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Ein Jugendbuch für alle Fantasy-Begeisterten! TOKE, dreizehn Jahre alt, ist Halbwaise und lebt in einem kleinen Dorf im Herzogtum Suryani bei seiner Großmutter. Eines Tages begegnet er im Wald einem verletzten Greifen. Das Tier ist ein Junges, dessen Eltern vor Tokes Augen getötet werden. Toke fühlt sofort ein starkes Band zu dem jungen Greifen und nimmt ihn heimlich bei sich auf. Er rettet ihn vor den Kriegern des Drachenordens und dessen Anführer TITUS, der auf der Jagd nach Greifen plündernd durch das Land zieht. Als er den Greifen pflegt und vor möglichen Gefahren beschützt, entdeckt Toke das Geheimnis seiner eigenen Herkunft, die eng mit der Geschichte der Greifen verknüpft ist. Als das Versteck des kleinen Greifen auffliegt, muss Toke all seinen Mut zusammennehmen, um den Greifen ein letztes Mal und endgültig vor den Kriegern des Drachenordens zu retten. Aber die Spielregeln haben sich geändert: Titus ist nun nicht nur hinter dem Greifen her, sondern will auch Toke persönlich an den Kragen, nicht nur weil er der Sohn des Dilmun, des Anführers der Greifenreiter, ist. Ein verzweifelter, letzter Kampf entbrennt. Tokes Abenteuer und die Suche der Greifenreiter nach Gerechtigkeit geht weiter! DIE RÜCKKEHR DER GREIFENREITER ist der Auftakt zu der Suryani-Trilogie, die Fortsetzung ist geplant!
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Veröffentlichungsjahr: 2018
Inhaltsverzeichnis
Die Rückkehr der Greifenreiter
Die Rückkehr der Greifenreiter
von
Morno Oim
alle Rechte vorbehalten
Coverdesign by: Christian Günther
TOKE war der Auserwählte.
Verdammt, dachte Toke.
„Du bist dran!“, rief ihm Leyonie zu. Sie zwinkerte ihm zu, unbemerkt von den vielen Kindern, die alle aufgeregt in die Hände klatschten und zu Toke aufblickten. Sie alle freuten sich ungemein auf das Spiel. Toke aber seufzte leise aus halbgeschlossenem Mund.
Er fühlte sich nicht nur zu alt für Versteckspiele, er war es auch. Nicht nur er, auch Leyonie. Aber so war der Brauch in der Dorfgemeinschaft: Die Älteren spielten mit den Jüngeren. Wollte er dazugehören, sollte er sich fügen und mitmachen.
Er schaute zu seinem Freund Muri, der hinter der geschlossenen Reihe der Kinder, die mit erwartungsvollen Gesichtern auf Tokes Antwort warteten, hervorragte. Muri schaute ihn mitleidig an und zuckte mit den Schultern – ist schon nicht das Ende der Welt.
Toke räusperte sich, setzte zum Sprechen an und wollte beherrscht, aber entschieden ablehnen. Da aber traf ihn Leyonies strenger Blick. Wage es ja nicht, schien sie ihm unter zusammengezogenen Brauen zu sagen.
Toke stotterte und fragte schließlich: „Bis wohin darf ich denn suchen? Wie habt ihr euch das vorgestellt?“
„Jetzt will er Regeln wissen!“, rief Bozo entrüstet, der auch an diesem kühlen Tag wieder ohne Hemd draußen herumlief. Braungebrannt von der Arbeit im Freien am Marktstand seines Vaters, drahtig und verdammt kräftig, hatte er sich schon oft mit Toke geprügelt. Und immer gewonnen.
Leyonie nickte zufrieden, auf Toke hatte sie sich immer verlassen können. „Hier – das ist deine Burg!“, sagte sie und zeigte auf den alten Maulbeerbaum in der Mitte des Marktplatzes. „Und wir dürfen uns überall verstecken: unten bei der Molkerei und der Schmiede, hier um den Platz herum, in allen Gärten, oben bei der Klippe, die zu Jonjo …“
„Ich darf aber nicht in die Nähe der Klippe, hat meine Mama gesagt“, unterbrach sie in einem wehleidigen Ton ein kleiner dunkelhäutiger Junge mit großen grünen Augen und braunem Haar.
„Dann nicht die Klippe, aber die Häuser und Gärten davor und der Wald unten bis zu den Walnussbäumen“, korrigierte sich schnell Leyonie.
Bozo, von so viel Reden ungeduldig geworden, fing an, die Jüngeren zu schubsen und an ihren Hemden zu ziehen.
„Hast du verstanden, Blondkopf? Wozu willst du das überhaupt wissen? Du schaffst es eh nicht, uns alle zu finden“, sagte er und fixierte Toke mit seinem festen Blick. Ein paar Kinder fingen an zu kichern und sangen begeistert: „Blondkopf, Blondkopf.“
„Mich findest du bestimmt nicht!“, rief Bozo und schlug sich dabei hart auf die Brust, was einen dumpfen Laut hervorbrachte. Die älteren Mädchen und Leyonie rollten die Augen und kicherten.
Da fingen auch die anderen Kinder zu schreien an: „Mich auch nicht! Mich auch nicht!“ Die Schreie deutete ein kleines Mädchen mit großen schwarzen Locken als Signal für den Beginn des Spiels und machte sich augenblicklich auf den Weg zu einem geeigneten Versteck. Als andere sahen, wie entschlossen und bestimmt das kleine Mädchen wegrannte, lösten auch sie sich von der Gruppe und stoben nach allen Seiten auseinander, bis nur noch Leyonie, Muri, Bozo und Toke unter dem Maulbeerbaum standen.
„Danke“, sagte Leyonie und lächelte Toke an. „Ich hätte sonst Bozo fragen müssen, aber er ist manchmal so hart. Dann haut er die Kleinen immer, wenn er sie findet.“
„I-i-ich?“, rief Bozo und warf die Arme hoch und verzog sein Gesicht zu einer Grimasse der Überraschung. Aber gleich im nächsten Augenblick war seine gespielte Entrüstung auch schon verschwunden – er scharrte ungeduldig mit den Füßen und kratzte sich am Kopf.
„Ja, du, du Grobian“, sagte Leyonie und schüttelte den Kopf. Sie war nicht böse auf Bozo.
„Na, manchmal“, sagte er und schmunzelte.
Blödmann, dachte Toke.
„So. Und nun: Du kannst bei zehn anfangen zu zählen. Das ist nur gerecht“, rief Leyonie zu Toke, als sie in den Wald hineinlief.
Bozo warf noch einen letzten selbstgefälligen Blick auf Toke und rannte über den Platz in Richtung der Walnussbäume und des dichten Rauschwalds, der gleich hinter den wenigen Walnussbäumen anfing und sich weit ins Tal hinab erstreckte.
Dir werde ich es noch zeigen, dachte Toke. Du wirst der Erste sein, den ich finde. Dann renne ich schnell zum Baum und klatsche dich ab.
„Fünfzig“, schrie Toke ins Dorf hinein und drehte sich nach allen Seiten um und stand plötzlich Muri Auge in Auge gegenüber, der sich noch immer unter dem Baum aufhielt.
„Soll ich mich noch verstecken oder eigentlich eher nicht?“, fragte er und hoffte, dass er hier bleiben könne. Denn Lust auf Bewegung verspürte Muri nur ganz, ganz selten, und wenn er ehrlich zu sich selbst war, eigentlich nie.
„Wir spielen jetzt, los“, sagte Toke ungeduldig.
Muri seufzte, drehte sich widerwillig um und stöhnte leise. Schnaufend verschwand er schließlich in Richtung der Bäume.
„Hundert. Ich komme!“, schrie Toke, damit ihn auch alle hören konnten. Er lief los, entschlossen, jeden einzeln aufzustöbern. Anfangen wollte er aber mit Bozo.
TOKE rannte zuerst vom Marktplatz hoch zum Dorf, hinauf zu den kleinen Häusern mit weißen Wänden und niedrigen Giebeldächern, die ungleichmäßig, aber Seite an Seite den Berghang besetzten, rannte über die großen und rutschigen Treppenstufen, die aus grauen Felssteinen gehauen und von den harten Hufeisen der Lastesel im Laufe der Jahrzehnte abgeschliffen waren. Er rannte vorbei an den kleinen Gemüse- und Obstgärten, die an jedes Haus und jede noch so brüchige Hütte angrenzten, vorbei an den hohen, dunkelbraunen Holzzäunen der Wohlhabenden und den viel zu niedrigen Steinmauern der Ärmeren, vorbei an Wasserspeichern, halbkugelförmige, abgeschlossene Bauten, die sich im Winter mit Regenwasser füllten und im Sommer von den Bauern dankbar geleert wurden, vorbei an mehreren Brunnen mit frischem Quellwasser, das aus einer Quelle irgendwo in den schneebeladenen Gipfeln der Berge sprudelte, zu einem Fluss anschwoll und unterirdisch durch das Dorf in das Tal floss.
Als er an Wassermelonen vorbeikam, die zu einem größeren Haufen am Wegesrand aufgetürmt waren, hielt er plötzlich an – was hatte er da beim Rennen flüchtig gesehen? Leise ging er wieder zurück zu den Melonen und stellte sich vor ihnen auf. Schicht für Schicht waren die Melonen aufgetürmt, sie unterschieden sich deutlich in ihren Größen: Es gab welche, die waren nur faustgroß, andere wiederum waren so groß wie ein Wagenrad. Melone an Melone war zu einem fast quadratischen Turm gestapelt worden. Nein, was soll hier schon sein, dachte Toke. Aber halt! Zwischen den gräulich-grünen und den gestreift-gelblichen Melonen stach ein dunkler, geschorener Kopf hervor. Ganz unscheinbar, da die Erde aus den Feldern von den Melonen noch nicht abgewaschen war. So hatte ihre Schale stellenweise dieselbe Farbe wie der Kopf des kleinen Eindringlings. Eng hatte sich das Kind auf die Melonen gepresst, sein Kopf war das einzige Körperteil, das man vom Weg aus sehen konnte. Gutes Versteck, dachte Toke.
Ganz leise umkreiste Toke die Melonen, bis er nur noch die Hand auszustrecken brauchte, um den Kleinen zu berühren. Der Junge hatte fest seine Augen zugedrückt, klammerte sich eng an die Melonen und wagte nicht zu atmen, so sehr wünschte er sich in diesem Moment, unsichtbar zu sein. Eigentlich will ich nur Bozo finden und am Baum abklatschen, dachte Toke, dich will ich laufen lassen. Aber genau in diesem Moment öffnete der kleine Junge die Augen. Sie sahen sich in die Augen. Du lässt mir gerade keine Wahl, denn ich will nicht schummeln, dachte Toke. Aber andrerseits –
„Ich war nie hier“, rief er schnell und lächelte dem Jungen aufmunternd zu. Doch der Junge erhob sich zwischen den Wassermelonen, kletterte ohne ein Wort aus dem Melonenhaufen heraus und stieg mit hängendem Kopf die Treppen zum alten Maulbeerbaum hinunter.
„Aber das sind doch die Regeln“, sagte der Junge beim Hinausgehen. „Du hast mich gesehen, ich bin nun dein Gefangener. Wir können doch nicht schummeln. Was denken dann die anderen?“
Die Regeln habe ich nicht gemacht, hätte Toke dem Jungen am liebsten hinterhergerufen.
Während er noch nachdenklich dastand, hörte er ein lautes Klatschen unten am Maulbeerbaum: Zwei kleine Jungen hatten sich aus ihren Verstecken herausgetraut und feierten nun lachend ihre frisch erworbene Freiheit. Toke schnaubte und fühlte sich aus für ihn unerklärlichen Gründen gekränkt, ungefähr so, als habe ihm jemand eine üble Beleidigung an den Kopf geworfen. Aber schnell sammelte er sich wieder und setzte seine Suche fort.
Es dauerte nicht lange und er hatte mehr als ein halbes Dutzend Kinder von den zerbrechlichen Ästen der Äpfel- und Quittenbäume heruntergezogen sowie einen dicken Jungen aus seinem misslichen Versteck befreit. Der hatte sich in einem Hühnerstall versteckt, war aber von dem prächtigen Hahn in die Ecke gedrängt worden. Gackernd, den beweglichen Hals gestreckt, die Flügel aufgebläht, mit dem spitzen Schnabel in die Luft hackend, näherte sich der Hahn dem Jungen. Ängstlich stand der Junge in der Ecke, als die gackernden Hühner wild um ihn herumflatterten. Toke wusste, wie gefährlich Hähne sein konnten, die ihr Revier bedroht sahen. Schlimmer als Hunde, dachte Toke und erinnerte sich, wie er als Kleinkind von einem Hahn gejagt worden war. Damals, als seine Nana ihn in ihre Obhut genommen hatte und er versucht hatte, zu fliehen. Ungeschickt war er aus dem Haus in den Garten gelaufen. Doch kurz vor der Gartentür hatte stolz der Hahn gestanden und keine Angst vor dem kleinen, blonden Toke gezeigt, der mit verweinten Augen, roten Wangen an ihm vorbeieilen wollte. Wütend hatte ihn der Hahn gnadenlos gejagt, ihm zahlreiche Schnabelstiche versetzt, bis seine Nana das Tier mit beiden Händen von hinten gepackt, hochgehoben und zurückgeworfen hatte. Sanft hatte sie Toke wieder in ihr Haus, in sein neues Zuhause, zurückgeführt.
Die schmerzhafte Hackerei wollte Toke dem dicken Jungen ersparen. Schnell rannte er in den Hühnerstall und scheuchte die Hühner und den Hahn auf. Genervt über einen weiteren Eindringling flohen sie und schlugen ihre Flügel, es entstand ein wildes Durcheinander. Im Gegackere und Gezetere drängte Toke den Jungen zur breiten Hühnerklappe. Der Junge, ängstlich zuerst, fasste schließlich doch wieder Mut und robbte unbeholfen aus dem Stall hinaus.
„Übrigens: Ich hab’ dich!“, rief ihm Toke hinterher, als er aus dem Stall hinaussprang, um seine Suche fortzusetzen.
Neben dem Hühnerstall schrien und polterten zwei Esel in einem engen Stall. Da ist wohl jemand, der nicht dahin gehört, dachte Toke. Und tatsächlich hatte sich im modrig riechenden Stall das kleine, schwarz gelockte Mädchen hinter Holzbalken gehockt, die Arme um die Knie geschlungen und die Augen fest zugedrückt, in der Hoffnung, Toke würde sie nicht sehen. Toke zögerte. Das Mädchen rührte sich nicht und hielt weiterhin ihre Augen fest zugedrückt. Na gut, dachte er mit einem
Lächeln. Niemand hatte ihn gesehen, er entschied, eine Ausnahme zu machen – bestimmt nicht die letzte Ausnahme – und die Spielregeln nicht zu befolgen. Kein Bozo hier, ich will so tun, als war ich gar nicht hier. Er schlich, so schnell er in den Stall gekommen war, wieder hinaus.
Es brauchte nicht mehr lange und man konnte vom Wald unten beobachten, wie Kinder jeden Alters wie von einer unsichtbaren Kraft getrieben einzeln aus den Häusern und Bestallungen und Gärten strömten und langsam in Richtung des Marktplatzes die Treppen und engen Gassen hinunterstiegen. Toke war sehr fleißig zugange.
Leyonie hatte sich hinter einem dichten Brombeergestrüpp versteckt. Nun, nachdem lange genug nichts passiert war, traute sie sich aus ihrem Versteck im Wald heraus und pirschte sich im Schatten der Sträucher und der Bäume langsam an den Maulbeerbaum heran. Die großen Räder abgestellter Pferdekarren und Kutschen wusste sie geschickt für sich zu nutzen. Gleichzeitig hielt sie nach Toke Ausschau. Doch sie konnte ihn nirgends entdecken und vermutete ihn deshalb noch im Dorf.
Sie kauerte sich hinter ein Rad und spähte durch die Speichen.
Zwei Kinder auf dem Platz bemerkten sie als Erste. Sie winkten, sie sollte hinüberkommen.
Leyonie wollte es wagen. Sie richtete sich etwas auf – die Luft schien rein zu sein. Nur noch ein paar Schritte, dann wäre es eigentlich geschafft. Sie schaute sich noch einmal um. Jetzt oder nie, dachte sie, und machte einen beherzten Schritt vorwärts.
Einen Schritt vorwärts genau in die Arme von Toke, der unbeholfen lächelte und, als sie sich berührten, sofort zurückwich. Erschrocken schrie Leyonie kurz auf, aber der Schreck dauerte nicht lange und schon fing sie an, herzhaft zu lachen. Toke schaute verlegen weg.
„Hast du mich erschreckt!“, sagte sie und boxte ihm scherzhaft gegen den Arm.
„Ist es vorbei? Kann ich rauskommen?“, hörten sie Muri gelangweilt fragen, als er hinter einem Baum hervorlugte. Er hatte sich wirklich keine große Mühe gegeben, ein Versteck zu finden.
„Einer fehlt noch“, Leyonie schaute Toke amüsiert an – sie wusste, wie oft Toke und Bozo sich stritten. Und schnell verbündeten sich bei diesen Streitigkeiten alle gegen Toke, denn Toke war der einzige Fremde im Dorf, der einzige mit blonden Haaren und blauen Augen, unübersehbar für jedermann. Und er kam aus der verhassten Hauptstadt im Norden. Denen traute man nicht, seit sie ins Land mit ihren Kriegern einmarschiert und das Herzogtum an sich gebunden hatten. Toke gehörte für viele Dorfbewohner auch „zu denen“, zu den Hauptstädtern, und wurde mit Argwohn beobachtet. Aber nicht alle sahen in Toke einen Feind. Leyonie wünschte sich manchmal heimlich, dass Toke sich nicht jedes Mal eine aufgeplatzte Lippe einhandelte, sondern auch einmal gegen Bozo bestünde. „Gibst du auf? An die Reihe kommst du nicht mehr, die meisten hast du doch gefunden. Du warst schon gut. Nur Bozo …“
„Ja, nur Bozo“, sagte Toke und hielt nach ihm Ausschau.
Muri trat an Toke heran.
„Der ist weiter weggerannt, genau in den Wald hinein. Mitten in den Rauschwald. Also, eigentlich zählt das nicht. Wir müssen ihn aus dem Spiel ausschließen, finde ich.“ Muri brach die Schale einer Walnuss auf und fummelte eine Walnuss heraus. Er schob die Nuss genüsslich in seinen Mund, den Blick zum Himmel gerichtet, und zerkaute sie langsam. „Mh! Die sind noch lange nicht gut, ganz und gar nicht“, schmatzte er vor sich hin.
„In den Wald?“, fragte Leyonie. „Bozo übertreibt mal wieder.“
„Es ist nur ein Spiel“, nickte Muri und brach die Schale einer weiteren Walnuss auf.
Leyonie zog ihre Augenbrauen hoch. Muri verstand sofort und verteidigte sich: „Die könnte ja schon reif sein, ganz und gar reif“, und grinste Leyonie an.
Dann erst bemerkten die beiden, dass sich Toke von ihnen entfernt hatte. Er schritt in Richtung des Waldes.
„Es ist nur ein Spiel“, rief Leyonie Toke hinterher. „Du musst nicht in den Wald. Wir sollen nicht in den Wald. Bozo ist immer so leichtsinnig. Er kommt schon zurück. Man verirrt sich leicht und die wilden Tiere …“
„Hier, das gibt dir Kraft für deine Reise“, scherzte Muri und warf Toke eine Walnuss hinterher, die er aus seiner Schale befreit hatte. Toke drehte sich zu seinem Freund um und fing reflexartig die kleine Walnuss aus der Luft auf.
Leyonie strafte Muri mit ihrem harten Blick. Jetzt ermutigst du ihn auch noch, schien sie ihm vorzuwerfen.
„Reisende soll man nicht aufhalten“, sagte Muri mit größter Unschuldsmiene und grinste schelmisch.
So betrat Toke den dichten Rauschwald.
DER Rauschwald war ein besonderer Wald. Seinen Namen hatte er wegen der unterschiedlichen Winde bekommen, die durch die Fichten und Tannen wehten. Nie konnte man voraussagen, aus welcher Richtung der Wind kommen würde. Manchmal wütete oben im Dorf der Nordwind, während unten im Wald sich kein einziges Blatt regte. Aber die Bäume, hauptsächlich Nadelbäume am Berghang, Birken, Linden und Eichen am See, hatten gelernt, sich gegen die stürmischen Winde zu behaupten. Zu keiner Seite neigten sie sich hinunter, wie es Bäume an Berghängen zu tun pflegten, sondern stiegen gerade in den Himmel. Die Bäume standen dabei dicht beieinander: Das Sonnenlicht verstarb im Wald schon nach wenigen Metern und machte einer trüben, grauen Lichtstimmung Platz, die den ganzen Wald und seine Bewohner umhüllte. Nachts jedoch spannte sich Finsternis zwischen den Bäumen auf und bot der Wildnis Obhut.
Eltern warnten ihre Kinder vor dem Wald, vor den wilden Tieren, die im Schatten der Bäume die Menschen mieden. Alleine durften Kinder nie in den Wald. Auch Toke schritt bedächtig und vorsichtig voran. Die Grenze des Waldes zum Dorf verlor er dabei nicht aus den Augen. Der Grund war weniger, weil er so seinen Rückweg im Auge behalten und sich im Wald orientieren wollte, sondern weil ihm Bozos Rückkehr ins Dorf unter keinen Umständen entgehen sollte.
Toke wollte sich wie ein Raubtier anpirschen und Bozo überraschen. Der Waldboden erleichterte ihm sein Vorhaben: Der Boden war so sehr von Tannennadeln übersät, sodass er jedes Geräusch verschluckte und jeden seiner Schritte aufnahm. Es war, als würde Toke durch den Wald schweben. Der frische Geruch von Harz und Fichtenholz erfüllte seine Lungen und er sog die frische Luft gierig ein. Er schloss kurz die Augen, um dem Geruch nachzuspüren.
Da knackte ein Ast und durchbohrte die Stille.
Toke, hellwach, schaute sich nach allen Seiten um. Nur … Bäume.
Er schaute zum Marktplatz und den Kindern, die er nur noch schemenhaft zwischen den Bäumen erkennen konnte. Sie schienen etwas in seine Richtung zu schreien, aber er konnte es nicht verstehen – der Wind erstarkte genau in diesem Moment, rauschte durch den Wald und ließ die Blätter in seinen Ohren rascheln.
Toke beschloss, sich noch tiefer in den Wald hineinzuwagen.
Kühl wurde es auf einmal und Toke fröstelte. Er rieb sich mit der Handfläche seine Arme und Schenkel, stampfte mehrmals auf. Jetzt friere ich auch noch wegen eines dummen Spiels, dachte er wütend. Soll Bozo doch hier erfrieren! Und frieren wird der bestimmt, so ohne sein Hemd.
Toke wandte sich um und wollte zurückkehren, als im Wald wieder Äste brachen. Nicht sehr weit von ihm entfernt. Er blieb stehen, horchte genau hin. Er hörte ein Schnaufen, ganz leise, ein Schleifen, so als ob jemand mit einem Stein oder einem Messer etwas in Baumrinde ritzen würde, und ein Scharren. Dumpf und leise, aber nah.
War das ein Mensch? Hoffentlich kein Tier! Gibt es Bären hier im Wald oder nur weiter oben in den Bergen?, überlegte Toke nervös, aber er beruhigte sich schnell. Er schloss die Augen und horchte weiter in den Wald hinein. Da! – Aus dieser Richtung kamen die Geräusche.
Langsam schlich er weiter, tiefer in den düsteren Wald hinein. War er wirklich Bozo auf der Spur? Er hoffte es.
Da, hinter den Blättern, raschelte es erneut und zerschnitt schrill den leise pfeifenden Wind. Toke hielt den Atem an.
Vor Toke erhob sich dichtes Gestrüpp aus Sträuchern mit dreiblättrigen Blättern. Aus dem Laubwerk heraus schlängelte sich ein junger Kletterstrauch um die Stämme jahrzehntealter Fichten, die mit den Jahren ihre Nadeln verloren hatten, und dehnte sich mit seinen Blättern bis zu den dünnsten Zweigen der Bäume aus. Seine Wurzeln wandten sich um eine Anhäufung Felsen, die sich am Fuße der Fichten aus dem Boden erhob – die Wurzeln liefen wie Adern über das kalkweiße Gestein. Der
Kletterstrauch, hartnäckig, spannte sich wie eine Wand zwischen den Bäumen auf und reckte seine Blätter in den unerreichbaren Himmel.
Dort, hinter der grün-bräunlichen Wand, verbarg sich Bozo. Toke war sich sicher, da das Rascheln und Knacken mit einem Mal aufgehört hatte. Davon überzeugt stürzte es ihn in Begeisterung und ließ ihn leichtfertig werden. Er wähnte sich schon als Sieger im Spiel und lief auf die Blätterwand zu, riss und zerrte die knorrigen Äste einen Spalt breit auseinander und steckte seinen Kopf hindurch.
„Hab’ ich dich!“, rief er laut, als er im nächsten Moment vor Überraschung und Schreck zurücktaumelte und auf den Boden fiel.
Da stand nicht Bozo!
Da stand ein großes Tier, das ihm bis zur Brust reichte. Grund genug wegzulaufen. Eigentlich. Aber als das Tier seinen Kopf durch die Blätter und die dünnen Zweige hindurch streckte, da überwog die Neugier. Denn so ein Tier hatte Toke noch nie in seinem Leben gesehen.
Mit dunklen, runden Augen schaute ihn ein Adler an. Jedenfalls schien es zunächst so. Denn dunkelblaue Federn, deren Spitzen leicht im Wind spielten, bedeckten den Körper bis hinunter zu seinen Krallen. Blaue Federn bedeckten auch seine Brust, aber an seinen Fängen, kurz über den dunklen Krallen, wechselte das Gefieder die Farbe und pechschwarz und weiß wuchsen die Federn in Wellen seine Vorderbeine hoch. Schwarz-weiß gemustert wie seine Vorderbeine waren auch seine Schwingen auf dem Rücken.
Da trat das Tier einen Schritt aus der Blätterwand heraus und Toke staunte, wie groß es war, größer als jede ihm bekannte Vogelart, auf alle Fälle, so groß wie ein Fohlen. Obwohl die Ohren an Wildkatzen erinnerten und den Eindruck verstärkten, Toke stünde einer Katze gegenüber, schaute ihn bestimmt nicht eine Katze mit großer Unschuldsmiene an, sondern ein Vogel. Oder doch andersherum? – Toke war völlig verwirrt. Adler- und Katzenkörper vermischten sich unter der Brust, auf Höhe der Rippen, und bildeten einen Mischkörper, eine eigenständige, dritte Gattung.
Nur über eine Sache war sich Toke sicher. Das Tier war ein Junges. Wie alle Neugeborenen trug es einen Ausdruck von Unschuld und spielerischer, zielloser Neugier im Gesicht und seine Augen funkelten hell und aufmerksam Toke an.
Toke schaute in die schwarzen, kugelrunden Augen des Monsters. Ein intensives, angenehmes, aber unbekanntes Gefühl stieg in ihm auf. Wärme floss aus der Nähe seines Bauchnabels und wanderte in Wellen durch seinen ganzen Körper, pulsierte in seinen Gliedern, ließ seine Hände kribbeln. Noch nie hatte Toke so etwas empfunden. Ein wohliges Gefühl strömte durch seinen Körper, vertrieb jegliche Furcht und schuf Vertrauen. Toke wusste, vor ihm stand ein Freund, ein friedfertiges Tier. So war es erschaffen. Nur hatte er von solch einem friedfertigen, den Menschen zugeneigtem Tier nie zuvor gehört, hatte weder Bilder in Büchern je gesehen noch hatte seine Lehrerin je über solch ein Tier im Unterricht gesprochen. Er war nun auf dieses Monster durch und durch neugierig geworden.
So wagte er ein Lächeln. Wenn man nicht weiterweiß, hilft immer ein Lächeln, meinte immer seine Nana, seine Oma, und vielleicht half es ja auch hier.
Das Tier aber ließ sich zu keiner Reaktion bewegen, die Schwingen verharrten kurz ausgebreitet in der Luft, der Kopf saß aufrecht, die beiden Klauen und die beiden Pranken blieben artig auf dem Boden.
Es horchte auf und reckte den Kopf in die Höhe. Trotz seiner Größe war das Monster auf eine unheimliche Art beweglich. Seinen Kopf konnte es genau so schnell wenden und drehen, wie es ein Adler konnte.
So reckte er den Kopf zur Seite, ohne den Körper zu drehen, schlug seine Schwingen kurz zusammen und horchte. Sein buschiger Schwanz richtete sich im Wind auf und verharrte in der Luft. Den Menschenjungen hatte es kurz vergessen und lauschte in den Wald hinein.
Toke aber hörte nur das Rascheln der Blätter. Er schaute sich das Tier belustigt und interessiert an. Er konnte sich nicht sattsehen, wie der muskulöse Leib und die Schwingen beschaffen waren, wie gewaltig und zugleich filigran der Schnabel wirkte.
Da streichelte plötzlich ein Luftzug seinen Nacken. Warm und feucht war die Luft, die seine Nackenhaare aufrichtete.
Toke drehte sich um und blickte plötzlich in zwei leuchtend grüne Augen. Er blieb reglos auf dem Boden sitzen und spürte, wie das Blut aus seinen Armen und Beinen wich – er fürchtete sich.
Denn auf ihn hinab schaute ein ausgewachsenes Exemplar desselben Tieres, dem Toke zum ersten Mal in seinem Leben begegnet war. Genauso wie das Junge war auch dieses Tier halb Adler, halb Löwe. Weiß leuchteten seine riesigen Schwingen im schattigen Wald und hellbraun glänzte sein Fell. Sein gelblicher Schnabel hätte Toke mühelos aufspießen können, seine Krallen könnten das Ihre tun und Tokes kleinen Menschenkörper in der Luft zerfetzen.
Aber das Tier tat nichts dergleichen, sondern guckte Toke lange in die Augen und roch mit seiner rötlichen Nase an ihm, um dann mit seiner Zunge über seine blonden Haare zu lecken. Tokes Körper hatte sich völlig versteift und wagte es nicht, sich zu rühren. Aber plötzlich richtete sich das Tier mit einem Schwung auf und schaute gespannt hinter sich in den düsteren Wald.
In Tokes Gesicht kehrte wieder Farbe zurück. Er war sich sicher, auch dieses große Exemplar würde ihm nichts tun. Erleichtert, neugierig auf die fremden Wesen machte Toke einen Schritt auf die große Vogelkatze zu.
Aber er fühlte plötzlich, wie sich sein Hemd um die Brust spannte und er sanft in die Luft gehoben wurde, seine Füße berührten nicht mehr den Boden und suchten nach Halt in der Luft. Das Hemd, sein einziges und damit sein bestes, spannte sich um seine Achseln und umschloss ihn wie eine weiche, aber starke Hand. Toke schwebte über den Boden und fand sich im nächsten Augenblick neben dem jungen Tier wieder.
Als er sich umdrehte, stand hinter ihm eine weitere Vogelkatze, größer als das Junge, aber deutlich kleiner als das andere Tier. Ungesehen hatte es sich hinter ihm aufgestellt und Toke mit dem Schnabel am Hemdkragen hochgehoben. Aus golden schimmernden Pupillen schaute es ihn an und Toke war für einen Moment lang überzeugt, in dem Blick Güte und Zuneigung zu spüren. Aber – das war doch nur ein Tier und Tiere waren doch keine Menschen … Das musste Einbildung sein.
Unter die grün und schwarz schimmernden Schwingen dieser Vogelkatze schritt der Kleine und schmiegte sich eng an ihre Flanke. Das ist seine Mutter, dachte Toke. Er stand inmitten einer kleinen Familie dieser mächtigen Wesen. Der Kleine war das Neugeborene, die grüne Vogelkatze die Mutter und der Riese mit den weißen Schwingen und den goldenen Federn bestimmt der Vater.
Der Anblick der Familie ließ Toke lächeln und er hob seine Hand, um den Kleinen, neben den ihn seine Mutter abgestellt hatte, zu streicheln. Wer weiß, vielleicht könnten sie ja Freunde werden?
Die Mutter erstarrte plötzlich. Angespannt bis in die Federspitzen senkte sie den Kopf und nahm eine leichte Kauerhaltung ein. Ihre Krallen berührten nur noch lose den Boden, ihr Hinterteil stemmte sich in die Höhe, der Schwanz verkroch sich zwischen ihren Hinterbeinen. Gefährlich war es hier und sie machte sich zum Rückzug bereit.
Der Kleine nahm zwar nicht die Gefahr, aber deutlich die Anspannung wahr. Ängstlich duckte er sich flach auf den Boden. Sein Kopf zuckte hin und her, als er aus weit aufgerissenen Augen zwischen seinen Eltern hin und her blickte. Die Mutter war bereit zum Sprung, zum unmittelbaren Rückzug, der Vater aber richtete sich hoch auf, machte einen Buckel und streckte seinen Schwanz in die Höhe. Auch er war bereit, bereit zum Kampf.
Aber wogegen? Toke schaute zum Kleinen hinüber, der auf dem Boden kauerte. Langsam ließ sich auch Toke auf den Boden nieder, kniete sich hin und, angesteckt von der Nervosität der Tiere, suchte er mit den Augen nach der Bedrohung, die im Unterholz zu lauern schien. Vor welchem Raubtier könnten sich denn diese mächtigen Wesen fürchten?, dachte er.
Da sah er im schattigen Dickicht ein Paar Hörner. Äste und Zweige knickten ein, als die Hörner sich ihren Weg durch das Dickicht eines Busches bahnten. Die Hörner, obwohl sie in Form und Größe Ochsenhörnern glichen, ließen Toke stutzen. Denn sie glänzten golden, wenn sie ein Sonnenstrahl traf, der sich ab und zu in den Wald verirrte.
Ein Horn ertönte dumpf, als sich ein Schuss löste.
Eine Bleikugel schmetterte gegen die Rinde der alten Fichte. Holz splitterte.
Pfeile sausten durch die Luft und prallten von den Steinen ab. Die Tiere wurden angegriffen.
Toke duckte sich auf den Boden.
Der weiße Riese stürmte den Angreifern entgegen. Denn es waren mehrere, die, wie durch ein leises und unsichtbares Signal verbunden, wie ein einziger Körper, auf das Tier zustürmten.
Toke schaute hoch zu den Angreifern. Dämonen, dachte er, denn es liefen mehrere menschengroße Wesen auf sie zu. Nach Monstern nun auch Dämonen. Und Dämonen schienen sie auf dem ersten Blick zu sein, denn sie hatten alle kein menschliches Gesicht, sondern furchterregende Fratzen. Einer trug gewaltige, rote Eselsohren, ein anderer goldene, dicke Ochsenhörner und wieder ein anderer trug ein goldenes Hirschgeweih auf dem Kopf. Der Wind wirbelte ihre langen Umhänge in der Luft und ließ sie wie Wesen aus einer anderen Welt erscheinen. Halbgötter, die vom Himmel auf die Erde niedergestiegen waren, überlebensgroß.
Je näher sie kamen, desto deutlicher konnte er ihre Fratzen erkennen: braune und graue Gesichter, manche mit dichten, dunklen Schnurrbärten, einer mit einer riesigen, spitzen, schrecklich großen Nase, und schließlich alle mit Wangen und Kinn aus Stahl oder Leder. Einzig durch das Paar Löcher, die in ihren Masken für ihre Augen ausgespart waren, blitzte Toke Menschlichkeit entgegen. Denn Menschen war es am Ende doch.
Es waren Soldaten des Drachenordens.
Toke hatte bisher nie Krieger des Drachenordens gesehen, also nicht, dass er sich daran hätte erinnern können, aber viel gehört hatte er über sie. Und tatsächlich, als die Wesen näher kamen, konnte er sie an den dunkelroten Umhängen und ihren Rüstungen erkennen. Nur Soldaten vom Drachenorden trugen diese prachtvoll verzierten Rüstungen, die die Schmiede in der Hauptstadt mit großer Kunstfertigkeit erschaffen hatten. Die Verzierungen stellten allesamt unterschiedliche goldene und silberne Drachen im Wasser oder in der Luft, im Kampf, mit ausgefahrenen Krallen und mit aufgerissenen Mäulern dar. Die Drachen, die Hörner, die Fratzen – Elemente, um aus dem Menschen in der Rüstung ein Götzenbild des Schreckens zu formen. Dem Feind sollte schon aus der Ferne Angst eingejagt werden. Wenn sich ihnen Mutige trotzdem im Nahkampf stellten, so galten die Soldaten des Drachenordens als die besten Kämpfer im Hoheitsgebiet der Neuen Republik. Ihre Ausbildung am Schwert begann im Kindesalter und ihre Rüstungen garantierten ihnen trotz der dicken Panzerung beste Beweglichkeit und Geschicklichkeit. Jede Rüstung kombinierte meisterhaft mehrere Schichten von durchlässiger, leichter und fester Panzerung und Harnischen und war persönlich für jeden Soldaten nach Maß angefertigt worden.
Maßangefertigte Rüstungen wurden nur der Elite der Truppen der neuen Republik zur Verfügung gestellt und das war der Drachenorden allemal. Aber manchmal, oft sogar, verloren sie ihre Menschlichkeit an ihre Gestalt. Dann wurden sie auch in Wirklichkeit zu Dämonen und schlachteten aus Rache oder Gier nach Beute das eigene Volk ab – Milde und Barmherzigkeit fielen von ihnen ab. Jeder Bauer und jede Bäuerin, jeder Untertan der Neuen Republik außerhalb der Hauptstadt fürchtete sich vor diesen Menschen in Dämonengestalt.
Furcht aber schien der weiße Riese nicht zu kennen. Nur Zorn und Wut erfüllten ihn in diesem Augenblick.
Er stürmte vorwärts, den Angreifern entgegen. Die Schwingen eingeklappt, die Fänge dem ersten Angreifer entgegengestreckt.
Der Soldat mit den goldenen Hörnern auf dem Helm zückte sein Schwert, das er seitlich am Körper trug. Beide Hände umschlossen den Griff. Mit einem festen Hieb wollte er den Schädel der Vogelkatze spalten.
Doch der weiße Riese war schneller. Bevor das Schwert niedersausen konnte, schmiss sich das Tier auf seinen Jäger, mit einer Kralle hielt er ihn am Brustpanzer, mit der anderen an der Hüfte fest, sein spitzer Schnabel sauste auf ihn nieder und traf ihn in der Halsbeuge.
Seine Schwingen spannten sich kurz auf, sie wirbelten Staub auf – Toke hielt seine Hände vor die Augen, um sie bedecken.
Bevor die anderen Soldaten sich mit ihren Lanzen und Schwertern auf das Tier stürzen konnten, zerschmetterte die Wucht des Schnabelhiebs den Nackenpanzer des Soldaten und hätte in der nächsten Sekunde seine Halsschlagader zertrennt. Aber der Soldat hatte Glück. Ihn rettete ein herzzerreißender Schrei, der plötzlich den Wald erschütterte. Schrill und hoch erklang die Stimme des Kleinen mitten im leisen Durcheinander. Der Kleine schrie und schrie und wimmerte.
Der weiße Riese stürzte zurück zu seiner Familie. Sein Schwanz streifte Toke nur leicht, aber es genügte, um ihn, der sich gerade erst zögerlich aufgestützt hatte, wieder auf den Boden zu werfen.
„Haltet den großen Greifen!“, hörte Toke die Männer schreien.
Greif. So heißen also diese Wesen, dachte Toke, als er versuchte, sich wieder aufzurichten.
Der Greif versuchte, zu seiner Frau und zu seinem Kind durchzukommen. Aber die Lanzen von drei Drachensoldaten hielten ihn in Schach. Er konnte nicht vorstürmen, ohne empfindliche Verletzungen zu riskieren. Und zurückweichen konnte er auch nicht, denn hinter ihm schlossen mehrere Soldaten auf, die Schwerter gezückt, die Füße langsam und vorsichtig über den Boden gleitend. Er zögerte.
Aber das Muttertier verteidigte sich hervorragend auch ohne ihren Gefährten. Mit ihren Hinterbeinen schlug sie nach dem ersten Drachensoldaten, der sich zu weit vorgewagt hatte. Ein Bein erwischte ihn am Kopf, an der Stirn. Hart wurde er gegen einen Baum geschleudert und stand nicht wieder auf. Vornüber gebeugt stand sie da und, die Pause vom Kampf nutzend, zischte sie schrill ihrem Jungen zu.
Toke sah, wie sich der kleine Greif ängstlich umblickte und mühsam vom Boden erhob. Er humpelte leicht und Toke sah den Grund: Ein abgebrochener Pfeil steckte knapp unterhalb der Hüfte. Trotz seiner Verletzung zog er sich, so schnell er konnte, hinter das dichte Gestrüpp zurück.
Drei andere Soldaten wollten den Kleinen verfolgen. Sie umkreisten vorsichtig die Greifin, die vornüber gebeugt auf sie lauerte. Aber sie merkte sofort die Absicht der Soldaten und warf sich mit weit aufgespannten Schwingen auf den ersten, stach mit dem Schnabel nach dem zweiten und hätte mit den Schwingen leicht den dritten Soldaten von seinen Beinen gefegt. Aber der Soldat wich geschickt zurück, duckte sich unter den Schwingen weg und stach mit seinem Schwert nach ihr.
Er traf sie auf Höhe ihrer Brust, die Klinge blieb stecken. Die Greifin krächzte und schrie auf.
Der Greif hatte mit seinem Schnabel eine Lanze gepackt und entriss sie dem Soldaten. Ein zweiter Soldat, der das große Tier von der Seite attackierte, schnitt mit der Lanze längs über seine Flanke, Blut trat aus der Wunde und tropfte zu Boden. Der Greif wandte sich zum Angreifer um und schlitzte mit seinem Fang seine Armschienen und Brustplatte auf. Dann setzte er zum Sprung an und stieß sich mit seinen Fängen und Hinterbeinen mit großer Kraft vom Boden ab und schmiss sich gegen den Soldaten, der seine Partnerin bedrängte.
Er erwischte den Soldaten am Rücken, als er ihn mit seinem ganzen Gewicht rammte.
Unter seinen Krallen lag nun der Soldat fast begraben und steckte mit seinem Kopf im Waldboden, als sich eine neue Angriffsfront um die Greifen bildete.
„Nehmt euch die Greifin vor!“, hörte Toke eine klare Männerstimme befehlen. „Sie ist angeschlagen.“
Er schaute besorgt zu der Greifin, die hinter dem weißen Greifen gewichen war. Atmen fiel ihr schwer und ihr Blut benetzte den Boden, sie verlor mit jeder Sekunde an Lebenskraft.
Der Kleine war nirgends zu sehen.
Die Soldaten formierten sich wieder neu. Gut ein Dutzend voll ausgerüsteter Männer begann, das Greifenpaar einzukreisen. Sie bewegten sich im Gleichschritt, wobei sich die Männer an der Spitze zur Seite bewegten und die Soldaten in der Mitte ins Zentrum aufschlossen. In der einen Hand hielten sie ihre Schwerter, in der anderen das Ende dicker Seile. An den Seilenden baumelten spitze Widerhaken.
Die ersten begannen, ihre Seile in ihren Händen zu drehen. Die Haken wirbelten hoch und runter und würden jeden Augenblick durch die Luft auf das Greifenpaar zufliegen.
Toke, rücklings auf dem Boden liegend, wich auf Händen und Füßen zurück. Niemand achtete auf ihn. Langsam kroch er rückwärts ein paar Schritte über den staubigen, mit Kiefernnadeln übersäten Boden. Um sich, so gut es ging, unsichtbar zu machen, erhob er sich erst, als er einen Baumstamm im Rücken spürte. Er presste seinen Rücken an den Stamm, hörte, wie sein Herz hämmerte und machte sich davon in den dichten Wald hinein – weg, weg von dieser Treibjagd. Warum flogen sie nicht weg? – Weil sie ihr Junges beschützen wollen. Das kann bestimmt noch nicht fliegen, sprach eine innere Stimme zu ihm. Nicht wie mein Vater, dachte Toke, der mich nach Mamas Tod weggeschickt hat. Nein, die beiden stellen sich den Verfolgern in den Weg und verteidigen ihren Sohn bis auf den letzten Tropfen Blut.
Nach einer kurzen Pause, als ihn das plötzliche Scheppern von Metall zusammenzucken ließ, seufzte er. Aber die Greifen haben gegen den Drachenorden keine Chance.
Toke schlich leise durch den Wald, er hörte das Kreischen der Greifen, die Flügelschläge, das Aufstampfen, hörte Äste brechen und Körper dumpf gegen Bäume schlagen. Der Kampf tobte weiter, aber Toke war jetzt außerhalb des Kampfgetümmels. Leise, das stete Rauschen des Windes im Ohr, suchte er seinen Rückweg ins Dorf. Längst vergessen waren das Versteckspiel und Bozo.
Durch die Zweige der Büsche, durch einzelne Spalten zwischen den Baumstämmen, die den Blick hier und da weit in den Wald freigaben, sah er die großen Tiere vor- und zurückstürmen, unablässig, gefolgt von Schatten, die wie Raben das verwundete Tier bedrängten und belagerten. Gerne hätte er der Greifen-Familie geholfen, aber was hätte er schon ausrichten können, ein Kind gegen Soldaten?
Schüsse fielen auf einmal ganz in seiner Nähe. Toke stand einen kurzen Moment lang wie versteinert stehen, warf sich aber in der nächsten Sekunde auf den Boden und duckte sich.
Als er sich aufrichtete, fiel ihm etwas Merkwürdiges auf. Nur ein paar Schritte vor ihm hatte der Wind einen Baum über die Jahre so verbogen, dass sich der Stamm ein gutes Stück längst über den Boden krümmte, um dann gerade wie eine Kerze in den Himmel zu steigen. Der Stamm war dort, wo er die Erde berührte, hohl, die Wurzeln wuchsen über der Baumrinde, am Stamm entlang, in den Boden hinein. Hier und dort klafften kleinere und größere Löcher – Eingänge in den Baum, über
die die Spinnen ihre Nester gewebt hatten. Aber über einer einzigen Öffnung zitterte kein Spinnennetz.
Nicht nur das fehlende Spinnennetz erregte Tokes Aufmerksamkeit, auch meinte er, Funkeln und Bewegung im Baumstamm gesehen zu haben. Funkeln, als ob etwas im Dunkeln Licht reflektierte, und Bewegung, als ob sich ein größeres Tier in den Baumstamm verkrochen hätte.
Er näherte sich dem Baum und kniete nieder. Tatsächlich, dort am Rand der Öffnung entdeckte Toke eine dunkle, frische Blutspur. Sie war nur dürftig von Blättern, die der Wind herbeigeweht hatte, bedeckt, aber mit jeder Sekunde wehten mehr und mehr Blätter herbei und begruben die Spur vollständig unter sich.
Bestimmt hatte sich der kleine Greif hier verkrochen. Toke strahlte vor Freude. Der Kleine war also seinen Verfolgern entkommen.
„Junge!“
Eine tiefe Stimme ließ Toke zusammenzucken.
„Was treibst du dich hier im Wald herum?“
Toke richtete sich auf. Wieder ertönte die Stimme, verärgert.
„Was hast du hier zu suchen? Sprich!“
Toke wandte sich der Stimme in seinem Rücken zu. Ihm gegenüber stand ein Soldat des Drachenordens.
Toke schüttelte den Kopf, als würde er nach einer Entschuldigung suchen, und stammelte: „N-nichts!“
Der Mann musterte Toke und schaute hinüber zum Baumstamm.
„Hast du da etwas versteckt, Junge?“, fragte der Soldat mürrisch und schob Toke zur Seite.
Er kniete sich vor dem Baumstamm nieder und blickte durch eine Öffnung ins dunkle Innere. Als er dort kniete, sah Toke, dass der Mann, den er im ersten Moment der Aufregung für einen Drachensoldaten gehalten hatte, nicht der Armee, sondern dem Adel angehörte. Er trug keine Rüstung aus Eisen- und Lederplatten, keinen Umhang, sondern ein ärmelloses, bis zum Boden reichendes Überkleid. Unter dem grellroten
Überkleid, dem sogenannten Kaftan, befand sich der mit Tulpen- und Lilienmotiven verzierte dunkelgelbe Leibrock. Gehalten wurde der Leibrock von einem Gürtel, den leuchtend rote, blaue und grüne Edelsteine verzierten. Verziert war auch seine Muskete, deren Griff und Schaft mit Perlmutt kunstvoll verarbeitet war. Toke verstand: Vor ihm stand ein Herzog aus dem Haus der Suryani, des Herzogtums, dem die Dörfer und die Wälder rund um das Elam-Gebirge angehörten.
Aber auf Knien vermochte der Adelige trotz eindrucksvoller Kleidung nicht die Bewunderung und Ehrfurcht seines Untertanen auf sich zu ziehen. Er klopfte auf das Holz, als ob er sich irgendeine Antwort aus dem Inneren erhoffte. Als die Antwort ausblieb, bückte er sich weiter hinunter.
Toke lief es eiskalt den Rücken hinunter. Der kleine Greif lief Gefahr, entdeckt zu werden, denn aus der großen Öffnung streckte er, irritiert über das Stimmengewirr draußen, ängstlich den Kopf heraus. Toke sah, wie seine Schnabelspitze langsam aus der Dunkelheit hervortrat. Die runden Augen, weit aufgerissen vor Anstrengung, blinzelten unsicher im Licht.
Der Herzog kniete etwas abseits der Öffnung, wo der Kleine kauerte. Er hielt seine Muskete mit der einen Hand und mit der anderen stützte er sich auf dem Baumstamm ab. An eine der kleinen Öffnungen auf der Oberseite des Stammes presste er sein Auge, um das Innere auszukundschaften. Er war sich zu fein, um sich auf den Boden zu legen und durch die große Öffnung zu gucken. Zum Glück, denn sonst hätte er geradewegs in die Augen des Kleinen geblickt.
„Mh!“, sagte der Herzog. „Du hast hier doch was gesehen?“
Toke verkniff sich erleichtert ein Lächeln.
„Nichts, Herr“, sagte Toke und blickte zu Boden. „Das bildet Ihr Euch ein.“ Dabei schaute er aus dem Augenwinkel zu dem Greifen.
„Nun werd’ nicht frech, Junge“, ermahnte der Adlige. Der junge Greif wagte sich unterdessen immer weiter vor. Gleich würde der Adelige seinen Kopf sehen.
Toke stampfte auf und scharrte mit den Füßen.
„Was soll das?“, fragte der Mann gereizt.
Toke fegte mit dem Fuß etwas Staub und Laub in Richtung der Öffnung und traf den Kleinen am Schnabel.
Der Greif wich erschrocken ins Innere des Stamms zurück.
„Nichts, Herr“, sagte Toke. „Kann ich jetzt gehen?“
„Du führst doch etwas im Schilde“, sagte der Herzog und schaute Toke finster an. Er packte seine Muskete und machte ein paar Schritte, bis er neben der großen Öffnung stand. Er schaute hinunter.
Im selben Augenblick aber hatte eine Spinne sich der freien Fläche angenommen: Sie seilte sich an ihrem silbernen Faden hoch und runter und webte beflissen ihr Netz – ihr Heim, das zugleich für ihre Gäste eine tödliche Falle war. Vor allen anderen Konkurrenten hatte sie den freien Platz zuerst gesehen und sich sogleich ans Werk gemacht. Der Mann schaute fast enttäuscht die Spinne an – nein, er hatte sich wohl geirrt, im Baum hausten nur Insekten. „Junge, sag’ mir, kam hier ein Tier vorbei, so groß wie du selbst, mit Krallen und Federn?“
Toke schüttelte den gesenkten Kopf.
„Dann scher dich jetzt weg“, sagte der Herzog gelangweilt.
Toke zögerte kurz und hielt aus dem Augenwinkel nach dem Greifen Ausschau. Als er sich sicher war, dass sich der Kleine nicht wieder hervorwagte, wollte er dem Befehl Folge leisten.
Doch als er sich umdrehte, kam ihm ein Drachensoldat entgegen. Es musste der Anführer der Drachensoldaten sein, da seine Rüstung durch ihre Pracht hervorstach. Sie war aus Gold. Toke fiel sofort die Figur auf dem Helm auf: Ein länglicher Drache mit aufgerissenem Maul, spitzen Hörnern und zierlichen purpurnen Flügeln stützte sich auf seinen Vorderbeinen nach vorne ab und bleckte seine Zähne. Die Figur rahmte eine runde Form ein, die, ähnlich wie der Buchstabe U, nach oben hin geöffnet war, aber auf Höhe des Helmes direkt über der Stirn des Mannes und unter der Drachenfigur rund abschloss. Der Helm, das Bruststück wie auch die Ober- und Unterarmschienen, der Hand- und Handgelenkschutz und die Beinröhren waren aus Gold angefertigt und wurden mit roten und orangefarbenen Bändern zusammengehalten. Gleich unter seiner Brustplatte fing der Schurz an, der aus mehreren, geschichteten Lederplatten bestand und stufenweise über seine Lenden und Oberschenkel bis hinunter zu seinen Knien reichte. Unter und zwischen den Schnüren und Platten konnte Toke einen kostbaren, weil glänzenden orange-beigen Stoff mit gold-silbernen Verzierungen und Motiven erkennen. Der purpurne Umhang schließlich, der im alten Imperium nur vom Kaiser getragen werden durfte, wurde über seinem Schulterschutz von zwei runden Broschen gehalten, die beide einen Drachenkopf darstellten.
Toke schluckte. Vor ihm stand einer der drei Triumviren, die über die Neue Republik nach dem Fall des Imperiums herrschten. Die Macht in Person. Toke senkte den Blick.
Der Herzog nahm Haltung an.
„Herr“, sagte er, „das Greifenjunge hat sich in die Wälder verkrochen, ich war auf der Suche. Da ist mir dieser hier“ – der Herzog deutete mit einer wegwerfenden Geste auf Toke – „zufällig begegnet und ich bin ihm gefolgt. Ich wollte gleich zu Euch zurückkehren.“
Der Triumvir schritt auf Toke zu. Als Toke seinen Blick hob schaute der mächtige Mann ihm geradewegs in die Augen. Sofort senkte Toke wieder seinen Blick. Doch mit der linken Hand fasste der Triumvir Toke am Kinn und hob sein Gesicht zu sich hoch.
„Wie heißt du?“, fragte der Triumvir.
„Toke.“
„Du erinnerst mich an jemanden“, sagte er zu Toke. „Wer ist deine Familie?“
„Meine Eltern sind tot“, antwortete Toke. „Ich lebe bei meiner Großmutter hier im Dorf.“
Zwei Krieger, beide in dunkelroter Rüstung und mit spitz zulaufenden Helmen, traten an den Triumvir heran. Der zweite hielt mit beiden Händen ein Schwert, das in einer reich verzierten Scheide steckte: Goldgelbe Wolken schwebten über einen dunkelblauen Hintergrund, weiße Drachenfiguren, mit spitzen Hörnern und scharfen Klauen, wanden sich mit ihren länglichen Körpern durch die Wolken und stiegen von der Spitze der Scheide zum Schwertgriff auf.
„Triumvir, Herr, “, sagte der erste Krieger. Seine Stimme, gedämpft durch die Maske, die sein Gesicht schützte, klang metallen und furchteinflößend tief. „Wir haben sie gleich, die Greifen. Herr, der Gnadenstoß soll Euch gehören.“
Der zweite Krieger kniete sich hin, hob das Schwert über seinen Kopf und bot es auf seinen Handflächen dem Triumvir an.
Da sah Toke, wie das Schwert zu knistern anfing. Durch die Scheide, an einzelnen Rissen im fein gearbeiteten Holz, drangen dünne Funken. Aber es war kein Feuer, sondern ein merkwürdiges, unbekanntes Licht, ein Licht, das Toke noch nie gesehen hatte. Als der Triumvir mit einer schnellen Bewegung das Schwert aus der Scheide zog, dann mit beiden Händen den Griff festhielt und das Schwert einmal, zweimal durch die Luft schwenkte, da sah Toke, wie kleine Flammen über die pechschwarze Klinge züngelten, bis sie die Klinge von der Spitze bis zum Griff in rauschende Flammen tauchten. Aber es war kein gewöhnliches Feuer, das anschwoll. Die Flammen waren purpurn.
Toke schaute gebannt zu der Klinge. Der Triumvir hielt sie nun in einer Hand, die Flammen loderten und loderten. Aus den purpurnen Flammen, kurz unter dem Schwertriff, entstiegen plötzlich einzelne, weiße Rauchschwaden, kaum größer als ein Finger, aber so milchig-trüb wie
frischer Sommernebel. Sie gewannen an Gestalt, aus den Schwaden wuchsen Köpfe, Mäuler, Schwingen – es waren kleine Drachen, die sich aus den Flammen schälten und über die Hand des Triumvirs strichen. Sie umkreisten sein Handgelenk und bildeten, da jede Drachengestalt mit dem Maul in den Schwanz des vorderen Drachens zu beißen schien, ein weißes Armband.
Toke war wie hypnotisiert. Das Rauschen des Windes in den Ohren, das Knistern der purpurnen Flammen im Auge spürte er sich mit einem Mal so fern von sich selbst. Als ob ihn diese Welt nichts angehen würde. So überhörte er zuerst das leise aber stete Zischen, das sich langsam über das Rauschen des Windes legte und es nach und nach verdrängte, bis es zu einem ohrenbetäubenden Lärm heranwuchs.
Als ob jemand Klingen wetzte, tausende kleiner Klingen, die unsichtbare Hände, manche mit Eifer, manche mit nachlässigen Bewegungen, schliffen, so hörte sich der Lärm für Toke an. Hören denn die anderen nichts?, fragte sich Toke. Bin ich der einzige, den dieser Lärm verrückt macht?
Aber die anderen zwei Krieger, der Herzog und der Triumvir, der das Schwert nun seitlich führte, schienen nichts zu hören und schritten wieder zum Kampf zurück. Für einen Augenblick, als das schrille Kratz- und Schleifgeräusch am nervenaufreibendsten war und als Toke vor Bedrängnis seine Stirn in Falten legte und die Augen zu Schlitzen verengte, da merkte er, wie sich der Herzog noch einmal nach ihm umdrehte und ihn aufmerksam betrachtete, bevor er dem Triumvir und den beiden Kriegern folgte. Mit dem Abzug des Triumvirs ließ auch der Lärm nach und Toke hörte die Blätter wieder im Wind in den Baumwipfeln zittern.
ER atmete erleichtert aus. Toke war wieder alleine. Und sie hatten den kleinen Greifen, der sich im ausgehöhlten Baumstamm hinter ihm versteckte, nicht entdeckt. Die Jagd auf die Greifenfamilie war bestimmt bald zu Ende. Die beiden Greifen hatten keine Chance gegen solch erfahrene Krieger, wie sie der Drachenorden stellte. Aber wenigstens ihr Junges würde den heutigen Tag überleben.
Er schaute zum kleinen Greifen und sah, wie er langsam seinen Kopf rausstreckte. Er zitterte und schaute Toke aus weitaufgerissenen Augen an, die Ohren ängstlich zusammengeklappt. Er öffnete seinen kleinen Schnabel, als wollte er krächzen, aber es drang kein Laut heraus.
„Hab keine Angst“, flüsterte Toke und lächelte ihn an. „Bestimmt können sich deine Eltern retten. Und dann triffst du sie wieder. Ganz bestimmt!“, sagte Toke und versuchte dem Kleinen Mut zu machen. Er glaubte nicht, was er sagte. Aber wie hätte er den Kleinen auch trösten können? Es tat ihm gut, seine eigene Stimme zu hören. Merkwürdig und neu waren die Dinge, die ihm im Wald widerfahren waren. Der kurze Ausflug in den Wald hatte ihn sein ruhiges Leben im Dorf jäh vergessen lassen. Es gab noch eine andere Welt jenseits der ihm bekannten, eine Welt mit Greifen, Kriegern und glühenden Schwertern, von denen er noch nie gehört hatte.
Warum sie dich wohl jagen, mein Kleiner?, fragte sich Toke stumm und wagte sich vorsichtig an den Greifen heran. „Dabei würdest du doch niemals jemandem weh tun, oder?“, sprach er leise.
Er ging in die Hocke und hielt seine Hand, Handfläche nach oben, ausgestreckt dem Greifen hin. Wenn er streunende Katzen, die immer misstrauisch gegenüber Menschen waren, anlocken und streicheln wollte, dann tat er dasselbe. Und die Katzen, nachdem sie sich zuerst abweisend gegen Mauern gepresst oder unter knorrigen Sträuchern verkrochen hatten, wagten sich am Ende neugierig vor und schnupperten zitterig an seinen Fingern. Etwas von einer Katze trägst du ja allemal in dir, dachte Toke.
Der kleine Greif starrte lange die ausgestreckte Hand an, bis er sich schließlich aus seinem Versteck hinaus traute. Zögerlich, aufgeregt umherblickend, aber von einer starken Neugier auf den Zweibeiner vor ihm getrieben, schlich er sich ganz langsam hinaus. Dabei drückte er sich mit den Hinterbeinen nach vorne, machte sich lang, und zog sich mit seinen Krallen am Boden vorsichtig an Toke heran.
Toke lächelte und hoffte, der Kleine würde nicht denken, dass er ihn auslachte. Denn das tat Toke nicht. Aber die unbeholfene Art, wie der Greif sich bewegte, seine Krallen, die im Verhältnis zu seinem Kopf und Körper viel zu groß waren, seine Schwingen, die kurz am Baumstumpf hängenblieben und ihn panisch zusammenzucken ließen, als sie daraufhin über das Holz schabten, – das alles wirkte sehr … Niedlich, würde Leyonie sagen, wenn sie hier wäre, dachte Toke.
Der Kleine schnupperte an Tokes Hand und knabberte vorsichtig an seinen Fingern. Toke zog seine Hand nicht zurück. Seine Finger wurden nun abwechselnd von dem Unter- und Oberschnabel bearbeitet, dazwischen fühlte er auch etwas Warmes, Weiches, die Zunge, die angenehm über seine Fingernägel strich. Toke lächelte. Das kitzelt!, dachte er. Er zog nun langsam seine Hand zurück und strich ihm über die Stirn. Die Augen des Kleinen schlossen sich halb, es schien ihn zu entspannen.
„Am liebsten würde ich dich gleich zu uns mitnehmen“, flüsterte Toke. „Aber deine Eltern …“, fing er an und verstummte. Würden die beiden großen Greifen diese Treibjagd überleben? Unwahrscheinlich, hörte er sich denken. Er schüttelte unmerklich den Kopf und verdrängte seine dunklen Gedanken. „Deine Eltern werden dich bestimmt suchen. Am besten, ich bleibe hier und bringe dich ...“, fing er an, aber konnte den Satz nicht mehr beenden.
Schüsse knallten im Wald, mehrere Salven dröhnten kurz aber laut auf und hallten lange in der Stille nach. Die Schüsse ließen den Kleinen zusammenzucken. Zitternd, mit weit aufgerissenen Augen, presste er sich auf den Boden. Er schlich eilig zurück zum Baumstumpf, schaute ein letztes Mal zurück und kroch am Baum vorbei tiefer in den Wald hinein. Vorbei an dichten Büschen und wuchernden Ästen, die ihn zuerst widerwillig aufnahmen, aber im nächsten Moment vollständig verschluckten. Er war verschwunden.
Toke aber bemerkte dies erst später. Er war schon auf den Beinen und schaute in die Richtung, in der er die abgefeuerten Schüsse vermutete. In einiger Entfernung konnte er mehrere Rauchschwaden sehen, die sich gleichgültig gegenüber Wald und Mensch im Unterholz ausbreiteten und alles bedeckten, was sie berührten. Im nächsten Augenblick aber trug sie der Wind fort und sie stiegen vorbei an den Baumwipfeln in den Himmel.
Dort, mit einem Mal, ungefähr auf der Höhe der vorbeiziehenden, Rauchschwaden, zwischen den unzähligen Kiefern, breiteten sich plötzlich riesige Schwingen aus. Die Kiefern neigten ächzend ihre Wipfel, als sie auseinander gedrängt wurden, Holz brach, Äste fielen auf den Boden, der weiße Greif erhob sich mit einem Sprung in die Luft, drückte sich von einem dicken Stamm ab und durchstach kreischend die Baumdecke.
Der Vater schafft sich Raum für einen Angriff, freute sich Toke still und hielt Ausschau nach der dunklen Greifin. Ob sie durch den Rauch die Orientierung verloren hatte?
Da, als sich Toke noch über das Schicksal der Greifin wunderte, sah er plötzlich, wie sich ihr Adlerkopf aus den Rauchschwaden erhob. Aber dem Schlag ihrer Schwingen fehlte es an Kraft. Statt sie in Richtung des Himmels zu tragen, knickten ihre Schwingen ein und sie fiel gegen eine verdorrte Kiefer, deren Äste scharf wie Speere nach allen Seiten stachen. Der Zusammenprall ließ den Baum erzittern.
Die Rauchschwaden begannen mit einem Mal purpurn zu leuchten. An den Rändern nur matt und schwach, aber zu einem Punkt hin tiefdunkel. Als der Wind die Rauchschwaden fortwehte, sah Toke, dass sich der Triumvir, das glühende Schwert in den Händen, vor der Greifin aufgebaut hatte. Seine Krieger, entweder mit einer Muskete, deren Mündung noch qualmte, oder mit einer Lanze in der Hand, hatten sich in drei engen Reihen hinter dem Triumvir aufgebaut. Sie hielten sich zurück und hatten ihrem Anführer den Kampf und die Initiative übergeben.
Der Triumvir hob nun das Schwert über seinen Kopf, umfasste den Griff mit beiden Händen und stürmte mit einem Schrei auf die Greifin zu, die, mitgenommen vom Sturz, verletzt von der Jagd, auf dem Boden kauerte. Sie war dieser letzten Attacke preisgegeben.
Still erwartete sie den Tod, als plötzlich aus dem Himmel der weiße Greif, ihr Gefährte, zielgenau wie ein Pfeil geschossen kam. Hart landete er neben ihr und wirbelte vertrocknete Nadelblätter und Laub auf und hüllte den Schauplatz in eine Staubwolke. Ein Drachenkrieger, der sich zu weit vorgewagt hatte, hielt sich die Hand schützend vor die Augen. So konnte er den Krallen des Greifen nicht ausweichen, die ihn hart gegen einen Baum schleuderten.
Der Triumvir und seine Krieger rückten näher. Toke sah, wie der Triumvir seine Männer mit der Hand nach rechts und links laufen hieß und sie daraufhin, folgsam und vorsichtig, die Greifen einkesselten. Die ersten setzten schon die Musketen zum Feuern an, der Triumvir selbst hob das Schwert zur Attacke und stürmte vor. Die Klinge sauste lodernd auf die Greifin nieder.
Aber der Greif ging erneut dazwischen, stieß wie ein Bock mit seiner Stirn gegen ihn und warf ihn um.
Der Triumvir strauchelte. Doch bevor er zu Boden fiel, ließ er sein glühendes Schwert in letzter Sekunde auf den Greifen niedersausen. Er traf ihn im Nacken. Die purpurnen Flammen, die auf der Klinge züngelten, verbrannten augenblicklich die weißen Federn, versengten das Fleisch und im nächsten Augenblick klaffte eine große Wunde an Nacken und Hals des Greifen.
Toke meinte, verbranntes Fleisch riechen zu können, aber bestimmt bildete er sich das nur ein. Er war viel zu weit weg vom Kampfplatz, um irgendwelche Gerüche wahrnehmen zu können. Als hätte ihn selbst das Schwert verwundet, führte er eine Hand an seinen Hals und tastete nach einer offenen Wunde. Er war wie starr vor Angst und konnte seine Augen nicht von dem Spektakel der Jagd losreißen.
Der riesige Greif kreischte laut auf und Toke wusste sofort, dass es ein Schmerzensschrei war. Klagelaute verließen den Schnabel. Hilflos beobachtete Toke, wie der Greif einknickte: Seine Hinterläufe gaben nach, das Hinterteil fiel hart auf den Boden. Seinen Kopf hielt er noch aufrecht, doch lagen kein Zorn, keine Kraft mehr in den Augen, sie waren nur noch halboffen. Sein mächtiger Schnabel zeigte zu Boden und senkte sich immer deutlicher.
Er schafft es nicht, dachte Toke. Die Greifin hatte sich erhoben und stützte den weißen Greifen an der Seite. Sie presste ihre Stirn an seine Brust und versuchte, ihn aufzurichten. Doch es hatte keinen Sinn mehr. Im nächsten Augenblick schlossen die Drachenkrieger mit ihren Lanzen auf, durchbohrten die Greifin am Bauch und stachen ihr in den Hals. Sie krümmte sich, ihre Augen schlossen sich, als sie einen schrillen Schrei ausstieß und zusammensackte. Von der letzten Lanze, die sie durchbohrt hatte, wurde ihr Körper aber gestützt: Der Kopf blieb leblos in der Luft hängen und berührte den Boden nicht.
Der Greif brüllte ein letztes Mal, doch endete sein Brüllen in einem heiseren Röcheln. Er bekam nur schwer Luft, seine einst mächtige Brust pulsierte in kurzen Bewegungen. Die Wunde an seinem Hals zehrte seine letzten Kräfte auf. Doch tropfte kein Blut aus der Wunde. Stattdessen lag sein rosafarbenes Fleisch wie ein Halbmond inmitten der weißen Federn bloß. Die weißen Federn, die um das rosafarbene Fleisch lagen, schrumpelten, wurden langsam pechschwarz und schließlich zu Asche. Das glühende Schwert hatte ein unsichtbares Feuer um die Wunde gelegt, das sich langsam aber stetig ausbreitete und die Federn verzehrte. Toke meinte, ein leises Knistern hören zu können, als würde trockenes Laub verbrennen. Nicht nur auf seiner Haut sondern auch in den Greifen hinein schien das Feuer sich zu fressen. Denn auf einmal bäumte sich der weiße Riese auf, schlug mit seinen Schwingen, als würde ihm etwas von innen heraus Schmerzen zufügen, torkelte zurück und fiel auf den Rücken.
Toke wich ein paar Schritte zurück, bis er die kratzige Baumrinde des hohlen Baumstamms auf der Haut spürte. Er blickte weg, konnte und wollte die Gewalt nicht mehr sehen, wollte nicht miterleben, wie sich die Krieger nun über die beiden Greifen hermachten. Mord ist das, dachte Toke, hinterhältig und grausam. Er hatte sich nie an die Schlachtung der Tiere und der Hühner im Dorf gewöhnen können, ging nie mit den Jägern im Herbst in den Wald um Wildschweine zu jagen. Zuviel Blut, das sich vor einem ergoss, so viel Leben, das mit einem Mal verschwand. Jetzt diese brutale Jagd gegen diese schönen Tiere – nein, ich muss hier weg, dachte Toke.
Und der kleine Greif?, dachte er plötzlich erschrocken. Ich kann den Kleinen hier nicht schutzlos zurücklassen. Ohne Eltern, ohne Familie, ohne Schutz vor Wölfen oder Bären und mit diesen mordlustigen Jägern im Wald. „Ich lasse dich nicht zurück“, wiederholte Toke laut für sich und hoffte, der kleine Greif würde es hören und, am besten sogar, verstehen.
Toke beugte sich hinunter und spähte durch die Öffnung in den Baumstamm hinein. Der kleine Greif war weg. Toke blickte sich um. Das ist passiert, als ich zu den Greifen und den Kriegern geschaut habe, dachte Toke. Er hat sich weggeschlichen.
An der Rinde klebte Blut, dunkel, aber doch augenfällig. Toke kniete sich auf den Boden und wischte mit dem Finger über die Blutspur. Dort, auf Kniehöhe weiter hinten, waren die Äste eingeknickt. Auch dort war etwas Blut. Auch war der Boden aufgewühlt und dunkle Erde kam hier und dort zum Vorschein. Dorthin bist du also geflohen, dachte Toke. Wenn ich dir folgen kann, können auch die Jäger deine Spur aufnehmen. Schnell wischte Toke mit seiner Hand über die Blutspuren und fegte mit dem Fuß über das Laub und die Tannennadeln, die verstreut auf dem Boden lagen. Er blickte sich um, spähte zurück zu den Kriegern. Sie hatten die beiden Greifen umringt, niemand war in der Nähe, und nach ihm suchten sie jetzt bestimmt nicht. Los, dachte Toke und folgte der Spur durch das Gebüsch und die verdorrten Äste.
Die Spur führte nicht weit. Toke folgte den umgeknickten Ästen und den Blättern, an denen Blut klebte, bis er sich zwischen zwei kleinen Hügeln wiederfand. Zwischen den Hügeln ragten die riesigen, dicken Wurzeln der Bäume heraus, die sich die Hügel erobert hatten: ein Dickicht, das kreuz und quer über den Boden lief und die Hügel hinaufkletterte. Hier muss er sein, dachte Toke. Und tatsächlich, dort, geschwärzt, schmutzig vom aufgewühlten Boden, zwischen den schwarzen und dunkelbraunen Wurzeln schaute ihn der kleine Greif mit großen Augen an.
Toke lächelte. Ich hab’ dich, dachte er.