Der letzte Sommer auf Long Island - Colson Whitehead - E-Book

Der letzte Sommer auf Long Island E-Book

Colson Whitehead

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Beschreibung

Jeden Sommer trifft sich auf dem Ferienparadies Long Island die New Yorker Mittelschicht. Wenn Benji und seine Freunde in der afroamerikanischen "Enklave" der Insel eintreffen, werden die neuen Klamotten, der neue Jargon, die neuen Songs diskutiert. Voll Wärme und Komik schildert Colson Whitehead einen ganzen Katalog der Kultur der achtziger Jahre, die Regeln und Riten der Gesellschaft und die Unschuld des Erwachsenwerdens. Sein stimmungsvoller Roman ist eine Liebeserklärung an einen paradiesischen Ort in Amerika - und zugleich ein präzises Porträt der schwarzen Mittelschichtjugend.

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Colson Whitehead

Der letzte

Sommer auf

Long Island

Roman

Aus dem Amerikanischen

von Nikolaus Stingl

Carl Hanser Verlag

Die englische Originalausgabe erschien 2009

unter dem Titel Sag Harbor bei Doubleday in New York.

eBook ISBN 978-3-446-23708-7

© Colson Whitehead 2009

Alle Rechte der deutschen Ausgabe

© Carl Hanser Verlag München 2011

Satz: Satz für Satz. Barbara Reischmann, Leutkirch

Datenkonvertierung eBook:

Kreutzfeldt digital, Hamburg

Unser gesamtes lieferbares Programm

und viele andere Informationen finden Sie unter:

www.hanser-literaturverlage.de

http://www.colsonwhitehead.com

Für Maddie

Inhalt

Vorstellungen von Rollschuhbahnunendlichkeit     7

Die Blütezeit des Verdammt     46

Wenn ich dir weniger zahlen könnte, würde ich es tun     88

Die Gangster     146

Zur Verhütung von Wutausbrüchen     193

Atemtips großer amerikanischer Beatboxer     234

Heute abend improvisieren wir     267

Die schwarze Nationalhymne     305

Quellennachweis     328

Danksagung     329

Vorstellungen von Rollschuhbahnunendlichkeit

Als erstes musste man die Hier-Fragen klären. Wie lange bist du schon hier? Die Frage danach war reine Angeberei, obwohl jeder, bei dem man Eindruck schinden konnte, das gleiche Geschenk bekommen hatte, und zwar auf die gleiche Weise. Die gleiche in Hochglanzpapier eingeschlagene Sonne, den gleichen milden, gütigen Himmel, die gleiche Schotterstraße, auf der man sich früher oder später die Haut aufschürfte. Es war schwer, nicht zu glauben, dass es einem selbst mehr als jedem anderen gehörte, dass es für einen gemacht war und all die Jahre darauf gewartet hatte, dass man auftauchte. Das ging jedem so. Wir waren dankbar dafür, nach einem so langen, öden Jahr in der City einfach nur in dieser Hitze zu stehen. Wie lange bist du schon hier? war das Geräusch, mit dem unsere Falle zuschnappte; Jahr für Jahr ließen wir uns davon ködern, von der reinen, auf den Begriff gebrachten Freude in dem Städtchen Sag Harbor.

Dann kam die nächste Hier-Frage: Wie lange bleibst du hier? – Und der Wettkampf hatte begonnen. Die magische Antwort lautete »Bis zum Labor Day« oder »Den ganzen Sommer«. Jede kürzere Zeitspanne signalisierte Unglück. Zu Beginn der Saison für ein Wochenende hier, um das Haus für den Sommer herzurichten, die Ritzen auszufegen, das war okay. Aber nur für einen Monat herzukommen? Eine Woche? Was war los, hatte man finanzielle Schwierigkeiten? Jeder hatte finanzielle Schwierigkeiten, klar, aber wenn man sich Sag Harbor davon beeinträchtigen ließ, musste man ernsthaft in der Klemme sein. Nur eine Woche, einen Monat hier, und man ließ zu, dass man im Leben zu kurz kam. Man brauchte nur »Wie lange bleibst du hier?« zu fragen, und eine Wolke verdeckte die Sonne. Die Frage brachte einen Hauch von Herbst mit sich. Alle Antworten fassten das Ende ins Auge, den Tod des Sommers, kaum dass er begonnen hatte. Während man noch darauf wartete, dass die Bucht sich erwärmte, damit man schwimmen gehen konnte, stellte man sie sich bereits zugefroren vor. Bis zum Labor Day war es plötzlich gar nicht mehr so lange hin.

Die letzte Hier-Frage war halb Informationsbeschaffung und halb Gebet: Wer ist noch hier? Die Saison hatte begonnen, wir waren der Beweis dafür, ihr Instrument, aber eigentlich konnte alles erst anfangen, wenn die Spieler Aufstellung nahmen, Einfahrten heruntergetänzelt kamen, die rechte Hand erhoben, um sich abklatschen zu lassen. Die anderen waren notwendig, und wir mussten Bescheid wissen. Der Mensch, der in gebügelten, lachsfarbenen Shorts vor einem stand, sagte beispielsweise: »Ich hab am Mittwoch mit ihm geredet, und er hat gesagt, sie kämen.« Sie waren immer die ersten, ließen keinen Juni aus, als hinge ihr Leben davon ab. (So war es auch.) Irgendwer meinte etwa: »Ihr Rasen ist gemäht.« Ein gemähter Rasen war ein nicht zu leugnendes Vorzeichen unmittelbar bevorstehender, heute oder morgen beginnender Bewohntheit. »Hab ein Auto in ihrer Einfahrt gesehen.« Noch besser. Es gab keine größere Wahrheit als ein Auto in einer Einfahrt. Ein Auto in der Einfahrt war eine Aufforderung, anzuklopfen und den Sommer in Angriff zu nehmen. Man klopfte an die Tür, und sie gab unter den Knöcheln nach – sobald man hier war, blieb die Tür unverschlossen, bis man das Haus wieder zusperrte.

Sobald wir alle hier sind, können wir loslegen.

Ich heiße Ben. Im Sommer 1985 war ich fünfzehn Jahre alt. Mein Bruder Reggie war vierzehn. Was die Frage angeht, wie lange wir schon hier waren: seit jenem Vormittag, nach genau anderthalb Stunden Fahrzeit, denn wir waren dem Urlaubsverkehr ausgewichen. Im Laufe eines Sommers hörte man viele unterschiedliche Strategien, wie man dem Urlaubsverkehr ausweichen oder ihn wenigstens ein bisschen austricksen konnte. Es gab Leute, die am frühen Freitag nachmittag den Griffel fallen ließen und ihren Kollegen beiläufig den Grund für ihren Aufbruch mitteilten, um ein bisschen Neid zu genießen. Andere wrangen mit eingecremten Händen noch das letzte bisschen Freude aus dem Wochenende und machten sich erst am späten Sonntag abend auf den Rückweg in die Stadt. Unterwegs hielten sie an, um etwas zu essen, und betrachteten das langsame rote Anschwellen vor dem Restaurantfenster, während sie Clam Strips durch Tatarsauce zogen – bald, bald, noch nicht –, bis die Luft rein war.

Die Methode meines Vaters war einfach und brutal – Aufbruch um fünf Uhr morgens, damit wir die einzigen menschlichen Wesen auf dem Long Island Expressway waren, und dann in der von Gespenstern bevölkerten Dunkelheit möglichst weit kommen. Ab und zu sagte meine Mutter: »Es herrscht überhaupt kein Verkehr«, als wäre das ein Wunder. Na ja, richtig dunkel war es nicht, im Juni sind die Sonnenaufgänge früh dran, aber so habe ich diese Fahrten in Erinnerung – das Gedächtnis hat eine Palette und einen breiten Pinsel. Vielleicht habe ich das Ganze auch deshalb so in Erinnerung, weil ich die meiste Zeit die Augen zu hatte. Der Trick bei diesen frühmorgendlichen Touren bestand darin, gerade soweit aufzuwachen, dass man eine Tasche mit Kleidern nach unten zum Auto schleppen konnte, es sich dann darin gemütlich zu machen und sich wieder in den Schlaf zurückzuziehen. Jede unnötige Bewegung konnte einen aus dem Reich des Halbschlafs in den trüben Halbwachzustand verbannen, weshalb mein Bruder und ich in langsamem, stummem Zombieschritt bis zum Rücksitz trotteten, wo wir uns, den Geruch der Polster in der Nase, in unseren jeweiligen Winkel kuschelten, Hintern an Hintern, einem Rorschachtest nicht unähnlich. Was sehen Sie in diesem Bild? Zwei Brüder, die sich in unterschiedlicher Richtung entfernen.

Wir hatten erst kürzlich aufgehört, Zwillinge zu sein. Wir sind mit zehn Monaten Abstand geboren, und bis ich in die Highschool kam, gab es uns nur paarweise, ein eher siamesisches als eineiiges oder bloß brüderliches Paar, definiert von einer unheimlichen Untrennbarkeit. Miteinander verwachsen nicht an Hüfte, Milz oder Nervensystem, sondern an einer viel wichtigeren Stelle – jener Stelle, an der das Ich der Welt gegenübertritt.

In der menschlichen DNS gab es etwas, was die Leute zwang, mit einem Singsang in der Stimme »Benji und Reggie, Benji und Reggie« zu sagen, als wären wir Comicfiguren oder Werbeträger irgendeines Schokoriegels für fünfundzwanzig Cent. Wenn man einen von uns, was selten vorkam, allein antraf, fragten die Leute als erstes: »Wo ist Benji?« oder »Wo ist Reggie?«, worauf wir einen gründlichen Rechenschaftsbericht über den Verbleib des jeweils anderen lieferten, einen Bericht, den wir rasch mit Inhalt füllten, als wäre es uns peinlich, mit nur einem halbem Schatten draußen an der Sonne ertappt zu werden: »Er ist in die Stadt gefahren. Er hat am Strand seine CAT-Diesel-Power-Mütze verloren und will sich im Kaufhaus eine neue besorgen.« Und der Fragesteller nickte feierlich: Reggies von Truckerfilmen der Siebziger geförderte Liebe zu seiner CAT-Diesel-Power-Mütze war wohlbekannt.

Es gab den Sommer, und es gab die übrige Zeit. Vor unserer Trennung konnte man uns während der übrigen Zeit Klamotten aus der Jungmännerabteilung von Brooks Brothers spazierenführen sehen – schicke weiße Oxfordhemden zum Beispiel, die wir während der Schulzeit in die Hose steckten und zu Hause in sanfter Rebellion heraushängen ließen. Die Grundschule, die wir besuchten, verlangte von uns, dass wir Jackett und Krawatte trugen, also taten wir es. Unsere Handgelenke ließen unsere Jackettärmel unweigerlich hinter sich, obwohl unsere Mutter stets bemüht war, die Säume rechtzeitig herauszulassen. Die Krawatten gehörten zur Spezies der Ansteckbaren, doch wir hatten auch einige, die unser Vater uns zu Beginn des Schuljahrs band und die wir dann die nächsten neun Monate lockerten und festzogen, wobei die Knoten vom Schweiß unserer Kinderfinger immer schmieriger und schmutziger wurden. Wir hatten jeweils einen blauen Blazer und ein beigefarbenes Kordjackett, die im Wechsel mit grauen Slacks und Khakihosen getragen wurden. Ich war etwas größer, was uns dabei half, die Sachen auseinanderzuhalten, allerdings nicht immer.

Wie sahen wir aus, wenn wir auf dem Weg zur Schule oder von der Schule nach Hause nebeneinander die Lexington entlang und über die Sixty-second Street gingen? Ich erinnere mich an einen Tag in der siebten Klasse, als uns an einer Ecke ein alter Weißer ansprach und fragte, ob wir Diplomatensöhne seien. Kleine Prinzen eines afrikanischen Landes. Wo doch die Vereinten Nationen nur knapp einen Kilometer entfernt lagen. Weil – warum sollten sich Schwarze sonst so anziehen? Während ich zu seinen bemoosten Zähnen aufschaute, tat mein »Rede nicht mit Fremden, jeder ist ein Kinderschänder«-Training seine Wirkung, und ich krächzte ein leises »Nein« und zerrte Reggie auf den Fußgängerüberweg. Das Fernsehen war unser Babysitter, klar, deshalb waren die mahnenden Filme der Woche unser Handbuch zu der Frage, wie man sich gegenüber Fremden verhielt. Eifrig durchblätterten wir die einschlägige Literatur, schnalzten abfällig mit der Zunge und schmunzelten über Geschichten von vernachlässigten weißen Kids, die in die Irre gegangen waren, die traurige Prozession knackiger und leicht zu beeindruckender minderjähriger Anhalterinnen und pillenschluckender Examenskandidaten, die wegen des »Erfolgsdrucks« durchdrehten. Wenn uns auf der Straße Fremde ansprachen und Fragen stellten, wussten wir, was wir zu tun hatten. Einfach weitergehen, Bruder. Wie er aussah? Seniorpartner in der Anwaltskanzlei Spinner, Spinner & Spinner. Und wie sahen wir aus? Ich weiß es nicht, aber in Sag Harbor hätte uns niemals jemand so eine Frage gestellt. Dort passten wir hin.

Im Sommer erweiterten wir unser mickriges Modespektrum. Was taten wir, von der Kleiderordnung befreit? Als falsche Zwillinge konnten wir unsere Liebe zur Einförmigkeit nicht loswerden. Jeden Tag trugen wir ein Hemd derselben Marke, aber unterschiedlicher Farbe, mit unterschiedlichen Aufbügelbildern. Alle paar Monate kaufte unsere Mutter uns bei Gimbels Klamotten – Überwachungskameras fingen sie ein, wie sie für ihren Nachwuchs herumstöberte und dabei »Zwei davon und zwei davon« murmelte –, und dann warf sie sie zu uns in den Käfig, damit wir uns wie die Hyänen darum rauften, wer was bekam. Du willst das kastanienbraune Frotteehemd? Dann schnapp es dir als erster, sonst läufst du bis Weihnachten in dem olivgrünen herum. Der R2-D2-Schlafanzug für dich, der C-3PO für mich. Man musste schnell sein. Als erster den Finger drauf haben war alles.

Wir waren so etwas wie ein eigenes Genre, wenn man ein Familienfotoalbum aufschlug: Da sind Benji und Reggie, wie sie sich im Strandhafer fläzen, an der Haube des in jenem Sommer gemieteten Wagens lehnen, auf einer Bank vor der Eisdiele hocken. Der eine Bruder in einem taubenblauen Izod-Polohemd, der andere in einem mit Rocky-Road-Eis bekleckerten karminroten Izod. Den Arm um den Hals des jeweils anderen gelegt und stets im gleichen Hemd, bis auf das eine entscheidende, differenzierende Detail, das alles bedeutete. Das gleiche, aber mit einer kleinen Abweichung, und es war dieses kleine Refugium des Unterschieds, nach dem wir in Wirklichkeit strebten.

Unser Gesichtsausdruck von Bild zu Bild? Ich: gequält und wie unter Verdauungsstörungen leidend, mit unbehaglichem Blick ob der Entdeckung irgendeines neuen Mangels im Plan der Welt und in der Gedankenblase die Fragen: »Sind wir nicht alle in Wirklichkeit nur Ameisen unter dem Vergrößerungsglas?« und »Ist das Verstreichen unserer Tage nichts anderes als soundsoviel Pixy-Stix-Brausepulver, das durch ein Stundenglas rieselt?« Der Begriff »Frühentwickler« traf nur ein einziges Mal auf mich zu, nämlich im Hinblick darauf, dass ich vorzeitig das Problem der tiefen Existenzangst erfasste. In allen anderen Fällen stapfe und trotte ich mit den anderen dahin. Meine Knöchel? Ziemlich mitgenommen.

Bitte recht freundlich. Und was macht Reggie? Der schneidet natürlich Grimassen, schielt, feixt, die Finger zu Teufelshörnern gekrümmt, und heischt mit zerbeulter Bettlerschale um ein zusätzliches Quentchen kostbarer Aufmerksamkeit, in unserer Familie ein seltenes Element. Dass wir getrennt werden wollten, wussten wir, doch ertragen konnten wir es nur in winzigen Schritten. Als daher unser Vater zwei billige Imitate als Souvenirs von den Olympischen Spielen 1976 in Montreal anschleppte, schnappte ich mir das Speerwurf-T-Shirt, Reggie griff nach dem Kugelstoß-T-Shirt, und gemeinsam stürmten wir Sommer auf Sommer aus dem Tunnel des Umkleideraums in die sonnendurchflutete Arena, Mitglieder derselben Mannschaft. Es war schön, eine Mannschaft zu haben, auch wenn sie nur aus uns zweien bestand.

Wo ist der Chirurg, der fähig wäre, diese riskante Operation durchzuführen, diese miteinander verwachsenen Unglücklichen zu trennen? Gebraucht wird, die Arme geschrubbt und von Kopf bis Fuß in Operationskluft, Doc Puberty, der den Schwestern auf den Hintern klatscht und sämtliche allerneuesten Techniken beherrscht. Absaugen! Speerwurf und Kugelstoßen – das passte ganz gut. Die Hormone jagten mich hoch und ließen mich fliegen, eine Bohnenstange mit X-Beinen, aufgeschossen und mager, während sich Reggie, schon immer pausbäckig und mit pummeligen Armen, zu etwas Rundlichem, Kneifbarem wölbte, glatt und weich, wo ich nur aus Ecken und Kanten bestand. Wir lösten uns über Wochen voneinander, mit jedem neuen Haar ein bisschen mehr. Junior Highschool nannte man das.

Bei der physischen Trennung gab es keine Komplikationen, aber wie stand es mit der geistigen, wie ließ sich die Phantomverbindung trennen, kraft deren ich, wenn Reggie sich den Zeh stieß, vor Schmerz aufschrie und umgekehrt? Der Moment meiner seelischen Befreiung wurde ausgelöst von Liza Finkelsteins Rollschuhdiscoparty in der achten Klasse, im Frühjahr 83.

Es war Bar-Mizwa-Zeit, in jeder Hinsicht eine gute Zeit zum Leben, besonders aber für unverbesserliche Fingerfood-Aficionados wie mich. Während meine Freunde ihren altehrwürdigen Initiationsritus durchliefen, wurde ich kulinarisch mündig. Was happengroße Snacks anging, hatte ich ein ziemlich behütetes Leben geführt und mich lediglich mit Mini-Hotdogs, La Choy Egg Rolls und anderen Herrlichkeiten der Schule abgegeben, die dem vorgeheizten Backofen verpflichtet ist. Die pikanten, von einem Partyservice gelieferten Köstlichkeiten der in die vollen gehenden, die Bank sprengenden, einfach überwältigenden Bar Mizwa waren eine Offenbarung. Ich erinnere mich, wie ich die silbernen Horsd’œuvres-Tabletts bestaunte, die durch die Luft kurvten und flitzten wie fliegende Untertassen aus einem Science-fiction-Film der Fünfziger, an Bord fremde Lebensformen, die ich mir nie hätte träumen lassen, Botschafter geschmacklichen Friedens und Goodwills. Hühnchen-Teriyaki am Spieß, schwedische Fleischklößchen, die in braunen Lachen lagen, alle möglichen Dips in dunkler, zähflüssiger Fülle – es war schwindelerregend, und das lag nicht nur an den paar Schlückchen Manischewitz.

Ich war daran gewöhnt, das einzige schwarze Kind im Raum zu sein – schließlich war ich nur hier, weil ich diese Ansammlung von Abes, Sarahs und Dannys in einer Privatschule in Manhattan kennengelernt hatte –, aber der einzige Schwarze bei einer Bar Mizwa zu sein hatte etwas durchaus Instruktives. Bei jeder Bar oder Bat Mizwa sollte mindestens ein schwarzes Kind sein, auf dessen Afro eine Kippa schwebt – das ist ein hübscher visueller Scherz, nur um das gleich klarzustellen, aber noch wichtiger ist, dass es das fragliche Kind darin schult, entscheiden zu können, wann Leute, die es nur aus dem Augenwinkel sieht, über es reden und wann nicht – im späteren Leben eine nützliche Fähigkeit, um echte von eingebildeter Verfolgung, etwas tatsächlich Geschehendes von der bloßen paranoiden Einbildung unterscheiden zu können. »Wer ist das?« – »Tuschel, tuschel, ein Schulfreund von Andy.« – »So hoheitsvoll und beherrscht – er sieht aus wie der junge Sidney Poitier.« – »Tuschel, tuschel, oder der Sohn eines afrikanischen Diplomaten!«

Hin und wieder bekam ich irgendwann Gesellschaft, wenn etwa eine Rhythm-and-Blues-Band auftauchte, um sich, mit dem unvermeidlichen »Super Freak« als Zugabe, durch die übliche Motown-Retrospektive zu quälen … während Liza Finkelstein, grimmig und stumm, ihr Platzdeckchen in der Faust zerknüllte und uns alle verfluchte. Ihre Eltern waren Bürgerrechtsanwälte, nicht dass ich wusste, was das hieß, außer dass es Liza an dem einen Tag im Jahr, an dem ein Lehrer den Marsch auf Washington erwähnte, zwang, mit »Meine Eltern waren dabei!« herauszuplatzen. Ihre Eltern respektierten sämtliche Rassen, Hautfarben und Glaubensbekenntnisse, sofern es sich nicht um ihr eigenes Glaubensbekenntnis handelte. Gemäß irgendeinem linken Kalkül waren sie zu dem Schluss gekommen, dass die Traditionen ihres Glaubens Humbug waren, und infolgedessen würde Liza noch eine ganze Weile warten müssen, ehe sie in die Welt der kalligraphischen Einladungen mit ihren aquarienbunten kleinen RSVP-Umschlägen eintrat.

Auflehnung verebbt allmählich. Lizas »Meine Eltern waren dabei!« büßte zwar Jahr für Jahr an Begeisterung ein, aber ich glaube, es war die Bat-Mizwa-Zeit mit ihrem üppigen Prunk und ihrer herrlichen Ausbeute an Geschenken, die ihr die Lippen zu neuen Extremen des Schmollens schürzten. Dermaßen ausgegrenzt zu sein. Und so kam es, dass eines strahlenden Frühjahrsmorgens Mr. Johnson, unser hippiemäßiger Englischlehrer, den Marsch auf Washington erwähnte und die im Klassenzimmer 8B Versammelten sich instinktiv Liza zuwandten, um zum letztenmal ihre Erklärung zu hören. In ein paar Monaten würden wir in der Highschool sein, getrennt, nachdem wir – jedenfalls zum Teil – seit frühester Kindheit zusammengewesen waren. Das war ein Meilenstein, und wir warteten darauf, dass Liza uns gab, was wir brauchten. Die Augenblicke dehnten sich. Ein Argwohn oder eine Angst, dass Liza uns diesen notwendigen Dienst vielleicht verweigern würde, begann durchs Zimmer zu kriechen, so wie feiner Mentholzigarettenrauch unter der Tür des Lehrerzimmers hervorkroch. Mein Blick fiel auf ihre karierten New-Wave-Kniestrümpfe, und ich dachte: Liza ist nicht New Wave. Dann blaffte sie ein verächtliches »Meine Eltern waren dabei«, verdrehte die Augen und streckte die Füße in den Gang zwischen den Pulten. Liza brauchte die ganz Bat-Mizwa-Behandlung nicht. Sie war in diesem Augenblick ein Teenager.

Die Finkelsteins handelten eine Vereinbarung aus, der zufolge die ältere Generation eine Rollschuhdiscoparty von weltlicher Konzeption und Ausführung springen lassen und die jüngere Generation den Gebrauch der Wendung »Aber alle meine Freunde« um mindestens fünfzig Prozent reduzieren würde. Normalerweise machten die Eltern anderer Leute mir angst, aber Mr. Finkelstein schien sich über meine Anwesenheit immer zu freuen. Dass die Finkelsteins ihre Tochter auf eine noble Privatschule schickten, war ein Verrat an grundlegenden Werten, und Schulgeld zu bezahlen, wo man doch eigentlich lokale staatliche Schulen unterstützen musste, entsprach an Verwerflichkeit dem Verzehr von Trauben, wenn man Trauben zu boykottieren hatte. Seinerzeit war jede Traube, die von nicht gewerkschaftlich organisierten Arbeitern gepflückt wurde, eine dem Auge eines Wanderarbeiterkindes abgepresste Träne.

Dass Mr. Finkelsteins Tochter einen echten schwarzen Freund hatte, milderte die Situation ein wenig ab. Hey, war das nicht der Grund, warum sie überhaupt nach Washington marschiert waren? Die Bilder von jenem Tag im Jahre 1963 sind majestätisch und heilig – das Schwarzweißmosaik aus Gesichtern und Stein, der Andrang der Menschen derart, dass man den Pool und das Monument nicht mehr sieht und der architektonischen Arroganz das Grinsen vom Gesicht gewischt wird. Wenn man tatsächlich dabei war, was dachte man dann, wenn man die Bilder sah? Die Masse der Gestalten war der schiere Ausdruck dessen, was Menschen vermochten, und ermöglichte es einem, sich einzubilden, man könne sich selbst in diesem Menschenmeer ausmachen – das da bin ich bei diesem wichtigen Ereignis, genau da, so wie ich vor alledem war. Es musste möglich sein, sich vorzumachen, dass man in dieser Menge nicht unterging. Ich hatte mit Mr. Finkelstein keine Probleme.

Eine Rollschuhdiscoparty war sicherlich ein Artefakt der Post-Piñata- und Prä-Geschlechtsverkehr-Ära. Wo sind sie nur hin, all die Piñatas von gestern? In einer Aufeinanderfolge schön möblierter Wohnzimmer griffen wir zu Stöcken und drückten unsere Begierde durch eifriges Wüten aus, fielen, niederträchtiger Mob, der wir waren, über die armen Piñatas her, dass ihr jämmerliches Papierfell über uns flatterte, ihr leerer Rumpf schlackerte. Wir mussten ins Innere dringen, die Bestien aufschlitzen, sehen, wie ihnen die rosa Eingeweide platzten und jener schwerfällige Regen aus undefinierbaren Süßigkeiten hervorbrach, die es nur in Piñatas gibt, die schäbigen Zimzis, Dolos und Shrats, süße Stückchen, auf die wir scharf waren wie wohlgekleidete Geier. Jetzt aber wollten wir andere Leckereien. Für einige würde dieses präsexuelle Übergangsstadium nur kurz sein. Nicht für mich. Was mein aufgeblähtes Selbstgefühl, nachdem Emily Dorfman mich gebeten hatte, mit ihr Rollschuh zu fahren, nur um so erbärmlicher machte.

Emily Dorfman war die Größte der Klasse, und das schon eine ganze Weile. Wir nannten sie Spinne. Ihre Arme und Beine bildeten ein bleiches Gerüst, das ihre Röcke und Blusen abstützte, und ihr war noch nicht klargeworden, dass sie, wenn sie sich das Haar wachsen ließe, vielleicht die zusätzlichen Wirbel kaschieren könnte, die sie am Nacken zu haben schien – wäre sie ein Tier gewesen, hätte sie an den Blättern ganz oben geknabbert. Ich billigte ihr zwar eine gewisse o-beinige Eleganz, eine schlaksige Anmut zu, hatte sie aber noch nie als Sexualobjekt gesehen. Als Kinder hatten wir gemeinsame Waschräume gehabt, die noch unbehaarten Geschlechtsteile der anderen gesehen, und vielleicht hatte es damit zu tun. Nichts Geheimnisvolles.

Wir waren bei der zweiten oder dritten Zuckerorgie von Lizas Geburtstagsparty, als Emily zu mir herüberkam. Ich war noch nicht so viel gelaufen. Die Rollschuhe saßen zu eng, und ich quälte mich unbeholfen um die Bahn. Ich wusste nicht mehr, welche Schuhgröße ich hatte. Im Grunde tat mein Körper, was er wollte, und ich war nicht der Mensch, der um die richtige Größe bat, nachdem ich mich festgelegt hatte, sondern stakste lieber unter Qualen ein paar Stunden lang herum, als etwas für mich zu verlangen. Das hatte ich davon. Ich stand mit den Jungs drüben beim Asteroids-Automaten – wir alle waren vorübergehend blank und spekulierten über den Trainingsaufwand von DMZ, dem Punkteabräumer bei diesem Spiel –, als Emily in unseren Kreis trat und sagte: »Los, Benji, gehen wir auf die Bahn. Ich hab Lust, Rollschuh zu laufen.« Sie klopfte mir auf die Schulter, um die Beiläufigkeit ihres Vorschlags zu unterstreichen.

Ich schaute zu Andy Stern hinüber, der mein Kumpel war. Wir spielten zusammen Dungeons & Dragons, hatten vor ewigen Zeiten mit Krieg der Sterne angefangen, wahre Marathonsitzungen. Ich erinnerte mich, dass er Emily in der dritten Klasse eine Zeitlang Zettel zugesteckt hatte. War das okay? Würde er als Dungeon Master Rache nehmen? Damals drückten wir Aggressionen dadurch aus, dass wir Orks, Greife und Homunkuli aufeinanderhetzten. Andy Stern kratzte sich mit leerem Blick unter seinem Topfhaarschnitt. Was war schon dabei? Spinne löste keine solchen Empfindungen bei mir aus, und wieso sollte ich bei jemandem solche Empfindungen auslösen? Ich sagte »Okay«, und wir fuhren los.

Das Ganze war ziemlich harmlos, rein freundschaftlich, während wir einer Flottille älterer Jugendlicher auswichen, die in schwatzhaftem Pulk miteinander fuhren, und auf der Innenseite der Bahn einen angenehmen kleinen Windschatten entdeckten. Dann packte sie meine Hand, und ich wäre beinahe zusammengezuckt. Ihre Hand war heiß und feucht. Sie schwitzte heftig. Ich erwähne ihre Verschwitztheit nicht, um das Gespenst der Drüsenanomalie heraufzubeschwören, sondern um den sympathetischen Schweißausbruch zu erklären, den sie bei meiner Hand hervorrief. Igitt. Unsere Finger glitschten übereinander. Wegen meiner schmerzenden Füße war ich ein Stückchen hinter ihr zurückgeblieben, doch nun holte ich sie ein und begann mich ihrem Rhythmus anzupassen. Wir sausten an der Stelle vorbei, wo unsere Freunde sich aufhielten, sahen jedoch nicht zu ihnen hin. Wir ließen sie hinter dem Aluminiumgeländer zurück, weit weg von uns. Ein hypothetisch mögliches Daumenheben von seiten Mr. Finkelsteins in meine Richtung bemerkte ich nicht. Während meine Finger in die Mulden zwischen ihren Knöcheln glitten, dachte ich, dass ihre Spinnenfinger mehr Kontaktpunkte aufwiesen als die unserer Klassenkameraden. Wenn man schon mit jemandem Händchen halten wollte, dann war das vom Volumen her die richtige Hand dafür. Meine Wahrnehmung konzentrierte sich auf die Stellen, wo unser Fleisch sich aneinanderrieb. Ich wandte mich ihr zu, sie sah mich an, und ich lächelte und hob die Augenbrauen, dieser gefällige Tick. Dann senkte ich den Blick rasch wieder. Zuviel! Ich drückte ihr, eine Art sonderbarer Code, zweimal die Hand, und sie erwiderte den Druck. Und dann fiel mir meine andere Hand ein. Sie war leer. Ich war nicht dabei, Reggie von irgendeiner Bordsteinkante zurück- oder von einem Platz im Bus hochzuziehen, damit wir unsere Haltestelle nicht verpassten, er zockelte nicht hinter mir her, während er einen Becher Limo hinunterschüttete, sondern er war überhaupt nicht da. Das hier war kein Dreier, ich war mit jemand anders allein. Die Wahrnehmung meiner linken Hand verblasste, und ich kehrte zu der kleinen Welt angenehmen Kontakts in meiner rechten zurück.

Wir waren ewig da draußen. Wie misst man die Unendlichkeit auf einer Rollschuhbahn? Man kann das Universum untersuchen, indem man Fragen stellt – wie viele Spiegelplättchen auf Discokugeln schießen wie viele rein weiße Streifen über Wände und Böden, wie viele Kugellagerkugeln prallen in wie vielen Polyurethanrädern aufeinander wie erregte Moleküle, wie viele Tintenfleckkolonien von Bakterien gedeihen unerkannt im Zehenbereichsdämmer wie vieler Mietrollschuhe? Sagen wir mal, diese Vorstellung von billiger Rollschuhbahnunendlichkeit wird am besten durch die Zahl Zwei ausgedrückt. Zwei Menschen, zwei Hände und zwei Songs, in diesem Fall »Big Shot« und »Bette Davis Eyes«. Die Texte der beiden Songs lieferten keinen Kommentar, ob ehrlich oder ironisch, zu den Vorgängen. Sie waren lediglich da, man hatte sie immer an den Hacken, den zähen grauen Schmutz, der die Popkultur war. Er klebte uns an den Schuhen und hinterließ überall in unserem Leben Spuren. Hand in Hand schleppten Spinne und ich uns durch die Songs. Und suchten ab und zu den Blick des anderen, um ein kurzes, besorgtes Lächeln zu tauschen.

Dann wurde »Xanadu« gespielt, der Killer. Wir klumpten von der Bahn, gesellten uns wieder unseren jeweiligen Cliquen zu, an gegenüberliegenden Wänden der unterirdischen Rollschuhbahn hingelümmelten Jungs und Mädchen, und kamen nie mehr auf die Episode zurück. Was hatte sie veranlasst, auf mich zuzutreten? Im Jahr darauf wechselten wir auf unsere jeweilige Highschool, und Emily hätte ebensogut zu Antimaterie zerfallen sein können, denn wir sahen einander nie wieder. Offen gestanden nahm ich unseren Moment der Nähe für selbstverständlich (das wird ständiges Thema sein), und wenn ich gewusst hätte, dass das auf Jahre hinaus das Äußerste an Kontakt mit Mädchen sein würde, hätte ich ein Souvenir mitgenommen. Mir mit einem Taschentuch ihren Schweiß von der Hand gewischt und das Taschentuch während der langen Phase der Selbstbefleckung, die (ausgelöst vom Anblick einer nass schimmernden Barbara Carrera in dem zweitklassigen James-Bond-Film Sag niemals nie, der in vielen Szenen das Wasser zum Thema machte) ein paar Monate später beginnen sollte, als erotische Hilfe in Ehren gehalten. Aus seinem Geheimversteck geholt, hätte das unzerknüllte, mit Emilys Schweiß getränkte Taschentuch den visuellen Artefakten, die ich in meinem Gedächtnis speicherte, eine olfaktorische Komponente hinzugefügt, Artefakten, bei denen es sich hauptsächlich um Schnipsel aus Cinemax-Filmen und Sexkomödien für Erwachensene vom Schlage Ranmachen, Rumkriegen, Loswerden plus die eine oder andere verirrte Titte aus National Lampoon handelte, weil ich zuviel Schiss hatte, mir den Playboy zu kaufen. Die Mantelfläche ihrer langen Finger hätte mehr Schweiß abgesondert als die durchschnittliche Achtklässlerhand. Ich hätte nach Kräften an diesem Taschentuch geschnüffelt.

Am Abend der Rollschuhdiscoparty kam ich zu dem Schluss, dass ich jetzt bei den großen Jungs mitspielte. Andere aus meiner Klasse taten mehr als bloß Händchen halten, und dass andere mehr Spaß hatten, wurde zu einem Merkmal meiner Realität. Nun war sogar ich auf dem besten Weg, hatte ich doch etwas bekommen, was ich in meinem stinkenden Sandkasten als Vorzeichen wunderbarer highschoolmäßiger Interaktion interpretierte. Das erste Semester würde großartig werden. Reggie würde nicht einmal im selben Gebäude sein. Als er mir erzählte, dass er nicht auf meine Highschool gehen wollte, war ich erleichtert. »Ich habe es satt, immer nur der kleine Bruder zu sein«, sagte er. (Wir haben eine ältere Schwester, die ich noch nicht erwähnt habe – wir beide dümpelten unter der Zwillingsflagge durch die ganze Grundschule.) Das war nur recht und billig. Ich hatte es auch satt, immer nur der große Bruder zu sein. Im Sommer 1985 waren wir so weit, dass ich die Antwort nicht wusste, wenn jemand »Wo ist Reggie?« fragte. Und es war gut zu sagen, dass ich es nicht wusste.

Meine Mutter sagte: »Wir liegen gut in der Zeit.« Der LIE zerteilte keine Städte mehr, sondern schnitt inzwischen durch ungezähmtes Nassau-County-Grün, immer ein gutes Zeichen. Von dann und wann neben dem Highway auftauchenden Büroparkkomplexen abgesehen befanden wir uns zwischen den Bäumen. Ich ließ mich tiefer in den Sitz sinken und versuchte, mich wieder in den Schlaf zu wühlen. Es war schwer, auf der Fahrt hierher richtig tiefen Schlaf zu finden – eigentlich konnte man nur im Seichten herumplanschen –, und ich litt unter meinen üblichen chaotischen Träumen, deren Grund allerdings ein wenig mehr Kontext erfordert:

Bevor wir das Strandhaus bezogen, wohnten wir immer im Hempstead House, und hinter dem Hempstead House befand sich ein kleines, weißes Holzrahmencottage mit schmutziggelben Zierblenden. Nachts war das durch die dünne Wand aus Bäumen zwischen den Grundstücken erspähte Licht in seiner Küche das einzig Lebendige in der Dunkelheit, der ständige Sommermond. Die Frau, die in den Fünfzigern dort gewohnt hatte, betrieb, wie unsere Mutter uns ab und zu erinnerte, samstags eine Fischbraterei und verkaufte Mittagessen, und der Legende zufolge war DuBois einmal nach Sag gekommen und hatte dort gegessen. Jedesmal, wenn meine Mutter die Geschichte erzählte, nickte ich in geheucheltem Stolz, obwohl ich keine Ahnung hatte, wer DuBois war. Was Dinge anging, die ich nicht wusste, hatte ich gelernt, den Mund zu halten, wenn ich spürte, dass man von mir erwartete, dass ich sie wusste.

So gab es beispielsweise Berühmte Schwarze Menschen, von denen ich noch nie gehört hatte, aber es war zu spät zu fragen, wer sie waren, denn nach irgendeinem geheimen Maßstab war ich so alt, dass es eine Schande war, sie nicht zu kennen, diese Leute, die für jede einzelne Annehmlichkeit, die ich genoss, gekämpft und gelitten hatten. Wie undankbar. So kam etwa einer meiner Onkel vorbei und erwähnte Marcus Garvey, worauf ich »Wer ist das?« fragte, während sämtliche Erwachsenen im Raum schmale Augen machten und traurig tadelnde Schnalzlaute von sich gaben. »Wer ist Toussaint L’Ouverture?« erkundigte ich mich dümmlich, worauf mein Vater zurückblaffte: »Ich reiße mir sämtliche Beine aus, um dich auf diese sündteure Schule zu schicken, und du weißt nicht, wer Toussaint L’Ouverture ist? Was bringen sie euch dort eigentlich bei?« Jedenfalls nichts über »Ikonen des schwarzen Nationalismus«, soviel steht fest.

Immerhin wusste ich über DuBois, dass er unter die Kategorie der Berühmten Schwarzen Menschen fiel – die Leute sagten bestimmte Namen auf eine Art, die diesen eine Ausstrahlung oder Aura verlieh. Der respektvolle Ton, in dem meine Mutter DuBois aussprach, verriet mir, dass der Mann die Sache der Schwarzen vorangebracht hatte. Jahre später hatte ich auf dem College seinen berühmtesten Essay gelesen und war völlig von den Socken gewesen. Und ich zitiere: »Es ist eine eigenartige Empfindung, dieses Doppelbewusstsein, dieses Gefühl, als sähe man sich ständig durch die Augen anderer, als legte man an seine Seele die Maßstäbe einer Welt an, die einen mit belustigter Geringschätzung und Mitleid betrachtet. Man verspürt sie immerzu, diese Zweiheit – ein Amerikaner, ein Neger; zwei Seelen, zwei Gedanken, zwei unversöhnt miteinander konkurrierende Bestrebungen; zwei einander widerstreitende Ideale in einem dunklen Leib, dessen hartnäckige Kraft allein verhindert, dass er entzweigerissen wird. Die Geschichte des amerikanischen Negers ist die Geschichte dieses Widerstreits – dieser Sehnsucht, zu selbstbewusstem Menschentum zu gelangen, sein doppeltes Ich zu einem besseren und wahreren Ich zu verschmelzen.« Ich dachte bei mir: Der Typ, der das geschrieben hat, hat hinter meinem Haus gesessen und gebratenen Fisch verdrückt!

Bei Fahrten mit meinem Vater hatte man es auf der gesamten Strecke mit Schlaglöchern von Doppelbewusstsein zu tun. Es gab nur zwei Dinge, die er im Radio hörte: leichte Unterhaltungsmusik und afrozentrische Diskussionssendungen. Wenn ein Song kam, den er nicht mochte oder der ein Gefühl in ihm hervorrief, das er nicht haben wollte, schaltete er auf die turbulente Rhetorik der Programme mit Hörerbeteiligung um, und wenn irgendein Blödmann irgendeine Idee befürwortete, die mein Vater zu feige oder zu kompromisslerisch fand, schaltete er wieder auf die Musik um. Und alle diese Geräusche sickerten in meine Träume ein. Eben noch hörten wir die Carpenters mit »I’m on top of the world looking down on creation«, und das ging so:

Such a feeling’s coming over me

There is wonder in most everything I see

Not a cloud in the sky

Got the sun in my eyes

And I won’t be surprised if it’s a dream

Everything I want the world to be

Is now coming true especially for me

And the reason is clear

It’s because you are here

You’re the nearest thing to heaven that I’ve seen

Jedesmal, wenn Karen Carpenter den Mund bewegte, war es, als öffnete und schlösse sich mit leisem Klirren der Deckel einer Zuckerdose, unter dem tiefe weiße Dünen zum Vorschein kamen. Dann kam der nächste Song, und die Finger meines Vaters wanderten zu den Knöpfen der voreingestellten Sender, und wir wateten knietief in Polizeibrutalität, Schulmisere und der reflexhaften Grausamkeit der Stadtverwaltung. Die Hitliste der City bestand damals nur aus skandalösen Schlagzeilen, gespielt wurden in ständigem Wechsel blutige Bilder von Michael Stewart, wie er von Cops erwürgt wurde, Grandma Eleanor Bumpurs, wie sie von Cops erschossen wurde, Yusef Hawkins, wie er von rassistischen Schlägern erschossen wurde. Auf WLIB spielten sie die schwarzen Top 40, und der Text ging so:

What I want to know is

When are we going to have our day of justice

These white people think they can kill us in our homes

Can’t walk down the street

Without some cracker with a baseball bat

Trying to murder us

Murder our children, our future

When are we going to have our day?

Mein Vater tat seinen Beifall kund, indem er – je nach Song oder Volksrede – mitsang oder »Sehr vernünftig« sagte. Ist es ein Wunder, dass ich wirre Träume hatte? In meiner Wahrnehmung lösten Leichtigkeit und Unruhe einander unentwegt ab, machten Jagd aufeinander, zwei Signale, die zu schwach waren, als dass man sie länger als ein paar Augenblicke hören konnte.

Mein Vater schaltete das Radio aus, sobald wir auf das manische Nirgendwo des East End Radio trafen, wo sich zwischen den Hits des letzten Monats Werbespots von Autohändlern und der Ladies’ Night im gerade angesagten Schuppen miteinander keilten. Werbespots für Orte, zu denen wir nie fuhren, Dienstleistungen, die wir niemals in Anspruch nahmen. Zu Beginn des Sommers waren die Worte der örtlichen DJs und Geschäftsleute Hohlblöcke, Bewehrungsstahl, I-Träger, und Stück für Stück erhob sich das Gebäude der Sommerwelt aus dem Boden. Vorsicht vor Blechschäden auf dem Stephen Hands Path, rote Flagge am Mecox Beach, Schwimmverbot. Die Worte aus dem Radio besagten, der Stephen Hands Path existiert wieder, der Mecox Beach existiert wieder, sie sind entmottet, und sogar die Flut selbst ist an die Ufer zurückbeschworen worden. Denn wir sind zurückgekehrt.

Dann war Schluss mit Route 27 und dem Tempomaten, und wir schlängelten uns die Scuttlehole Road entlang, vorbei an den weißen Pfosten und dem rostigen Draht, der die strotzende Vegetation an der Straße eingrenzte. Ich roch die süßlich erdigen Ausdünstungen der Kartoffeläcker und stellte mir die Maisstengel in ihren langen Regimentern vor. Meine Mutter sagte wie immer: »Dieser süße Long-Island-Mais.« Reggie furzte seit fünf Minuten und tat dabei so, als schliefe er. Meine Füße scharrten in freudiger Erwartung unter dem Vordersitz. Wir waren fast da. Bei der alten roten Scheune an der Schnellstraße bremsten wir ab und fuhren links. Von dort bis zu unserem Haus war es, als glitte man eine Rutsche hinab und müsste sich nur noch auf die Landung vorbereiten.

Ich ließ die Augen zu. Ein paar Jahre zuvor hätte ich zu diesem Zeitpunkt atemlos auf dem Sitz gekniet, das Gesicht an die Scheibe gedrückt und schier außer mir vor Freude darüber, nach Sag Harbor zurückzukehren. Darüber war ich hinaus – alles, was ich hier hätte sehen können, war nicht Bestandteil des Sommers im eigentlichen Sinne, nur so eine Art Aufwärmen. Ich stellte mir vor, was draußen war – Bäume und Häuser, die als graue Silhouetten vorüberzogen, die gesichtslosen, wenig bemerkenswerten Orte, zu denen ich keinerlei Beziehung hatte. Das Grau wurde unterbrochen von Stellen, die leuchteten, in meinen Gedanken kraft Assoziation aufgeladen. Die verkohlten, aufeinandergehäuften Überreste des Doppelhauses, das vor ein paar Sommern abgebrannt war – wir hatten das Feuer gesehen, uns eines Nachmittags auf dem Weg zum Caldor den Hals danach verrenkt. Die Müllkippe, zu der Reggie und ich jedesmal, wenn ein Gang dorthin fällig war, im Geschwindschritt rannten, ehe die prallen Säcke platzten. Manchmal waren wir zu sorglos, schoben, wenn es zu heiß war, den Gang dorthin auf, und dann rieselten sich windende Maden auf unsere Turnschuhe.

Die leuchtenden Orte bildeten Vorschauen vor der Hauptattraktion, ganz eindeutig Vorschauen, weil sie teilweise, wie Kinofilme, mit einer Altersfreigabe versehen waren. Der Mashashimuet Park, mit einem U für Uneingeschränkter Zugang, Heimat des einzigen wirklich guten Spielplatzes im Umkreis von Kilometern, wo Reggie, die Jungs und ich gesprungen waren, an Stangen geturnt und einander gejagt hatten, bis uns übel geworden war und wir Pop Rocks und Cola erbrochen hatten. Dann gab es noch den Sportplatz des Mashashimuet, den räudigen Baseballplatz, auf dem die Jungs aus der Altergruppe meiner Schwester ein paar Jahre zuvor ein paar Minirassenkriege erlebt hatten – schwarze Großstadtkids kloppten sich mit weißen Kleinstadtkids um das Recht, auf Erde und Kletten herumzulungern. Dann die Abzweigung am Teich und noch knapp hundert Meter bis zum House on Otter Pond, mit einem E für Eingeschränkter Zugang, da es sich um einen der Lieblingsplätze meiner Eltern handelte, wo sie ohne uns essen gingen, tranken und Erwachsenendinge taten. Und ein Stück am Friedhof vorbei die allergrößte künftige Attraktion, mit einem Z für Zwangsläufig, wo der Brauch von einem verlangte, dass man, ganz gleich, wie alt man war, im Vorbeifahren den Atem anhielt, damit einem nicht ein Geist in den offenen Mund flog. So hieß es jedenfalls.

Eine mehr oder weniger zur Sache gehörende Anmerkung zu Kinovorschauen: Unser örtliches Kino war das Olympia, Ecke 107te und Broadway, wo Reggie und ich regelmäßig zu Matineen, manchmal auch zu Freitagabendvostellungen gingen, wenn wir keine anderen Pläne hatten, was häufiger vorkam, als uns lieb war. Unser Platz zum Abhängen, was wir in jenem Jahr nur wenig taten, die Brummschädelstätte, Ort der Erholung von dem einwöchigen, hemmungslosen Besäufnis unserer einzigen Highschoolerfahrung bisher. Das Olympia hatte die Pechsträhne überlebt, die das Schicksal der Uptown-Kinos in den Siebzigern gewesen war, als einem häufig Lebewesen von der Art der Insekten oder Nagetiere auf den Schoß sprangen, um ein bisschen Popcorn zu ergattern, und die hinteren Reihen sich im öligen Nebel von billigem, aufgepepptem Gras verloren. Die wirklich schmutzigen Schuppen hatten eine Reihe Telefonzellen mit altmodischen Schiebetüren und so weiter in der Eingangshalle, so dass man während der weniger spannenden Stellen einen Deal oder Kuhhandel machen konnte, und ständig ließen die übelsten Typen nach dem entscheidenden Dime die Finger auf dem Einwurfschlitz hüpfen.

Das Olympia hatte ein neues Schriftdisplay aus grellrosa Neon und neue Sitze mit roten Polstern, wurde aber immer noch von ein paar bösen Geistern heimgesucht. Die Betreiber kriegten es nicht hin, dass der Vorhang funktionierte. Zuerst kam das Knistern der Lautsprecher, dann sahen wir zu, wie auf dem dunkelroten, vor der Leinwand festklemmenden Vorhang das Rauch- und Babylärmverbot erschien und die erste Hälfte der Vorschauen lief. Die gekräuselten Bilder setzten sich fort, bis der Unmut des Publikums sich so sehr steigerte, dass der Vorführer oder das jeweilige Mädchen für alles oben in der Kabine den Schalter betätigte und der Vorhang sich quietschend teilte. Jedesmal. Ein paar Jahre früher hätte man sich gegen die Salve von Kugeln gewappnet, die auf den weißen Schlitz der Vorführkabine abgefeuert worden wäre, ohne Witz.

Der Vorhang ärgerte mich, und das nicht nur auf die naheliegende Weise, wie er alle anderen störte. Er passte einfach nicht hierher, wenn man die schäbige, kommerzielle Kost bedachte, für die wir bezahlt hatten, die Slasher-Filme und die billige Pyrotechnik zeitreisender Terminatoren. Er war ein sentimentales Relikt der Zeit, als die Leute ins Olympia gekommen waren, um die Bühnenschauspiele einer freundlicheren, nobleren Ära zu sehen, und er hatte keinen Platz in unserem Leben. Als ehemaliger Zwilling hatte ich gern alles säuberlich getrennt. Du bist dort, ich bin hier. Sehne dich ruhig nach der alten Zeit zurück, aber mach das gefälligst dort drüben, in deiner Freizeit. Hier geht es auf heutige Weise zu. Wir versuchen, uns einen Film anzusehen.

Wir fuhren vorbei an den verwitterten, rissigen Holzschindeln der alten Häuser an der Jermain Avenue und der Madison Street und an den leeren Veranden, die auf längst vergangene oder künftige, niemals aber auf aktuelle Gespräche verwiesen, dann kam das stille Areal der Pierson High School, wo niemals eine Menschenseele zu sehen war, wie um zu der Illusion beizutragen, dass die Stadt abgeschaltet wurde, wenn wir nicht da waren. Belege dafür konnten narzisstisch Veranlagte überall finden, alles war, wenn man es dazu machen wollte, ein Requisit, die Strände, die Main Street, der Himmel, alles setzte Staub an und wartete darauf, dass man es mit seiner Gnade belebte.

Wir hielten an, was bedeutete, dass mein Vater auf eine Lücke wartete, um die Route 114 überqueren zu können, und dann fuhren wir die Hempstead entlang, wo unser Viertel offiziell begann. Offiziell – so stand es in dem Buch. Wir hatten ein Buch, Sag Harbor: Wahrzeichen, Häuser & Geschichte, das stets griffbereit neben dem Sofa lag, vermutlich für Besucher, nur dass die einzigen Leute, die je zu Besuch kamen, andere Sommerurlauber waren, weshalb wir genausogut eine Schrift mit dem Titel Illustriertes Handbuch Ihrer Westentasche hätten auslegen können. Das Buch enthielt, eingeklemmt zwischen Chroniken des Walfangbooms und blumigen Huldigungen der wunderlichen Architektur, eine hübsche Karte des Dorfes, und wir wussten, wo unser Viertel begann, weil an dieser Stelle die Karte endete. Der schwarze Teil der Stadt lag jenseits der Ränder.

In der Hempstead begannen die Häuser, Namen zu haben, an die sich Geschichten und Historien knüpften. »Das gehört den Grables«, »Das gehört den Huntingtons«, selbst wenn die Grables und die Huntingtons schon vor Jahren verkauft hatten. Wenn ich die Leute nicht kannte, bevölkerte ich die Häuser mit Hilfe von Geschichten, die ich gehört hatte, und bezog Material aus dem Tonfall des Sprechers und den Reaktionen der Zuhörer. Der Patriarch oder erstgeborene Sohn von Franklin House beispielsweise war bestimmt ein Schürzenjäger und geiler Bock, falls mein Schatz von Zufallsinformationen irgendwelche Rückschlüsse zuließ. Ansage: »Dann kommt Bob Franklin mit diesem jungen Mädchen reinspaziert, sah richtig nach Landei aus, mit so einer hochaufgetürmten Frisur, wie sie sie heutzutage tragen, und einem derart knappen Rock, dass jeder sehen konnte, was sie zu bieten hatte.« Reaktion: Kopfschütteln, schmales Lächeln.

Vorbei am Yardley Florist, dessen Gewächshäuser von unserem alten Baumhaus aus zu sehen waren. Unser altes Baumhaus, das aus zwei verrottenden, auf der Erde liegenden Sperrholzstücken und drei Nägeln in der toten Rinde einer Eiche bestand, war in Wirklichkeit ein ehemaliges Baumhaus, vor Jahren von älteren Kids mit Beschlag belegt, dann verlassen. Vielleicht war es nie mehr gewesen als die Idee eines Baumhauses, die Laune eines Nachmittags. Aber wir waren eines Tages im Wald darauf gestoßen und zu dem Schluss gekommen, dass es ein Ort der Abenteuer gewesen war und wir es wieder dazu machen würden. Wir stießen ständig auf Pfade, die Vorgänger von uns gebahnt hatten, und vollzogen ihre Entdeckungen und ihre Fehler nach. Noch ein bisschen Holz, sagten wir einander, noch ein paar aus einem Glas in irgendeinem Keller stibitzte Nägel, und wir würden das Ganze zu einem richtigen Versteck machen. Wir waren seit Jahren nicht mal mehr in seiner Nähe gewesen.

Dann das Abbiegen in den Richards Drive, wo ich die Augen noch fester zusammenkniff, um mich noch vor dem flüchtigsten Anblick von Hempstead House zwischen den Bäumen hindurch zu schützen. Bald prasselte Kies gegen das Fahrgestell, der Motor gab einen letzten Erschöpfungslaut von sich, bevor er verstummte, und wir waren angekommen. Die Bucht konnte warten, das Haus konnte warten – sie veränderten sich niemals so sehr, dass man sie taxieren, sich lautstark darüber verwundern, sie auf irgendeine Weise ehren musste –, und ich und mein Bruder verdrückten uns in unser Zimmer, um richtig zu schlafen. Seit meine Schwester aufs College ging, hatten Reggie und ich getrennte Zimmer, nachdem wir uns unser Leben lang ein Zimmer geteilt hatten, entweder in einem Stockbett übereinander oder in zwei L-förmig an der Wand stehenden Einzelbetten Kopf an Kopf angeordnet. Unseren eigenen Raum zu haben war wunderbar. Doch hier in Sag mussten wir uns wieder ein Zimmer teilen, und so eingeschränkt zu sein gefiel uns gar nicht. Die Schmach, die das bedeutete. Alles war von einem unsichtbaren Belag, einem muffigen Film überzogen, der sich ein paar Tage hielt, bis das Haus ausgelüftet war.

Es war Viertel vor sieben morgens. Damit hatte es sich. Wir waren hier, um den Sommer über zu bleiben.

Sobald der Sommer richtig in Gang gekommen war, lief man einem von der Clique über den Weg, und der fragte dann: Weißt du, wer noch hier ist? Die verlockende Modulation bedeutete, dass er jemandem begegnet war, den man schon lange nicht mehr gesehen hatte, irgendeinem unwahrscheinlichen Kandidaten, der in der großen wilden Welt verschüttgegangen war. Bobby Hemphill, sagte er, Tammy Broderick, sagte er, und die ganzen alten Geschichten und Eskapaden kamen hoch, beidseitiges Nicken und Augenzwinkern, bevor man sich daranmachte, Gerüchte auszutauschen, Tarngeschichten zu zerpflücken. Hab gehört, er hat seinen Pilotenschein gemacht, er hat mir gesagt, er studiert jetzt wieder Zahnmedizin. Entziehungskur. Sie hat die Spur aus merkwürdigen Quittungen und Anrufen, bei denen gleich wieder aufgelegt wurde, bis zur Geliebten ihres Mannes verfolgt, ihm den Laufpass gegeben und beschlossen, wieder hierherzukommen. Was hatte man vor? »Dies und das, du weißt schon, ein bisschen was anleiern.« Oder der goldene Oldie: »Ein paar Sachen auf die Beine stellen.« Vage bis zum Gehtnichtmehr, aber überzeugend, wenn der Sprecher mit einem »Wie geht’s deiner Mom und deinem Dad?« rasch das Thema wechselte. Man kam wieder hierher, um festzustellen, ob es sich verändert hatte, ob es noch das gleiche war, um sich zu entschädigen, sich zu erholen, zu Atem zu kommen. Es war das Bett, das man am besten kannte, und alles, was dazugehörte. Wir bemühten uns, nicht über die Nöte der anderen zu grinsen, grinsten vielleicht zu Hause, aber nicht hier draußen in aller Öffentlichkeit. Es war so ein schöner Tag, und dazu waren wir zu gut erzogen. Von dieser strengen Generation.

Diejenigen, Die Nicht Mehr Kamen, hatten etwas Trauriges. Manchmal wussten wir, warum sie nicht mehr kamen, manchmal auch nicht. Schande ihrem Namen, falls wir argwöhnten, dass sie sich für etwas Besseres hielten. Der gute alte Bobby, die gute alte Tammy. Wir nannten sie noch nach so langer Zeit bei ihren alten Spitznamen, weil sie auf diese Weise in unseren Klauen blieben, egal, wie sehr sie zappelten. Sie waren von ihrer Vergangenheit ebenso gebrandmarkt wie wir. Es war eine enge Gemeinschaft, und wir alle hatten Dossiers über die anderen.

Als ich aufwachte, hörte ich meine Mutter am Telefon – sie versuchte herauszufinden, wer schon hier war, ob die Leute, die ihr Kommen angekündigt hatten, tatsächlich schon hier waren oder erst noch kommen mussten. Niemand ging dran. Der Verkehr oder irgendeine Katastrophe, wer weiß. Reggie war schon aufgestanden. In der Küche stand mein Vater über den Grill gebeugt und kratzte die Rückstände des vergangenen Jahrs davon ab, schrummte seine Harfe mit einem rosaschäumenden Scheuerschwamm. Das Rosa erinnerte mich an etwas, und ich ging es nachprüfen.

Die Tür zu dem Stauraum unter der Terrasse war mit einem billigen Riegel aus dem Eisenwarenladen In Der Stadt, wie man ihn immer nannte, gesichert. Niemand hatte je versucht einzubrechen. Ich watete in das von Lamellenschatten gestreifte Licht, wischte mir Spinnweben und halbverdaute Lebewesen von den Haaren. Ich stieg über das Spaghettigewirr eines Schlauchs und unsere drei Rechen mit ihrem lückenhaften Preisboxerlächeln und näherte mich den blauen Hängen des Fujijama. Ich zog die Plane von dem Fahrrad und goss dabei die schmuddeligen Seen aus, die sich über den Winter angesammelt hatten. Reggies Fahrrad lag ein paar Meter entfernt, die Räder standen unter der Plastikhülle hervor. Es war irgendwann während unserer Abwesenheit umgefallen.

Ich zerrte das rote Fuji nach draußen. Das Fahrrad war zwar schon lange zu klein für mich, sah nun aber hoffnungslos lahm aus. Das Griffband an der Lenkstange, ehedem glänzendrot, war zu einem unentschuldbar mädchenhaften Rosa verblasst. Ich hatte den Sattel in den vergangenen Sommern immer höher gestellt, so dass dünne, rostige Narben die Sattelstange wie die Wachstumsringe eines Baums markierten. Wenn ich den Sitz dieses Jahr höherstellte, würde es ein Clownsfahrrad sein. Es brauchte Luft und Öl, und als ich es anhob, fühlte es sich so leicht an wie eine Kugel aus Aluminiumfolie.

»Reggie!« schrie ich. Er gab keine Antwort. »Reggie!«

Ich fand ihn oben auf der Terrasse, über die Seite eines Liegestuhls gebeugt. Zu seinen Füßen, auf einem Stück Zeitung, erkannte ich eine alte Flasche Ammoniak von unter der Küchenspüle. Sie war älter als ich. Reggie tauchte eine Zahnbürste in die Flasche und strich damit langsam über einen Fleck auf einem seiner neuen Sneakers – fette weiße Filas speziell für Breakdancer, die er die Woche zuvor zu tragen begonnen hatte. Sie entsprachen nicht seinem üblichen Schuhwerk, waren von etwas weiter draußen auf der Straße, als wir uns je wagten. Er taxierte den Sneaker, strich mit der Zahnbürste über eine winzige abgestoßene Stelle, tauchte sie abermals in das Ammoniak und wiederholte den Vorgang. So behutsam hatte ich ihn noch nie erlebt.

»Was machst du da?«

»Das siehst du doch! Ich mache meine Treter sauber.«

Was für ein exotischer Gedanke, seine Sneakers sauberzuhalten. Ich war in diesem Frühjahr zu schwarzen Chuck Taylors übergewechselt, aus meiner Sicht eine Geste zum Punk hin (es kümmerte kein Aas), und die Zeit war nicht freundlich zu ihnen gewesen. Das schwarze Segeltuch war inzwischen ungleichmäßig grau, und die Kappen waren zu einem hepatitischen Gelb verkommen. Die eigentliche Schande aber waren die Schnürsenkel, die von vornherein zu lang gewesen waren und die ich zudem ungeschickt geschnürt und im Laufe der Monate ganze Marathonstrecken lang über das Pflaster von Manhattan geschleift hatte. Vielleicht haben Sie einmal einen Dokumentarfilm über ein ausgetrocknetes Seebett in der Kalahari gesehen, wo es einmal im Jahr eine kostbare Stunde lang regnet. Das Seebett verwandelt sich in einen umfassenden Tribut an die Dynamik der Schöpfung. In kürzester Zeit explodieren ausgetrocknete Samen zu üppiger Vegetation, aus mikroskopisch kleinen Eiern schlüpfen plötzlich kurzsichtige Kaulquappen und Schwärme geflügelter Insekten, und sämtliche halbverdursteten Tiere, die nach einem Tropfen Wasser schmachten, wuseln auf mageren Beinen los, um sich ihre Höcker und Feldflaschen zu füllen. Aus diesem einen Donnerschlag entsteht jäh eine ganze unfertige Welt. Nun stellen Sie sich die Bazillenlegionen und Bakterienhorden vor, die auf den Bürgersteigen von New York vor sich hin dämmern und auf ein bisschen Feuchtigkeit warten. An Regentagen waren die Schnürsenkel ihre schlabberige Zuflucht, die diese unseligen Lebensformen aufsog und ihnen Erlösung gewährte. Sie waren ein heiliges Land.

Ich hörte von seinen Sneakers, ehe ich sie sah. Reggie hatte einen leichten Schlaf, in dem er zuweilen redete, und ich, damals noch Dilettant auf dem Gebiet der Schlaflosigkeit, war ein aufmerksames Publikum für seine nächtlichen Monologe. Meist versuchte ich, auf sein Kauderwelsch einzugehen und ein Gespräch in Gang zu bringen, aber das klappte nie. Sein Mund war wach, aber seine Ohren schlummerten. In der Woche bevor wir nach Sag fuhren, sahen wir im Wohnzimmer fern, und Reggie schlief ein und begann vor sich hin zu murmeln. Ich wartete auf eine Gelegenheit. Vielleicht würde ich diesmal die Geheimnisse seines Unbewussten erschließen und später gegen ihn verwenden können, was ich erfuhr.

»Meine neuen Filas … das Gestrüpp.«

»Erzähl mir von dem Gestrüpp«, sagte ich geduldig.

Reggie schmiegte sich in die Polster. Er sagte: »Meine neuen Filas … sind …« Und das war alles.

Jetzt verstand ich, dass das fehlende Wort weiß lautete. Seine neuen Filas waren infolge seiner Pflege von reinem, schimmerndem Weiß. Eine Hand tief in einem Sneaker, hielt er ihn himmelwärts, musterte ihn und drehte ihn langsam mal in diese, mal in jene Richtung, als handelte es sich um ein Stück Wolke, das abgebrochen und ihm auf den Kopf geknallt war. »Das Gestrüpp« interpretierte ich als die ungerechte Welt, die gewaltige Phalanx unheilvoller Kräfte, die darauf aus waren, seine geheiligten Treter zu beflecken oder zu verunstalten. Auch ich würde im Schlaf reden, wenn mir so schwere Gedanken durch den Kopf gingen. (Vielleicht redete ich ja im Schlaf, und es hörte nur niemand.) Ich wollte die Ursache von Reggies Verhalten wissen. Wieso Filas? Wer hatte ihm geraten, Ammoniak zu verwenden? Ich sagte: »Fahren wir ein bisschen rum.«

»Ich muss warten, bis sie trocken sind.«

Eine halbe Stunde später wartete ich in der Einfahrt. Drei Monate, dachte ich. In müßigen Momenten zog ich mich in jenen Frühsommertraum der Neuerfindung zurück, in dem man den Blick auf den September und das aufpolierte Ich richtete, mit dem man dann herumgondeln und auf die Hupe drücken würde, damit einen die Leute auch bemerkten, während man langsam an sämtlichen angesagten Plätzen vorbeifuhr: Seht mich an. In mir reifte ein Plan, und mir blieben drei Monate, um ihn durchzuführen. Bestimmt war ich in meiner Illusion nicht allein, aber das wäre mir damals nicht in den Sinn gekommen. Auf der ganzen Welt suchten Millionen von Teenagern nach einem Ausweg aus ihrem klammen persönlichen Labyrinth. Nahmen an diesem perfekten Ferienkurs teil, übten vor Spiegeln mit Zahnpastaspritzern das falsche Lächeln, durchstöberten ihre Persönlichkeit nach lässigen Grüßen und witzigen Herabsetzungen, die sie für diesen besonderen Anlass aufsparten. Lagen mit gekreuzten Knöcheln ausgestreckt auf dem Bett und analysierten an den Texten der Band herum, die derzeit gerade ihre Seele besaß, bis die Worte zu Philosophie wurden. Rannten zu angrenzenden Cliquen und riefen hastig: »Ich will überlaufen!« Allesamt hungrig und mit krummen Schultern, taumelten sie hinter jenem Schattenwesen, dem Neuen Ich, her. Ein schwer zu fassendes Geschöpf, aber wie gesagt, ich hatte drei Monate, um meinen Kram auf die Reihe zu kriegen.

»Komm schon!« schrie ich.

Mein kleines Fahrrad. Ich hielt es ein Stück von mir weg, um es genauer betrachten zu können. Platte Reifen, rostige Verbindungsstellen, abblätternder Lack, viel zu klein. Nur ein Clown würde auf so ein Ding steigen, aber als solcher galt ich nun schon eine ganze Weile – ein paar schwere Fehler in der ersten Woche des ersten Semesters, und ich hatte sämtliche Pläne von sozialem Aufstieg während der Junior High zum Scheitern gebracht. Ich war einer jener Dummköpfe, die glaubten, »Sei einfach du selbst« sei eine zeitlose Weisheit, der beruhigendste Rat, den ich je bekommen hatte, und verhielt mich entsprechend. So war es möglich, dass beispielsweise folgende Worte aus meinem Mund kamen: »Ich kann es gar nicht erwarten, bis George A. Romero, der Meister des Horrors, wieder einen Film dreht. Im Fangoria – noch immer die beste Horror- und SF-Zeitschrift, die es gibt, wenn ihr mich fragt – steht, dass er Schwierigkeiten hat, Geld dafür aufzutreiben, aber ich glaube, Hollywood hat einfach Angst vor dem, was er zu sagen hat.« Oder auch: »Ich finde, dass wir – wir alle – einen Fehler gemacht haben, als wir zu Advanced D&D übergewechselt sind. Die Urversion war … reiner, wisst ihr?« Aussagen (von einfacher Wahrheit), die noch vor Wochen harmlos gewesen waren, stellten nun Symptome einer Krankheit dar. Einer womöglich ansteckenden Krankheit. Ich war einfach ich selbst und wurde einfach gemieden. Inzwischen schon ganze kontaminierte Semester lang.

Reggie sprach nicht über sein erstes Jahr in der Highschool. Aber er machte keinen glücklichen Eindruck, und wenn es mir schlechtging, diktierte die Logik, dass es ihm noch schlechter gehen musste. Ich war schon immer der Fähigere von uns beiden, wenn Sie sich das vorstellen können.

»Wo ist dein Fahrrad?« fragte ich, als er endlich auftauchte.

»Ich gehe zu Fuß.«

Das verstieß gegen das Protokoll. Herumfahren hieß fahren.

»Du kannst ja fahren, wenn du willst«, sagte Reggie. »Ich gehe jedenfalls zu Fuß.« Er senkte den Blick sehr angelegentlich auf seine Sneakers.

Es war das letztemal, dass wir den Sommer auf diese Weise beginnen würden. So hatten wir es an jenem ersten Tag immer gemacht – die Räder herausgeholt und die Lage gepeilt. Die Wohnsiedlungen abgefahren, um festzustellen, wer außerdem noch da war, die Truppe aufgefüllt, dann in die Stadt gedüst, ins Kaufhaus, ins Ideal, im Conca D’Oro ein Stück Pizza gegessen. Das war unser System, wie zwei brüderliche, vom Wind umhergewehte Steppenläufer die Straßen entlangzuschlittern. Strenggenommen schalteten wir auf unsere Zwillingszeit zurück, aber es kam uns eigentlich nicht wie eine Mogelei vor. Vielleicht spielte es keine Rolle, was während des restlichen Jahrs vorging. Sag Harbor stand außerhalb der Regeln.

»Warten tu ich jedenfalls nicht auf dich«, sagte ich. Aber ich ließ ihn nicht zurück. Statt dessen eierte ich in albernen Schleifen um ihn herum, mal vorneweg, mal hinter ihm vorbei. Meine langen Beine zackerten dämlich herum. Bei jeder Wende gaben die platten Reifen langgezogene Furzgeräusche von sich, wenn sich der Gummi gegen den Asphalt drückte. Reggie ging zügig vorwärts, während wir uns in Richtung Walker Avenue bewegten. In unserer Sommerwelt gab es drei Wohnsiedlungen – Azurest, wo wir wohnten, Sag Harbor Hills und Ninevah. Aber Ninevah war ein ganzes Stück weit weg, nur Bobby wohnte dort, und wir hatten ihn im Lauf der Jahre dazu erzogen, zu uns zu kommen, so dass es nicht auf unserer Route lag. Zuerst Azurest, dann die Hills auschecken, dann in die Stadt.

Ich sah nicht viele geparkte Autos. Die Sommerurlauber trudelten nur ganz allmählich ein. Damals gab es noch reichlich unerschlossene Grundstücke, und die Leute hatten noch nicht angefangen, die richtig großen Klötze zu bauen. Die Häuser stammten in der Mehrzahl aus den Sechzigern und hatten vier bis fünf Zimmer. Stupsnasige, einstöckige Ranchhäuser mit Zementpatios und fliegendrahtverkleideten Veranden standen neben pastellfarbenen Terrassenhäusern mit ölfleckigen Carports und widerspenstigen Hortensien als zusätzlichem Farbtupfer. Ab und zu traf man auf ein kantiges Strandhaus, das mit grauen, vom Regen streifig gewordenen Kieferbrettern verkleidet war und von grauem Kies angekündigt wurde, den jedes starke Unwetter auf die Straße schwemmte. Ganz gleich, wie groß oder von welcher Machart das Haus war, die ersten Ankömmlinge quälten immer die gleichen Fragen. War das Dach über den Winter dicht geblieben, hatten die Rohre gehalten, war irgendein jugendlicher Ganove aus der City oder der Stadt eingebrochen und hatte den Fernseher geklaut, oder hatten sich nur Waschbären und Eichhörnchen mal kurz darin umgesehen? Ist es immer noch da, oder habe ich es nur geträumt?

Wir kamen an dem Haus vorbei, das wir immer das »Spukhaus« nannten, und zum erstenmal ließen wir unser Ritual aus, bei dem einer den anderen aufforderte, an die Tür zu klopfen, und wir ein paar Minuten lang darüber stritten, worauf dann einer von uns einen Kieselstein gegen ein Fenster warf und wir schreiend davonrannten. Es war ein winziger Kasten von einem Haus, das mit jedem Jahr weiter verfiel, während immer mehr Dachschindeln davonflogen und die Farbe abblätterte. Wegen des Unkrauts und der Sträucher kaum sichtbar, stand dort ein Anhänger mit einem Motorboot, ein nach der Großen Flut auf den Strand gesetzter, rissiger Fiberglasrumpf, und halb im Wald lag ein alter Grill auf der Seite, mit nach oben ragenden Beinen, wie ein schmerbäuchiges Tier, das dorthin gekrochen war, um zu sterben. Wie gesagt, ein Spukhaus.

Es gab, über die Siedlungen verstreut, eine ganze Menge dieser baufälligen Behausungen. Die Hecken wuchsen sich – machen wir uns nichts vor – zu krausen Wucherungen aus, Gräser füllten die Reifenfurchen der Auffahrten, und der Vorgarten wurde zu einem Minenfeld alter Telefonbücher, die aufgequollenen Seiten von Infoblättern drückten gegen ihre Plastikumhüllungen. Die Häuser Derer, Die Nicht Mehr Herkamen. Wer kannte die Geschichten, die dahintersteckten. Man brauchte nur meine Mutter nach diesem oder jenem Haus zu fragen, und sie sagte: »Die kommen nicht mehr her«, und das auf eine Weise, dass man das Unkraut um ihre Worte wachsen sah. Es gab naheliegende Gründe – ökonomische Rückschläge oder dass sie nicht mehr im Nordosten lebten –, aber meine Gedanken neigten immer zum Melancholischen. Zum Beispiel war das rote Haus an der Milton das Geschenk einer Generation an die nachfolgende, aber die Kinder und Enkel vernachlässigten es, wussten die Kostbarkeit, die sie da besaßen, nicht zu schätzen und ließen sie vergammeln. Oder: Die Leute, die im Cuffee Drive wohnten, hatten sich schon seit Jahrzehnten nicht mehr blicken lassen, aber wenn sie das Haus verkauften, was hatten sie dann? Es war das Wichtigste, was sie im Leben besaßen, und sie gaben die Hoffnung nicht auf, dass sie eines Sommers zurückkehren würden. Vielleicht absorbierten die abwesenden Nachbarn all unser Unglück, damit wir es leicht hatten.

Im Laufe der Jahre kam ich dahinter, dass es ganz verschiedenartige Spukhäuser gab. Es gab Häuser, die makellos gepflegt waren, wo man jedoch nie eine Menschenseele sah. Die Dachrinnen funkelten im Sonnenlicht, die Hecken waren zu sauberen, vollkommenen geometrischen Formen gestutzt, die Vorhänge in den Fenstern akkurat. Die Rasenmäher erschienen am ersten Frühlingstag und schoren zweimal die Woche in präzisen Reihen, und die Sprinkler wahrten tadellose, zischende Ordnung und waren so eingestellt, dass sie bis auf ein Molekül Abstand von der Grundstücksgrenze und kein Stückchen weiter wässerten. Aber einen Menschen sah man nie. Kein Licht, keine Autos, keinen von der Terrasse im Hintergarten aufsteigenden,