Die Regeln des Spiels - Colson Whitehead - E-Book

Die Regeln des Spiels E-Book

Colson Whitehead

0,0

Beschreibung

Lässig, böse, humorvoll – der neue Roman von Colson Whitehead über die wilden Siebziger im schwarzen New York

Ray Carney will von krummen Geschäften nichts mehr wissen. Er hält sich raus aus dem täglichen Chaos New Yorks, wo Gangster sich Schießereien liefern und die Black Liberation Army zum bewaffneten Kampf aufruft. Wäre da nicht seine Tochter May mit dem schier unerfüllbaren Wunsch nach einem Ticket für das Konzert der Jackson Five. Ray muss sein altes Netzwerk aktivieren – auf die Gefahr hin, sich selbst wieder zu verstricken. Als in Harlem ganze Wohnblocks in Flammen aufgehen, beauftragt er Pepper, der wie kein zweiter Die Regeln des Spiels kennt, um für Gerechtigkeit zu sorgen. Whiteheads grandios unterhaltsamer Roman über das schwarze New York der wilden Siebziger ist ein großes Sittengemälde Amerikas.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 544

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.

Beliebtheit




Das ist das Cover des Buches »Die Regeln des Spiels« von Colson Whitehead

Über das Buch

Lässig, böse, humorvoll — der neue Roman von Colson Whitehead über die wilden Siebziger im schwarzen New YorkRay Carney will von krummen Geschäften nichts mehr wissen. Er hält sich raus aus dem täglichen Chaos New Yorks, wo Gangster sich Schießereien liefern und die Black Liberation Army zum bewaffneten Kampf aufruft. Wäre da nicht seine Tochter May mit dem schier unerfüllbaren Wunsch nach einem Ticket für das Konzert der Jackson Five. Ray muss sein altes Netzwerk aktivieren — auf die Gefahr hin, sich selbst wieder zu verstricken. Als in Harlem ganze Wohnblocks in Flammen aufgehen, beauftragt er Pepper, der wie kein zweiter die Regeln des Spiels kennt, um für Gerechtigkeit zu sorgen. Whiteheads grandios unterhaltsamer Roman über das schwarze New York der wilden Siebziger ist ein großes Sittengemälde Amerikas.

Colson Whitehead

Die Regeln des Spiels

Roman

Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl

Hanser

Für Clarke

RINGOLEVIO 1971

»Gauner bleibt Gauner, und krumm hasst gerade.«

1

Von da an musste er jedes Mal, wenn er den Song hörte, an Munsons Tod denken. Immerhin waren es die Jackson 5, die Ray Carney nach vier Jahren auf dem rechten Weg wieder ins Spiel brachten. Der rechte Weg — das bezeichnete eine Philosophie und ein Territorium, ein Viertel mit Grenzen und ortsüblichen Sitten. Manchmal, wenn er auf dem Weg zur Arbeit die Seventh Avenue überquerte, murmelte er die Worte vor sich hin wie ein Säufer, der versucht, auf dem Heimweg von den Bars nicht über den Bürgersteig zu torkeln.

Vier Jahre ehrlicher, einträglicher Arbeit in der Möbelbranche. Carney stattete Frischvermählte für ihre Entdeckungsreise aus und passte Wohnzimmer an verbesserte Lebensumstände an, lotste Ruheständler durch das ganze Spektrum moderner Ruhesessel-Optionen. Das war eine große Verantwortung. Erst vergangene Woche hatte ihm eine seiner Kundinnen gesagt, ihr Vater sei »mit einem Lächeln im Gesicht« im Schlaf verschieden, während er in einem bei Carney’s Furniture gekauften Sterling Dreamer gelegen habe. Der Mann habe fünfunddreißig Jahre lang als Installateur bei der Stadt gearbeitet. Seine letzte Empfindung auf Erden war die üppige Liebkosung dieses Polyurethan-Schaumkerns gewesen. Carney war froh, dass der Mann zufrieden abgetreten war; wie tragisch, wenn der letzte Gedanke »Ich hätte doch den Naugahyde nehmen sollen« gewesen wäre. Er handelte mit Zubehör. Mit stilvollen Accessoires für gesichtslose Räume. Das klang langweilig. War es auch. Es war außerdem stärkend, so wie zu schwach gewürztes Essen und verwässerte Drinks gleichwohl Nahrung, wenn auch kein Vergnügen bieten.

Es fand keine Abschiedsfeier statt, als er sein Amt niederlegte. Keiner überreichte ihm für seine vielen Dienstjahre eine goldene Uhr, aber an goldenen Uhren hatte es ihm auch nie gemangelt, seit er Hehler geworden war. An dem Tag, an dem Carney sein zweites Standbein aufgab, hatte er eine Schachtel voll davon in seinem Bürotresor, mit den Namen von Fremden gravierte Stücke. Er war damals schon eine ganze Weile nicht mehr bei seinem Uhrenabnehmer in Mott Haven gewesen. Sein Abschied vom Geschäft mit gestohlenen Gütern bestand im Wesentlichen darin, dass er frühere Kunden abwies und sie bat, in ihrem Zirkel weiterzusagen: Carney ist raus.

»Wie, raus?«

»Ich steige aus. Bin damit fertig.«

Die Tür auf die Morningside, einst in die Hauswand gebrochen, um das nächtliche Geschäft zu erleichtern, wurde zum unschuldigen Einlass für Nachmittagslieferungen. Zwei Wochen nach dem Fortuna-Raub klopfte Tommy Shush mit einer unter den Arm geklemmten, schwarzen Lederaktentasche an die Morningside-Tür. Carney warf einen Blick auf die Diamanten, um seine Entschlossenheit auf die Probe zu stellen — und wünschte dem Dieb viel Glück. Am nächsten Tag erschien nach Feierabend Cubby der Wurm, einer seiner weißen Stammkunden, mit »richtig heißem Zeug«. Cubby war auf ausgefallene Ware spezialisiert, die loszuschlagen Jahre dauerte — der Mann steckte bis über beide Ohren in chinesischen Pogo-Sticks und Strumpfhosen, die in Plastikeiern verpackt waren. Carney schickte ihn weg, ehe er den abwegigen Fang der Woche beschreiben konnte — nicht persönlich gemeint.

Nach und nach hörten sie auf vorbeizukommen, die Diebe, nur vorübergehend verstimmt, weil es in einem so riesigen, komplizierten und korrupten Unternehmen wie New York immer eine andere Hand, einen anderen Kanal, einen anderen möglichen Deal gab.

*

»Fassen Sie mal an — er beißt nicht. Man kommt sich vor, als greift man in eine Wolke am Himmel.«

Auf der anderen Seite des Ausstellungsraums zog Larry gerade einen Kunden an Land, ein verschrumpeltes Exemplar, das unentwegt ein rotes Barett in den Händen drehte. Mit hängenden Schultern und welk. Carney lehnte sich an den Rahmen seiner Bürotür und verschränkte die Arme. Eine verlässliche Untergruppe seiner Kundschaft bestand aus alten Männern, die viel Geld für einfache Dinge ausgaben, die sie sich lange versagt hatten. Dann bohrten sich die Federn des knarzenden Sessels durch zu viele Hosenböden, oder der Arzt verschrieb Mittel gegen Kreislaufprobleme und unklare Schmerzen, und sie kamen hierher. Carney war dankbar dafür, was er an ihnen hatte, und malte sie sich aus, die alten Männer, die allein in Eisenbahnerwohnungen mit schiefen Böden oder in trübe beleuchteten Einzimmerbuden hausten: Busfahrer, die sich nach einem neuen Lehnsessel umtaten, in dem sie sitzen und Suppe essen konnten, während sie über Rennprogrammen brüteten, Kassierer in Schnellreinigungen, die sich nach etwas sehnten, wo sie die müden Füße hochlegen konnten. Die Verlassenen. Sie feilschten nie um Preise, zwar verärgert darüber, ihre Ersparnisse angreifen zu müssen, zugleich aber stolz darauf, das Geld zur Hand zu haben.

Der fragliche Artikel war ein 1971er-Egon-Clubsessel mit Scotchgard-Tweedpolsterung. Ein auf Pro-Slide-Messingrollen schleichendes Ungetüm an Komfort. »Wolke am Himmel«, wiederholte Larry.

Als der Kunde in den Laden gekommen war, hatte er Larry die Hand gegeben und sich als Charlie Foster vorgestellt. Jetzt ließ er die Fingerspitzen über den grün-braunen Stoff tanzen und gluckste vergnügt wie ein Kleinkind.

Larry zwinkerte Carney zu. Als Rusty, Carneys langjähriger Verkäufer, sich den Rücken verrenkte und dreieinhalb Monate ausfiel, brauchte Carney einen Ersatzmann. Larry erschien am zweiten Tag der Vorstellungsgespräche und blieb.

Larry war eine Studie in beherrschter Ungezwungenheit, eine langsame Entfaltung reinen Stils. Begrüßte man ihn, wenn er zur Arbeit erschien, hob er zwei Finger zu einer Geduld heischenden Geste, als befände er sich gerade mitten in einem transatlantischen Gespräch mit einer ausländischen Macht, und reagierte erst, nachdem er seine gestreifte Weste, die Schlaghosen und den Bucket-Hut — oder was auch immer an diesem Tag das schicke Gefieder seiner Wahl war — abgelegt hatte. Sobald er seine Verkäufer-Kluft trug, ließ er endlich ein samtiges »Was liegt an, Baby?« vernehmen.

Er gehörte jener Gattung von schwarzem Akteur an, der sich so geschmeidig durchs Leben bewegte, dass alle anderen Baby waren — alter Mann, junge Mutter, rotgesichtiger Streifenpolizist. Der übliche Spießer würde ihn wegen seines kecken Lächelns und des Stroms rasanter Sprüche als glatt bezeichnen, was Larry als Kompliment auffassen würde. Im Verkauf war glatt ein Aktivposten. Er war erst einundzwanzig, hatte aber schon viele Leben gelebt, auch wenn Carney den Verdacht hegte, dass er, fünf Minuten bevor er ihn zum ersten Mal zu Gesicht bekommen hatte, fix und fertig einem Bottich Harlem Cool entstiegen war. Gardemanger in einem Hotel in der Madison Avenue; Formschnittgärtner auf zwei Friedhöfen; Chauffeur der Ehefrau eines Marmor-Magnaten aus Connecticut; Hundeausführer im Gotham Veterinary Center, wofür, wie Carney vermutete, irgendeine Spezialausbildung oder Genehmigung erforderlich war, aber egal. Und jetzt Deputy Sales Associate bei Carney’s Furniture in der 125th Street, »Gediegene Möbel für die Allgemeinheit seit über 15 Jahren«.

»Überstunden keine, an jedem Finger eine«, sang Carneys Sekretärin Marie gern und klaute die Melodie dazu aus der Patty Duke Show. Wie Carneys verstorbener Cousin Freddie beanspruchte Larry uptown, downtown und jeden Meridian des Vergnügens dazwischen als seine Jagdgründe. Sich Larrys Chroniken von New York bei Nacht samt deren vielfältigen Mitwirkenden anzuhören war so, wie wenn man in der guten alten Zeit von Freddie einen Bericht am Morgen danach bekommen hätte. Es hob Carneys Stimmung.

Carney behielt Larry, nachdem Rusty wieder auf die Beine gekommen war. Arbeit gab es mehr als genug, und Carney musste nicht mehr so viel Zeit im Verkauf verbringen. Es war, als wären sie im Laden schon immer zu viert gewesen. Auch wenn er zerknittert und übernächtigt war, ließ sich Larry das gegenüber den Kunden niemals anmerken. Lass deine Geheimnisse stecken — bei Carney’s Furniture eine unausgesprochene Arbeitsplatzanforderung. Manchmal trug Marie eine Sonnenbrille, um ein blaues Auge zu verdecken, haute ihren Mann Rodney aber nie in die Pfanne. Carney war natürlich geübt darin, seine dunklen Seiten zu verbergen. Nur Rusty war, was er zu sein schien, ein aus Georgia umgepflanzter, angenehmer Mensch, den die Stadt nach all den Jahren immer noch verwirrte. Soviel Carney wusste. Vielleicht war Rusty ja der versierteste Schauspieler von allen, rannte nach Feierabend durch die Gegend und führte Gehirnoperationen durch oder leitete SPECTRE.

Eine weitere Sirene heulte die Morningside Avenue herauf.

»Ist er denn auch stabil?«, fragte Charles Foster. »Ich hab gerne einen stabilen Sessel.« Er knuffte die linke Armlehne, als stupste er mit der Fußspitze eine Wasserwanze an, um sich zu vergewissern, dass sie tot war.

»Wie die U. S. S. Missouri, Baby«, sagte Larry. »Wer billig kauft, kriegt auch billig, stimmt’s? Egon verlangt einen anständigen Preis für diese Babys, aber dafür hat man lange was davon. So halten wir es hier auch. Setzen Sie sich, Brother, setzen Sie sich.«

Charlie Foster setzte sich. Er schien mit dem Clubsessel zu verschmelzen. Schüttelte, nach seinem Gesichtsausdruck zu urteilen, Jahre voller Sorge ab.

Die Sache ist unter Dach und Fach. Carney kehrte in sein Büro zurück. Den neuen Chefsessel hatte er im April gekauft, und vergangene Weihnachten hatte er neu streichen lassen, aber sein Büro hatte sich im Lauf der Jahre nur wenig verändert. Sein Betriebswirtschaftsdiplom hing noch am selben Nagel, das signierte Foto von Lena Horne hatte nach wie vor seinen Ehrenplatz. Die Geschäfte liefen gut. Sein Nebenerwerb als Hehler hatte es ihm und Elizabeth erlaubt, das Haus in der Strivers’ Row zu kaufen und, davor, aus der beengten Wohnung in der 127th Street herauszukommen. Hatte die Erweiterung des Geschäfts um die Räume der Bäckerei nebenan ermöglicht und ihnen geholfen, etliche Durststrecken durchzustehen. Aber der Kauf von 383 und 381 West 125th Street? Der verdankte sich komplett Carney’s Furniture. Er hatte Giulio Bongiovanni die beiden Gebäude in der ersten Januarwoche 1970 abgekauft. Ein neues Jahrzehnt voller Verheißung.

Wenn man ihm damals, bei Unterzeichnung des Mietvertrags, gesagt hätte, dass ihm die Bude eines Tages gehören würde, hätte er einen zum Teufel gejagt. Ein Stück weiter, im Hotel Theresa, hatte Carmen Jones Filmpremiere gefeiert, und während er zum ersten Mal die Schlüssel in der Hand hielt, kam es ihm so vor, als gelte der ganze Lärm und Lichterglanz ihm. Das Gebäude machte nicht viel her, könnte einem aber ein Vermögen einbringen. In den ersten beiden Jahren hatte er die Miete persönlich beim Sitz der Salerno Properties Inc. in der Fifth Avenue vorbeigebracht, denn er traute der Post nicht, als würden am Zweiten des Monats um 12 Uhr 01 die Marshals die Tür aufbrechen und seinen Scheiß auf die Straße werfen. Ihm war so, als wäre die 12-Uhr-01-Geschichte einem Bekannten von ihm oder einem Bekannten seines Vaters passiert, aber nun, da er in geregelten Verhältnissen lebte und ein mittleres Alter erreicht hatte, erkannte er, dass es sich um ein Märchen handelte. Höchstwahrscheinlich.

Zum ersten Mal begegnete Carney dem Vermieter, als er wegen der Erweiterung um die Räume der Bäckerei bei Salerno anrief. Einer der Stammkunden des Bäckers hatte sich beunruhigt, weil der Laden um fünf nach sieben immer noch zu war, dann hatte er die Beine hinterm Tresen hervorragen sehen. Aus Respekt vor dem Toten wartete Carney eine Dreiviertelstunde, ehe er sich nach dem Mietvertrag erkundigte.

Die Betreuung der Mieter überließ Giulio Bongiovanni seinen Mitarbeitern, aber auf Carney war er schon lange neugierig. Schon bevor Bongiovanni die Immobiliensparte von seinem Vater übernommen hatte, war 383 West 125th als Einzelhandelsstandort verflucht gewesen. Zwei Möbelgeschäfte, ein Herrenartikelgeschäft, zwei Schuhgeschäfte und noch etliche mehr waren nach Unterzeichnung des Mietvertrags rasch zugrunde gegangen, und das Pech war den Besitzern an den Fersen kleben geblieben, auch nachdem sie die Räumlichkeiten verlassen hatten. Krebsleiden, von denen man noch nie gehört hatte und die Körperteile befielen, von denen man noch nie gehört hatte, Scheidungen, die noch generationenlang Gegenstand von Familienrechtsseminaren bleiben sollten, eine Vielzahl von Haftstrafen. Einer war vor einem Nonnenkloster von einem großen Gegenstand zerquetscht worden. »Irgendwann hatte ich regelrecht Angst davor, es zu vermieten«, sagte Bongiovanni zu Carney.

»Mir geht es ganz okay«, sagte Carney. Der Mann unterzog ihn einem Noch-nie-einen-Schwarzen-wie-dich-gesehen-Blick, keine ganz neue Erfahrung für Carney. Nach seiner Einschätzung kam dieser Blick in letzter Zeit insgesamt häufiger vor. Snackbars, die Wahlkabine, als Nächstes betreiben sie noch erfolgreiche Möbelgeschäfte in Harlem.

»Mehr als okay«, sagte Bongiovanni und erteilte Carney die Erlaubnis, die Wand zur Bäckerei zu durchbrechen.

Giulio Bongiovannis Wurzeln in der 110th Street reichten weit zurück, in eine Zeit, als Harlem das größte Little Italy auf dieser Seite des Atlantiks gewesen war. Er redete wie einer aus der Gegend, stach jedoch durch seine engen Polyester-Polohemden und seinen Muscle-Beach-Körper hervor. Nach seinem Erfolgsrezept gefragt, schrieb er seine gute Verfassung positivem Denken und Jack LaLanne, dessen Fernsehshow er sich täglich ansah, sowie den monatlichen Vitaminlieferungen zu. »Machen Sie mir bloß den Glamour Stretcher nicht runter«, sagte er und posierte mit um 45 Grad verdrehtem Oberkörper. »Das ist nicht bloß was für die Ladys, wie Sie selbst sehen können.«

Sein Großvater hatte zwei Lebensmittelgeschäfte in der Madison betrieben, und sein Vater hatte 381 und 383 West 125th Street als Kapitalanlagen gekauft, als die Juden aus dem sich verändernden Viertel abhauten. Die Lebensmittelgeschäfte florierten immer noch, obwohl die Bongiovannis nicht mehr im Obergeschoss wohnten. Sie hatten sich nach dem Zweiten Weltkrieg davongemacht, nach Astoria, und jetzt wollte Bongiovanni die Gegend endgültig verlassen. »Die Stadt geht den Bach runter«, sagte er zu Carney, als er ihm das Geschäft vorschlug. »Die Drogen, der Dreck. Ich gehe nach Florida.«

Carney fühlte sich zunächst geschmeichelt, dass der Italiener glaubte, er habe das nötige Kleingeld, um die zwei Gebäude zu kaufen, und vermutete dann sogleich, dass etwas nicht stimmte und Bongiovanni ihm Schrottimmobilien andrehen wollte. Dass die Stadt drauf und dran war, sie für abbruchreif zu erklären, irgendeine teure Katastrophe im Abwasserkanal oder das endgültige Fälligwerden der endgültigen Version des Fluchs von Ecke 125th und Morningside. Nichts davon bewahrheitete sich, obwohl Mrs. Hernandez in Apt. 3 R von 381 an ihrer Badezimmerwand einen mysteriösen Fleck hatte, der jedes Mal wiederkehrte, wenn er ausgebessert und überstrichen wurde, und der eine unheimliche Ähnlichkeit mit Dwight Eisenhower aufwies, ein Fluch, wie er im Buche stand. »Er starrt mich an«, sagte sie.

Bongiovanni fragte Carney, ob er bereit sei, Vermieter zu werden. »Leute rufen einen zu allen Tages- und Nachtzeiten an, das Wasser ist zu kalt, die Heizung ist zu kalt, meine Frau hasst mich?«

Carney gedachte sich an ihren Klagen und Beschwerden gütlich zu tun, als wären sie ein großes, blutiges Steak mit Kartoffeln. »Ja.«

»Braver Mann.« Sie waren sich über die beiden Gebäude handelseinig geworden, und drei Monate später war Bongiovanni in Miami bei Freiübungen an der Sonne umgekippt — Aneurysma. Die Familie holte ihn nach Hause und beerdigte ihn bei seinen Vorfahren auf dem Old Cavalry Cemetery in Woodside, mit traumhaftem Blick auf den Expressway.

Fluktuation. Carneys Begriff für die Zirkulation von Waren in seiner illegalen Sphäre, den Tanz von Fernsehern, Diademen und Toastern von einem Besitzer zum nächsten, ein Vorgang, bei dem sie auf Brisen und Böen von Bargeld und krimineller Emsigkeit ins Leben von Menschen und aus ihm heraussegelten. Aber natürlich bestimmte Fluktuation auch die ehrliche Welt, machte das Leben von Wohnvierteln und Geschäften aus. Den Ein- und Auszug von Ladenbesitzern in und aus 383 West 125th Street, die wechselnden juristischen Personen in den beurkundeten Verträgen downtown, in der Hall of Records, das Menuett der Marken im Verkaufsraum.

Carneys legales Gewerbe hatte sich in den vier Jahren seines Ruhestands als Verbrecher gewandelt. Argent, sein größter Kunde, der Name, auf dem er seinen Laden aufgebaut hatte, war 68 von Sterling aufgekauft worden, die deren Produktlinien zwei Jahre später auslaufen ließen. Sears schluckte Bella Fontaine und übernahm den Alleinvertrieb. Collins-Hathaway verhoben sich bei ihrer Expansion nach Kanada und verschwanden während der letztjährigen Rezession vom Markt. Carney ließ ihr Vertragshändler-Schild als Andenken über seinem Schreibtisch hängen.

Um die Lücke in seinem Warenangebot zu füllen, schloss Carney einen Vertrag mit DeMarco, dem amerikanischen Ableger des großen norwegischen Konzerns Knut-Bjellen, derzeit spezialisiert auf niedrige, kastenartige »Lifestyle-Komponenten«. Palette: Erdfarben. Marktanalysen ergaben, dass der US-Kunde »ausländisch« klingenden Haushaltsprodukten misstraute, also benannte DeMarco seine Produkte für den amerikanischen Markt um, sein modulares Sofasystem in »Homesteader« und seinen Ruhesessel in »Mitt«. Die Sachen liefen gut, deshalb war es Carney egal, wie sie hießen.

Seine einzige Klage betraf die Fotoshootings für die DeMarco-Prospekte und Kataloge, die in weit entfernten Ski- und Berghütten stattfanden. Riesiges Kaminfeuer, drum herum arrangiert rost- und senffarbene Lifestyle-Komponenten, weiße Ladys mit Pelzmuffen und weiße Typen in Rollkragenpullovern in dämlicher Glückseligkeit auf dem Flauschteppich lagernd. Carney wollte seine Leute nicht in eine Schublade stecken, aber er fragte sich, wie viele von seinen Kunden sich dort wiederfanden. Der Flauschteppich.

»Willkommen in meinem Chalet«, sagte Carney jedes Mal, wenn der neueste Katalog kam.

Hoffentlich mögt ihr Nigger Fondue, schaltete sich Freddie aus dem Jenseits ein.

Schon wieder eine Sirene. In den Mauern von Carney’s Furniture fanden Geschäfte, ordnungsgemäße Geschäfte, statt, aber draußen auf der Straße galten Harlem-Regeln: grob, chaotisch, banaler als das schwarze Schaf der Familie. Die Sirenen sausten zu allen Zeiten so regelmäßig wie Subways gemäß Katastrophenfahrplan die Avenues hinauf und hinunter. Wenn nicht die Cops bei einem Noteinsatz, dann ein Krankenwagen in rasender Fahrt, um ein Verhängnis abzuwenden. Eine Feuerwehr, die zu einem verlassenen Mietshaus jagte, ehe der Brand den ganzen Block auffraß, oder unterwegs zum warmen Abriss eines sechsstöckigen Gebäudes, drinnen noch ein Dutzend Familien.

Carneys Vater hatte zu seiner Zeit ein, zwei Gebäude abgefackelt. Konnte die Miete davon zahlen.

Das war die Sirene eines Funkstreifenwagens. Carney stellte sich zu Larry und Charlie Foster ans Fenster. Auf der anderen Seite der 125th nahmen sich zwei weiße Polizisten einen jungen Mann in dunkler Jeansjacke und roten Schlaghosen vor, hatten ihren Wagen auf den Bürgersteig gesetzt. Die Cops schubsten den Mann gegen das Schaufenster von Hutchins Tobacco, bekannt für Zigaretten ohne Steuermarke und für seinen Ungezieferbefall. Das Fliegenpapier war das ganze Jahr über ausgebucht, komplett belegt, die Schokoladenriegel in der Süßigkeitenvitrine gründlich befallen. Hutchins schloss seine Ladentür ab und starrte durchs Glas, die Hände in die Hüften gestemmt.

Der Fußgängerverkehr in der 125th umkurvte das Hindernis im Strom. Die meisten blieben nicht stehen, war nichts Besonderes, dass einer hochgenommen wurde. Wenn nicht hier, dann woanders. Aber die Menschenjagd machte die Leute nervös, störte ihre gewohnten Abläufe. Sie drückten sich in der Nähe herum, raunten sich gegenseitig Kommentare zu, bedachten die Polizisten mit provozierenden Zurufen, wenn auch aus sicherer Entfernung, die von ihrer Angst zeugte.

Der größere Cop kickte dem Mann die Füße auseinander und tastete die Innenseite seiner Beine ab. Ein Zuschauer heulte: »Pfoten weg von seinen Eiern!«

»Was hat er gemacht?«, fragte Carney.

»Die haben angehalten und sind auf ihn los, als hätte er eine Bank überfallen«, sagte Larry.

»Spielen völlig verrückt«, sagte Charlie Foster. »Suchen nach diesen Black Panthers.«

»Black Liberation Army«, sagte Larry.

»Ist doch das Gleiche.«

Carney wollte nicht unterbrechen, wenn ein Fisch an der Angel hing, aber bei dem Konflikt zwischen den Panthers und ihrer Splittergruppe, der Black Liberation Army, ging es um mehr als um Namen. Der philosophische Dissens umfasste die Stimmung der Straße, die aktuelle Haltung der Staatsgewalt gegenüber Harlem und sämtliche Sirenen. Aus einigem Abstand betrachtet, enthielt er vielleicht sogar alles.

*

»Reform im Gegensatz zur Revolution«, erklärte Carney seinem Sohn. Zweieinhalb Wochen zuvor, am 12. Mai. Im Prozess gegen die 21 Panthers war das Urteil gefallen, und John hatte Fragen.

»Es ist wie in meinem Laden«, sagte Carney. »Eine Reform verändert, was bereits da ist, um es besser zu machen, zum Beispiel fleckenabweisende Polsterung oder Füße mit Rädern, dann Füße mit Bremsen an den Rädern. Kennst du die Castro-Schlafcouch?«

John nickte. Vor der Fernsehwerbung gab es kein Entrinnen.

»Die Schlafcouch ist eine Revolution«, sagte Carney. »Nimmt sämtliche Vorstellungen, die wir vom Schlafen, von Raumnutzung haben, und stellt sie auf den Kopf. Wohnzimmer? Zack — das ist jetzt ein zusätzliches Schlafzimmer.« Er hielt inne. »Ich wette, du hast nicht gewusst, dass der Erfinder des Schlafsofas ein Schwarzer war.«

John schüttelte den Kopf.

»Leonard C. Bailey, Geschäftsmann und Bastler. Hat 1899 ein Patent für ein zusammenklappbares Bett angemeldet, das die U. S. Army in Serie produziert hat. Das kannst du nachschlagen. Eine Revolution.«

Er war in jenes Stadium im Leben eines Schwarzen eingetreten, in dem ihn an manchen Tagen nur die Aussicht, Geschichten von schwarzen Pionieren und vergessenen Visionären seines Volkes teilen zu können, aus dem Bett brachte.

John nickte vage. Carney nahm Fahrt auf. »Die Panthers eröffnen Tafeln, sie haben dieses Gratisfrühstücksprogramm, Rechtshilfe — also Reform. Die BLA will das ganze System stürzen.«

»Wenn sie für Reformen sind, warum haben diese Panthers dann versucht, die Subway in die Luft zu jagen?«

»Dass die Cops das behaupten, heißt noch lange nicht, dass es auch stimmt.«

An jenem Nachmittag war der längste und teuerste Prozess in der Geschichte New Yorks mit einem überraschenden Freispruch zu Ende gegangen. Die 21 Panthers waren zwei Jahre zuvor verhaftet worden, aufs Kreuz gelegt von Undercover-Cops, die die Organisation infiltriert hatten. Sie wurden des Mordversuchs, der Brandstiftung etc. in 156 Fällen angeklagt, da sie sich angeblich verabredet hatten, den Bronx Botanical Garden, ein paar Subway-Linien sowie, als Zugabe, Alexander’s, Korvettes, Macy’s und andere Kaufhäuser in die Luft zu jagen. Die Einzelhandelsziele waren vermutlich ein Antikapitalismus-Ding, aber was sie gegen Blumen hatten, blieb unklar.

John fragte, ob sie auch Carneys Laden in die Luft jagen wollten. Carney sagte ihm, es gäbe wahrscheinlich noch eine Menge weiße Läden in die Luft zu sprengen, ehe seiner an die Reihe käme.

Die Geschworenen brauchten anderthalb Stunden, um zu beraten, und zwanzig Minuten, um einhundertsechsundfünfzig Mal »Nicht schuldig« vorzulesen. »Die Undercover-Beamten haben ihre Geschichten frei erfunden.« Eine demütigende Wende für Frank Hogan, den Staatsanwalt von Manhattan. Wie weit ist es gekommen, wenn man nicht mal mehr einen Haufen Neger mit getürkten Beweisen verknacken kann?

»Warum sollten die Cops lügen?«, sagte John.

»Warum lügt überhaupt jemand?« Manche Dinge muss ein Junge selbst herausfinden.

Carney versuchte sich vorzustellen, er hätte als kleiner Junge seinen Vater nach politischen Aktionen gefragt. Undenkbar. In Big Mike Carneys Augen waren die Bürgerrechtler — »diese sogenannten rechtschaffenen Brothers« — Gauner wie er. Wie viel sahnten sie ab, wenn sie für Suppenküchenspenden die Hand aufhielten, wie viel von den Betriebskosten steckten sie in die eigene Tasche, wenn sie für ein neues Freizeitzentrum das Band durchschnitten? Wenn man von Gaunereien lebt, sieht man sie überall, die Möglichkeiten, die kleine Ritze, wo eine unternehmungslustige Seele vielleicht ein Stemmeisen ansetzen könnte.

Für einen schwarzen Jungen, der in Manhattan aufwuchs, hatte John eine herzbewegend naive Haltung. Ums Überleben zu kämpfen förderte schnelles Denken; John nahm sich die Zeit, die Welt aus jedem Blickwinkel zu betrachten, und beanspruchte den Luxus der Bedächtigkeit als sein gutes Recht. Manchmal sah Carney ihn als Version des Jungen, der er selbst hätte werden können, wenn er in einer anderen Wohnung groß geworden wäre, wo Essen im Schrank war, wenn er von der Schule nach Hause kam, und eine Mutter ihn begrüßte, eine, die nicht jung gestorben war. Ein Vater, der kein krummer Hund war. Es gefiel Carney, dass es irgendwo eine Version dieses Jungen gab, auch wenn es nicht er sein konnte.

May schlug ihrer Mutter nach. Streitbar und selbstsicher, eine unnachgiebige Fünfzehnjährige. Eine Woche nach dem Prozess gegen die 21 Panthers frühstückten Carney und die Kinder im Esszimmer. Um einen väterlichen Muskel zu trainieren, hatte Carney sein Chock-Full-o’-Nuts-Ritual ausgelassen, wollte vor der Schule Zeit mit John und May verbringen.

May tippte mit dem Finger auf die Zeitung. »Das sind ein paar schwere Jungs«, sagte sie.

Carney nahm die Times zur Hand. Jemand hatte die Verantwortung für den Anschlag auf die Polizei am Mittwochabend übernommen. Zwei Cops, die Frank Hogans Wohnung bewachten, befanden sich in kritischem Zustand, niedergemäht von »zwei jungen Schwarzen« in einem Auto. Hogan lebte seit vergangenem Sommer unter Bewachung, seit dem Brandanschlag auf das Haus von John Murtagh. Wer war John Murtagh? Der Richter im Prozess gegen die 21 Panthers.

Vergangenen Abend hatten die Attentäter Päckchen beim Gebäude der New York Times und am Sitz des WLIB im Theresa, von Carneys Laden aus ein Stück die Straße runter, abgegeben. Die Päckchen enthielten jeweils eine Patrone vom Kaliber .45, die Nummernschilder des bei dem Angriff beobachteten Autos, und eine Mitteilung:

19. Mai 1971

Alle Macht dem Volk!

Hier sind die Nummernschilder, nach denen die Schweinepolizei des faschistischen Staats sucht. Wir schicken sie zum Zeichen dafür, dass die unterdrückten Völker die Macht haben, für revolutionäre Gerechtigkeit zu sorgen.

Die bewaffneten Totschläger dieser rassistischen Regierung werden es wieder mit Gewehren oder den unterdrückten Völkern der Dritten Welt zu tun bekommen, solange sie unsere Community besetzt halten und im Namen von amerikanischem Recht und Ordnung unsere Brüder und Schwestern ermorden. So wie die faschistischen Marines und die Army Vietnam im Namen der Demokratie besetzt halten, im Namen des Imperialismus vietnamesische Menschen ermorden und sich mit den Gewehren der vietnamesischen Befreiungsarmee konfrontiert sehen, so werden sich auch die inneramerikanische bewaffnete Macht, der Rassismus und die Unterdrückung mit den Gewehren der schwarzen Befreiungsarmee konfrontiert sehen, die in der Tradition von Malcolm und allen wahren Revolutionären für echte Gerechtigkeit sorgen wird.

Alle Macht dem Volk!

Gerechtigkeit

Vom Satzbau wurde einem schwindelig, aber das Wesentliche kriegte er mit. »Militant«, sagte Carney.

»Irgendwer muss es sagen«, sagte May. »Vietnam. Das Ghetto. Das ist das Gleiche.«

»Die Weißen sind jedenfalls ganz schön auf Trab.«

»Das ist nicht komisch.« Sie entriss ihm die Zeitung wieder.

»Ich lache nicht.«

»Hast du die Tickets besorgt?«

Carney wand sich. »Ich hab dir doch gesagt, dass sie ausverkauft sind, Schatz.«

»Du hast gesagt, du besorgst welche.«

John fuhr mit einem Stift durch ein Labyrinth auf der Rückseite der Honey-Comb-Schachtel.

Am nächsten Abend erfolgte ein weiterer Angriff, diesmal erfolgreich. Am Samstagvormittag ging Carney die Bücher durch, dabei hörte er 1010 WINS, um Gesellschaft zu haben. Alle Nachrichten, zu jeder Zeit. Der Nachrichtensprecher erwähnte die Colonial Park Houses in der 159th. Carney hatte Kunden, die dort wohnten, er hatte Waren dorthin geliefert. Kurz nach 22 Uhr am Freitagabend waren die Polizeibeamten Waverly Jones und Joseph Piagentini, als sie zu ihrem Streifenwagen zurückkehrten, von Schüssen in den Rücken niedergestreckt worden. Jones war schwarz; er wurde zweimal getroffen. Piagentini, den weißen Cop, trafen acht Schüsse. Tante Millie hatte Dienst im Harlem Hospital, als man die beiden einlieferte. »Es war eine verdammte Schweinerei.« Bürgermeister Lindsay nahm, im Fernsehen zu Tränen gerührt, an den Beerdigungen teil.

Die New Yorker Polizei bezeichnete ihre Reaktion als Machtdemonstration. »Eine scheiß Belagerung«, nannte es ein Mann, der in der Schlange im Chock Full o’ Nuts vor Carney stand, beim Bezahlen seiner Tüte Donuts. »Ich war im Krieg.« Streifenpolizisten überwachten Straßenecken, Streifenwagen in nie gekannter Zahl befuhren die Straßen, als zusätzliche Schutzmaßnahme von Zivilfahrzeugen begleitet. Mitternächtliche Razzien bei Verdächtigen. Aktivisten und prominente Figuren der Bürgerrechtsbewegung auf einschlägigen Listen wurden verhaftet. Das Ganze erinnerte Carney an die Unruhen von 64 oder 68, nach der Ermordung von King. Es wurde eine spezielle Hotline eingerichtet, die man anrufen konnte, wenn man etwas wusste.

Im Präsidium hatte man den Zusammenhang mit der BLA zunächst heruntergespielt, aber inzwischen ritt man ständig darauf herum, wie Carney auffiel. In den nächsten Tagen folgten drei weitere, nicht tödliche Angriffe auf Polizisten — dieselben Leute oder Nachahmungstäter? Edward Kiernan, Vorsitzender der Patrolman’s Benevolent Association, hielt im Fernsehen Piagentinis von Kugeln durchsiebtes Hemd hoch und beschwor jeden Cop, im Dienst eine Schrotflinte zu tragen. »Bei einer Pistole stehen die Chancen fünf zu eins, dass man vorbeischießt«, sagte er, »aber bei einer Schrotflinte stehen sie neunundneunzig zu eins, dass man trifft.«

Das war Lynchmord-Gerede. Percy Sutton sagte ihm, er solle das lassen — Tuskegee Airman, Anwalt von Malcolm X und derzeit Bezirksbürgermeister von Manhattan, ein Name, bei dem Big Mike die Augen verdreht hätte. »Wir sind hier in New York City, nicht in Alabama«, sagte er. »Bei uns gibt es keine ›Schrotflinten-Justiz‹.«

Die Tage verstrichen. Die Menschenjagd hörte nicht auf. Die Sirenen auch nicht.

*

Die erste Juniwoche. Beginn eines weiteren glutheißen New Yorker Sommers. Die Klimaanlage über der Eingangstür ächzte und hustete wie ein Stadtbus, aber sie erledigte ihre Arbeit.

Unter dem Gerät war es kühl. Carney, Larry und Mr. Foster standen dort beieinander. Carney vermutete, dass sich die Menschenansammlung auf der anderen Straßenseite aus verschiedenen Uptown-Fraktionen zusammensetzte: Sympathisanten der Bewegung, von der Gegenkultur besoffene junge Leute, revolutionär Gesinnte, die es missbilligten, wenn man Cops in den Rücken schoss; und diejenigen, die einfach nur ihren Geschäften nachgehen wollten, ohne in irgendwas reingezogen zu werden. Wie zum Beispiel Mr. Charlie Foster, dessen Miene angesichts der Darbietung sauer wurde.

Ein dunkelbrauner Plymouth kam um die Ecke gebogen und scheuchte die Schaulustigen hupend auseinander. Er hielt am Bordstein an, ihm entstiegen zwei weiße Zivile. Der Festgenommene schüttelte den Kopf, während sie auf ihn einbrüllten.

»Schweine«, sagte Larry.

»Als ich jung war, haben sie einen zum Krüppel geschlagen, wenn man sie so genannt hat.«

»Constables«, korrigierte sich Larry.

Die Uniformierten legten dem Mann Handschellen an. Einer der Zivilen packte ihn mit einer Hand im Genick und schob ihn mit der anderen vorwärts. Als Carney klein gewesen war, hatte sein Vater zwischen zwei Jobs immer in der Miracle Garage gearbeitet. Pat Baker, der Besitzer, hatte hinterm Haus einen grauen Hund, und wenn der irgendwo einen Haufen machte, packte Baker den Hund im Genick und stieß ihn mit der Schnauze hinein. Genauso packte der Cop den Mann im Genick.

Einen Moment lang schien es so, als starrte er Carney in die Augen, aber so wie die Sonne stand, konnte der Mann bestimmt nur sein eigenes, im Schaufenster reflektiertes Gesicht sehen. Zu dieser Tageszeit verwandelten die Lichtverhältnisse in der 125th Street alles in einen Spiegel. Die Zivilen beförderten ihn auf den Rücksitz. Die Limousine ruckte an und entfernte sich vom Bürgersteig. Der Streifenwagen folgte.

Ein hochgewachsener Brother mit einem Schlapphut aus Wildleder hatte angefangen, »Power to the People« zu skandieren, aber niemand ließ sich anstecken. Mit der Abfahrt der Cops hielt die Leute nichts mehr fest. Sie setzten sich in Bewegung, als wäre die Fußgängerampel von DONT WALK auf WALK umgesprungen. Von GAFFEN auf NICHT GAFFEN.

Charlie Foster räusperte sich und setzte sein Barett auf. Irgendetwas hatte ihn von dem Kauf abgebracht, man sah es seiner Haltung an. »Ich muss es mir noch mal überlegen«, sagte er.

Larry erhob Einwände. Carney verzog sich in sein Büro. Das wurde nichts.

Eine Minute später stand Mr. Foster auf der Straße. Manchmal hatte Carney Lust zu sagen: »Nun kaufen Sie ihn schon, Herr des Himmels. Gönnen Sie sich was!« Manche schwarzen Männer dieser Generation erzogen sich regelrecht dazu, nicht zu dürfen, all die Charlie Fosters, die sich schon seit der Zeit vor Carneys Geburt alles versagten. Er malte sich aus, welche Einsamkeit Foster zu Hause erwartete — dann riss er sich zusammen. Vielleicht war der Mann glücklich und zufrieden und stemmte den ganzen Tag quiekende Enkelkinder wie Hanteln. Er wusste nichts von diesen Männern, ihren Entscheidungen und deren Folgen. Bloß, dass sie nach einem bequemen Sessel suchten. Ab und zu stilisierte er eine persönliche Furcht zu einer allgemeinen Befindlichkeit.

Er nahm den Stapel »Memorial Day Sonderangebot«-Plakate vom Schreibtisch und warf ihn in den Papierkorb. Die Sachen hatten sich verkauft wie geschnitten Brot, er würde das jetzt jedes Jahr machen. Als er gehört hatte, dass man den Decoration Day umbenennen und vom 30. Mai auf den letzten Montag im Mai verlegen wollte, hatte er nicht gewusst, was das sollte. Gegen die Einnahmen hatte er allerdings überhaupt nichts. Langes Wochenende, viel freie Zeit, da dachte man schon mal an Einrichtungsgegenstände. Nach seiner Erinnerung war es das erste Mal, dass er eine Maßnahme der Regierung guthieß.

Über Carneys Schreibtisch, links von dem Fenster zum Verkaufsraum, hing das Polaroid, das Rusty 1961 vor dem Laden von ihm, Elizabeth und den Kindern aufgenommen hatte. Ganz gleich, wann ein Foto aufgenommen worden war, Elizabeth sah immer noch genauso aus: wunderschön und unerschütterlich. Es war ein schöner Samstag gewesen, sie hatten es gut miteinander gehabt und das herrliche Wetter genossen. Die Art, wie Mays Lippen geschwungen waren, verriet, dass sie sich ein Lächeln verkniff.

Er wollte sie nicht enttäuschen, aber er wusste nicht, an wen er sich noch wenden sollte. Er rief Larry herüber.

»Was liegt an, Baby?«

Carney sagte ihm, dass die Jackson 5 nächsten Monat im Madison Square Garden spielten.

»Ein ganz heißes Ding«, sagte Larry in müdem Insider-Ton. Aus einer früheren Inkarnation hatte er »Freunde in der Branche«, und gelegentlich versorgte er ihn, Rusty und Mary in Zeiten der Flaute mit dem unwahrscheinlichsten Klatsch. Einem Leckerbissen über den Mundharmonikaspieler auf dem dritten Album von War oder garantiert wahren Informationen von Aretha Franklins Zahnarzt.

»May fragt schon die ganze Zeit.«

Larry schüttelte den Kopf. »Wenn ich da was drehen könnte, würde ich selber hingehen.«

Carney hatte die Runde gemacht. Der Dumas Club: Fehlanzeige. Vertrauliche Informationen über Gesetzesvorhaben, wen man downtown schmieren musste, wann Einfluss die gängige Währung war und wann Bargeld — in solchen Sachen glänzten die Mitglieder des Dumas. Wenn es um Jackson-5-Tickets ging, waren sie nicht so ausgebufft. Lamar Talbot, den die Leute aus für Carney unerfindlichen Gründen den »schwarzen Clarence Darrow« nannten, hatte den Garden in einem Prozess wegen widerrechtlicher Tötung vertreten. Ein beim Gießen des Fundaments ums Leben gekommener Bauarbeiter, vielleicht auszubügeln, wenn man einen afroamerikanischen Anwalt am Tisch sitzen hatte. Keine Chance. »Ich hab denen den Hals gerettet, und das ist der Dank.«

Besonders erinnerte er sich, wie Kermit damit angegeben hatte, dass Berry Gordy, der Vater von Motown Records, sein Cousin sei. Nach einer Scotchverkostung hatte er ihn in die Enge getrieben. Wells behauptete, er, Carney, habe ihn missverstanden; die Freundin seiner Frau sei mit Berry Gordy verwandt, aber sie und seine Frau hätten sich verkracht. Außerdem, fügte Kermit hinzu, würde er sich die Tickets selber schnappen, wenn er da was machen könnte.

Carneys Schwiegervater Leland Jones hatte für etliche Anwälte und Manager aus der Unterhaltungsindustrie die Bücher frisiert, und dafür hatten sie ihn jahrzehntelang mit Konzertkarten versorgt. Es ging Carney gewaltig gegen den Strich, aber er haute ihn an. May zuliebe. Jedes Mal, wenn er in letzter Zeit Lelands Stimme hörte, kündete der zitternde Tonfall davon, wie sehr der Mann im Alter abgebaut hatte. Hatte Carney ihn einmal gehasst? Inzwischen waren große Emotionen Verschwendung. Er erkundigte sich nach den Kontakten des Alten im Showgeschäft.

»Mit Albert habe ich schon eine ganze Weile nicht mehr geredet«, sagte Leland. »Und Lance Hollis ist vor zwei Jahren gestorben.«

Neuerdings fürchtete sich Carney davor, das Radio einzuschalten, damit nicht einer ihrer gottverdammten Songs ihn an seinen Fehlschlag erinnerte. Wen hatte er vergessen?

Munson. Es war schon eine ganze Weile her.

Normalerweise hinterließ Carney eine Nachricht, wenn er im 28. Revier anrief. Der Mann war viel unterwegs. Heute nahm beim dritten Klingeln jemand ab. »Hat jemand Munson gesehen? Wer spricht da?«

Schon wieder eine Sirene. Er sagte seinen Namen.

Munson kam an den Apparat. »Carney«, wiederholte er, als hätte er Mühe, ihn unterzubringen. Die Stimme des Detective kratzte: »Warum habe ich daran nicht schon eher gedacht?«

Und Carney kehrte einfach so, in der Zeit, in der WALK auf DONT WALK umspringt, aus dem Ruhestand zurück.

2

Carney nahm an der Subway-Station 125th Street die Line 1 und ergatterte einen Platz auf der Ostseite des Wagens. Der Manhattan-Viadukt führte die Gleise in fünfundfünfzig Metern Höhe über den Broadway und die 125th, und wenn man die Nase nicht in einem Buch, der Tageszeitung oder dem zerfledderten Journal bereuter Entscheidungen hatte, bot die Aussicht eine angenehme Abwechslung von dem düsteren Tunnel. Für Carney besaß sie keinerlei Zauber. Säße er auf der anderen Seite, sähe er wahrscheinlich, schräg gegenüber von den Gleisen, seine alte Wohnung, die ihn jahrelang zum unfreiwilligen Publikum des absoluten Dauerbrenners der Subway-Überführung gemacht hatte. Es war die immer gleiche, ohne Abweichungen wiederholte Vorstellung, zu der sich der Vorhang mehrmals pro Stunde hob, um mittels Choreographie und Lärm unbarmherzig ein einziges Thema zu vertiefen: Du kannst dir keine bessere Wohnung leisten.

Rumpel, rumpel. Er nahm die 1 nicht mehr so oft wie früher, nachdem sie in die Strivers’ Row, in der Nähe der Seventh, gezogen waren. Seither war so viel Zeit verstrichen, dass er die Subway-Linie über der 125th inzwischen mit jener halbkriminellen Phase seines Lebens und deren beständigen Vertracktheiten assoziierte. Den einen Tag ging es um eine aufwendige Übergabe mit einem Dieb, der zu viel Angst hatte, um sich auf der Straße blicken zu lassen, und am nächsten um eine Transaktion mit einem paranoiden Diamantenhändler, der seine Rendezvous-Taktiken aus Spionagethrillern bezog. Mit diesen Leuten, dieser heimlichen Welt und ihren dämlichen Ritualen nichts mehr am Hut zu haben war eine Erleichterung.

Er verweigerte sich der Schlussfolgerung, dass der Umzug in die Strivers’ Row zu seinem Ausstieg geführt hatte. Dass ihn wegen seines oberflächlichen Charakters ein bisschen Respektabilität zur Aufgabe seiner Lebensweise veranlasst hatte, ihn glauben ließ, er sei über die gesetzlosen Elemente hinausgewachsen, die ihn geformt hatten. Um seine Herkunft zu verhehlen, bräuchte es mehr als eine gediegene Fassade aus gelben Ziegeln und Kalkstein.

Elizabeth hatte sich nie über ihre erste Wohnung beklagt. Wenn eine Bahn mit kreischenden Bremsen in die Station gegenüber einfuhr, hielt sie inne und ließ das Geräusch verklingen, ehe sie weiterredete, ein Inbild königlicher Haltung. »Wie Queen Elizabeth, wenn sie darauf wartet, dass ein Furz sich verzieht«, hatte Carney einmal gealbert, und seither zog sie zur Steigerung des Effekts eine Augenbraue hoch, eine Andeutung von Verachtung, die sie doppelt so elegant wirken ließ. Mal ehrlich — die Bude war ein Loch. Einmal kam, mit tropfenden Schnurrhaaren, eine Ratte aus der Toilette geschlichen. Auf den Etagen darüber und darunter tobten mörderische Kräche zwischen Männern und Frauen. Die Erschütterungen durch die Subway ließen die Nägel im Gebäude in ihren Löchern hüpfen. Elizabeth legte eine geradezu übernatürliche Zurückhaltung an den Tag. Nun, da die Wohnung schon Jahre hinter ihnen lag, räumte sie ein, dass sie »eindeutig Charakter gehabt« habe.

Prominente Architekten hatten die vier Reihen von Stadthäusern in der Strivers’ Row in den 1890er-Jahren entworfen. 237 West 138th war Teil einer Geschäftsstraße im neoitalienischen Stil, die Price und Luce konzipiert hatten; Carney tat so, als hätte er schon von ihnen gehört. Er war in der Zeitung auf das Angebot gestoßen. Eigentlich las er den Immobilienteil nie, doch an diesem Tag hatte er es getan. Als sie Nummer 237 zum ersten Mal sahen, leergeräumt, mit aufgehellten Stellen, wo Bilder und Gemälde gehangen hatten, still bis auf eine vereinzelte vorlaute Bodendiele, hatte Elizabeth gesagt: »Hier drin könnte ich mich verlaufen«, mit einer Mischung aus Sehnsucht und Zugehörigkeitsgefühl. Die Wohnung könnte ihre sein und war bereits ihre: Sie war auf der anderen Seite der Gasse in der 139th Street groß geworden, fünf Häuser weiter in einem Stadthaus mit identischem Grundriss. Die gleiche Raumaufteilung, aber ganz anders genutzt. Diesen vornehmen Abschnitt von Harlem hatte sie verlassen, um mit ihm zusammen zu sein. Hierher zurückzukehren war — was? Eine Heimkehr, aber auch eine Belohnung für ihre Liebe und Geduld. Natürlich würden sie es kaufen. Wozu sollte ein fortlaufendes, durch regelmäßige Gewalt verkompliziertes kriminelles Unternehmen denn sonst gut sein, wenn nicht dazu, die eigene Frau glücklich zu machen?

Bald nach ihrem Einzug war Carney eines Abends spät nach Hause gekommen, von einem Treffen mit Church Wiley, einem auf Schaufenstereinbruch spezialisierten Gauner, der in Baltimore jagte und nach New York kam, um die Waren loszuwerden. Hochwertiges Zeug, das mit reichlich Ermittlungsdruck einherging. Barocke Regelungen folgten, wenn Carney ihn auszahlen musste: zweimal an die Tür am Ende des Flurs im fünften Stock eines verlassenen Mietshauses in der 167th klopfen; durch die Hintertür des Blue Eyes Ecke St. Nicholas und 156th verschwinden, eine Rose in den verbeulten Mülleimer werfen und bis hundert zählen etc.

Diesmal verspätete sich Church um zwei Stunden, und Carney musste in einem Haus warten, bei dem es sich, wie er vermutete, um einen Fixertreff handelte, der erst kürzlich nach einer Polizeirazzia oder einem Dreifachmord aufgegeben worden war. In dem heruntergekommenen Brownstone war niemand, aber es war reich gefüllt mit Hinweisen auf erbärmliches Tun und Treiben. Kalte Märznacht. Wind pfiff. Er saß auf einer Backe auf der Armlehne eines 1940er-Collins-Hathaway-Sofas, das einen kranken Eindruck machte. Ihm war nie zuvor der Gedanke gekommen, dass Möbelstücke erkranken konnten, doch von diesem Tag an erkannte er sie, wenn er sie sah, die Art, wie Menschen alles infizierten. Church kam endlich. Er blickte sich um und sagte: »Die Bude ist wirklich den Bach runtergegangen.«

Als Carney in jener Nacht nach Hause kam, war Elizabeth im Wohnzimmer vor der Tonight Show eingeschlafen. Roscoe Pope lieferte gerade eine Nummer über Lexikon-Vertreter. Carney schaltete die Lichter aus, brachte das Haus zu Bett. Er sah im zweiten Stock nach May und John. Ihre neuen Zimmer waren größer als die am Riverside Drive; davor hatten sie sich ein Stockbett geteilt. Die Kinder hatten im Schlaf alle viere von sich gestreckt, Windrädchen auf den Laken. Mit dem Handrücken berührte er sie an der Stirn, um ihre Temperatur zu überprüfen.

Unten legte er eine Decke um Elizabeth, anstatt sie zu wecken. Sie hielt nichts von den flachen Sofas, die der neueste Schrei waren — und, um ehrlich zu sein, auch nicht viel von den aktuellen Angeboten in Carneys Verkaufsraum —, also hatten sie an dem drei Jahre alten Argent festgehalten, Birkenholz mit Champagner-Lackierung. Er schaltete die Lampe aus. Während sich seine Augen anpassten, trat der Schatten seiner Frau aus der Dunkelheit hervor. Sie glaubte ihm seine Ausreden für seine absurden Arbeitszeiten. Jede vernünftige Frau würde ihn beschuldigen, er habe eine Affäre. Der wahre Grund für sein Herumgeschleiche würde ihm 25 Jahre in Sing Sing einbringen. Was war schlimmer?

Die Straßenbeleuchtung drang in reinem, reinigendem Strahl durch das Wohnzimmerfenster. Die Stille und Ruhe stimmten ihn auf Verzicht ein. Er war damit fertig.

Die Diebe und Räuber fallenzulassen war kein Problem. Chink Montague und Munson waren etwas anderes. Carney ließ Chink für die Erlaubnis, Geschäfte zu betreiben, jede Woche einen Umschlag zukommen. Im Großen und Ganzen hatten Mobster keine Achtung vor Gepflogenheiten wie etwa einer vierzehntägigen Kündigungsfrist. Carney informierte Delroy, Chinks Geldeintreiber, dass er nicht mehr in Ware mit Vorbesitzer handelte, jedoch weiter seinen wöchentlichen Beitrag leisten werde, um seiner Dankbarkeit für die gute Zusammenarbeit Ausdruck zu verleihen. Der Umschlag wurde zum Schutzgeld umgewidmet, als wäre Carney bloß ein weiterer vertrottelter Ladenbesitzer, den man unter Druck setzen konnte. Was er selbstverständlich war, und zwar schon immer.

Carney lud den Detective ins Nightbirds ein, und Munson brachte einen Trinkspruch auf seinen Ruhestand aus: »Auf den berühmtesten Nobody in Harlem.« In der folgenden Woche und auch in der darauf holte er sich seine Zuwendung ab, blieb dann aber immer öfter weg. Nach einer gewissen Zeit tauchte er nur noch an Ostern und an Weihnachten in Carneys Büro auf, um für den »Witwen- und Waisenfonds« zu sammeln. Er war schon seit drei Jahren nicht mehr da gewesen.

Abgesehen von der Betreuung seines ausgedehnten Erpressungsnetzwerks, von der Pflege krimineller Allianzen und gelegentlichen Abstechern in die Polizeiarbeit, war Detective Munson ein versierter Strippenzieher. Manchmal bedeutete das, einem Senator während einer Razzia in einem Puff in der Lexington Avenue über die hintere Feuertreppe hinauszuhelfen oder der geschwätzigen Geliebten irgendeines Gangsters eine einfache Fahrkarte nach Miami mit dem Silver Meteor zu überreichen. Zweifellos hatte er auch ein, zwei Leichen im Mount Morris Park entsorgt, als das schwer in Mode war.

Manchmal beinhaltete die Strippenzieherei auch, irgendwem das begehrte Ticket der Woche zu besorgen — für den Kampf zwischen Frazier und Ellis im Garden oder die jeweilige große Show, die gerade in der Stadt gastierte. Carney erinnerte sich, wie Munson damit angegeben hatte, dass er mit seiner Frau ins Sinatra-Konzert gegangen, dass er mit der Exfrau seines Expartners backstage bei Vic Damone und mit einer seiner jungen Freundinnen in der Carnegie Hall bei den Dave Clark Five gewesen war. Carney hatte keine Ahnung, was der Detective dieser Tage so trieb, was für Maschen und Gaunereien er laufen hatte, aber wenn Munson auch nur halb so viel Vitamin B hatte wie früher, dann hatte er, Carney, schon so gut wie sicher Jackson-5-Tickets.

Zu welchem Preis, wusste er nicht.

*

Wie angewiesen, wartete Carney bei der Telefonzelle gegenüber der Subway-Station 157th Street, am Nordwestausgang. Der winzige dreieckige Park enthielt sechs hinfällige Tauben und drei Sitzbänke. Comidas, Farmacia. Nach den Schildern und Läden zu urteilen war dieser Abschnitt des Broadway seit seinem letzten Besuch noch puerto-ricanischer und dominikanischer geworden. In der 125th hieß es Juden und Italiener raus, Schwarze rein, und hier oben ersetzten die Latinos die Deutschen und Iren, wenn die abhauten. Fluktuation, Baby, Fluktuation.

Carney hatte Zeit totzuschlagen. Er rief zu Hause an und sagte John, dass es bei ihm spät würde. »In der Kühltruhe sind Swansons«, sagte er. »Deine Mom ist morgen wieder da, dann kocht sie dir wahrscheinlich was Leckeres. Falls sie nicht zu müde ist.« Der Zug aus Chicago kam gegen Mittag an — das konnte hinhauen oder auch nicht. Im Hintergrund gackelte May. »Sag May, sie ist zuständig.« Er legte auf.

In jüngeren Jahren hatte May ein ganz bestimmtes Gesicht aufgesetzt, wenn sie maßlos begeistert gewesen war, eine Maske der Freude. Dieses Gesicht hatte viel von Elizabeths Zügen, aber Carney war stolz darauf, dass er auch dazu beigetragen hatte. Wie sehr es ihm fehlte, wurde ihm erst klar, als die Jackson 5 Thema wurden. In letzter Zeit entstammte die Hälfte von Mays Gesprächsbeiträgen Flugblättern der 125th Street: »Das geht alles auf die Fehlerziehung der Schwarzen zurück, Daddy.« Die Black-Power-Typen und ihre Pamphlete waren schlimmer als die Zeugen Jehovas. Quatschten ihn auf der Straße an: »Wie stehen Sie zu Mosambik?« Was wusste er denn von Mosambik? Aber wenn Carney durchs Haus rief, dass die Jackson 5 bei Flip Wilson kamen, oder die flotten Anfangsakkorde von »ABC« aus dem Panasonic im Wohnzimmer hüpften, beschwor das dieses Gesicht aus alten Zeiten herauf. Er würde ihr Tickets besorgen.

Umtriebige Jungs, die Jackson 5. Ob sie sexuell aktiv waren, wusste er nicht, aber sie waren auf jeden Fall leicht zu haben, hatten Werbeverträge mit nicht weniger als drei Herstellern von Frühstücksflocken. May und John krähten ständig ihren Alpha-Bits-Spot, die reinste Plage: »Grab your Alpha Bits and come with me, we’ll eat through the Alpha Bits A to Z!« Der Text leuchtete ein, musste Carney zugeben, aber er war dämlich. Die Wände von Mays Zimmer waren mit Ausklapppostern aus Sugar-Crisp-Schachteln bepflastert, neben denen aus Flip und Tiger Beat. Ihr Zimmer war ein Hochglanztempel der Jungs aus Gary, Indiana. Springend, tanzend, im Park faulenzend, solo und auf Gruppenfotos, in abgefahrenen Harlekin-Kostümen und versilberten Raumfahrer-Overalls auf der Bühne tobend, jedes Bild mit ihrem jenseitigen Lächeln ausgestattet.

Im März nahm May an einem Teen-Beat-Wettbewerb — »Gewinne ein Banana-Split-Date mit Michael!« — und im April an einem von Tiger Beat — »Gewinne ein Rollerskate-Date mit Michael« — teil. Sie wurde übergangen, trotz ihres eindrucksvollen Aufsatzes darüber, warum sie diese Ehre verdient hatte: »Michael ist für alle, genau wie ich.« Um Sugar Crisp zu überbieten, begann Alpha Bits, seinen Schachteln Flexidisc-Singles von »ABC« und »I Want You Back« beizulegen, was wiederum Honey Comb in das Wettrüsten mit Krimskrams zum Sammeln hineinzog. Honey Combs Geheimwaffe: Luftballons in Form der Köpfe der Jackson 5 mit deren aufgedruckten Konterfeis. Allesamt makabre Zeichen, aber May wollte keine Ruhe geben, bis sie den Michael hatte.

Die Suche dauerte Wochen. Supermärkte wurden für »aussichtsreich« oder »tot« erklärt, kleine Lebensmittelläden von der Liste gestrichen oder mit fieberhafter Hingabe aufgesucht. Unter den jungen Leuten kam das Gerücht auf, eine Bodega in der 132nd habe den Code geknackt. Carney bekam Befehl, die Sache auszuchecken.

Er riss die Schachtel auf und wühlte. »Der Michael!«

»Das ist Marlon.«

»Sieht aber aus wie Michael.« Der neueste Marlon gesellte sich der erschlaffenden Menagerie (vier Jermaines, drei Jackies, etliche Titos und Marlons) auf ihrer Fensterbank zu. Es brauchte vierzehn Käufe. Wie alles im Leben war auch die Jackson-5-Promo manipuliert. Carney hieß das gut: Das konnten sie gar nicht früh genug lernen.

Das Bezahltelefon klingelte. »In die Kamera lächeln.«

Carney blickte sich um. Auf der anderen Straßenseite war ein Restaurant namens El Viejo Gallo. Er kniff die Augen zusammen. Vielleicht gab es in der Eingangshalle ein Telefon. Er blickte auf — Munson konnte in jedem der Gebäude sein, die den Park umgaben.

»Hinter dir«, sagte Munson.

Das neunstöckige Gebäude stand an der Südspitze eines keilförmigen Blocks. Die Ostseite bildete eine Straße, von der er noch nie gehört hatte — Edward M. Morgan Place, der anderthalb Blocks weit reichte, ehe er in den Riverside Drive überging. Anderthalb Blocks, Scheiße. Morgan hätte mehr Indianer umbringen oder mehr Geld klauen müssen, jeder weiß, dass man nur so die langen Straßen kriegt. Munson ließ Carney mit dem Summer ein.

Der Detective hielt die Wohnungstür einen Spaltbreit geöffnet, als die Fahrstuhltür aufging, seine Haltung ließ auf eine außer Sicht gehaltene Waffe schließen. Mit einem Kopfrucken bedeutete er Carney herzukommen, und vergewisserte sich, dass nicht noch jemand aus der Fahrstuhlkabine trat.

Die Zweizimmerwohnung war von einer größeren abgeteilt worden, die Zierleisten endeten an den neuen Wänden. Munson sagte ihm, er solle es sich bequem machen, und steckte den .38er ins Holster zurück.

Die Bude war ein Saustall — wenn Carney hier wohnen würde, müssten seine Kinder einen Besen schwingen, um sich ihr gottverdammtes Taschengeld zu verdienen. Was er zuletzt gehört hatte, wohnte Munson mit seiner Frau irgendwo downtown. Das hier war ein Versteck mit gerade so viel Möbeln, dass es bewohnbar war. Konnte vielleicht eine Frau hierher mitbringen, wenn man aufräumte. Nichts Persönliches zu sehen, abgesehen von einem knapp einen Meter hohen, rot-weißen Keramikdämon im chinesischen Stil, der wie ein Souvenir anmutete, das man beim letzten Stopp einer ganztägigen Sauftour mitgehen ließ. Er stand im 45-Grad-Winkel zur Wand, als schliche er sich von etwas Unappetitlichem fort.

Munson ging an Carney vorbei und schloss die Schlafzimmertür, ehe Carney einen Blick hineinwerfen konnte.

»Leiche?«

»Paar von den Laugh-In-Weibern schlafen ihren Rausch aus.«

Sie setzten sich auf das Sofa, ein trauriges, schäbiges Stück, das man irgendwann aus einem Discountladen herausgetragen hatte. Munson ließ sich mit einem Seufzer darauf sinken. Er sah fürchterlich aus. Blass, unrasiert, das blonde Haar um die neue kahle Stelle auf seiner Kopfhaut stand in alle Richtungen. Als sie einander kennengelernt hatten, war Munson stämmig und kräftig gebaut gewesen, einer dieser Cops, mit denen man sich lieber nicht anlegte. Der Detective war im Lauf der Jahre aus dem Leim gegangen, während er von den unzähligen Vergünstigungen seines Jobs Gebrauch machte, den Steaks auf Kosten des Hauses und den Gratisrunden. Klumpig, wie ein Seesack voller Schmutzwäsche, dem Beine gewachsen waren. Inzwischen war er etwas von dieser Masse losgeworden und wirkte gequält, auf eine Weise dünner geworden, die man irrtümlich einem Trainingsplan zuschreiben würde, wenn man nicht wüsste, dass sie von der Flucht vor etwas herrührte, was ihm immer näher kam.

Munson nahm einen großen Schluck von seiner Dose National Bohemian.

»Machen Sie gerade Pause von der Menschenjagd?«

Munson warf ihm eine Bierdose zu, die Carney auf den Tisch stellte.

»Bloß eine Frage der Zeit. Diese Drecksäcke haben denen die Dienstrevolver abgenommen, hast du das gewusst?« Munson rülpste. »Das ist so, wie wenn dir jemand den Schwanz wegnimmt.«

»Kann man sich vorstellen.«

»Alle sind auf der Straße und versuchen, die Kanonen dieser armen Kerle zurückzukriegen und diese Arschlöcher zu finden. So, wie sie es hoffentlich auch für einen selber täten.«

»Habt ihr denn keine Leute eingeschleust? So wie bei den Panthers?«

Munson machte ein angewidertes Gesicht. »Du hast doch gesehen, wie der Prozess gelaufen ist. Eigentlich hätten die den Sack zumachen müssen, aber sie waren zu voreilig.«

Damals, während der Demonstrationen von 64, hatte Munson ihm von den jungen Polizeibeamten erzählt, die er damit beauftragt hatte, CORE und SNCC zu infiltrieren, um die Proteste zu ersticken. Der weiße Detective zog Carney nicht etwa ins Vertrauen, weil er ihm vertraute, sondern, weil der Möbelhändler keine Bedrohung darstellte. Was hätte er denn tun sollen, einen Leserbrief an die Amsterdam News schreiben? Weiße Cops machten, was sie wollten. Korrupte weiße Cops? Unangreifbar.

Munson war eines Tages aufgetaucht wie eine Warze, aus dem Nichts. Vor dem Ding im Theresa, 59, war Carneys Hehlerei in jeder Hinsicht ein Schmalspurgeschäft gewesen — Haushaltsgeräte, gelegentlich mal ein Smaragdanhänger aus der Kommode einer alten Witwe. Für einen kleinen Anteil fungierte er als Mittelsmann zwischen Uptown-Gaunern und einem Edelstein-Abnehmer in der Canal Street. Dann ließ Chink Montague verlauten, dass er eines der Stücke aus dem Theresa wiederhaben wollte — eine Halskette, die er seiner Freundin Lucinda Cole geschenkt hatte. Die Uptown-Hehler wurden in Kenntnis gesetzt, und Carney landete im kriminellen Branchenverzeichnis.

Bald darauf tauchte zwecks wöchentlichem Tribut Munson auf, teils um Carney unter Druck zu setzen, teils um dessen Sekretärin Marie anzubaggern, bevor sie heiratete. Vor Jahren war er Carney während seines Feldzugs gegen Wilfred Duke sehr gelegen gekommen, doch sie hatten schon eine ganze Weile nichts Übles mehr ausgeheckt.

»Ich muss dir was zeigen«, sagte Munson. Er verschwand ins Schlafzimmer und zog die Tür hinter sich zu.

Inzwischen war sich Carney sicher, dass dadrin mindestens eine Leiche lag. Was tat man nicht alles für seine Kinder.

Er ging zum schmalen Ende des Raums, wo das Gebäude sich keilförmig verjüngte. Acht Stockwerke hoch, boten die Fenster einen spektakulären Blick den Broadway entlang, hier und da lugte der Hudson hervor, und über den Dächern der niedrigeren Mietshäuser kauerte in prächtigem Grün der St. Nicholas Park. Mit seinem Überblick über die Subway-Eingänge und den kleinen dreieckigen Park ein guter Wachposten. Zu dem Ausguck gehörten ein Regiestuhl und ein Milchkasten, auf dem ein Aschenbecher und leere Bierdosen standen.

»Damit ich sehe, wer kommt«, sagte Munson, der ins Zimmer zurückkehrte. Er hatte eine braune Papiertüte in der Hand.

»Verstecken Sie sich?« Carney hatte Munson im Revier erreicht, aber der Mann verhielt sich, als wäre er auf der Flucht.

»Ich muss mich um einiges kümmern.« Der Detective fegte den Stapel von Zeitungen und zusammengeknüllten Sandwichverpackungen vom Couchtisch. In der Papiertüte befand sich eine weitere zerknitterte Papiertüte, aus der Munson mit vollen Händen lange Diamantschlingen schaufelte. Hochkarätig, in schimmerndes Gold und Platin gefasst. Er hustete und kratzte sich seine Bartstoppeln.

Carney ging vor dem Häufchen Schmuck in die Hocke. Entwirrte die Stücke, schüttelte den Kopf über die Achtlosigkeit. Er war eingerostet, aber in der Mehrzahl schien es sich um Stücke aus den 1940ern von Marjorie Baxter in Boston zu handeln, ein paar protzige Cocktail- und mehrreihige Halsketten. Die kleineren Stücke waren ebenso klassisch, amerikanische Designer, wie die beiden Rubin- und Diamantarmbänder von Raymond Yard und die Louis-Long-Chokerketten. Die Art von Sortiment, die man kriegte, wenn man einen spezialisierten Sammler ausnahm oder eine Glasvitrine einschlug und so viel wie möglich an sich raffte, während der Alarm plärrte. »Ist das jetzt Ihr neues Ding?«, sagte Carney.

Munson nahm einen großen Schluck. Er saß vornübergebeugt auf dem Regiestuhl wie ein Wasserspeier auf einem Kirchendach, ohne den Blick von dem Schmuck zu nehmen. »Ist eine einmalige Sache. Was meinst du?«

»Da hat jemand hübsch abgeräumt.« Früher wäre Carney auf dem Laufenden gewesen und hätte gewusst, woher die Sachen stammten.

Wie hübsch, wollte Munson wissen.

»Grob geschätzt — zweihunderttausend. Je nachdem, wer sie abnimmt.«

Munson klatschte die Hände zusammen. »Prima. Ich brauche es heute Nacht.«

Irgendein Kredithai, der ihm die Daumenschrauben anlegte, oder ein Buchmacher. Damals, vor Jahren, hatte Munson den gleichen Ausdruck in den Augen gehabt, als er ein paar Tage früher die Runde gemacht hatte, um seine Umschläge einzusammeln. Eine beschissene Wette im Garden State Park, ein lausiger Tipp. Es kam selten vor, dass man diesen Ausdruck im Gesicht des Detective sah — bloß ein Zivilist, höheren, mächtigeren Kräften ausgeliefert. Carney stand auf. »Ich bin raus, Munson.«

»Sieh’s als einmalige Angelegenheit.«

Carneys Haltung sagte nein. »Ich muss ins Büro.«

»Das würde ich dir nicht raten.«

Carney gefiel der Ton nicht. »Sie brauchen mich nicht.«

»Im Augenblick geht es ein bisschen heiß her, wenn du es genau wissen willst. Hast du in der Zeitung von der Knapp-Kommission gelesen? Die Cops unter die Lupe nimmt?«

»Sie?«

»Wen, mich?« Das Grinsen war boshaft. »Ich muss mir eine Zeitlang ein paar Umwege suchen. Aber du — du bist schon länger raus. In deine Richtung schaut keiner.«

»In meine Richtung schaut keiner, weil es da nichts zu sehen gibt.«

»Jackson 5«, sagte Munson.

»Für meine Tochter.«

»Du hast eine Tochter?«

»Das wissen Sie ganz genau, Scheiße noch mal.«

»Ich kriege Tickets. Ich kriege Tickets für alles«, sagte Munson. »Ich habe dir doch erzählt, dass ich bei Vic Damone backstage gewesen bin? Der ist aus Brooklyn, der hat keine Allüren. Manche von diesen Schwanzlutschern …«

Braune Papiertüten. Es war würdelos. Nahm der Sache jede Romantik. Denn Carney war von diesen schönen Steinen schwer angetan. »Gute Tickets«, sagte er. »Nahe dran.«

»Ich kenne jeden, und jeder schuldet mir was.« Munson lächelte. »Wie lange wird es dauern?«

Sie machten einen Deal über die Konzerttickets. Carney ging mit den Papiertüten, eine Hand unterm Boden, als enthielten sie einen kleckernden Kaffeebecher.

3

Dass die Stadt den Bach runterging, merkte man daran, dass allmählich auch schon die Upper East Side beschissen aussah. An den Rändern von Carneys Blickfeld zeigten sich hier und da Zeichen von Niedergang: halbfertige Graffiti auf dem Metallrollladen eines geschlossenen Drugstores; eine Reihe überquellender Mülltonnen, die längst hätten geleert werden müssen; die Überreste einer eingeschlagenen Windschutzscheibe, Glasvierecke auf dem Asphalt wie ausgeschlagene Zähne. Es hatte sich den Gesichtern der Upper East Sider eingeprägt, etwas Bedrückteres war an die Stelle des Grinsens getreten, und hinter den Augen entdeckte man anstelle des gewohnten überheblichen Optimismus eine vage, formlose Hoffnungslosigkeit. Alles war klar im Niedergang begriffen, überall, in sämtlichen Stadtteilen. Streikdrohungen und Arbeitsniederlegungen, oben die gelbe Trübnis der Luftverschmutzung und unten gefährliche Brüche in der Infrastruktur. Sie beschlich jeden, wie eine über den East River in das riesige Raster wehende Schwermut, die Ahnung, dass alles nicht mehr so war wie früher und dass es lange dauern würde, bis die Dinge wieder ins Lot kamen.

Der Handel ging weiter.

Carney hatte die Visitenkarte noch: Martin Green, Antiquitäten. Warum hatte er sie nicht weggeworfen? Weil er wusste oder wünschte, dass ein solcher Tag kommen würde. Gauner bleibt Gauner.

Green wohnte Ecke 82nd und York, in einem weißen, von schmalen Balkonen gekerbten Backsteinhaus, ausgestattet mit einer von der Straße zurückgesetzten Eingangshalle. Als übermäßigen Ausgleich für die Neuheit des Gebäudes hatte man den Doorman mit einer altmodischen Uniform in Rot und Gold ausstaffiert, mit der er aussah wie der Dirigent einer Marschkapelle, dem die Musiker davongelaufen sind. Der Doorman rief oben in der Wohnung an.

Martin Green war der einzige Edelstein-Abnehmer, der Carney einfiel. Die Männer, denen er vertraute, waren seit seinem Rückzug hart gefallen. Boris der Mönch wurde mit der Fox-Wellington-Sore erwischt, die aus dem Penthouse der Erbin in der Fifth Avenue gestohlen worden war. Ellen Fox-Worthingtons übliche Domäne waren die Klatschspalten; der Raub beförderte sie auf die Titelseiten. Die Cops waren auf dem Quivive gewesen. Jetzt verbüßte Boris acht bis zwölf Jahre in Dannemora, wo Carneys ursprünglicher Verbindungsmann, Buxbaum, im vergangenen Frühjahr gestorben war, Darmkrebs. Ed Brodys Geschäft in der Amsterdam war so oft ausgeraubt worden, dass er Abendschulkurse besucht hatte, um eine Lizenz als Immobilienmakler zu bekommen. Inzwischen verkaufte er einer Vielzahl von Gimpeln sumpfnahe Grundstücke in Florida. Brody schickte jedes Jahr eine Weihnachtskarte. »Ich verdiene mehr Geld, als ich jemals mit dem Verticken von Steinen gemacht habe.«

Es gab neue Akteure, aber es war keine Zeit, richtige Erkundigungen einzuziehen. Martin Green war sein einziger Kontakt. Ein Anruf bestätigte, dass er immer noch im Geschäft war, und nach einem Zwischenstopp im Büro, wo er die Papiertüten durch seine vornehmere schwarze Lederaktentasche ersetzte, nahm er ein Taxi downtown.