Die Reise des Clowns - Harald Zilka - E-Book

Die Reise des Clowns E-Book

Harald Zilka

0,0

Beschreibung

Der Clown Fellini verbringt seinen Lebensabend im kleinen Wanderzirkus Barboni, der zu seiner Familie geworden ist. Leider steht der Zirkus mit Schulden von 168.532 Euro kurz vor dem Bankrott. Da erhält Fellini den Brief eines Notars, der ihn über eine Erbschaft informiert. Sein verstorbener Onkel Serpacio Grillo hat ihm eine Zirkuskiste und 168.532 Euro vererbt. Um die Erbschaft anzutreten, muss er in die Stadt reisen. Dort lernt er das Clown-Mädchen Lilly kennen. Doch Lilly hat einen schweren Herzfehler und benötigt eine Operation in den USA, die mit Aufenthalt und Reha 168.532 EUR kostet. Fellini muss sich entscheiden. Kann der Zirkus Barboni trotzdem gerettet werden? Als er darüber nachdenkt, wird er von drei grauen Männern der Kunstmafia entführt, die nach einem gestohlenen Rembrandt-Gemälde suchen, das sich in Serpacios Besitz befinden sollte. Ein Wettlauf mit der Zeit beginnt.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 164

Veröffentlichungsjahr: 2015

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Die Reise des Clowns

von Harald Zilka

Roman

Impressum:

›Die Reise des Clowns‹ von Harald Zilka

1. Auflage

Lektorat: Elisabeth Scherer

E-Book für Kindl & E-Book Reader:

ISBN: 978-3-7375-4358-3

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das Recht der

Vervielfältigung und Verbreitung.

Covergestaltung & Satz: Sound & Visual Project

Copyright: © 2012-2014 by Harald Zilka

Homepage: http://soundandvisual.beepworld.de/

Verlag & E-Book: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de

Inhaltsverzeichnis

Der Zirkus
Bankrott
Paris
Der Brief
Die Reise
Die Fußgängerzone
Der Notar
Die Herberge
Das wunderbare Clown-Mädchen
Das verrückte Dinner
Die grauen Herren
Fellini in Nöten
Flucht und andere Verwirrungen
Die griechische Taverne
Verhaftet
Barboni hat einen Plan
Der Koffer von Serpacio Gilli
Das Lied des Fantinis
Der Antiquitätenladen
Überraschender Besuch
Der Bürgermeister lässt bitten
Fellini als Medienstar
Rückkehr nach Paris
Nachwort
Zirkus Barboni
Paris, Montmartre
›Remember Him‹ von Harald Zilka

Für Heinz Zuber

Der Zirkus

Kurz vor Beginn der Vorstellung sah Zirkusdirektor Barboni aus dem Fenster seines Wohnwagens und erblickte das Grauen. Fünfundzwanzig Menschen, Erwachsene und Kinder standen auf dem Platz vor dem Hauptzelt, begutachteten die Tiere in den ausgestellten Käfigen und warteten auf die Show. Fünfundzwanzig Zuschauer würden in einem Zelt sitzen, das dreihundert Menschen fasste.

»Heute sind wir wieder übervoll!«, grummelte Barboni und kratzte seinen Bart. Sorgenfalten überzogen seine Stirn, die Enttäuschung legte sich wie ein Stein auf seine Magengrube. Vielleicht war es dumm gewesen, voll Hoffnung auf den heutigen Abend zu warten und zu denken, dass irgendetwas passieren würde, was das Ruder herumriss.

Es war ja auch dumm gewesen. Auch ein ausverkauftes Zelt an einem einzelnen Abend hätte nichts an dem Problem geändert, dass der Zirkus in der Kreide stand. Mit einer Schuldenlast von 168.532 Euro und einem Stapel nicht bezahlter Rechnungen, stand der Zirkus Barboni vor dem Bankrott. Der Clown Fellini ging durch den Hof, trötete mit einer Trompete und streute Konfetti über die wartenden Gäste. Einige hatten Zuckerwatte oder Popcorn in der Hand. Die Menschen lachten über Fellini, aber richtige Stimmung kam nicht auf. Stimmung entsteht schließlich in der Menge.

»Keine Menge, keine Stimmung!«, sagte Barboni zu sich selbst und ließ sich auf den Stuhl fallen, der hinter seinem Schreibtisch stand. Der Stuhl protestierte mir einem lauten Knarren. Der Schreibtisch war ein Kunstwerk, auf dem sich Ordner, Unterlagen und vor allem Rechnungen türmten. Diese wurden weniger. Denn statt Einzel-Rechnungen gab es schon die ersten Inkasso-Briefe, die Einzelforderungen zusammenfassten. Sein Blick schweifte durch den Wohnwagen, die gerahmten Plakate an den Wänden und einige Fotos, die säuberlich auf der Kommode in kleinen Bilderrahmen standen. Gerahmte Zeitungsausschnitte aus ganz Europa dokumentierten eine andere Zeit. Glanzvolle Abende mit hunderten Besuchern, Gastauftritte von weltweit geachteten Artisten wie den Magier Jack Blaine oder den russischen Seiltänzer Ivanov. Dieser Zirkus hatte eine lange Geschichte und bis 1985 eine gute Zeit. Dann war es bergab gegangen. Langsam, aber stetig. Die vergangenen fünf Jahre hatte man keine einzige Vorstellung mehr gespielt, welche die Kosten abdeckte. Nicht am Land und nicht in der Nähe von großen Städten. Zuletzt hatten sie gar nicht mehr in größeren Städten gastiert, weil die Standkosten viel zu hoch waren. Es schien, als wäre der Zirkus Barboni einfach verpufft. Verschwunden, wie das Kaninchen eines Zauberers. Natürlich hatte man versucht Einsparungen vorzunehmen, doch alleine die Winterquartiere kosteten mehr, als der Zirkus im Sommer einspielte. Dabei gab es nur mehr wenige Tiere. Ein Zirkus war aber nun mal auch kein Betrieb, den man verkleinern oder einsparen konnte. Die Futtermittel, die Werbung, die Platzkosten, die Instandhaltung der Fahrzeuge, die Umzüge, alles kostete Geld. In zwei Tagen würde der Masseverwalter kommen und das Unternehmen auflösen. Die Frist zur Eigenrettung, wo der Zirkus einen Plan zum weiterbestand vorlegen konnte, war dann verstrichen. Barboni lehnte sich zurück, schloss die Augen. Er registrierte, dass es vorbei war. Sie waren pleite. Zwischen den Gefühlen der Trauer und Demütigung mischte sich auch Erleichterung. Trügerisch, aber ein typisches Kennzeichen von aussichtslosen Situationen. Barboni, der aus einer Familie von Feuerschluckern und Zirkusartisten kam, die seit mindestens drei Generationen im Sand der Manege aufgewachsen war, würde er der letzte Barboni sein, der die Tür in diesem Kapitel abschloss. Der Letzte macht das Licht aus, das war bitter. Er stand auf, setzte seinen Hut auf den Kopf mit dem spärlichen Haar und schritt hinaus über den Platz, um die Vorstellung zu eröffnen. Kaum hatte er Blickkontakt mit den Zusehern, die gerade in das Zelt gingen, schrie er ›HOHOHO‹. Mit voller, kräftiger Stimme. Diesen Ausruf hatte er vom Weihnachtsmann gestohlen und niemand bemerkte, was wirklich in seinem Kopf vorging. Es war wie ein letzter Reflex, den Menschen, die heute gekommen waren, noch einen schönen Abend zu bereiten. Immerhin hatten sie sich nett angezogen und waren den weiten Weg aus der Stadt gekommen, um seinen Zirkus zu besuchen. Die Platzanweiser und Artisten, die er auf den Weg zur Manage traf, merkten es schon. Sie konnten eins uns eins zusammenzählen und waren deprimiert. Die drei Musiker der ›Kapelle‹ spielten die Eröffnungsmelodie. Die Hälfte der Instrumente kam vom Band. Viele Bläser, laute Trommeln. Barboni wusste nicht einmal, ob man drei Musiker als ›Kapelle‹ bezeichnen konnte oder eher als Trio. Früher waren es elf gewesen, doch ein paar waren gestorben. Zwei hatte er entlassen müssen, weil er ihre Gage nicht bezahlen konnte. Vier waren in Pension gegangen und verbrachten ihren Lebensabend nun in einem Künstlerheim in der Schweiz. Die Platzanweiser schlossen den Eingangsbereich, das Licht wurde gedämpft.

Zwei Pensionisten, die zuvor Eintrittskarten verkauft hatten, wechselten schnell das Sakko und führten die Gäste zu den Plätzen. Zumindest taten sie so, denn das Zelt war ja leer. Wenn es etwas gab, was hier reichlich vorhanden war, dann eine freie Platzwahl. Barboni hatte das Zelt umrundet und stand nun im Sattelgang, der hinter dem Künstlereingang lag. Hier wurden Requisiten gelagert oder eben Pferde gesattelt und von hier traten die Artisten auf. TATARATA spielte die Kapelle und der Zirkusdirektor Barboni trat ins Scheinwerferlicht. Verhaltener Applaus. Die Gäste bemühten sich, so gut sie konnten. War ein Zirkus voll, schallten die Publikumsreaktionen von allen Seiten. War ein Zirkus leer, konnte man die wenigen Rufer und Klatscher sofort lokalisieren. Barboni, der sechzig Jahre alt war und fünfundvierzig davon im Zirkusgeschäft gewerkt hatte, spürte, wie sich seine Brust zusammenschnürte. Er keuchte kurz, räusperte sich und begann dann mit der Begrüßung. Fellini saß hinter dem Vorhang, unter der Bühne der Band und spielte mit einem Stock im Sand der Manege. Er zeichnete einen Clown mit traurigem Mund. Obwohl Fellini als trauriger Clown geschminkt war, sah er unterhaltsam aus. Früher hatte er Zeichnungen von Kindern bekommen, die ihn stets mit einem lachenden Mund zeigte. So konnte man durch die schwarz geschminkten Augenringe auch nicht sehen, dass seine Augenhöhlen wirklich dunkel waren. Die rote Blume auf seinem Hut hing etwas schlapp hinunter Sie sah nicht fröhlich aus. Der Pferdedompteur stand nur wenige Meter daneben und wippte mit der Peitsche. Eine mechanische, unruhige Bewegung. Zwei Balletttänzerinnen dehnten ihre Muskeln. Sie traten mit dem Elefanten Eribos auf. Der Katzenbändiger suchte im Sack seiner Hose nach Trockenfutter. Die Löwen waren schon lange weg. Jetzt wurden vier Wildkatzen gezeigt. Zwei Geparden und einige kleinere Tiere. Das Verbot, wilde Tiere in einem Zirkus zu zeigen, war einer der Mitgründe für den Verfall der Branche. Außerdem sah man heute im Fernsehen Zirkusshows aus der ganzen Welt und gerade aus Asien und Russland waren neue Zirkusgruppen aufgetaucht, die auf Showtanz und Akrobatik spezialisiert waren. Darüber hinaus stand jedem Fernsehsender auch ein großes Budget zu Verfügung. Zumindest damals, als das Fernsehen große Shows und Zirkussendungen noch forcierte. Die Zeiten, wo das Volk begeistert zusammenkam, wenn die Wagenkolonne am Hauptplatz eintraf und ein Zelt aufgebaut wurde, waren vorbei. Was waren das für Zeiten gewesen! Alleine die Ankunft eines Zirkus hatte das Volk in Unruhe versetzt. Kinder hatten die Schule geschwänzt, um heimlich die Aufbauten zu beobachten. Alleine die Mundpropaganda hatte um sich geschlagen wie eine Welle. Dazu war dem Zirkusleben und der Branche früher auch ein mythischer Ruf bestimmt gewesen. Von Zigeunern bis zu effekthaschenden Vorführungen von Verkrüppelten oder Übermenschen war es vor allem die ängstliche Neugier, die sich gut verkauft hatte. Die bekam man aber längst über die zahlreichen Fernsehsender ins Haus geliefert. Vom Dschungelcamp bis zu Actionshows in allen Bereichen wurden Dinge geboten, die ein Zirkus gar nicht machen konnte. Und wem lockte noch eine zersägte Jungfrau aus dem Winkel hervor, wenn David Copperfield schon in den Neunzigern die Freiheitsstatue verschwinden ließ? Sogar die Stuntshows, die aus Amerika und gefährliche Autostunts vorführten, gingen heute schlecht. Barboni war in den Achtzigern einmal bei einer italienischen Stuntshow gewesen, wo ein Motoradfahrer über zwanzig Autos sprang, die der Breite nach nebeneinander aufgestellt waren. An einem gewöhnlichen Nachmittag saßen keine zweihundert Menschen im Publikum. Wenn man heute keine Ermäßigungsgutscheine unter das Volk warf, kam überhaupt niemand. Größere Zirkusunternehmen lebten auch gar nicht schlecht davon. Die Mär vom armen Artistenschlucker hielt sich nachhaltig. Beim Zirkus Barboni war das auch so, bei renommierten Zirkussen aber nicht. So stiegen Clowns und Artisten bei großen Unternehmen nach den Vorführungen in auch in ihre nagelneuen BMWs und Audis. Beim Zirkus Barboni waren die meisten Fahrzeuge so alt, dass sie nur mit Mühe durch den TÜV kamen. Das fehlende Geld schlug sich auch auf die Werbemöglichkeiten nieder. In diesem Jahr hatte Barboni auch wenig plakatiert. Den Zirkus bemerkte nur, wer am Zelt vorbeifuhr, denn die Druckereien weigerten sich längst Plakate zu drucken, um auf ihr Geld zu warten. Genauso wie die Plakatwandvermieter. Der Zirkusdirektor präsentierte den Pferdetrainer und die vier Stuten. Früher waren es Araberhengste gewesen, doch die hatte man längst verkauft. Die letzten Tiere des Zirkus waren Pferden, Lamas, Ziegen, Zwergpferden und Kamele. Die Musik spielte, die Scheinwerfer umkreisten die Manage und die Pferde galoppierten im Kreis, ehe sie verschiedenste Figuren präsentierten. Im Anschluss kam Seiltänzerin Angelique und dann der Katzenbändiger, der die unspektakulären Wildkatzen mit einer Comedy Nummer präsentierte, um davon abzulenken, dass sie zwar schwer zu zähmen, aber keine ernsthaften Raubtiere waren. In der Pause unterhielt der Feuerschlucker Gagarin die Menschen. Er kam aus der Ukraine und hatte sich einen stahlharten, muskulösen Körper antrainiert. Bald kam Clown Fellini in die Manage, stolperte über den Sand, kratzte sich mit einer Klobürste am Ohr und spielte auf einem großen Xylophon. Er erheiterte sein Publikum und brachte alle zum Lachen. Doch das Lachen verschwand im großen Zelt, genauso wie der Applaus. Um die Publikumsreaktionen in einer schönen Klangwelle zu bündeln, musste ein Zelt mindestens zur Hälfte besetzt sein. War das nicht der Fall, fühlte man sich einsam, weil selbst die Nebengeräusche des Publikums so leise waren, das man in den Pausen in der Ferne das Geräusch der Generatoren und die Gebläse der Scheinwerfer hören konnte. Nach der Pause kam der Zauberer. Früher, als es noch Tiger und andere große Tiere gab, hatte man nur selten einen Zauberer gebraucht. Der Zirkus Barboni hatte nun einen, weil der billiger war als andere Attraktionen.

Er zerschnitt die Seiltänzerin in zwei Teile und schob sie weit auseinander. Später ließ er sie hinter einem Paravent verschwinden und Clown Fellini tauchte wieder auf. Er stolperte aus dem Kasten, tat so, als wüsste er nicht, wo er war und die Leute lachten. Weil Fellini in die beiden letzten Nummern integriert war, war der Zauberer sogar ein Höhepunkt. Neunzig Minuten später verließ das Publikum das Zelt, aß noch Eis oder machten Fotos mit den Artisten. Sie sahen glücklich aus, weil ihre Kinder es waren. Hätte man ganz genau hingesehen, hätte man gesehen, dass den Erwachsenen das Elend nicht entgangen war und dass sie besonders nett zu den Angestellten waren, weil sie ihnen Leid taten. Ein Künstler weiß, wann ihm das Publikum besonders fördert, weil sie Mitleid hatten. Aber eigentlich sollte man nicht genauer hinsehen.

Sie hatten sich gut unterhalten und versucht zu ignorieren, dass die Vorstellung praktisch leer gewesen war. Es war ein lauer Frühlingsabend. Eine warme Nacht, an dem man gerne ein paar Schritte zu Fuß machte. Die Artisten winkten noch den letzten Gästen zu. Man sah ihnen an, dass sie an diesem Augenblick festhalten wollten, denn keiner ging gerne in seinen Wagen zurück. Als der letzte Gast das Territorium verlassen hatte und das große Tor geschlossen wurde, war es mit der guten Stimmung vorbei. Die Sterne des wolkenlosen Nachthimmels glitzerten wie Scheinwerfer. Als die Lichter im Zirkus Barboni gelöscht wurden, war den meisten klar, dass diese Verdunkelung ein Vorzeichen war. Ein Vorzeichen für das Ende.

Bankrott

Die Artisten, Tänzer, der Zauberer und Clown Fellini schminkten sich in ihren Garderoben ab und verstauten sorgfältig ihre Kostüme. Fellini stellte die großen Clownschuhe unter das Bett und Band die rote Clown-Nase und den Faltenhut an das Kostüm. Sein Wohnwagen war ein heilloses Durcheinander aus Kostümen, Zauberartikel, Masken und anderem Firlefanz. Doch es war ein kontrolliertes Chaos, genauso wie es seiner Rolle entsprach. Eine Oase voll Zirkusluft und Kitsch. Wenn man heute in moderne Zirkuswägen geht, in denen junge Artisten wohnen, ist das nicht so. Diese Wohnwägen waren modern eingerichtet, mit hellen Möbeln und auf den Schreibtischen standen Computer, mit denen die Künstler nicht gänzlich von der Außenwelt abgeschlossen waren. Aber der Zirkus Barboni war ein Zirkus aus einer anderen Generation.

Als Fellini sich abschminkte, sein Gesicht im Spiegel sah, waren alle Spuren der Fröhlichkeit getilgt. In wenigen Minuten würden sie draußen am Feuerplatz zusammentreffen und Direktor Barboni verkünden, was jeder wusste. Es war vorbei. Es würde keine weitere Saison mehr geben und die aktuelle Tour abgebrochen. Das Unternehmen würde Stück für Stück verkauft werden. Ein paar Kostüm-Flohmärkte und Schrottmärkte später, würden sie drüber nachdenken müssen, was aus ihnen wurde. Der Wagenpark des Zirkus Barboni war das Wertvollste im ganzen Betrieb. Der Clown Fellini betrachtete sein Durcheinander, betastete ein paar Federblumen im Vorbeigehen und griff in den Hasenkäfig. Sein Kaninchen Felix war der letzte Überlebende von ehemals vier Tieren, mit denen er gezaubert hatte. Felix würde er mitnehmen, doch der war alt, ein Methusalem und seine Jahre gezählt. Fellini betrachtete seine Zauberrequisiten und seine Musikinstrumente. Clowns waren generell sehr vielseitig. Der österreichische Fernsehclown Habakuk hatte vierunddreißig Instrumente gespielt. Er war Maler, Bildhauer, Zauberer und hatte unzählige Puppen gebaut. Auch Fellini beherrschte neunzehn Instrumente und noch eine Vielzahl an kleine und exotische Flöten. Er war über sechzig und viel herumgekommen. Er hatte viele Länder gesehen und aus jedem Land, das er bereist hatte, Instrumente mitgebracht. Kastagnetten aus Spanien, Bambusflöten aus China, Agogôs (ein Glockenpaar) aus Brasilien. Die wenigstens hatte er gekauft. Er hatte sie gegen heimische Instrumente bei anderen Künstlern eingetauscht. Sein wertvollstes Instrument war eine Geige des italienischen Geigenbauers Giovanni Francesco Pressenda. Der war 1777 in Alba, Italien geboren worden. Als Sohn eines Wandermusikers, baute er nach seiner Lehrzeit Geigen nach dem Vorbild von Stradivari. Diese waren nicht ganz so hochpreisig wie die Stradivaris, wurden danach aber ebenfalls hoch geschätzt. Vielleicht würde Fellini nach dem Zirkus mit seiner Geige herumziehen. Der Gedanke war gar nicht so abwegig, machte ihn aber nicht glücklich. Zirkusmenschen sind keine Einzelgänger.

Hinter dem Vorhang, war eine starke Zusammenarbeit und körperliche Arbeit notwendig, weil ein Zirkus für sich selbst verantwortlich war. Anders als bei Popstars, welche die Bühne betreten, die tagelang vorher von Roadies aufgebaut worden war und sich präsentierten, mussten in einem kleinen Zirkus wie den Barboni alle Hand anlegen. Und sie alle glänzten in einer Disziplin, die außerhalb der Zirkuswelt niemand brauchen konnte. Durch seine Vielseitigkeit hatte der Clown wahrscheinlich mehr Möglichkeiten als viele andere im Team. Musizieren und Zaubern konnte man auch in den Fußgängerzonen oder auf Events. Doch Fellini war alt und hatte mehr Angst davor, in eine große Stadt zu gehen, als vor allem anderen. Wenn man es genau betrachtete, war er seit seiner Kindheit nicht mehr länger in einer Stadt gewesen. Seine Jugend hatte er auf See verbracht, als Matrose auf diversen Frachtschiffen der Nordsee. Sein Vater hatte es für eine gute Idee gehalten, ihm Fertigkeiten beizubringen, die Fellini im Zirkusleben nützlich sein konnten. Er hatte seine ersten Auftritte vor der Mannschaft, wurde aber auch durch schwere, körperliche Arbeit gut trainiert. Fellini hatte die Seefahrt aufgegeben, als eines seiner Schiffe in Somalia von Piraten überfallen wurde. Wenn man an Piraten denkt, fällt einem meisten Robert Louis Stevensons ›Die Schatzinsel‹ ein. Die mythische Welt von karibischen Meer und einbeinigen Seeräubern und Schatzkisten. Aber Piraterie gibt es bis heute, nur das nicht mehr mit Kanonen geschossen wurden, sondern mit russischen Sturmfeuergewehren. Der Golf von Aden, wo die Somalischen Piraten Schiffe kapern, die Straße von Malakka und die Route zwischen Sumatra und Malaysien waren dabei so ziemlich die gefährlichsten Seestraßen. Alle drei hatte Fellini befahren und sein Schiff vor Somalia auch gleich Piratenkontakt gehabt. Es waren junge, schwarze Fischer, die mit kleinen Booten und Maschinengewehren das Schiff enterten, die Mannschaft gefangen nahm, um von der Reederei Lösegeld zu erpressen. Es hatte Tage gedauert, bis die britische Marine das Schiff befreit hatte. Die meiste Zeit hatte Fellini sich in einem Apfelfass versteckt, so wie Jim Hawkins ins Stevenson Roman. Apfelfässer waren in der Seefahrt gleich die wichtigste Erfindung nach den Sextanten. In der Antike und dem Mittelalter fuhren Seefahrer mehrere Jahre zur See. Alleine Marco Polos Reise nach China dauerte drei Jahre. Der Mangel an frischer Kost und Vitaminen, raffte viele dahin. Ab dem 19. Jahrhundert und der Erfindung von Konservierungsstoffen und schnelleren Schiffen, starb niemand mehr an Skorbut. Piraten gab es noch immer. Mutig war Fellini nicht gewesen, nicht wenn es um Piraten ging.

Er hatte keine Angst, auf einem Seil zu balancieren oder waghalsige Stunts als Clown zu machen. Selbst im hohen Alter hatte es ihm keine Mühe gemacht, in der Manege nach einem Schlag umzufallen oder einen Purzelbaum zu schlagen. Danach hatte Fellini beschlossen, eine Zirkuskarriere zu starten. Mit wenig Geld, der Heuer seiner letzten Reise war er nach Paris gefahren und hatte in den Straßen von Montmartre gemalt, um sich das Geld für die Clownschule zu verdienen. Ganz recht, es gab eigene Schulen für Clowns und die gibt es auch heute. Fellinis Ausbildung beinhaltete die Vermittlung der Regeln der Komik, die Techniken von Clown- und Slapstick-Performance, Pantomime-Training und zahlreiche Übungen zur körperlichen Bewegung. Im Gegenteil zu Schauspielern, die darauf trainiert werden, sich in verschiedenste Rollen zu spielen, gab es für den Clown nur eine Aufgabe. Eine eigene Figur zu entwickeln, diese auszubilden und damit aufzutreten. Die Individualität der Figur hing davon ab, wie sehr er sein Publikum überraschen konnte. Am besten funktionierte das, wenn man Alltagsgegenstände in die Vorstellung einbezog. Fellinis Meisterstück wurde ein Dreiminutenakt, in dem er einen Kleiderständer mit Hut und Mantel in eine Figur verwandelte, ihn hofierte, mit ihm Kaffee trank und tanzte. Diese fiktive Figur hatte den Namen Mr. Dangl und brachte Fellini in den Siebzigern sogar einen Auftritt in eine Fernsehshow. Aber das war später, zu seinen besten Zeiten. Nach einigen harten Jahren auf der Straße hatte er sich einem französischen Wanderzirkus angeschlossen und war seitdem jeden Tag in der Manege gestanden. In vielen Manegen, vor vielen Menschen und in vielen Ländern. Er dachte kurz darüber nach und stellte fest, dass er nach Paris nicht mehr in einem Hotel oder einem festen Haus geschlafen hatte. Als sein Vater ihm den Wagen seiner Familie vererbte, war dies sein Zuhause geworden. Die Erinnerungen an seine Vergangenheit taten Fellini nicht gut. Sie schnürten seine Kehle zu. Er brauchte Luft. Er zog seine Sommerschuhe an und trat hinaus vor den Wagen. Es war Ende Mai und die Nächte wurden wärmer. Die ersten Gelsen schwirrten herum und die Grillen zirpten. Der Zirkus hatte am Stadtrand aufgebaut und hier, abseits der Stadtlichter, sah man die Sterne klar. Fellini trat auf den Platz und ging zum Lagerfeuer, an dem sich schon die anderen versammelt hatten und ein paar Marshmellows oder Würstchen ins Feuer hielten. Ein spätes Abendessen nach der Show war in diesem Geschäft normal.