt!«

Kießling hob den Daumen und verschwand mit Ella durch die Eingangstür. Er setzte sich auf den Beifahrersitz, starrte seine Assistentin an und fragte, getrieben von einer gewissen Hoffnungslosigkeit: »Ich gehe davon aus, dass der arme Teufel nicht auf einem Stück Seife ausgerutscht ist?«

»Ich fürchte nicht.«

Der Motor heulte auf und Ella jagte mit quietschenden Reifen in Richtung JVA.

Arnold und Willi blieben in der Laube zurück, die gute Stimmung war dahin. Beide nippten vorsichtig an ihren Weingläsern und jeder hoffte, dass der andere mit einem positiven Gedanken die gefühlte Eiseskälte aus der Laube scheuchen würde. War selbst der fröhliche Willi an einem Punkt angekommen, an dem es ihm die Sprache verschlug? Niemals! Je mehr Tröpfchen vom Lorcher Riesling seine Lippen benetzten, desto breiter wurde sein schelmisches Grinsen.

Arnold blickte ihn fragend an. »Was ist dir denn in den Sinn gekommen, dass du schon wieder grinsen kannst?«

»Ach, ich musst’ nur an meinen Vadder denke. Der hat immer gesagt, wenn wir dachte’, es geht nimmer weiter:

Hab keine Angst und verlier’ nie de’ Mut,

auch wenn dir einer was Böses tut.

Schau raus aus dem Fenster, da beschützt uns Vater Rhein

und am End’ vom Tag bleibt noch ein Keller voll Lorcher Wein!

Dabei hob Willi sein Glas und hielt es Arnold zu einem Prosit entgegen. Der amüsierte sich über die Bauernweisheit seines Nachbarn und fühlte die gute Gemütslage von vorhin wiederkommen.

Im Gefängnis

Ella und Kießling hatten auf der Fahrt in die Justizvollzugsanstalt nicht das Glück, einen Willi auf der Rückbank zu haben, der mit einem lockeren Spruch die Stimmung auflockerte. Der Kommissar starrte vor sich hin, sprach kein Wort. Ella schaute alle paar Minuten zu ihm und versuchte, seine Gefühle zu ergründen. Sie konnte sich vorstellen, was in seinem Kopf vorging, ihr erging es nicht anders. Aber es brachte nichts, sie mussten sich der Realität stellen und den objektiven Blick eines Polizeibeamten aufsetzen.

Kießling unterbrach das Schweigen: »Also, was ist da passiert?«

»Die Faktenlage ist bis jetzt recht dünn. Die diensthabenden Beamten in der JVA haben Kampfgeräusche aus dem Bettentrakt gehört und sind sofort mit Verstärkung in den Block gestürmt. Sie folgten den Spuren des Kampfes bis in Pfarrer Jonas’ Zelle und dort machten sie die böse Entdeckung.«

Kießling verzog ungläubig das Gesicht. Diese Mimik setzte er immer auf, wenn ihm etwas zutiefst dubios vorkam.

»Das ist doch schon wieder total abgedreht, genau wie damals, als der Museumsdirektor auf der Schlachtbank landete.«

Damit spielte er auf den Mord vom Lorcher Museumsdirektor Dr. Meinhaus vor zwei Jahren an. Auch damals wurde er zu einem bizarren Tatort gerufen.

Sie setzten die Fahrt durch den Rheingau fort und kamen dreißig Minuten später an der JVA in Wiesbaden an. Kießling steckte sich einen Kaugummi in den Mund, schließlich wollte er ungern nach Alkohol riechen.

»Kaugummi statt Spundekäs?«, fragte Ella sarkastisch.

»Der steht jetzt noch bei Willi im Kühlschrank. Den Nachmittag hatte ich mir definitiv anders vorgestellt. Den Spundekäs kann Arnold sich jetzt mit dem alten Haudegen schmecken lassen.«

»Falls ihnen nicht der Appetit vergangen ist«, merkte Ella süffisant an.

Kießling zog die Augenbrauen hoch und schaute seine Assistentin genervt an.

Dann ging alles seinen üblichen Gang. Kießling klingelte an der Eingangspforte, ein Beamter öffnete die Tür, der Kommissar zog seinen Ausweis hervor und zeigte ihn vor.

»Kießling und Nilsson von der Mordkommission. Wir sollen hier sauber machen.«

»Dann kommen Sie mal rein«, sagte der Beamte, »da haben Sie wohl einiges zu tun.«

Kießling verzog wieder das Gesicht und murmelte: »Na wunderbar.«

Die beiden betraten die JVA und folgten dem Beamten zum Tatort, aber sie wurden vor dem Eingang zum Schlaftrakt vom Anstaltsdirektor abgepasst.

»Guten Abend, sind Sie die Beamten von der Mordkommission?«

»Ja, Kießling und Nilsson, was haben wir hier?«

»Ah gut, mein Name ist Keller, ich bin der Anstaltsdirektor«, stellte Keller sich vor und fuhr fort: »So etwas hatten wir hier noch nie. Die Kollegen sind ganz verstört, keiner hat jemals so ein Szenario erlebt.« Der Direktor wedelte aufgeregt mit den Armen hin und her. Für Kießlings Geschmack war der Direktor etwas zu aufgeregt. Selbstverständlich war ein Mord keine alltägliche Angelegenheit, selbst nicht in einem Gefängnis. Doch wer jeden Tag mit dem Abschaum der Gesellschaft zu tun hatte, sollte ein wenig abgebrühter sein, dachte der Kommissar, während er den Ausführungen Kellers folgte.

Nach ein paar weiteren Minuten unterbrach er den Direktor.

»Vielen Dank für Ihre anschauliche Beschreibung, aber meine Kollegin und ich würden jetzt gerne den Tatort inspizieren.«

»Bitte folgen Sie mir.«

Auf dem Weg zu Pfarrer Jonas’ Zelle standen noch einige Justizvollzugsbeamte verstört beieinander und unterhielten sich. Ihnen war anzusehen, dass etwas Grauenhaftes vorgefallen war, ihre Anspannung fühlte sich an wie das Vibrieren, das man unter Hochspannungsleitungen spürt. Kießling drang ein Gestank in die Nase, den er sehr gut kannte und an den er sich trotz der langen Jahre bei der Mordkommission nie gewöhnen konnte: der Geruch des Todes. Es war ein beißender Geruch, durchsetzt von beginnender Verwesung, altem Schweiß und getrocknetem Blut. Er hatte nichts von einem Toten, der friedlich im Krankenhaus oder in den eigenen vier Wänden verstorben war. So roch es nur, wenn ein Mensch ermordet worden war. Als würde sich die Grausamkeit der Tat in Gestank umwandeln, der für ewig am Tatort haften bliebe.

Mittlerweile war es draußen dunkel geworden und der Gang wurde nur von dem schummrigen Licht der dreckigen Lampen erleuchtet. Ella und Kießling waren gespannt, was sie in der Zelle von Pfarrer Jonas erwarten würde. Die ganze Atmosphäre und die Umstände ähnelten denen vor zwei Jahren, als sie an den Mordschauplatz des Lorcher Museumsdirektors Dr. Meinhaus gerufen worden waren. ›Geht es etwa schon wieder los?‹, fragte sich der Kommissar. Kurz vor der Zellentür blieb Keller stehen. »Ich bitte um Verständnis, dass ich nicht weitergehe, ich kann mir das nicht noch mal anschauen.« Er drehte sich zur Seite und machte den Weg für Kießling und Ella frei, ohne noch einmal einen Blick in die Zelle zu werfen. Kießling ging voran und Ella blieb hinter ihm, blickte ihrem Chef aber über die Schulter in den Raum hinein. Ein Bild des Grauens tat sich vor ihnen auf. Am Boden saß oder besser gesagt lag ein mit Stofffetzen ans Bett fixierter Leichnam, den Kopf verhüllt, der ganze Körper war blutverschmiert. Die Gefängniskleidung war zerrissen und die Brust lag frei. Unter dem blutigen Fetzen entdeckte Kießling etwas auf dem Oberkörper. Er trat näher heran und wich entsetzt zurück, versuchte, die Fassung zu bewahren. Der Anblick ließ selbst den gestandenen Kommissar an seiner Standhaftigkeit zweifeln. Er näherte sich wieder dem Leichnam, fixierte mit seinem Blick das schemenhafte Zeichen, das durch die zerfetzte Kleidung kaum verborgen wurde. Schnell holte er ein Tuch aus seiner Tasche, um keine Beweise zu gefährden, und entfernte vorsichtig ein Stück Stoff. Zum Vorschein kam das, was er befürchtet hatte: das Zeichen des Ordens. Ein Kreuz, umschlossen von einer Pyramide, war mit einem Messer in das tote Fleisch von Pfarrer Jonas’ Leichnam geritzt worden. Kießling versuchte, den Kopf der Leiche zu heben, der vollkommen in ein Stück Stoff eingewickelt war. Wieso der Mörder dies getan hatte, war dem Kommissar schleierhaft.

Kießling drehte sich zu einer Assistentin: »Ella, ruf die KTU. Die sollen hier alles abriegeln und untersuchen. Danach sollen sie den Leichnam zu Dr. Berger in die Pathologie schaffen.«

»Geht klar, Chef«, antwortete Ella pflichtbewusst.

Kießling stand auf und entfernte sich von der Leiche. Viele Fragen gingen ihm durch den Kopf, doch eine quälte ihn ganz besonders: ›Wie zur Hölle ist der Mörder hier unbemerkt rein und raus gekommen?‹ Doch zuerst musste er andere Dinge klären. Er sah sich oberflächlich in der Zelle um. Auf den Regalen an der Wand standen einige Bücher, kleine, beschriftete Zettel markierten vermutlich wichtige Stellen. Zwischen den Büchern klemmten lose Papiere. Kritisch streiften seine Blicke über die Gegenstände in der Zelle. »Die KTU soll hier alles einsammeln, ich will wissen, was der Pfarrer auf die Zettel gekritzelt und welche Bücher er gelesen hat. Jedes einzelne Detail.«

»Ok, ich werd’s weitergeben, sonst noch was?«, fragte Ella.

Kießling zögerte einen Moment und antwortete: »Ja, ich will noch mal mit diesem Keller sprechen.«

Ella nickte und verließ erleichtert die Zelle. Sie hatte gehofft, dass ihr Chef sie mit irgendeiner Aufgabe betrauen würde, Hauptsache, raus aus diesem Raum.

Während seine Assistentin den Anstaltsdirektor suchte, blieb Kießling noch einen Moment in der Zelle und betrachtete den Leichnam. Dabei murmelte er: »Komm schon, erzähl mir, was hier passiert ist.« Wobei er weniger die Leiche ansprach, sondern eher seine Intuition. Die hatte schon vorhin angeschlagen, als Direktor Keller wild gestikulierend die Szenerie beschrieben hatte. Der Raum, die Leiche, der JVA-Direktor – alles kam ihm irgendwie falsch vor. Noch hatte Kießling keine Ahnung, wie alles zusammenpasste, doch Bruchstücke setzte er bereits vor seinem inneren Auge zusammen.

Ella steckte den Kopf in die Zelle. »Der Direktor ist hier.«

Kießling nickte, drehte sich um und ging raus in den Gang. Keller stand abseits der Tür und vermied dabei jeden Blick in den Raum. Kießling trat vor ihn und schaute ihm prüfend ins Gesicht, was dem Direktor zunehmend unangenehm wurde.

»Weswegen möchten Sie noch mal mit mir sprechen?«, begann Keller, um von Kießlings starren Blicken abzulenken.

»Können Sie sich das nicht denken?«

»Sie müssen entschuldigen, ich habe hier zwar tagtäglich mit Verbrechern zu tun, doch so etwas übersteigt auch meinen Horizont.«

Kießling erzeugte bewusst Spannung. Er sah dem Direktor an, dass der etwas zu verbergen hatte.

»Das kann ich natürlich nachvollziehen, aber würde es Sie als Direktor nicht interessieren, wie diese Sauerei hier zustande gekommen ist?«

»Ja natürlich, Herr Kommissar, das muss selbstverständlich geklärt werden«, sagte Keller und senkte seinen Blick. Dann fuhr er fort: »Ich und meine Mitarbeiter unterstützen Sie selbstverständlich, wo immer es geht.«

»Da bin ich sicher. Was denken Sie, was hier passiert ist?«

»Wenn ich das wüsste, wahrscheinlich war es ein anderer Häftling … ich kann es nicht sagen. Aber dafür sind Sie ja hier.«

Kießling nickte vielsagend. Es war offensichtlich, dass der Direktor etwas wusste und versuchte, sich herauszureden.

»Richtig, dafür sind wir hier.«

»War das dann alles?«, frage Keller, sichtlich mit den Nerven am Ende.

»Fürs Erste sind wir fertig«, entließ Kießling sein nervöses Gegenüber.

Keller nickte höflich, drehte sich um und verschwand schnellen Schrittes.

Ella und Kießling verfolgten ihn mit kritischen Blicken.

»Chef, der ist doch nicht sauber, oder was meinst du?«

»Natürlich nicht. Niemand kommt unbemerkt in eine JVA und richtet so ein Gemetzel an. Da hatte jemand Helfer.«

»Der Direktor?«

»Auf jeden Fall weiß er mehr, als er zugeben will. Aber ich würde sagen, die Strippen hat er nicht gezogen, dafür sind seine Hosen zu gestrichen voll.«

»Was sollen wir jetzt tun?«

»Wir beobachten und warten ab, was die KTU und die Gerichtsmedizin herausfinden.«

Ella und Kießling verließen den Tatort und überließen das Feld den eintreffenden Spezialisten.

Zeitgleich im Büro des Direktors

Keller betrat den abgedunkelten Raum und schloss hinter sich die Tür. Er musste mehrmals tief durchatmen, sein Puls schlug heftig. Mit einem gezielten Griff an seine Krawatte lockerte er den Knoten und schnappte nach Luft. Er ging zu seinem Schreibtisch und setzte sich auf den Stuhl. Anschließend öffnete er die oberste Schublade und holte ein Mobiltelefon heraus. Zitternd hielt er das Gerät mit der einen Hand und wählte eine Nummer, die er von einem zerknüllten Zettel ablas, den er in der anderen Hand hielt. Es klingelte, jemand nahm ab.

»Hier ist Direktor Keller, ich habe alles getan, was Sie verlangt haben.«

Eine tiefe, dunkle Stimme auf der anderen Seite der Leitung hauchte in das Telefon: »Bist du dir sicher, dass der Bruder seinen Weg zu unserem Schöpfer angetreten hat?«

»Ich habe alles getan, was Sie gesagt haben. Während der Wachablösung nach der Zellenschließung habe ich Ihren Mann hineingelassen und ihm später bei der Flucht geholfen.«

Die Stimme am Telefon schwieg. Direktor Keller wurde zunehmend nervöser. Große Schweißperlen sammelten sich auf seiner Stirn und rannen schließlich sein Gesicht herunter.

Dann schrie er ins Telefon: »Was ist mit meiner Familie?«

Ein teuflisches Lachen erklang.

»Mach dir keine Sorgen, sie warten unversehrt in eurem Haus auf dich. Du warst mir gut zu Diensten, daher habe ich ihnen das Leben geschenkt.«

Keller brach in Tränen aus. Es knackte in der Leitung, dann wurde es still. Der Mann mit der dunklen Stimme hatte aufgelegt.

Der Direktor rief zu Hause an. Ein junges Mädchen nahm den Hörer ab und fragte fröhlich ins Telefon: »Hallo, hier Jasmin Keller. Wer ist da?«

»Hallo, Jasmin, hier ist Papa, geht es euch gut?«

Da Mädchen fragte verdutzt: »Ja, na klar, wann kommst du nach Hause?«