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Einige wissen davon: Ein Menschenteam und ein Eloiteam hatten sich nichts Geringeres vorgenommen, als die Welt zu retten. Wir erzählen ihre Geschichte. Die für den 21. Juni 2050 erwartete Rückkehr der Eloi zur Erde ist in Gefahr. Störungen in der Raumzeit sorgen für Chaos. Während ein Mitglied des Menschenteams durch einen Zeitriss in die Vergangenheit zurückgeschleudert wird, geraten die Eloi auf eine dystopische Zeitlinie der Gegenwart. Die demokratischen Menschenrechte werden systematisch ausgehebelt. Die verbliebenen Mitglieder des Menschenteams kämpfen ums Überleben. Hoffnung auf Rettung verspricht einmal mehr der Kelch der Eloi. Kann er das Ende der zivilisierten Menschheit verhindern?
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Die Rückkehr der Eloi
von Esther Novalis und Jean P.
edition gazzetta
Einige wissen davon: Ein Menschenteam und ein Eloiteam hatten sich nichts Geringeres vorgenommen, als die Welt zu retten. Wir erzählen ihre Geschichte.
Die für den 21. Juni 2050 erwartete Rückkehr der Eloi zur Erde ist in Gefahr. Störungen in der Raumzeit sorgen für Chaos. Während ein Mitglied des Menschenteams durch einen Zeitriss in die Vergangenheit zurückgeschleudert wird, geraten die Eloi auf eine dystopische Zeitlinie der Gegenwart. Die demokratischen Menschenrechte werden systematisch ausgehebelt. Die verbliebenen Mitglieder des Menschenteams kämpfen ums Überleben. Hoffnung auf Rettung verspricht einmal mehr der Kelch der Eloi. Kann er das Ende der zivilisierten Menschheit verhindern?
Die Rückkehr der Eloi
Copyright: © Jean P und Esther Novalis.
2025 – publiziert von edition gazzetta,
Tannenweg 2, 34621 Frielendorf
Coverdesign: edition gazzetta unter Verwendung einer Vorlage von Adobe
Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
ISBN: 978-3-946762-99-7
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Die einzige Pflicht, die wir der Geschichte gegenüber haben, ist die, sie umzuschreiben.» (Oscar Wilde, «The Critic as an Artist», 1891)
Stasis
Du hast dein Balek verpasst, du hast dein Balek verpasst. Das darf nicht sein, das darf nicht sein! Der Gesang der Priesterinnen wiederholte sich und wiederholte sich. Das war nervtötend. Es pochte in ihrem Kopf und dann zischte es. Was zischt da? Es hört sich an wie der Druckausgleich, wenn ...
War es so weit? Ja, tatsächlich! Ein dumpfes ‚Plop‘ beendete das Zischen und verscheuchte das Traumgebilde. Nun war es still, gespenstisch still. Senga war wach und tauchte langsam ins Realbewusstsein auf.
Bleib liegen, ganz ruhig. Du musst die Aufwachphase der Poststasis abwarten. Die innere Stimme ihr treuer Begleiter von Geburt an. Sie funktionierte, das war ein gutes Zeichen. Nun galt es geduldig zu warten. Die Haube hatte sich geöffnet, aber erst beim dritten akustischen Signal durfte sie die Stasiskammer verlassen. Der Schlafsaal wurde lediglich von einem orangenen Dämmerlicht erhellt.
Sie war die Erste. Alles lief nach Plan. Die anderen Crewmitglieder schliefen noch. Ihre Aufgabe als Heilerin bestand darin, den Aufwachvorgang der anderen Crewmitglieder zu überwachen und die Vitalwerte zu checken. So lange trug sie die Verantwortung für alle – etwas, das ihr Unbehagen bereitete. Doch da musste sie durch. Das Unbehagen war nur das Ende einer Kette von Ereignissen, an deren Anfang die Entscheidung gestanden hatte, sich der für sie vorgesehenen Porta zu entziehen – einer Porta mit einem Mann, den sie nicht liebte und dem sie keine Kinder gebären wollte. Da Heilerinnen gewisse Privilegien besaßen, hatte man ihr den Tabubruch verziehen. So nannten sie das. In Wahrheit war es ein Deal gewesen: Man ignoriere es, wenn sie im Gegenzug dazu bereit sei, an der nächsten Erdpassage teilzunehmen – einer äußerst wichtigen.
Deren Beliebtheit hatte in den letzten Jahrtausenden abgenommen. Die Menschen entwickelten sich ganz offenkundig nicht weiter, sondern zerfleischten sich gegenseitig in immer neuen Kriegen. Zu einer echten Kontaktaufnahme hatte man sich daher noch nicht entschließen können. Lediglich mit einigen Auserwählten bestand holografischer oder telepathischer Kontakt.
Sie hatte also eingewilligt und – nun gut – dafür also jetzt Verantwortung. Dass sie das schaffen würde, bezweifelte sie nicht, aber angenehm war es kaum. Doch Sunna war ja dabei, ihre beste Freundin. Sunna war Erzählerin und arbeitete beim Informationsministerium. Sie hatte die Aufgabe, alle Vorkommnisse der Reise zu dokumentieren und war hauptverantwortlich für die Kommunikation, da sie sehr sprachbegabt war.
Nach ihrer notgedrungen ersten Landung auf der Erde in Göbekli Tepe und der Stilllegung der fehlgelaufenen Zeitlinie war ihr Logbucheintrag etwas wirr gewesen. Das hing damit zusammen, dass Sunna sich in den Menschen Fabio verknallt hatte. Letzteres gab ihr einen kleinen Stich – nicht nur weil Sunnas Gefühl völlig indiskutabel war, da nicht mal eine reale Begegnung stattgefunden hatte. Die oberste Direktive verbot außerdem jegliche Vermischung mit anderen Spezies. Doch daran lag es weniger. Vielmehr hegte sie im Stillen mehr als nur freundschaftliche Gefühle für Sunna. Leider jedoch war auch das völlig indiskutabel. Das Gesetz verbot gleichgeschlechtliche Liebe. Diesbezüglich waren ihnen die Menschen weit voraus.
Der erste vibrierende Summton signalisierte ihr, dass ein Drittel der Aufwachphase vorbei war. Was sollte das nur mit diesem verrückten Traum? Bis zu ihrem Balek dauerte es, NANUK sei Dank, noch eine ganze Weile. Außerdem war ihr gar nicht danach, überhaupt daran teilzunehmen. Diese alten Rituale fand sie eher befremdlich. Aber sie musste vorsichtig sein. Es sich mit der Obrigkeit ganz zu verscherzen, war nicht gut für die Karriere. Dass sie die Porta abgelehnt hatte, würden sie zwar ignorieren, jedoch nicht vergessen. Wenn sie diese Baleks nur nicht so depressiv stimmten! Sie war schon bei einigen dabei gewesen, doch im Gegensatz zu Sunna konnte sie sich für dieses Bewusstseinsritual nicht erwärmen. Dass man irgendwann sterben würde, wusste man doch ohnehin. Sunna hingegen verteidigte das Mitlebensfest. Es sei wichtig, um das Gefühl dafür zu vertiefen, dass es nicht immer so wie gerade weiterginge und alles endlich war.
Stellte das nicht eine banale Selbstverständlichkeit dar? Warum musste man nach 1000 Jahren darauf aufmerksam gemacht werden, dass man – mit großer Wahrscheinlichkeit – die erste Hälfte des Lebens hinter sich hatte?
‚Um dich dafür zu sensibilisieren‘, hatte Sunna in einem Streitgespräch entgegnet, ‚dass du jetzt noch die Chance hast, deinem Leben eine andere Richtung zu geben, etwas Neues zu probieren oder auch das, was man tut, mit neuer Bewusstheit fortzusetzen.‘
Na gut, da war was dran, aber brauchte es dazu eines Millionen Jahre alten Rituals, bei dem es ein Jahr lang darum ging, über Dinge wie über ein halb volles Glas Wasser zu meditieren?
‚Du bist zu sehr Kopfmensch‘, hörte sie Sunna sagen und glaubte zu fühlen, wie sie ihr dabei zärtlich über ihr kurz geschorenes hellblondes Haar streichelte, dass sie zu ihrem Leidwesen mit 90% der Eloi gemein hatte. ‚Ich würde mich freuen, wenn du dich darauf einlassen kannst und wir das gemeinsam absolvieren.‘
Als sie gerade beschloss, es ihrer gleichaltrigen Freundin zuliebe zu tun und ihren Traum als entsprechende Bekräftigung genau dafür zu interpretieren, summte es zum zweiten Mal.
Dauerte das! Da hatte man ihnen ein Schiff der neuesten kleinen PAWUK-Klasse mit Tarnkappenfunktion zur Verfügung gestellt, aber zu Stasis-Kammern der letzten Generation mit KI-kontrollierter Aufwachphase hatte es nicht gereicht. Angeblich gab es Lieferengpässe.
‚Ist doch fein‘, war es Sunna herausgerutscht, ‚ich werde viel lieber von dir als von KI überwacht.‘ In solchen Momenten geriet ihr Gefühl in Wallung, selbst wenn ihr der Verstand sagte, dass Sunnas negative Einstellung gegenüber der KI – wie die vieler Eloi – darauf zurückzuführen war, dass sie von den Entgleisungen künstlicher Intelligenz auf der Erde Ende der 2020er-Jahre nach irdischer Zeitrechnung gehört hatten.
Na, egal, so war es halt. Dafür besaßen sie ein schnelles Schiff, welches es ihnen ermöglichte, in recht kurzer Zeit zwischen der Erde und dem in der Menschensprache Ganymed genannten Jupitermond zu pendeln. Das war notwendig geworden, weil sie die sogenannten Auserwählten von dieser völlig aus dem Ruder gelaufenen Zeitlinie aus der Zukunft hatten retten müssen. Um wieder auf die ursprüngliche Zeitlinie zu gelangen, waren sie, nachdem sie die andere mittels eines halsbrecherischen Manövers durch das Wurmloch angehalten hatten, nach Ganymed zurückgeflogen. Dort hatten sie sich in Stasis versetzt, um die Zeit zu überbrücken, die verging, bis die normale Zeitlinie sie wieder eingeholt hatte. So ein Wirrwarr, ging ihr durch den Kopf, während sie versuchte, ihre Gedanken auf die kommenden, von ihr zu erledigenden Schritte zu lenken. Seit der Entdeckung des sich nach irdischer Zeitrechnung alle 160 Jahre öffnenden Wurmlochs zwischen dem NANUK-System und dem SOL-System war es schon häufig zu verwirrenden Konstellationen gekommen, welche das Raum-Zeit-Kontinuum in Bedrängnis gebracht hatten. Schon vor längerer Zeit hatte deswegen eine Ethik-Kommission damit begonnen, eine Lösung für dieses Problem zu finden, bisher allerdings ohne Ergebnis. Man war sich einig, dass Zeitreisen, ob als Nebeneffekt oder gezielt herbeigeführt, nicht gut seien. Doch wie sollte das verhindert werden, wenn man nicht die interstellare Raumfahrt verbieten wollte? Und dann gab es ja Notfälle wie diesen, der die Folge einer Kette von Ereignissen war, an deren Anfang ihre Erbschuld stand. Die Eloi hatten sich an den Menschen versündigt, weil sich einige von den ersten Raumfahrern mit ihnen vermischt hatten. Daraus waren infolge der Chromosomenunverträglichkeit – sie hatten zwei Chromosomenpaare mehr als die Menschen – die Morlocks entstanden und das Böse hatte begonnen, seinen Lauf zu nehmen: auf der Erde wie auch auf Elo.
Wie ein böser Fluch war das! Was konnte denn ihre Generation dafür, dass die Urahnen sich diesen unverzeihlichen Fehltritt geleistet hatten? Ungerecht war das! Doch eine Entwicklung auf der Erde verhieß Hoffnung. Es gab noch ein Gebiet, auf dem die Menschen weiter waren als sie: die Gentechnik. Insbesondere ein von der Gentechnikerin Sophia Philips entwickeltes Präparat versprach Hoffnung darauf, das infolge der damaligen Vermischung entstandene MAOA-Gen so zu manipulieren, dass die allgemeine Aggressivität zurückging.
Sie benötigten also die Hilfe der Menschen, um sich und den Menschen helfen zu können – und den Fluch zu tilgen. So lautete die offizielle Begründung für diesen, wenn er denn gut verliefe, letzten Eingriff ins Raum-Zeit-Kontinuum. Er war zur allerobersten Direktive erhoben worden.
Der dritte Summton signalisierte das Ende der Aufwachphase. Es war, als ob er von fester Hand betätigt worden wäre.
Zeit des Erwachens
Was ist das für eine Hand? Sind es nicht sogar zwei? Ja, natürlich! Eine hat meine rechte Hand ergriffen und streichelt sie. Ich spüre ihre Kühle. Es ist eine angenehme Kühle, eine zärtliche gar. Wer bist du?
Und du, der du meine linke Hand in deine Hände nimmst, weiß ich das nicht auch, wer du bist? Deine Hände sind warm und kraftvoll vertraut.
Manchmal redet ihr doch auch, warum schweigt ihr heute? Habt ihr gemerkt, dass ich geträumt habe? Dauernd schwirren diese merkwürdigen Basaltbrocken durch die Gegend, als wollten sie mich bombardieren. Nein, das kann nicht sein und ich weiß das auch. Sie sind viel zu schwer und liegen als Überreste einer vergangenen Kultur in der Gegend herum. Wenn man es genau betrachtet, waren da geniale Baumeister am Werk. Könnt ihr das sehen? Schaut doch mal. Da ist ein riesiger Berg, der ein gigantisches Bauwerk in sich verbirgt.
Aber was ist das? Klettern da nicht irgendwo kleine weiße Gestalten rum? Nein, das ist Unsinn. Ich weiß, dass ich Unsinn träume. Die weißen Gestalten seid in Wirklichkeit ihr! Der Traum will mich täuschen. Ihr seid doch ... Ja klar, ihr seid meine Bräute. Ich habe zwei Bräute. Nein, das geht doch gar nicht. Ich muss verrückt sein. Die fliegenden Basaltbrocken haben mir den Verstand zertrümmert.
Bitte sagt doch etwas! Ich höre euch, auch wenn ihr das nicht glaubt. Aber ich will euch auch sehen, euch riechen, euch fühlen. Was ist das jetzt. Weint da jemand? Ja, tatsächlich. Es ist die mit den kalten Händen. Sie schluchzt und schnieft. Ach Mensch! Was kann ich nur tun? Tröstet die andere sie? Wieso höre ich das nicht? Flüstern sie so leise, dass ...
Flüstern? Da war doch was! Ja, richtig, wir konnten doch ..., wir waren in der Lage telepathisch zu kommunizieren und nannten das flüstern. Sophia! Sarah! Oh, ihr Lieben, ihr seid da – und wart es immer! Ich hatte es nur vergessen, weil mir andauernd diese Basaltblöcke um die Ohren schwirren, als ob sie mich dahin ziehen wollen. Dahin? Wo ist das?
Dort, wo die weißen Gestalten waren, liegen jetzt Knochen herum, weiße Knochen ... Weg mit diesem Bild. Ich will das nicht. Ich will euch spüren. Doch ich glaube, ich muss dahin. Wollt ihr mich festhalten? Ihr habt meine Hände auf meinem Bauch zusammengelegt und haltet sie so fest, als wolltet ihr mich nie mehr loslassen. Aber ich habe eine Pflicht zu erfüllen. Es geht um die Eloi. Mehr kann ich nicht sagen. Ich kann überhaupt nichts sagen. So hört doch! Ihr müsst das doch verstehen. Oder hab ich es verlernt zu flüstern und ihr versteht mich deswegen nicht mehr?
So sprecht bitte laut. Lasst mich teilhaben, bei euch sein, in eurem Geist, in eurem Herzen.
«Du, ich bleib bei ihm», sagt jetzt ... Sarah! Kalte Hände, stimmt. Immer kalte Hände. «Geh du zu den anderen, mit ihnen das Neue Jahr begrüßen. Er würde das auch wollen.»
Das Neue Jahr begrüßen? Verdammt, wie lange lieg ich hier schon? Eben erst war doch ... Ja, aber sie hat recht. Ich würde das wollen. Bitte tu das Sophia, das ist okay!
«Quatsch, ich bleibe. Wir sind ein Team. Wir begrüßen hier mit ihm zusammen das Neue Jahr. Komm, wir erzählen ihm was von früher, aber laut. Möglicherweise hat er durch die Verletzungen die telepathische Fähigkeit verloren.»
Ja, Sophia! So ist das wohl. Und bitte, ja! Erzählt mir von früher. Denn bald muss ich verreisen, nach ... Gunung Padang! Jetzt weiß ich es. Was sonst will der Traum mir sagen? Ob die Eloi in Gunung Padang gelandet sind? Nein, das kann nicht sein. Die kommen doch erst 2050 ... 2050! Gerade eben erst ...
«Das könnte sein, aber wo sollen wir beginnen?» Sarah.
«Weiß auch nicht so recht. Mir kommt alles, was wir erlebt haben vor wie gerade eben erst.»
Sophia.
«Und doch schon Ewigkeiten her!» Sarah.
«Weißt du noch, wie wir damals, nach der Feier in Basel am Ufer des Rheins standen und deine Pille geschluckt und dann lange geglaubt haben, dass die unsere Zeitsprünge verursacht hat?» Sarah.
«Ach Mensch, musst du ausgerechnet damit beginnen? Ich hab mich hinreißen lassen. Das hätte nicht passieren dürfen. Im Grunde ist alles meine Schuld.» Sophia.
«Unsinn! Wenn, dann war ich schuld. Hab dich zu sehr bedrängt, wegen meiner Erbkrankheit und so.» Sarah.
Was ist nun los. Sie schweigen. Wollen nicht streiten. Das alte Schuldthema. Dabei hatte ich den gleichen Anteil. Man macht nicht einfach mal so einen Selbstversuch. Ach bitte, erzählt von etwas anderem. Das Thema hatten wir doch abgehakt. Immerhin ist Sarahs Erbkrankheit geheilt. Wenn also dieses Epiphysox für etwas gut war, dann dafür. Und das ist die Hauptsache.
Ansonsten waren wir alle wie die Kinder! Verdammt Sarah, damals in Bozen, vor 60 Jahren, wie wir es später scherzhaft abtaten. Ich hätte das niemals tun dürfen. Da wussten wir noch längst nicht, dass deine Erbkrankheit geheilt war – und ich hab dich geschwängert. Hab mich gehen lassen ...
«Sarah, wenn er alles hört! Lass uns was anderes erzählen. Wir haben uns einfach gehen lassen, hatten zu viel getrunken und ... na ja. Wir hatten das doch abgehakt. Du bist gesund. Das Baby wird gesund ...» Sophia.
«... und sein Vater liegt im Koma. Ach Fabio, wach endlich auf!» Sarah.
Hat sie ihren Kopf auf meine Brust gelegt? Ja! Und Sophia streichelt über ihr wunderschönes, angesichts ihrer schottischen Abstammung eher ungewöhnlich schwarzes Haar. Wenn ich mich doch bewegen könnte! Sie trösten, streicheln, umarmen könnte! Vielleicht gibt es einen Trick? Was muss ich tun, um aufzuwachen?
«Vielleicht können wir doch etwas machen, damit er aufwacht.» Sophia. «Ich hab mal gelesen, dass Komapatienten auf Dinge reagiert haben, die geradezu lächerlich waren, sie aber dermaßen aufgeregt habe, dass – ähnlich wie bei einer Angstreaktion – der Adrenalinspiegel steigt, der Blutdruck hochgeht, die Herzfrequenz zunimmt und die Muskeln kontrahieren. Der Körper bereitet sich, vom limbischen System gesteuert, in Sekundenbruchteilen auf Flucht vor – so, wie wir instinktiv eher das Weite suchen, wenn wir bedroht werden.»
«Na, ich weiß nicht, Sophia. Willst du ihm Angst machen?
«Nein, natürlich nicht. Das war nur ein Beispiel. Diese Symptome treten auch bei anderen Erregungszuständen auf. Der Körper ist dann in Alarmbereitschaft.»
«Erregungszustand? Na, dann erzähl doch mal was Feines von ganz früher. Vielleicht macht ihn das ja an. Ihr habt’s doch schon viele Jahre vor meiner Zeit getrieben!»
«Sarah, du bist gemein! Was soll das denn jetzt? Noch mal so was und ich lass mich scheiden!»
«Sophia, Sophia! Schau doch mal! Da, auf dem Monitor, die Kurve. Du ..., da ..., er bewegt sich. Jetzt! Er ..., er schlägt die Augen auf! Sophia, er ist wieder da!»
«Psst, nicht so laut! Fabio? Siehst du uns? Hörst du uns?»
Oh ja, ich sehe euch, ich höre euch und ich rieche euch sogar. Wie schön ihr seid! Ich liebe euch. Danke, dass ihr mich nicht allein gelassen habt.
«Fabio, ganz ruhig. Alles wird gut. Sophia, ich habe das Gefühl, dass er ... dass er uns schon etwas gesagt hat, aber ... es kommt nicht heraus.»
Ich glaube, ich muss laut reden, vielleicht ... klappt das nicht mehr mit ..., mit dem Flüstern.
«Ja, er nickt. Ob er ...»
Meine Lippen sind so schwer. Mein ganzer Mund klebt zusammen. Ich bin ausgetrocknet. Muss was trinken.
«Ja, gib ihm etwas Wasser, ganz langsam.»
Das tut gut. Jetzt ..., jetzt!
«Daanke. Ich ..., ich hab ... ich hab geträumt, ähm, ich ... Es besteht die Gefahr, dass ... Wir müssen ... schnellstens nach Gunung Padang.»
Gunung Padang
Knochenfund in Weltkulturerbe gibt Rätsel auf
Bozen/Boscona/Jakarta 01.03.2050
Bei Ausgrabungen im Unesco-Weltkulturerbe Gunung Padang ist der Archäologe Fabio Wolf auf hominide Knochen, darunter auch Schädelbruchstücke und andere Skelettteile gestoßen. Während äußerliche Merkmale wie die Schädelform und ein eher gedrungener Körperbau Pan troglodytes oder eventuell Homo neandertalensis nahelegen, gehen der Archäologe und sein Team ersten Untersuchungen nach höchstens von einem Alter von einigen Jahrzehnten aus. Da Indonesien, das erst kürzlich den neugegründeten U.S.S.A. beigetreten ist, jegliche Ausfuhr von Proben verbietet, können genaue Untersuchungen wie Radiokarbonmethode und Genanalyse nur vor Ort durchgeführt werden.
In einem Interview vor ihrem Abflug nach Jakarta gab sich Sophia Philips bedeckt. Die Molekularbiologin, die im Gespräch für den nächsten Medizin-Nobelpreis ist, soll die genetische Untersuchung der Knochenfunde durchführen. Fragen, welche die vielfach kursierenden Gerüchte betrafen, dass es sich um Außerirdische handelt, wich Philips mit dem Hinweis aus, dass sie als Wissenschaftlerin für Spekulationen nicht zu haben sei. Gunung Padang, was übersetzt so viel wie ‚Berg der Erleuchtung‘ bedeutet, ist seit seiner Entdeckung vor über 100 Jahren, immer wieder Gegenstand entsprechender Mutmaßungen geworden, da bislang noch nicht stichhaltig nachgewiesen werden konnte, dass Menschen zu solch architektonischen Leistungen, wie wir sie in Gunung Padang vorfinden, vor mehr als 22000 oder noch mehr Jahren in der Lage waren. Selbst das im Vergleich dazu mit knapp 12000 Jahren geradezu ‚junge‘ Göbekli Tepe sei immer wieder in den Fokus ‚außerirdischer Verschwörungstheoretiker‘ geraten, kommentierte Philips in der ihr eigenen ironischen Art. Sie machte deutlich, dass es gewiss nur eine Frage der Zeit sei, bis diese letzten Rätsel vorgeschichtlicher menschlicher Kultur gelöst würden.
Auch den gerade in den letzten Monaten immer wieder in den Medien erschienenen Berichten über angebliche Besuche von Außerirdischen in jüngster Zeit erteilte Philips eine klare Absage. Sie zeigte sich zuversichtlich, schon in Kürze gemeinsam mit ihrem Freund Fabio Wolf ein wissenschaftlich fundiertes Ergebnis vorweisen zu können. S.M.
Sarah MacKenzie legte das Holyblet, dessen holografische Funktion sie in Sorge um das in ihrem Leib heranwachsende Leben stets abschaltete, zur Seite. Nicht, dass sie den gestrigen, von ihr selbst verfassten Leitartikel der Gazzetta nicht in-und auswendig konnte, aber sie haderte ein wenig mit ihren Formulierungen. Ihr war, als könne man den Unmut, der sie seit Sophias Entschluss befallen hatte, Fabio zu helfen, aus dem Artikel herauslesen. Zugleich plagte sie ein schlechtes Gewissen. Ihr und ihrem Murkel ging es prächtig. Sie war wohl behütet, sie hatte seit einigen Monaten die schönste Wohnung, die man sich vorstellen konnte und mit der Leitung der Gazzetta, die zudem gerade erst neue Redaktionsräume in der Bozener Altstadt bezogen hatte, war ein journalistischer Traum in Erfüllung gegangen.
Wenn da nicht etwas an ihr nagte ... Shit, das war ungerecht, aber wieder einmal waren Fabio und Sophia auf Abenteuerreise, und sie gab das brave Heimchen am Herd. Ganz wie früher kam ihr das vor, nur dass sich das Gefühlsgemenge geändert hatte. Eifersucht war da nicht mehr im Spiel, obwohl? Ach Quatsch, das war lediglich die Enttäuschung, nicht mit dabei sein zu können. Außerdem war sie zum Nichtstun und zur Sorge um die geliebten Menschen verdammt, was das Gefühl des Ausgeschlossen-Seins dennoch nicht wegwischte. Die beiden Professores, die gebildeten Akademiker und weltgewandten Kosmopoliten waren unter sich – und das bei einer Angelegenheit, die ihr Ding genauso war, sollte an den – von Sophia der Presse gegenüber selbstverständlich dementierten – Vermutungen und Fabios Vision tatsächlich etwas dran sein.
Ach Mensch, Sarah! Liebste Sarah! Geht das schon wieder los? Wir sind ein Team, nach wie vor und unverändert und für alle Zeiten! Vergessen? Aber du trägst unser Baby in dir. Das ist doch wichtiger als alles andere! Haben wir doch zigmal drüber geredet. Fabio braucht mich, und wenn’s umgekehrt wäre, wärst du auch ohne mich hingegangen, eben weil wir ein Team sind und keiner den anderen im Stich lässt. – Ja, ist schon gut. Man wird wohl mal ein bisschen jammern dürfen. Außerdem bin ich ja selber schuld daran. – Wieso das denn? – Na ja, weißt schon. Das vor ‚60 Jahren‘ in Bozen war halt nicht okay! – Du meinst, dass du es heimlich mit Fabio getrieben hast? Stimmt, war es auch nicht ... Du, das hatten wir doch längst geklärt! Hab halt einmal gut, ha! Und jetzt sei lieb und streichel unseren Murkel von mir und von Fabio ganz gewiss auch. Du weißt, dass er, wenn’s darauf ankommt, immer für dich da und sofort auf dem Sprung ist, wenn du ihn brauchst. – Jahhaa! Genug gepredigt. Grüß ihn lieb von mir. Ist immer noch gewöhnungsbedürftig, dass er nicht mehr mit uns ‚flüstern‘ kann. – Das stimmt. Ich werde mich bemühen, über alles detailliert zu berichten. – Auch wenn du dein ‚Hab halt einmal gut‘ einlöst? – Sarah! Du spinnst. Jetzt ist’s aber mal genug! Du weißt, dass ich diesbezüglich keinerlei Ambitionen habe. Und jetzt lass mich ein wenig schlafen. – Dann träum was Schönes. – Du auch, hab dich lieb.
Seit dem Attentat im Bozener Dom vor vier Monaten war Fabios telepathische Fähigkeit versiegt. Der Begriff Flüstern stammte von ihm. Irgendwann hatte er das mal scherzend so genannt, als sie eine ganze Zeit lang kaum noch richtig miteinander geredet hatten.
Das war schon ganz gut so, wie es war, ging ihr durch den Kopf, während sie verträumt in das allabendliche Sonnenuntergangskino der Dolomiten sah. Sie waren dermaßen miteinander verbunden gewesen, dass sie den Blick für die normale Realität verloren hatten. In der normalen Realität wurde das für sie völlig Normale, das Schöne, die Liebe, das Wunder, welches ihre Dreisamkeit ausmachte, dann doch noch überwiegend, selbst im Freundes-und Familienkreis, mit Skepsis oder zumindest vornehmer Zurückhaltung betrachtet. Sie wurden geduldet, weil sie zu allen nett waren und einen guten Job machten: Fabio und Sophia als Wissenschaftler, sie als Journalistin. Dass Sophia und sie verheiratet waren, ging ja noch durch. Immerhin waren sie als erstes Paar – weltweit – mit dem Segen der katholischen Kirche getraut worden! Dass jedoch der Erzeuger ihres Kindes nicht nur, wie normalerweise meist üblich, ein anonymer Samenspender, sondern ein Mann war, den sie beide liebten, so wie sie sich gegenseitig liebten, war dann doch eher schwierig zu transportieren. Doch war das ein Wunder? Manchmal verstanden sie es ja selbst nicht so richtig. Letzteres lag gewiss mit daran, dass ihr und Sophias Coming-out – für sie beide das Eingeständnis ihrer Liebe zueinander, aber auch ihrer Bisexualität – nicht mal ein Jahr her war und sie seitdem vom Strudel der Ereignisse so mitgerissen worden waren, dass sie kaum Zeit zur Besinnung gehabt hatten. In diesem knappen Jahr waren sie quer durch 90 Jahre Zeitgeschichte gereist, hätten sich beinahe verloren, wären fast alle draufgegangen und hatten außerdem noch Kontakt zu einer außerirdischen Lebensform gehabt. Das war die Folge ihrer besonderen Gabe, dass sie Telepathen in zweiter Generation – und von denen auserwählt worden waren, einfach so. Klang psychiatriereif und deshalb war es gut, dass davon nur wenige Menschen wussten und nein, einfach so war das mit den Eloi nicht gewesen, aber eben quasi wie aus heiterem Himmel. Möglicherweise, so hatten sie schon spekuliert, wollten die sie, beziehungsweise dieses Leben, dass sie lebten, nur studieren: zwei Frauen, die sich liebten und einen Mann liebten, der sie auch liebte, und zudem Telepathen waren und als solche kaum etwas voreinander verbergen konnten. Wollten herausfinden, ob so etwas gut geht – nicht wegen der Dreiecksgeschichte an sich, das war ja nichts Neues. Aber eine telepathische Dreiecksgeschichte?
All diese und weitere Spekulationen hatten sich aus der bisher lediglich holografischen und telepathischen Kommunikation mit den Eloi ergeben. Und nun hieß es wohl warten – für sie gleich doppelt. Sie wartete auf ihr Baby und auf die Eloi. Synchronizität nannte Fabio das. Herr Professor Oberschlau! Noch in diesem Jahr würden die Eloi wirklich kommen. Sie würden sie treffen und dann gewiss nicht nur diese Fragen klären können.
Allerdings, so war inzwischen zu befürchten, könnte dieses erste richtige Zusammentreffen, der erste reale Kontakt also, von etwas bedroht werden, an das bislang niemand gedacht hatte. Die Knochenfunde in Gunung Padang waren möglicherweise eine Art Alarmsignal. Oder das Ganze stellte sich als Hirngespinst heraus – genau wie Fabios Vision, wegen der er, kaum aus dem Koma erwacht, gleich wie ein Besessener losstürmen musste.
PTB
Persönliches Tagebuch Enzo Ambrosio
Freitag, 16.12.2049
Ein persönliches Tagebuch habe ich in meinem 90-jährigen Leben nie geführt. Dafür hatte ich gar keine Zeit und mein ‚Wissenschaftliches Tagebuch‘, welches ich immer noch unter Verschluss halte, war nur eine Marotte. Mein letzter Eintrag darin liegt einige Wochen zurück. Nur wenige wissen davon und wollen daraus mal ein Buch machen... Ein Dankeschön für mein Lebenswerk sei das, sagen sie. Na gut, aber erst, wenn ich tot bin – oder die Menschen von den Eloi erfahren dürfen. Bis dahin führe ich es als persönliches Tagebuch weiter, damit künftige Generationen die schier unglaublichen Geschehnisse nachverfolgen können, die mit dem – von uns so genannten – Kelch der Eloi zusammenhängen.
Meine Geschichte mit dem Kelch begann am 15.8.1989. An diesem Tag erteilte das Stadtarchiv Bozen dem Stadtmuseum, dessen Kurator ich damals war, den Auftrag, nach einem geeigneten Standort für den bis dato im Kloster Muri-Gries aufbewahrten Kelch Ausschau zu halten. Man hatte bereits mehrfach versucht, den Kelch zu entwenden. Er sollte gegen eine Kopie ausgetauscht und das Original an einen geheimen Ort verbracht werden. Das ist so geschehen und infolgedessen konnte ich am 24.9.1989 den Kelch den von den Eloi Auserwählten aushändigen.
An diesem Tag standen, wie in der Prophezeiung der Eloi angekündigt, Fabio Wolf und Sarah MacKenzie vor dem Stadtmuseum, nachdem sie über mehrere Etappen 60 Jahre aus ihrer Zeit zurückgereist waren.
Im Übrigen bin ich es, der zu danken hat. Nach all den Jahren, in denen ich als ziemlicher Eigenbrötler durchs Leben ging, habe ich an meinem Lebensende – mit 90 sollte man schon mal daran denken, dass das jederzeit anstehen kann – eine richtige Familie gefunden. Im Grunde haben Sarah und Fabio damals den Anfang gemacht, aber besonders glücklich bin ich darüber, dass ich nach beinahe 60 Jahren meine Maria wiedergefunden habe. Mit Bewusstheit sage ich, der ewige Agnostiker und allem Religiösen gegenüber stets skeptisch Eingestellte: Das ist ein Geschenk Gottes. Eine ganz persönliche Erfahrung hat eine nachhaltige Einstellungsveränderung in mir hervorgerufen. Auf den Punkt gebracht formuliere ich es so: Gott ist die Zeit! Ich habe das in der Form noch niemandem gesagt, nicht einmal Maria. Zunächst will ich meine Gedanken darüber etwas sortieren und mir selber verdeutlichen, wie ich dazu gekommen bin. Und schon bin ich wieder bei den Eloi – und beim Rest meiner neuen Familie. Denn ihr habe ich meine Erkenntnis zu verdanken – genau wie die Tatsache, dass ich Maria in einer katholischen Zeremonie im Bozener Dom das Ja-Wort gegeben habe. Ist es normal, dass ein 90zig-Jähriger und eine 85zig-Jährige kirchlich heiraten? Getoppt wurde das nur noch durch die gleichzeitig stattgefundene erste katholische Trauung zweier Frauen: Sarah MacKenzie und Sophia Philips. Ehrlich? Ich bin stolz auf meine Familie!
Früher hätte ich solchen Firlefanz nicht mitgemacht. Heute sage ich: Es war ein feines Ritual, ein tiefgründiges sogar. Wenn da nur am Ende nicht dieses schreckliche Attentat verübt worden wäre. Seit sechs Wochen liegt Fabio Wolf nun schon im Koma und ich kann mich nicht ganz von dem Vorwurf freisprechen, daran zumindest mitschuldig zu sein, auch wenn Sarah und Sophia das als unsinnig abtun. Dass die Attentäter, die es auf den Kelch abgesehen hatten, zur Strecke gebracht werden konnten, ist lediglich ein schwacher Trost, zumal der Auftraggeber des Anschlags nicht ermittelt werden konnte. Die beiden Attentäter entzogen sich einem Verhör mittels Zyankali. Dass das Romanescu-Imperium dahinter steckt, ist wahrscheinlich, aber nicht beweisbar.
Eine Randnotiz: Ist es nur eine verrückte Synchronizität, dass zum 1.1.2050 die lange erwartete Gründung der United States of Soviet America erfolgt? Abgesehen von der Machtanhäufung und den noch nicht absehbaren Folgen für den Weltfrieden: Wenn sich auch nur einige der Visionen, die Will Smith auf der dystopischen Zeitlinie hatte, bewahrheiten, dann Prost Mahlzeit. Immerhin wird nicht – wie dort – Romanescu Junior Präsident. Aber den hat er ja auf dieser Zeitlinie auch erschossen! Das Ganze ist mehr als verwirrend, und sobald Fabio aus dem Koma erwacht ist, was hoffentlich bald der Fall ist, müssen wir uns noch mal mit der Theorie der Paralleluniversen beschäftigen. Vielleicht verhält es sich so, dass eine neue Zeitlinie ein neues Universum eröffnet – und es nicht wirklich möglich ist, es stillzulegen, wie die Eloi es behaupten. Parallel entwickeln sich die Dinge weiter, und es ist nicht auszuschließen, dass es zwischen den Universen Durchlässigkeiten gibt.
Morgen werde ich nach Bozen hinunterfahren, um Fabio im Spital zu besuchen. Sophia und Sarah verweilen abwechselnd oder gemeinsam täglich bei ihm. Die drei sind schon ein merkwürdiges Gespann. Oder sollte ich sagen die vier? Denn Sarah trägt Fabios Kind in sich. So verrückt es klingen mag, aber gerade dieser Umstand verdeutlicht die Relativität der Zeit. Denn aus meiner Sicht haben Fabio und Sarah vor über 60 Jahren, kurz bevor wir uns zum ersten Mal trafen, das Kind gezeugt, das nun in Sarahs Bauch heranwächst. Das haben sie mir 60 Jahre später, also in der Jetzt-Zeit, gebeichtet – und bei mir beinahe so etwas wie urgroßväterliche Gefühle ausgelöst. Was für mich 60 Jahre waren, entsprach in ihrem Leben gerade mal zwei Monaten.
Ich werde Fabio von meinen Überlegungen zu den Parralleluniversen, beziehungsweise den sich tangierenden Zeitlinien erzählen. Vielleicht spreche ich damit das entscheidende Klicken einer synaptischen Verbindung an. Sarah und Sophia glauben fest daran, dass er alles mitbekommt, was man sagt, und sie haben gelesen, dass Erinnerungen, sowie alle Dinge, die sie gedanklich ansprechen, für Komapatienten Stimuli sein können, die ein Erwachen hervorrufen. Ob das stimmt, weiß ich nicht, aber dass Glaube Berge versetzen kann, habe ich wahrlich selbst erfahren.
Vielleicht hilft es auch, wenn ich Fabio die Geschichte mit den Eloi von Anfang an noch mal erzähle. Mal sehen. Doch jetzt mache ich erst mal meinen allabendlichen Gang zum Kelch. Vielleicht erhalte ich endlich eine Botschaft. Das wäre fein.
Das Wurmloch
Senga richtete sich langsam auf und kletterte aus dem Sarg heraus. So wurden die Stasis-Kapseln despektierlich genannt, obwohl es noch nie einen Todesfall gegeben hatte. Ein leichter Schwindel befiel sie und so hielt sie für eine Weile inne, während sie sich am hochgeklappten Deckel der Stasis-Kammer festhielt.
Jeder Schwindel deutet daraufhin, dass du dir selbst und anderen etwas vorschwindelst, hatte mal eine Kollegin von ihr, eine Seelenheilerin, gemeint. Welch ein Unsinn! Obwohl ...
Während sie sich umdrehte, um nach der neben ihrer liegenden Stasis-Kammer von Sunna zu schauen, kamen ihr Zweifel. Machte sie sich nicht in der Tat etwas vor? Sunna war ihre beste Freundin, mehr nicht. Das ‚mehr‘ schwindelte sie sich vor.
Wie schön Sunna doch war! Ihr pechschwarzes langes Haar umrahmte ihr ebenmäßig geformtes, ein wenig katzenartiges Gesicht, das milde zu lächeln schien. Für einen kurzen Moment glaubte sie, ihre herrlich smaragdgrünen Augen durch die geschlossenen Augenlider sehen zu können. Ob sie etwas träumte? Der Kontrast ihrer seltenen, nur beim Stamm der Woli vorkommenden Haarfarbe zum Weiß der Borduniform mit ihren roten, dem Gelenkschutz dienenden Protektoren an Knien und Ellenbogen, erinnerten sie an eines der Märchen, die verblüffende Ähnlichkeiten mit den Geschichten der Menschen aufwiesen. Was bei ihnen Verla war, hieß bei den Menschen Schneewittchen und dessen Schönheit wurde ebenso beschrieben: rot wie Blut, weiß wie Schnee, schwarz wie Ebenholz.
Diese faszinierende Ähnlichkeit gewisser Geschichten beschäftigte die Forscher seit Jahrtausenden. Sogar sich ähnelnde Weissagungen hatte man entdeckt. Eine Erklärung dafür gab es bisher nicht. Auch in ihrer Ahnengalerie geisterte so etwas herum. Angeblich würde einst eine kommen, die viele Völker heilt.
Senga, denk an deine Aufgabe! – Sunna?!
Nein, das war jetzt nicht Sunna, sondern ihre eigene innere Stimme gewesen. Manchmal jedoch war es gespenstisch, denn sie hatten schon mehrmals erlebt, dass sie sogar im Schlaf miteinander geredet hatten – aber im Tiefschlaf der Stasis? Außerdem waren sie ja sehr bemüht, die telepathische Kommunikation zu beschränken und möglichst nur noch verbal zu reden.
Das war natürlich letztlich nicht kontrollierbar, da man die telepathischen Gedanken gegenüber Dritten abschirmen konnte. Einmal hatte sie der Geleiter Argo, dessen Stasis-Kammer sie sich nunmehr zuwendete, erwischt und dementsprechend zurechtgewiesen. Das bei ihnen beiden zu bemerken, erforderte kein allzu großes Gespür. Zudem war auch Argo Woli und hegte – ohne dabei allerdings bislang auf Gegenliebe zu stoßen – mehr als nur Sympathie für Sunna. Eifersucht war in dem Fall zwar fehl am Platz, allerdings sorgte das für neue Nahrung, was ihr altes Neidgefühl anbelangte: Sunna war immer schon, im Gegensatz zu ihr, von allen umschwärmt worden.
Sie überprüfte Argos Vitalwerte, wie sie es auch schon bei Sunna getan hatte, und setzte ihren Rundgang im Schlafsaal fort. Wie bei allen Schiffen der kleinen PAWUK-Klasse waren die Stasis-Kammern und die in der Etage darüber gelegenen Mannschaftsquartiere in einer großen halbzylinderförmigen Röhre im Außenbereich des ellipsoidförmigen Raumschiffs untergebracht. Sie konnte bei Bedarf von dem im Zentrum senkrecht dazu gelegenen Schiffsrumpf, dem eigentlichen Hauptschiff, einem elliptischen Zylinder, welcher das Antriebs-und Versorgungssystem, den Shuttle-Flieger, sowie die Kommandobrücke beherbergte, abgetrennt werden. Davon war allerdings außer bei Testflügen noch nie Gebrauch gemacht worden.
Als sie die Vitalwerte der restlichen neun Crewmitglieder, darunter besonders sorgfältig die von Sababu, der alten Seherin, gecheckt und die Aufwachphasen initiiert hatte, begab sie sich durch eine Schleuse in den Schiffsrumpf und glitt infolge des hier unwirksamen Schwerkrafterzeugers durch einen Schacht nach oben in die Kommandozentrale. Ihre nächsten Aufgaben bestanden darin, das Anzapfen des in der dünnen Atmosphäre enthaltenen Sauerstoffs und des an dieser Stelle nur knapp 80 Kilometer unter ihnen gelegenen Wassers aus dem Ozean unter dem Eispanzer zu aktivieren und dafür zu sorgen, dass die Crewmitglieder eine erste Mahlzeit zu sich nehmen konnten.
Bevor sie die Speise-und Getränkereplikatoren aktivierte, die sich in der Mitte eines großen, runden Tisches befanden, an dem alle 12 Crewmitglieder zu den Mahlzeiten und Konferenzen zusammenkamen, fiel ihr Blick durch die die Kommandozentrale überspannende Meranglaskuppel auf den zunehmenden dreiviertelvollen Jupiter. Welch ein prachtvoller Anblick das war! Etwas Vergleichbares hatte ihr eigenes System nicht zu bieten. Ross 128, wie NANUK in der Menschensprache hieß, wurde lediglich von vier kleinen, mondlosen Planeten umkreist, darunter Elo, Ross 128 b, in der habitablen Zone.
Kein Wunder also, dass sich ihre Vorfahren vor vielen tausend Jahren neben den pragmatischen Gesichtspunkten für diesen Ort als Basis im SOL-System entschieden hatten, denn die Schönheit dieses Anblicks hatte dabei gewiss auch eine Rolle gespielt. Die Ästhetik war bei ihnen im Gegensatz zu den Menschen eine gleichwertige Wissenschaft. Ganymed war allerdings nicht nur aufgrund seiner Nähe zum Wurmloch ein ausgezeichneter Standort. Der größte Mond des SOL-Systems, ein Eismond, verfügte über eine hauchdünne Sauerstoffatmosphäre und man konnte relativ problemlos die tiefgelegenen Wasserschichten anbohren. Dazu war von ihrer Basis am Fuße eines Kraters schon vor langer Zeit eine entsprechende Vorrichtung gebaut worden.
Nachdem Senga ihre Checkliste abgearbeitet hatte, setzte sie sich in den Sessel von Geleiter Argo und betätigte per Fingerabdruck die holografische Projektion der Bordinstrumente. Sie füllte etwa ein Viertel der Oberfläche der Meranglaskuppel aus, so dass sie von den Plätzen des Geleiters, des Steuerers und des Künstlers aus gut gesehen und bedient werden konnte. In der Mitte all dieser Anzeigen und Armaturen leuchteten groß und für alle sichtbar die chronometrischen Daten: Erdzeit, Elozeit, Bordzeit seit Abflug, Zeitfenster für das Wurmloch und andere mehr.
Plötzlich spürte sie eine Hand auf ihrer Schulter, was sie erschrocken zusammenzucken ließ.
«Hast du mich erschreckt!» Wie aus dem Nichts war Sunna aufgetaucht und stand hinter ihr.
«Oh, entschuldige, meine Liebe. Warst du so vertieft?» Sunna kam herum und küsste ihr beruhigend auf den Kopf, während sie sie umarmte. Das tat gut, doch die Impression, die sich ihrer soeben bemächtigt hatte, verdrängte das. Oder hatte sie sich getäuscht?
«Du, schau doch mal! Wenn das stimmt!»
Das bedeutete, dass sie im wahrsten Sinne des Wortes verschlafen hatten. Das Wurmloch war kurz davor, sich zu schließen! Und wenn sie es richtig interpretierte, lag da eine erhebliche Diskrepanz zwischen der Erdzeit und der verstrichenen Bordzeit vor. Nein, das konnte doch nicht sein, oder? Das hieße ja ... Es würde jedoch ihren Traum erklären: Ihr Balek verpasste sie – so oder so!
Zweifel
Manchmal kam er sich wie ein Heimatloser vor. Ganz traf es das Wort nicht, aber in letzter Zeit redeten alle davon. Das sei doch jetzt eine schöne Heimat, die er da gefunden hätte ... Schön war es, aber Heimat? Wo war das?
Immer wieder waberte zugleich das Gefühl der Undankbarkeit dazwischen. War er nicht in der Tat ein geradezu von der Sonne Beschienener, ging es ihm nicht zum ersten Mal durch den Kopf, als das erste, den nahen Sonnenaufgang verkündende Morgenrot hinter den Bergwipfeln des Rosengartens seine Blicke auf sich zog.
Fabio stand vor der großen Glasschiebetür, die zur Terrasse hinausführte, und betrachtete versunken die Pracht der frühmorgendlichen blauen Stunde. Auf der rechten Seite tauchte die Leuchtenburg aus dem Meer des Morgendunstes auf und links konnte man den Bozener Talkessel unter dem seichten Nebel erahnen. Den Moment des Silberglanzes, welcher sich auf das morgendliche Wolkenmeer zu senken pflegte, hatte er wohl gerade verpasst.
Behutsam öffnete er die gläserne Schiebetür, um Sarah und Sophia nicht zu wecken, und trat in die Kühle des neuen Tages hinaus. Das etwa 3000 m² große, zwischen Obstplantagen oberhalb von Kaltern gelegene Grundstück war wirklich ein wunderschönes Fleckchen Erde. Ambronsius hatte es ihnen vermacht, einfach so. Sie waren zu seiner Familie geworden. Vielleicht sah er in ihnen sogar die Kinder, die er nie hatte. Überhaupt: Alles war sehr familiär geworden. Ambronsius und seine Maria boten jetzt schon ihre Babysitterdienste an. Das war angesichts ihres Alters natürlich nicht ganz ernst gemeint, reichte jedoch dazu aus, entsprechende Eifersuchtsgefühle bei seinen Eltern und Sarahs Vater zu erzeugen.
Selbst Sophias Eltern, Bea und Marc, die er für viel cooler gehalten hätte, drehten schon am Rad. Sie waren ja auch soo weit entfernt! Dabei hatten die alle genug Kohle, um sich einen Velicopterflug leisten zu können, der sie in einer knappen Stunde herbrächte. Selbst ins Berufliche hatte sich das Familiäre hineingedrängt. Ambronsius hatte es sich nicht nehmen lassen, höchstpersönlich dafür zu sorgen, dass er den neuen Lehrstuhl am Bozener Institut für exoplanetarische Forschung, Abteilung ‚prähistorische Archäologie‘, zum kommenden Wintersemester erhielt. Damit der Junge mal sesshaft wird und bei seiner Familie ist ...
Man könnte es auch Vetternwirtschaft nennen!
Fabio ging, barfüßig, wie er war, bis zum Rand der mit Terrakottaplatten gefliesten, etwa vier Meter breiten unteren Terrasse des Anwesens und inhalierte tief die frische Morgenbrise. Der schönste Ort der Welt, fürwahr! Da drinnen schlummerten seine beiden Süßen, er würde Vater werden, es roch nach Frühling und Erwartung, ein herrlicher Ort zum Leben, gewiss – aber Heimat?
Die meisten Menschen machten das üblicherweise ja an einem Ort fest, meist dort, wo sie aufgewachsen waren oder da, wo sie am längsten gelebt hatten. Das war ihm fremd. Schon als Kind war er häufiger bei Sophias Eltern oder sogar bei ihren Großeltern in Schottland gewesen als zuhause. Kein Wunder, wenn die Mutter Journalistin und der Vater Theaterregisseur waren. Für ihn war das Normalität. Die Ferne lockte, die Nähe lullte ein. In der Ferne warteten Abenteuer, in der Nähe ... nun ja, das süße Leben.
«Na, du Heimatloser?» Erschrocken fuhr Fabio herum. Wie aus dem Nichts gekommen stand Sophia hinter ihm, schlang ihre Arme um seinen Brustkorb und küsste ihn in die Halsbeuge. «Bist du wieder bei deinem alten Dilemma angelangt?»
Als ob das, was Sophia da so treffsicher aussprach, ebenfalls etwas damit zu tun hatte, sah er sich unwillkürlich nach Sarah um. Na klar, damit hatte es natürlich auch zu tun. «Keine Angst, sie schlummert selig und vielleicht solltest du deine Sorge um sie als Ausdruck einer neuen Haltung ansehen, die sich in dir durchzusetzen beginnt.»
Lächelnd drehte er Sophia in seine Arme, drückte sie an sich, strich zärtlich durch ihr zu seinem Leidwesen neuerdings kurz geschnittenes rotbraunes Haar, welches im Schein der Morgenröte golden schimmerte, und flüsterte nur: «Du weise Frau!»
Der freundschaftliche Boxhieb in seine Seite kam eigentlich nur einer Bestätigung ihres stillen Einverständnisses gleich. Sein Kompliment war völlig ernst und gar nicht despektierlich gemeint. Ist nicht die Haltung ‚Deine Heimat ist da, wo dein Kind ist.‘ sehr weise? Seines Einwandes, dass Herman Hesse es aber etwas anders gemeint hatte, als er sagte: ‚Heimat ist da, wo du wieder wie ein Kind bist.‘ bedurfte es nicht. Vielleicht, weil es auch gar keinen Widerspruch darstellte? Jedenfalls war es ein Geschenk, dass sie sich häufig wortlos verstanden. Seit seine telepathische Fähigkeit infolge des Attentats im Bozener Dom versiegt war, tröstete ihn das ein wenig.
«Na ja, wie ein altes Ehepaar, würde ich sagen!»
«Sarah! Bist du des Wahnsinns, uns so zu erschrecken?»
Nicht, dass nicht auch er sich erschrocken hatte – ein weiteres Mal –, doch diese Spitze erforderte ein Kontra: «Hier gibt’s nur ein Ehepaar, das ist zwar nicht alt, aber versteht es hervorragend, mir den letzten Nerv zu rauben!»
Ungeachtet dessen hatten sie Sarah natürlich sofort in ihre Mitte genommen und ihrer beider Hände streichelten zärtlich über ihr kugeliges Bäuchlein.
«Ach, du Ärmster», wechselte Sophia, wie stets in solchen Situationen, auf Sarahs Seite, « du tust uns ja so leid, aber was lässt du dich auch mit zwei Frauen ein?»
Fabio atmete tief durch, gab sich entspannt und schaute in die Ferne. Ihr übliches und im Kern liebevolles Geplänkel vermochte es nicht, ihn von seinen ursprünglichen Gedanken abzulenken. Umso überraschter war er, als Sarah das Geplänkel fortsetzend, unvermutet ins Schwarze traf. «Und musst dir dann auch noch Sorgen um die Eloi-Frauen machen!»
Zwar war es schon vorgekommen, dass Sarah und er gegenseitig ihre Träume wahrnahmen, ja, mehr noch als das gelegentlich auch bei Sophia der Fall war, sogar regelrecht miterlebt hatten, doch das jetzt war gespenstisch. Lediglich diffuse Brocken waren das gewesen, die ihn da seit einiger Zeit nächtens heimsuchten. Dass sie das empfangen hatte, verblüffte ihn doch sehr – und Sophia nicht minder.
«Ach schau an, da hab ich wohl was verpasst?», verlieh sie ihrer Überraschung eine Gestalt, die geradezu den Kern ihrer dreisamen, weitmehr als telepathisch geprägten Beziehung hinterfragte. Es hatte Zeiten gegeben, in denen sie es zwar nicht als Fluch, aber als ziemliche Belastung empfunden hatten, ständig alles voneinander zu wissen. Zwar hatte ihnen diese starke Verbundenheit bei ihren Zeitreisen oftmals das Leben gerettet, doch hatte es sich durchaus als erholsam herausgestellt, auch mal etwas zu verpassen.
«Ihr Lieben, bitte stopp! Bevor hier irgendjemand in präkambrische Eifersuchtsphasen zurückfällt: Lasst uns hineingehen. Es ist doch noch ein bisschen frisch. Ich erzähle euch, was ich geträumt habe, während wir das Frühstück zubereiten.»
Im Prinzip gab es gar nicht viel zu erzählen. Dass seine wiederkehrenden Traumfetzen von den wo auch immer festsitzenden Eloi nicht nur Ausdruck seiner Sorge um die Eloi, sondern ihres gesamten Projektes war, erschien Sophia und Sarah sofort plausibel. Es brachte zudem die in den letzten Wochen verdrängten Themen wieder auf die Tagesordnung: Wieso hatten die Eloi sich solange nicht gemeldet, weder holografisch noch telepathisch? Wie nur konnten sie die Eloi angesichts der Ergebnisse der Genanalyse von Gunung Padang warnen? Oder mussten sie gar nicht gewarnt werden, weil sie ihnen medizinisch weit voraus waren? Doch dann wäre es unlogisch, dass sie so etwas wie Epiphysox nicht selber hinbekämen. Betraf alles vielleicht nur die Morlocks? Denn dass es sich bei den Knochenfunden von Gunung Padang um deren Überreste handelte, stand mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit fest.
Belastend war auch, dass nur sie das wussten und ihr Wissen mit niemandem teilen konnten – beinahe so belastend wie die Tatsache, dass Sophia und er auf der Fahndungsliste der Geheimen Staatspolizei der U.S.S.A. standen. Leider war eine gentechnische Untersuchung vor Ort nicht möglich gewesen und so hatten sie ein paar kleine Knochensplitter mitgehen lassen – und die hatten es später bemerkt. Gott sei Dank waren sie zu dem Zeitpunkt schon wieder zurück gewesen. Die indonesischen Behörden hatten sich zuvor mit Sophias Theorie zufriedengegeben, dass es sich um Knochen von Schimpansen handelte. Ganz unwahrscheinlich war das ja nicht, denn die waren als invasive Art dort eingeschleppt worden und auch die hatten zwei Chromosomenpaare mehr und auch Schimpansen waren zu der Zeit, Anfang der 2020er-Jahre an COVID-19 gestorben. Denn Letzteres konnte Sophia als wahrscheinliche Todesursache schon vor Ort diagnostizieren.
Doch ungeachtet dessen, die Eloi mussten gewarnt werden, wurde es Fabio mit jedem Schritt klarer, den er auf dem Rückweg von der Panificio an der Talstation der Mendelbahn, der ersten mit Solarstrom aus dem Weltall betriebenen Standseilbahn der Welt, zu ihren ererbten Anwesen zurücklegte. Notfalls musste dazu der Kelch aktiviert werden. Das Immunsystem der Außerirdischen taugte offensichtlich nicht dazu, die irdischen Gefahrenquellen abzuwehren. Zwar waren sie auch schon 1890 und bei sämtlichen Besuchen vorher hiesigen Keimen ausgesetzt gewesen – und der Pandemien hatte es immer schon reichlich gegeben –, aber seither war die Weltbevölkerung von 1,5 auf beinahe 10 Milliarden Menschen angewachsen. Die Wahrscheinlichkeit einer Infektion lag also wesentlich über dem damaligen Risiko und hinzukam, dass man seit COVID-33 die allermeisten Vireninfektionen mittels der damals neuentwickelten Phagenimpfung bekämpft hatte und mit Phagotron einen Impfstoff entwickelt hatte, der eine nahezu perfekte Immunisierung erzeugte. Inzwischen besaßen beinahe alle Menschen diese Immunität – nicht jedoch die Außerirdischen. Den Menschen konnten die allermeisten Viren nichts mehr anhaben, aber sie trugen sie in sich und konnten nach wie vor andere infizieren.
Auf dem Anwesen zurück empfing ihn der Duft von frisch aufgebrühtem Kaffee. Dagegen hatte der aus dem Getränkereplikator keine Chance! Und Sophia faszinierte ihn damit, dass sie erneut seine Gedanken gelesen hatte.
«Vergiss es, Fabio!», meinte sie beinahe beiläufig, während er die Brötchen auf den Tisch der Loggia stellte, die sich an den Wohnbereich im oberen Teil des Gebäudes anschloss und in eine Terrasse mündete, die zu ihrem kleinen, aber feinen Apfelbaumgrundstück führte. Doch, wenn er es recht bedachte, das roch eindeutig nach Heimat. «Wir wollten das nie wieder machen. Lass den Kelch bitte, wo er ist! Bedenke, wir haben uns beinahe verloren und wären nicht mehr in unsere Zeit zurückgekehrt. Das ist es nicht wert!»
Natürlich war das so nicht korrekt, was sie da sagte, aber das wusste sie selbst. Verloren hatten sie sich vorher. Der Kelch hatte sie wieder zusammengeführt. Doch soeben war Sarah, die sich noch mal hingelegt hatte, hereingekommen und Sophias klares Statement sollte eine beruhigende Wirkung auf sie haben. Das stellte sich postwendend als fehl am Platz heraus.
«Leute, was soll das?», empörte sie sich. «Wieso glaubt ihr auf einmal, etwas vor mir verbergen zu müssen – und zu können? Ich bin schwanger und nicht krank und unser Kind auch nicht! Selbstverständlich bleibt der Kelch, wo er ist. Und wenn überhaupt, dann machen wir das zusammen, klar? Keine Alleingänge, das hatten wir uns geschworen!»
Sie mussten wohl beide ziemlich große Augen gemacht haben, denn Sarah grinste spitzbübisch und nahm der Ernsthaftigkeit den Schrecken, indem sie scherzend anfügte: «Oder war das wohl wieder eine Episode aus der Serie ‚Altes Ehepaar‘?»
Beinahe gleichzeitig waren sie bei ihr, Sophia einen Tick eher. Während sie Sarah, nicht fest natürlich, aber doch der gespielten Empörung Nachdruck verleihend, mit einer Hand an die Gurgel ging und mit der anderen ihr zu einem Pferdeschwanz gebundenes, langes schwarzes Haar ergriff und sie drohend anfunkelte, begann Fabio sie zu kitzeln, bis ihr Lachen in einen Hustenreiz mündete, da sie sich offensichtlich verschluckt hatte. Auf der Stelle hielten sie inne und die Kabbelei endete in einer besänftigenden Umarmung. Eigentlich gar nicht mehr erstaunlich war es, dass Sarah aus der Umarmung heraus etwas einleitete, das sie lange nicht mehr begangen hatten: ihr Teamritual. Ursprünglich war das mal Sophias und seins gewesen, wenn sie sich gestritten hatten, aber irgendwann war es zu ihrem gemeinsamen Ritual geworden.
Ganz nahe, ohne sich gegenseitig zu berühren, eine Handbreit voneinander entfernt, standen sie sich, einen kleinen Kreis bildend, gegenüber und schlossen die Augen. Ruhig atmend ließen sie den Schwingungen ihrer Körper den Raum, sich zu entfalten. Das Pendeln zwischen Annäherung und Sich-wieder-Entfernen gipfelte schließlich in der Berührung und dem anschließenden Sich-an-die-Hand-Nehmen.
«So, und jetzt wird gefrühstückt, ich hab Hunger!», beendete Sarah ihr Ritual. «Und wenn ihr Lust habt, unternehmen wir später einen Ausflug nach Castelfeder. Schließlich ist heute Frühlingsanfang.»
Den Zusammenhang zu erläutern bedurfte es nicht, denn plötzlich fiel es Fabio wie Schuppen von den Augen, dass er genau das, woran er seit Wochen gedacht, ausgerechnet heute vergessen hatte.
«Du bist ja ein Schatz!», entgegnete er, nachdem er sich als Zeichen seiner Vergesslichkeit mit der flachen Hand vor die Stirn geschlagen hatte.
«Und der Herr Professor werden wohl vergesslich», ergänzte Sophia, allerdings so stirnrunzelnd, dass ihm sofort klar war, welche Botschaft sich dahinter verbarg: Sie war nämlich ganz froh darüber und hätte ihn gewiss nicht daran erinnert, dass er das Naturschauspiel, welches sich dort zur Tag-und-Nacht-Gleiche ereignete, gern einmal erlebt hätte. Verständlich war das – und angstbesetzt, denn als Sophia dort im Herbst durch die Torbögen der Kuchelen die Sonne zur Mittagszeit genau über der Salurner Klause hatte stehen sehen, war ein Zeitriss aufgegangen und hatte sie von der 1989er-Zeitlinie, auf der sie sich zu der Zeit befunden hatte, nach Rerik an der Ostsee ins Jahr 1959 befördert. Und von dort hatten sie sie in der Tat nur mithilfe des Kelches zurückholen können.
Aber erstens war das seinerzeit halt eine andere Zeitlinie gewesen, zweitens funktionierte ein Zeitriss für jeden nur einmal in eine Richtung und drittens hatte sie sich das damals ja gewünscht, um vor Ort den Vater des Erzschurken Romanescu aus dem Weg zu räumen. Dass sie damit ein Zeitparadoxon ohnegleichen erzeugt hätte, war ihr, Gott sei Dank, rechtzeitig bewusst geworden.
«Und du meinst also, dass da jetzt keiner mehr ist?», erriet Sophia wieder seine Gedanken. «Was, wenn doch, und du unbewusst einen Wunsch äußerst? Nein, nein, mein Lieber, das kommt nicht infrage!»
«Wir könnten uns aber doch alle an den Händen festhalten», wandte Sarah ein, die von ebensolcher Neugier erfüllt zu sein schien wie er selbst. «Dann kann doch nichts passieren, weil du, Sophia, ja schon einmal durch diesen Zeitriss gegangen bist.»
Sophia verdrehte die Augen. «Wenn’s um so was geht, haltet ihr immer zusammen. So viel zum Thema altes Ehepaar. Mensch Leute, denkt nach, das sind doch alles unbewiesene Hypothesen. Wer weiß, was es wirklich mit diesen Zeitrissen auf sich hat. Alles, was wir zu wissen glauben, wissen wir nur von den Eloi. Und warum sie ausgerechnet uns auserwählt haben, ist uns letztendlich auch nicht klar.»
«Na, ich denke, weil wir Telepathen in zweiter Generation sind und sie deswegen mit uns kommunizieren können», unterbrach Sarah Sophias Predigt.
«Ihr zwei Lieben», bemühte Fabio sich zu schlichten, «das ist doch jetzt nicht das Thema. Wir werden das spätestens erfahren, wenn die Eloi hier sind. Wobei mir mein Gefühl sagt, dass da irgendwas nicht nach Plan verläuft. Aber was hat das damit zu tun, dass ich das gerne einfach mal nur sehen möchte? Da ist doch nichts dabei! Und überleg du mal, Sophia, heute ist Sonntag. Da werden hunderte von Menschen unterwegs sein. Das ist schon normalerweise ein klassischer Sonntagsausflug der Bozener. Heute wird es also umso voller sein. Was bittesehr soll da denn passieren? Ich finde Sarahs Vorschlag toll. Wir sind ein Team und haben schon lange nichts mehr als Team gemacht – nicht mal einen gemeinsamen Sonntagsausflug.»
«Und dann werden wir als Team mir nichts, dir nichts in eine Zeit katapultiert, in der es vielleicht nicht mal eine gescheite Geburtshilfe gibt, denkt mal nach», echauffierte sich Sophia weiter, als sein Holy einen holografischen Videocall von Ambronsius ankündigte. Bei den holografischen Smartphones der neuesten Generation waren die Hologramme wirklich verblüffend lebensecht. Ambronsius saß mit seiner Maria, wie er stets patriarchalisch zu betonen pflegte, seit er seine Jugendliebe vor einem halben Jahr wieder gefunden hatte, auf dem Balkon im Anbau des Bienenmuseums und wirkte leicht verwirrt. Sein zauseliges Haar wehte im Wind und Maria hatte ihm, sorgenvoll dreinblickend eine Hand auf die Schulter gelegt.
«Ihr Lieben, verzeiht die Störung am frühen Sonntagmorgen, aber die Eloi haben sich gemeldet. Doch es ist merkwürdig. Sie haben mir ..., ähm ..., es ist, als ob sie mich, beziehungsweise uns, noch gar nicht kennen. Sie haben mir holografisch in den Kelch die gleiche Botschaft noch einmal geschickt, die sie mir vor 60 Jahren zukommen ließen. Ich bin mit meinem Latein am Ende. Können wir uns heute Abend mal treffen? Maria ist bestimmt so lieb und bereitet uns Schlutzkrapfen zu.»
Kuchelen
Schweigend waren sie dem Wanderweg 4, der in den Fernwanderweg 5a zum Trudner Horn mündete, gefolgt und stiegen schließlich auf den frühlingshaft grünen von Grasmatten und Porphyrfelsen geprägten Castelfeder-Hügel auf. Einen ganz ähnlichen Weg hatte Sophia vor über sechzig Jahren, also auf der 1989er-Zeitlinie genommen. Verständlich war es schon, dass ihr ein wenig mulmig zumute war.
Doch nicht allein das schlechte Gewissen machte Sarah zu schaffen. Mehr noch als das war es der im Raum stehende Vorwurf, dass sie auf Fabios Seite stand. Auch wenn das ziemlich an den Haaren herbeigezogen war, ärgerte sie das. Es stand irgendwie zwischen ihnen, und zwar deshalb, weil es ein wiederkehrendes, sogar bereits diskutiertes und stets verworfenes, aber dennoch existierendes Problem ihrer Beziehung berührte. Das Problem hatte Gestalt angenommen und wuchs in ihrem Bauch heran. Fabio und sie hatten ein Kind gezeugt – und das ausgerechnet, als Sophia auf der 1959er-Zeitlinie in Rerik an der Ostsee ums nackte Überleben kämpfte. Außerdem stellte das Kind natürlich eine besondere Verbindung zwischen ihnen her, auch wenn sie beide ihre werdenden Elterngefühle kaum vor sich hertrugen und sie beide nicht müde wurden zu betonen, dass da ihr gemeinsames Kind heranwachse.
Sophia war sich der ihr innewohnenden diesbezüglichen Eifersucht durchaus bewusst. Da half ihr Wissen als Molekularbiologin über Instinktreste und genetische Prädispositionen auch nicht weiter. Es gehörte zum Dilemma ihrer Dreiecksbeziehung. Damit mussten sie wohl leben.
Ja, schon gut, Frau Psychologin! Ist alles richtig. Aber dass ihr mich ausgerechnet hierherzerren musstet!
Sarah blieb stehen und wartete auf ihre Beschützerin, die aus Sicherheitsgründen, falls sie mal stolpern sollte, hinter ihr hergegangen war. Sie waren auf dem Plateau angekommen und Fabio, der vorausgegangen war, befand sich schon in der Nähe der Kuchelen, den Überresten einer von den Römern in byzantinischer Zeit erbauten Befestigungsanlage. Er winkte aus der Ferne, um ihnen anzuzeigen, dass er einen Picknickplatz gefunden hatte. Tatsächlich bevölkerten nicht wenige Menschen das Arkadien Südtirols.
«Sei nicht mehr böse», sprach Sarah laut und reichte Sophia die Hand. Man konnte nun bequem nebeneinander herlaufen. «Schau mal», versuchte sie, ihr Gefühl zu transportieren, «ich wollte einfach mal wieder mit dabei sein. Du warst mit Fabio in Gunung Padang, dann war Fabio bei dir in Basel, als du die Ergebnisse der ersten Epiphysox-Testserien präsentiert hast. Von dort aus habt ihr mal eben nur einen kleinen Abstecher nach Frankreich in die Camargue unternommen, weil angeblich in der Nähe der Kirche Saintes-Marie-de-la-Mer einige von diesen alten römischen Münzen aufgetaucht waren, die identisch mit den den Fuß des Kelches zierenden sein sollten. Das stellte sich dann als falsch heraus, aber ein paar nette Tage hattet ihr. Und ich sitz hier als Heimchen am Herd und bin von Allem ausgeschlossen. Weiß jetzt sogar, woher dieser blöde Ausdruck kommt. Hatte ich mal aus purer Langeweile recherchiert.»
«Na, dann hast du wenigstens was gelernt!» Sophia drückte ihre Hand ganz fest, zwang sie, stehen zu bleiben, und sah ihr tief in die Augen. Ein Anflug von Traurigkeit verbarg sich hinter dem Joke. Du, bitte! Hast ja recht. Aber lass mal für einen Moment Fabio außer Acht. Wir zwei haben beide einen Job, in dem wir das Beste geben. Ich arbeite in Basel und du hier. Du hast es in kurzer Zeit geschafft, mitten in der Bozener City eine neue Zeitungsfiliale zu etablieren. Hast sogar schon einen fest angestellten Redakteur und zwei freie Reporter. Das ist eine echt tolle Leistung. Und ich habe es dank des Baseler Instituts für Biotechnologie geschafft, meine Forschung so weit voranzutreiben, dass Epiphysox in Kürze seine Zulassung durch WHO und GHO bekommen wird und die Pharmakonzerne anklopfen. Das ist unser Leben. Wir sind erfolgreich und das ist doch schön. Wir haben das vorher gewusst und müssen nun das Beste draus machen. Ich will mich bemühen, so gut ich kann. Versprochen! Oder magst du nicht mehr? – Ach Sophia, natürlich mag ich. Ich liebe dich! Hab dich nur häufig vermisst und wollte einfach mal wieder was zusammen machen. Das hier fiel mir spontan ein. Hat ja was mit uns zu tun, weil ... Na du weißt schon: damals in der Albergo in Auer. Schade, dass es die nicht mehr gibt. Ob Luigi noch lebt?
«Luigi? War das nicht der Typ, der deine letzten ‚West-Mark‘ aus Ostberlin in einen 50000,- Lire-Schein gewechselt hat?»
«Fabio!», riefen sie überrascht, wie aus einem Munde. Vertieft, wie sie in ihre Gedanken gewesen waren, hatten sie gar nicht so recht mitbekommen, dass sie schon am Picknickplatz zwischen den Kuchelen und der Felsenrutsche angekommen waren. Fabio hatte die mitgebrachte Decke aus seinem großen Rucksack ausgepackt und schon ausgebreitet und auch die kleine Strandmuschel als Sonnenschutz aufgestellt.
«Kannst du wieder ..., ähm, hast du ..., wieso?», verhaspelten sie sich stotternd unisono und ernteten dafür ein strahlendes Grinsen.
«Weiß auch nicht, hab das irgendwie aufgeschnappt. Ist vielleicht die Magie des Ortes. Die Erneuerung eures Ehegelübdes hab ich auch gehört.» Ihre Sprachlosigkeit nutzte Fabio, nahm sie beide an die Hand und bugsierte sie zielstrebig zu den Burgmauerresten der Kuchelen, noch ehe sie sich hinsetzen konnten. «Da links, an dem Portal ist gerade noch Platz», kommandierte er, und gleich ist es so weit. Anschließend gibt’s dann was zu essen und zu trinken, versprochen.»
Widerstand war zwecklos. Wenn Fabio was wollte, bekam er es. Seinem Charme hatten sie beide nichts entgegenzusetzen. In der Tat war die Sonne schon sehr hochgestiegen, bemerkte Sarah erst jetzt. Außerdem hatte sich eine beinahe drückende Schwüle über dem Hügel ausgebreitet. Ein wahrhaft magischer Ort. Die Zeit war anfangs geschlichen und plötzlich hinweggerast.
Das kommt, weil ihr erst geschlichen und am Ende durch euer Gedankenuniversum gerast seid! – Schau, schau, der Herr Professor Schlau ist wieder im Bunde! – Ach Sophia, sei doch nicht so ... – Ja, sei nicht so. Nehmt mich zum Genossen an, ich sei, gewährt mir die Bitte, in eurem Bunde der Dritte. – Na gut, du ..., du Tyrann.
Durch den Torbogen, wohl ein Portal der ehemaligen Burganlage hatten sie in der Tat eine herrliche Aussicht auf die Salurner Klause und das Tal der Etsch. Leider wurde es jedoch immer dunstiger, so dass die Sonne es kaum schaffte, den Grauschleier zu durchdringen.
«Genau wie damals im Herbst», kommentierte Sophia skeptisch, während rechts von ihnen Eltern damit beschäftigt waren, ihre Kinder daran zu hindern, in die Mauerreste hineinzuklettern. «Tut mir ja leid, dass du dein Schauspiel nun nicht in voller Pracht siehst. Dafür hätten wir wohl eher hier sein müssen. Meine Schuld, aber die Erinnerung an damals war wirklich lähmend. Ich sehe jetzt noch Sarah und Luigi dahinten den Hügel hochkommen, gerade als ich begriff, was mit mir passierte. Es war schrecklich. Ich schrie und bekam doch keinen Laut heraus und dann ... und dann stürzte ich in ein großes schwarzes Loch.»
Fabio hielt sie jetzt beide noch fester, küsste Sophia beruhigend auf den Kopf und flüsterte, so dass es beinahe im Geschrei der Kinder unterging: «Aber heute siehst du sie nicht dahinten herkommen, denn sie ist bei dir, genau wie ich – und wir schauen in die entgegengesetzte Richtung. Außerdem hat keiner von uns den Wunsch, in irgendeine Zeit zu reisen. Und ich bin auch nicht hier, um die Sonne in der Salurner Klause zu sehen. Glaubst du wirklich, glaubt ihr wirklich, ich bin so besessen von solchen Dingen, dass ich dich und auch dich deswegen hierherschleppe?»