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Prinzessin Fyona hatte alles – bis der plötzliche Tod des Kaisers ihr Leben ins Chaos stürzt. Gejagt von Attentätern, verraten von Verbündeten und verfolgt vom finsteren Hexer Jorunn, bleibt ihr nichts außer ihrem Mut und einem brennenden Ziel: Den Thron zurückzuerobern. Auf ihrer Flucht begegnet sie zwei ungleichen Gefährten: Nikko, ein gewitzter Dieb mit einem Herz aus Gold, und B., ein grantiger Vampir, der Menschen lieber meidet – aus gutem Grund. Widerwillig tun sie sich zusammen, doch schnell wird klar: Wer Jorunns dunkle Pläne durchkreuzen will, braucht mehr als Glück. Berg-Riesen, mächtige Zentauren, gefährliche Schamanen und Werwölfe sind nur der Anfang ihrer Reise. Während Fyona lernt, dass Helden manchmal aus den ungewöhnlichsten Ecken kommen, wachsen die drei zu einem Team zusammen. Doch wird ihre Freundschaft ausreichen, um einen Hexer zu stürzen, der bereit ist, alles zu opfern, um die Macht an sich zu reißen? Ein humorvoller, actiongeladener Fantasyroman voller Abenteuer, Gefahren und einer Prise Freundschaft – für Leser*Innen ab 10 Jahren und alle, die von Magie, Helden und unerwarteten Allianzen träumen.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Inhaltsverzeichnis
Eine überraschende Begegnung
ERSTER TEIL: Von Prinzessinnen und Vampiren
Prinzessin Fyona
Die Kutsche
Jorunns Plan
Fyonas Ärgernis
Reisende unter sich
Gefahr in der Nacht
Von Vampiren und ihrem schlechten Ruf
Die kaiserliche Frucht
ZWEITER TEIL: Die Suche nach dem heiligen Artefakt
Auf dem Weg nach Zunos
Onomanees Palast
Das Attentat
Fyonas Entschluss
Neue Attentäter braucht das Land
Die beschwerliche Reise nach Bergama
Die Fährte
Auf der Aspasia
Der Angriff der Riakis
Ausstieg vor Dumas
Durch den Tepepeweke-Wald
Der drohende Bürgerkrieg
Auf nach Bergama
Bergama
Die kaiserliche Basilika
Der Eingang zum Tempel
Über Fremde und Vampire
Der Tempel der Athiak
Der Priester der Athiak
Der Raub der heiligen Frucht
Flucht aus dem Tempel
Der Überfall
DRITTER TEIL: Die Rückkehr nach Nova Bergama
Das Angebot eines Vampirs
Ein überraschendes Angebot
Die bevorstehende Krönungsfestlichkeiten
Übungsstunde mit B.
Jorunns Sieg
Die Krönung in der Sankt-Opal-Kathedrale
Der Kampf in der Kathedrale
Der Rat der Kurfürsten
Die Kaiserin der Nacht
IMPRESSUM
Der Pakt der Nacht
von
Morno Oim
Nikko rannte, hetzte an den Marktständen vorbei, bog um die Ecke, sprang über ein paar Bettler, die ihr Quartier mitten auf der Straße errichtet und sich zur Nachtruhe auf den Boden gelegt hatten. Er hetzte auf den weitläufigen Forumsplatz, dem Zentrum der kaiserlichen Hauptstadt Nova Bergama, wo auch zu dieser Zeit noch viele Menschen unterwegs waren. Lagerfeuer brannten unter den Statuen, die imposante Kaiserbüsten trugen, einzelne Erzählerinnen saßen im Kreis ihres Publikums, die gespannt an ihren Lippen hingen.
Nikko hielt außer Atem an, wischte sich den Schweiß von der Stirn und blickte sich keuchend um. Im schummrigen Halbschatten zwischen den kleinen und größeren Feuern konnte er seinen Verfolger nicht sehen. Er glaubte ihn abgeschüttelt zu haben, glaubte sich in Sicherheit.
Doch da packte ihn eine fleischige Hand am Kragen.
»Hab ich dich, Bengel!«, hörte er die tiefe Stimme brüllen. »Gib mir meine Sachen zurück! Weißt du nicht, wie der Kaiser mit Dieben verfährt? Er lässt sie ins dunkelste Verlies schmeißen! Dahin, wo du hingehörst!«
Der Mann zog und zerrte an ihm. Nikko schrie auf. Verzweifelt krallten sich seine Finger in den Lederbeutel, den er sich an die Brust presste. Panik stieg hoch, wie wild trat er um sich.
Da fühlte er, wie sein Fuß gegen einen Widerstand stieß.
»Autsch! Verdammter…«, hörte Nikko die Männerstimme fluchen.
Im nächsten Moment bekam er sich frei und warf sich in eine Menschenmenge, die um einen kleinen Essenstand stand. Einzelne kauten hungrig an gerösteten Maiskolben und blickten fragend auf, als sich Nikko an ihnen vorbeizwängte.
Nikko rannte, die gestohlene Tasche fest in der Hand. Er hatte seit zwei Tagen nichts mehr gegessen. Der Geruch nach gebratenem Mais, die Aromen einer Linsensuppe hingen in der Luft, sein Magen zog sich vor Hunger zusammen.
Doch Nikko straffte sich. Gleich habe ich es geschafft, dachte er. Niemals wird er mich durch die verschlungenen Gassen der Altstadt verfolgen können.
Er kannte die Wege um den Platz in und auswendig. Er rannte über die vom Regen leicht glitschigen Pflastersteine, wich ein paar unachtsam abgeparkten Kutschen am Straßenrand wie auch mehreren Händlern aus, die aufeinander gestapelte Teppiche auf den Schultern oder eine menschengroße Amphore auf dem Rücken trugen. Er bog in die nächste Straße ein, dann rannte er an ein paar einstöckigen Häusern vorbei, bog schließlich in eine dunkle Gasse ein, die schmal und unscheinbar von der belebten Straße abging, dass man hätte leicht an ihr vorbei laufen können, ohne sie wahrzunehmen.
Stille. Er hörte sich keuchen, der Schweiß tropfte auf die Steine, ein paar Straßenkatzen schnurrten, eine grau gestreifte schmuste in der Hoffnung auf einen Leckerbissen mit seinem Bein.
»Ich habe bestimmt größeren Hunger als du. Aber ich habe nichts«, flüsterte Nikko der Katze zu, als sich sein Atem beruhigt hatte. Er streichelte sie. »Aber das wird sich ändern. Und dann bekommst du auch etwas ab, versprochen!«
Er betrachtete die Tasche, die er dem Händler entrissen hatte. Sie war aus fein gegerbtem, schwarzem Leder, die Nähte säuberlich verarbeitet, der Verschluss aus edlem, glänzend poliertem Silber. Es musste ein Vermögen in der Tasche drin sein – oder zumindest etwas, das Nikko bei Tagesanbruch auf einem Markt zum Verkauf anbieten würde.
Doch da flog ein Fuß gegen seinen Rücken und Nikko landete mit dem Gesicht in der Pfütze. Verängstigt liefen die Katzen davon. Nikko drehte sich um, hielt sich die schmerzende Wange. Er blickte ängstlich hoch.
Über ihm stand sein Verfolger. Die Brust hob und senkte sich, Schweiß tropfte ihm die Stirn runter, er starrte Nikko aus zornig zusammengekniffenen Augen an. »Hab ich dich!«
Nikko wich auf Händen und Füßen zurück.
»Wenn ich es mir recht überlege«, sagte der Mann, als er seinen Gürtel richtete, »werde ich dich nicht der Stadtwache übergeben.« Er bückte sich und klaubte die Ledertasche vom Boden auf. Missmutig betrachtete er sie, sie war nass geworden.
Nikkos Blick wanderte über die Häuserfassade. An den Fensterrahmen konnte er nicht hochklettern wie die Katzen. Er war in einer Sackgasse, die er nur verlassen konnte, wenn er es an dem Mann vorbei schaffte.
Doch der Mann richtete sich seelenruhig auf, hing sich die Tasche um, blickte abschätzig zu Nikko hinunter. »Nein. Ich werde die Angelegenheit lieber selber regeln.«
Er hielt auf einmal einen Dolch mit einem goldenen Griff in der Hand. »Auf Diebstahl«, sagte er und näherte sich Nikko, die gezückte Waffe bedrohlich in der Hand wiegend, »steht der Tod.«
Nikko erschauerte und starrte entsetzt den scharfen Dolch an, dessen Klinge im Mondschein weiß glänzte. Er spürte, wie Kälte seine Brust packte. Er stammelte eine Entschuldigung, er wollte niemandem schaden, er brauchte das Geld, er hatte Hunger und er lebte alleine, auf der Straße, er hatte niemanden.
Doch der Mann lächelte nur gehässig. »Um so besser«, sagte er. »Dann wird dich auch niemand vermissen.«
Nikko wich immer weiter zurück, wagte nicht, sich aufzurichten. Das Unvermeidliche rückte in Gestalt des erbarmungslosen Mannes näher und näher.
Nikko fühlte auf einmal die kalte Wand im Rücken, er hatte sich in die Dunkelheit des Gassenendes verkrochen, den Mann nicht aus den Augen lassend. Seinem Verfolger gefiel es, dass Nikko Angst vor ihm hatte. Er stand grinsend im hellen Mondlicht, während sich Nikko im Nachtschatten auf dem Boden immer kleiner machte. Der Mann hob den Dolch, er ließ nicht von seinem grausamen Vorhaben ab.
Nikko schloss die Augen, Angst packte ihn und zerwühlte ihm die Eingeweide. Er wusste nicht mehr, was er tat und hob die Hände schützend hoch. Eine letzte Geste der Verzweiflung.
Doch nichts geschah. Als der Zustand noch ein paar Sekunden, die ihm wie eine Ewigkeit vorkamen, anhielt, merkte Nikko, dass er die Augen fest zugemacht hatte. Die Arme verkrampften. Vorsichtig, langsam, als würde er mit dem Öffnen der Augen sein Schicksal riskieren, je wieder lebendig die Gasse verlassen zu können, wagte er einen Blick.
Der Verfolger stand noch immer über ihm, den unerbittlichen Dolch hielt er fest in der Hand. Doch ein anderer Mann, schlank, auffällig blass, dunkel angezogen, stand dicht hinter ihm. Es wirkte, als würde er den Grausamen im Mondschein zärtlich am Hals küssen. Nikkos Verfolger war wie erstarrt, seine Augen waren weit aufgerissen, der Mund – halboffen.
Nikko hörte ein schmatzendes Geräusch, etwas Feuchtes floss irgendwo, etwas Dunkles tropfte den Hals des Mannes hinunter.
Die beiden Männer blieben in ihrer merkwürdigen Umarmung eine Weile, die Nikko unendlich lang vorkam. Doch instinktiv wollte Nikko nicht auf sich aufmerksam machen, es nicht riskieren, zu stören, was auch immer hier gerade vor sich ging. Er blieb regungslos an Ort und Stelle.
Doch da spürte etwas Pelziges, etwas knabberte seinen Finger an!
»Ah«, rief Nikko erschrocken. Es war eine Ratte, die an ihm genagt hatte! Im nächsten Moment war die Ratte in einer Abflussrinne verschwunden.
»Waf ift daf?«, hörte Nikko den blassen Mann sagen. »Wer ift da? Feig dich!«
Nikko war aufgeflogen.
»Nichts, edler Herr«, sagte Nikko. Er schaute besorgt zu seinem Verfolger hoch, der schien ihn aber gar nicht wahr zu nehmen. Er wirkte benommen.
Nikko richtete sich auf. »Verzeiht, Herr!«, sagte er zu dem schlanken Mann, der merkwürdig lispelte. Er konnte ihn nun besser erkennen, auch wenn sein Gesicht von dem Hals den vorderen Mannes bedeckt wurde. Er schien regelrecht an dessen Haut zu kleben. Nikko wunderte sich.
Da zog der schlanke Mann mit einem lauten Schmatzer die Fangzähne aus dem Hals des anderen. Blut tropfte und zwei dunkle Bissspuren setzten sich im hellen Mondlicht deutlich von der hellen Haut des Mannes ab.
Ein… Vampir?! Nikko schluckte sprachlos. Gab es überhaupt Vampire?
»Ja«, sagte der Fremde, der Nikkos Gedanken erraten hatte. »Es gibt uns wirklich!« Er verdrehte leicht genervt die Augen, als er sich den Mund mit dem Handrücken abwischte.
»Oh«, sagte Nikko. Mehr fiel ihm dazu nicht ein.
Dem Vampir schien es auch die Sprache verschlagen zu haben. Denn er schaute abwartend zu Nikko. Dabei fuhr er sich mit der Hand durch die dichten, dunklen Haare und Nikko fiel auf, wie lang und knochig die Finger waren.
Nikkos grausamer Verfolger hingegen stand schläfrig neben dem Vampir. Er wirkte wie gelähmt.
»Setz dich«, sagte der Vampir zu dem Mann. Dieser plumpste auf den Boden, landete mit dem Gesäß in einer Pfütze und saß da, als würde er auf einen weiteren Befehl warten.
»Danke«, sagte Nikko zu dem Vampir. »Ihr habt mir das Leben gerettet.«
»Wie?«, der Vampir beugte sich erstaunt vor, zeigte Nikko die Fangzähne. »Warum bedankst du dich bei mir?«
»Er wollte mich töten!« Nikko schluckte, bei dem Gedanken kroch eine Gänsehaut über seinen Rücken.
»Und ich etwa nicht? Ich kann dich aufschlitzen, dich austrinken, dich aufhängen und dann vierteilen! Oder in beliebig anderer Reihenfolge!«, sagte der Fremde. »Ich bin ein Vampir! Hast du auch nur eine Ahnung, wie mächtig ich bin?« Er wartete eine Sekunde. Als keine Reaktion kam, fügte er wie beiläufig hinzu: »Ich trinke Blut«, er zeigte wie zur besseren Erklärung auf den Sitzenden, der derweilen wie benebelt ein Kinderlied zu summen begonnen hatte und entzückt die funkelnden Sterne betrachtete. «Ich könnte deinen Hals brechen und zwar so -«, der Vampir hielt die Hand vor Nikkos Gesicht und schnippte mit den Fingern.
»Nein«, sagte Nikko. Er wunderte sich, woher er den Mut aufbrachte, mit einem Blutsauger so nüchtern zu reden. Doch eigentlich brauchte es dafür keinen Mut. Denn Nikko fühlte sich… ruhig. Es tat ihm gut, mit dem Vampir zu reden. Der Vampir jagte ihm gar keine Angst ein, er fürchtete ihn nicht. Als Nikko dies erkannte, musste er unwillkürlich schmunzeln.
»Und jetzt lachst du auch noch?« Der Vampir schaute unzufrieden und hob eine skeptische Braue. »Bist du verrückt? Hast du denn gar keine Angst vor mir?«
»Du tust mir nichts!«, sagte Nikko. »Das weiß ich.«
»Ach«, sagte der Vampir, seine Zunge spielte mit dem linken Fangzahn, als würde er ihn polieren wollen. Mehr sagte der Vampir nicht und da verstand Nikko, dass er mit seiner Einschätzung vollkommen richtig gelegen hatte.
Der Vampir überlegte: »Was wollte eigentlich dieser Mann da von dir?« Er nahm Nikko in Augenschein.
»Ich…«, Nikko räusperte sich. »Ich habe ihm die Tasche weggenommen.«
»Du hast ihn beklaut?«
»Ich habe seit zwei Tagen nichts mehr gegessen, da dachte ich…«, begann Nikko. Aber er brach ab. Er wollte nicht jammern. Was half es denn? Er erwartete kein Mitgefühl. Die meisten sahen bloß weg, wenn sie Arme auf der Straßen sah, übersahen beflissentlich Bettler auf Krücken und Hilfsbedürftige in Lumpen.
»Da dachtest du, es ist in Ordnung, wenn du diese armselige Wampe hier ausnimmst?«, schloss der Vampir und reckte das Kinn zu dem Mann, der im Nassen saß und ein Lied vor sich hin trällerte. »Wo sind deine Eltern?«
Nikko zuckte mit den Schultern. »Meine Mutter ist verstorben. Mein Vater ist fort, da war ich noch klein.«
»Groß bist du jetzt immer noch nicht. Wie alt?«
»Neun«, sagte Nikko. »Glaube ich.«
Der Vampir sah ihn nachdenklich an. Nikko sah hoch und merkte, dass sich ein milder Glanz in seinen Blick eingeschlichen hatte.
»Dann komm mal mit«, sagte der Vampir. »Ich heiße übrigens B.«
»Wie - B.?«, sagte Nikko verwundert. »Das ist doch kein Name.«
»B., einfach der Buchstabe B«, bekräftigte B., der Vampir. »So heiße ich. Ich lade dich ein, mitzukommen. Was eine große Geste ist. Sie zeugt von Wohlwollen, Güte, Größe und Selbstlosigkeit. So bin ich nun einmal. Ich erwarte natürlich keinen Dank dafür, nein, nein. Also, musst du auch nichts sagen. Aber das einzige, was dir zu der ganzen Sache einfällt, ist, nach meinem Namen zu fragen? Das ist doch merkwürdig, das ist doch undankbar. B. ist kein schlechter Name! Er ist griffig, er bleibt in Erinnerung!«
B. schnaubte leicht empört aus. Ungeduldig machte er dann eine einladende Handbewegung, dass Nikko ihm folgen sollte. Da hielt aber der Vampir noch einmal an, nahm dem Mann die edle Tasche ab und reichte sie Nikko, der sie verdutzt an sich nahm: »Hast du dir verdient.«
»Schön!«, sagte Fyona mit einem Kopfnicken ohne zwei Bedienstete weiter zu beachten, die ihr Wasser aus einer Keramikkaraffe in ein bunt verziertes Glas gossen, violette Weintrauben und einen Feigenkuchen reichten und sich danach leise zurückzogen. »Ich mag nicht hungrig lernen.«
Fyona zwinkerte dabei ihrem Lehrer Damican Philidor zu, einem älteren Mann, der, während sie sprach, gierige Blicke auf die kleinen dreieckigen Kuchenstücke warf und es kaum abwarten konnte, sich gleich an den Leckereien zu bedienen.
»Wir können eine kleine Pause machen«, sagte er und wusch sich seine Hände mit Wasser in einer kupfernen Schüssel, trocknete sie und wollte gerade beherzt zugreifen, als feste Schritte draußen im Flur zu hören waren.
Die dunklen Massivholztüren gingen dumpf knirschend auf und hinein trat der Palast-Hauptmann Ivor, den der Kaiser eigens für die Sicherheit seiner Tochter Fyona abbestellt hatte. Ivor Mikus war ein Kriegsveteran und hatte bei den zahlreichen Kriegen, den das Kaiserreich gegen Biestmenschen und Elfen geführt hatte, ein Auge verloren. Stolz, wie eine Auszeichnung trug er die dunkle Narbe, die von seiner Wange übers linke Auge bis hinauf zu seinem schütteren, weißen Haaren führte, und ihm einen bedrohlichen Anblick verlieh.
Damican zog die Hand vom Kuchenteller zurück und richtete sich auf. Sein Blick blieb an den Wachen hängen, die mit dem Hauptmann zusammen das Gemach betraten.
Fyona spürte sofort die Anspannung, die wie ein stechender Geruch im Raum hing. Sie ließ sich aber davon nicht aus der Ruhe bringen. Sie beschloss still für sich, abzuwarten. So hatte sie es als zukünftige Thronerbin gelernt, wenn sie mit einer Situation konfrontiert wurde, die sie nicht auf Anhieb durchschauen konnte.
»Ein Überraschungsbesuch. Hätte ich das gewusst, hätte ich noch mehr Kuchen backen lassen«, sagte Fyona in einem gespielt verstimmten Tonfall und verschleierte damit ihre innere Anspannung. Sie wollte eine Reaktion provozieren, um den nächtlichen Besuch besser einordnen zu können. Sie nutzte die Frage, um den Auftritt den Hauptmanns zu beobachten, die Waffen, die sie mit sich führten, in Augenschein zu nehmen, und sich Gedanken zu machen.
Sie wollte vorbereitet sein.
Als Thronerbin musste sie schlauer sein, als die schlauesten. Das verlangte zumindest ihr Vater von ihr. Fyona beherzigte seine Wünsche, das hieß aber nicht, dass sie ihnen folgte. Das tat sie eigentlich so gut wie nie und ihr Vater hatte sie wohl oder übel damit abgefunden, dass sein einziges Kind zwar ihm immer aufmerksam zuhörte. Doch wenn es dann darum ging, seine Worte in Taten zu verwandeln, zu der diplomatischen Feier mit einem Prinzen zu erscheinen, den Kaiser-Ball mit einem erhabenen Tanz zu starten, nicht reitend zu frühstücken, und die adeligen Besucher höflich mit anderen Themen als über Magenkrämpfe oder verwesende Tierkadaver zu unterhalten – da hatte ihr Vater unweigerlich akzeptieren müssen, dass seine Tochter ihren eigenen Kopf hatte. Doch als Fyona anlässlich ihres zehnten Geburtstags all die exotischen Tiere des kaiserlichen Tierparks spontan freigelassen hatte und diese durch den Palast, den Marktplatz und schließlich durch die gesamte Hauptstadt gesprungen, geglitten und geflogen waren und die Menschen erschreckt hatten – da war das Maß übergelaufen. Ihr Vater hatte ein Machtwort gesprochen: Fyona sollte lernen, sich wie eine zukünftige Herrscherin zu benehmen. Er hatte sie zur Strafe aus der Hauptstadt Nova Bergama verwiesen und sie in die Provinz geschickt.
Nun fristete Fyona ihre Tage in Mudko, in einem öden Kaff, dicht an den zackigen Orna-Gebirgsketten. Die intelligentesten Lebewesen außerhalb der Stadtmauern waren Ziegen und ein paar verlauste, übellaunige Trolle in eisig kalten Höhlen – wobei es offen blieb, wer der beiden die schlauere Lebensform darstellte. Ihr Vater hatte Fyona nur das nötigste an Bediensteten mitgegeben: Zehn Stallburschen für ihre fünfzig Pferde und ihr eines Pony, fünf Köche, die tagtäglich für sie neue Gerichte kreieren mussten – Fyona machte es schlechte Laune, wenn sich auch nur ein Gericht innerhalb von dreißig Tagen wiederholte-, fünfzehn Gärtnerinnen und Gärtner und ihre Familien, fünf Musikerinnen, die sie mit sanften Melodien in den Schlaf sangen und dann mit hellen Tönen auch wieder weckten, ein paar Hofdamen, deren genaue Funktion sich Fyona bis heute nicht erschloss, mehrere landesweit bekannte Privatlehrer, sechs Kammerzofen, und rund zwanzig Mägde, die stündlich Wasser von den Brunnen in schweren Holzeimern in die Küche, dann in die Wasch-Räume schleppten, die Wäsche wuschen, und die Holzscheite für das Dampfbad stapelten, bevor sie Reis- und Mehlsäcke schulterten und in die Vorratskammer trugen. Was die anderen rund fünfzig Menschen am Schloss taten – sie hatte beschlossen, sich nicht weiter dafür zu interessieren. Unter den Bewohnern waren auch Adelige, die von ihrem Vater nach Mudko beordert worden waren, um Fyona Gesellschaft zu leisten, ihr Bücher vorzulesen und den neuesten Tratsch aus der Hauptstadt Nova Bergama zu erzählen. Aber ihre penibel genau einstudierten Manieren, ihr künstliches Getue reizten Fyona. Sie ging ihnen lieber aus dem Weg.
In Nova Bergama hatte sie wenige Freunde gehabt. Die Zuneigung, die ihr die Bediensteten oder Adeligen entgegenbrachten, durchschaute sie oft als Berechnung: Sie wollten die Gunst der Prinzessin gewinnen und redeten ihr nach dem Mund. Ähnlich wie in Mudko hatte sie sich auch in der kaiserlichen Hauptstadt isoliert gefühlt. Doch dort hatte sie sich weitaus besser ablenken können.
Sie rechnete damit, dass sie noch zwei bis drei Jahre in der Langweile der Provinz aushalten, dann wieder in die kaiserliche Hauptstadt würde zurückkehren können. Sie hatte ihren Vater seit zwei Jahren nicht mehr gesehen. Sie war dankbar, dass Damican Philidor, der berühmte Universal-Gelehrte, ihrer Einladung gefolgt war und das Schloss als sein Lebensmittelpunkt ansah. Er war einer der wenigen, die sie wirklich wertschätzte. Nicht nur als Lehrer und Mentor, wobei er sich mit einem umfassenden Wissen in Alchemie, Mathematik, Gesprächskunde, Geografie und Länderkunde auszeichnete, und federleicht von einem Wissensgebiet ins andere wechseln konnte. Sondern auch als Freund. Er war sich nicht zu schade, ganz uneitel zuzugeben, wenn er etwas nicht wusste oder sich noch aneignen musste. Fyona ertappte sich immer wieder dabei, wie sie angenehm überrascht wurde, wenn Damican Philidor, der sich etwas eitel viel darauf einbildete, dass ihm sein Ruf als Gelehrter im ganzen Kontinent vorauseilte, sich am Kopf kratzte und auf ihre spezielle Frage sagte: »Kann sein. Das weiß ich nicht. Ich werde mich darüber schlau machen müssen.« Und tatsächlich besuchte er sie oft schon am nächsten Abend und trug ihr eine knappe Zusammenfassung über die Dinge vor, die er gelernt hatte, und beantwortete damit umfassend ihre Fragen.
Oft lernte Fyona am Abend nach dem Abendessen, wenn Damican und sie zusammen saßen und sich unterhielten. Es geschah zwanglos, dass so unterschiedliche Themen wie zum Beispiel das der Mathematik, der geometrische Formen und die Geographie des Kontinents zusammenflossen und wie beiläufig im Gespräch berührt wurden. Damican verstand es wie kein zweiter, eine Unterhaltung in eine Lehrstunde zu verwandeln, wobei er selber mit derselben Faszination auf die gesprochenen Themen blicken konnte, wie Fyona, die vieles zum ersten Mal hörte, aber am Morgen wiederholte, und ihn am Abend mit schlauen Nachfragen aushorchte.
In solch eine Diskussionsrunde drangen die Soldaten ein. Die drei Öllampen, die die Räume sonst nur dürftig erhellten, und die Fackeln in den Händen von zwei Wachen überzogen das Gemach mit einem wild zuckenden gelblichen Schimmer und verliehen der abendlichen Begegnung etwas Bedrohliches. Doch Damican gab sich unbeeindruckt und zeigte offen ein spöttisches Grinsen, als er ruhig Ivor Mikus ansprach. »Ich weiß, dass der Palast etwas unübersichtlich gebaut ist. Ein Schloss ähnelt keinem offenen Schlachtfeld, das dürfte Euch eher ein Begriff sein. Aber nun seid ihr doch gut seit ein paar Monaten, seit dem Winter, hier am Hof von Mudko im Dienst. Ihre Hoheit Fyona und ich leben hier schon seit gut zwei Jahren. Solltet Ihr Euch nicht langsam mal im Schloss auskennen? Oder habt Ihr Euch verirrt und sucht nun den Rückweg zu Eurem Quartier? So ganz jung seid Ihr ja nicht mehr, da ist es nicht schlimm, wenn Euer Verstand versagt.«
Ivor schnaubte verärgert über den spitzen Kommentar aus, ließ sich aber von Damican nicht aus der Reserve locken. »Ich bin jünger als Ihr, Philidor. Ihr habt mir schon immer an Achtung mangeln lassen«, sagt er dann. Fyona bemerkte, dass ein gehässiges Lächeln auf Ivors Lippen auftauchte und er mit einem Ton über Damican sprach, als würde er ihn am liebsten gleich aus dem Fenster schmeißen.
Fyonas Gedanken ratterten. Äußerlich blieb sie aber weiter still gefasst. Sie versuchte das Erscheinen der Garde zu deuten, während sich Damican erhob und den Raum abschritt. Gab es Attentäter, vor denen sie beschützt werden musste? Oder hatte sich ein Anführer der Armee gegen den Kaiser gestellt und sich auf die Seite der Biestmenschen geschlagen – das war eigentlich schwer vorstellbar -, und wollte nun Fyona als Geisel nehmen? War Ivor hier, um sie zu beschützen? Sie musste als zukünftige Herrscherin die Lage durchschauen, bevor der Hauptmann seine Absichten verfolgen konnte. Nur so würde sie stets die Oberhand wahren.
Fyona mochte es, die Kontrolle zu haben. Aber gerade fühlte sie sich durch das Auftauchen Ivors in die Ecke gedrängt. Sie atmete leise aus – die Situation gefiel ihr überhaupt nicht.
»Die Prinzessin hat heute viel gelernt und ist nun müde«, sagte Damican und blickte streng in den leeren Raum, so, als wäre die Garde keines weiteren Blicks mehr würdig und sollte endlich verschwinden.
»Der Kaiser ist verstorben«, sagte Ivor kalt und zückte sein Schwert.
Damican schnappte nach Luft. Er warf Fyona einen teilnahmsvollen Blick zu. »Mein Beileid, Hoheit«, sagte er, bevor er fast im selben Atemzug fortfuhr: »Und nun sucht Ihr, Hauptmann Mikus, in den Gemächern der Thronerbin nach möglichen Attentätern? Meint Ihr, bestimmte Mächte hätten ein Interesse daran, die Erbin zu töten, bevor sie in die Kaiserstadt Nova Bergama, zum prunkvollen Palast des Raân- Kaisers zurückehren und den Thron besteigen kann?«
Fyona wurde schwindelig. Ihr Vater war also gestorben. Sie hätte am liebsten sofort nachgesetzt und Ivor mit Fragen überhäuft. Sie spürte, wie sich Tränen unter den Augen bildeten, und würgte den Kloß, der ihr den Hals abschnürte, mühsam runter. Vor ihrem inneren Auge blitzten Bilder auf: Sein fahles Gesicht, sein Körper in purpurrote Leinen gehüllt bei der Salbung zum Neujahrstag; seine schmächtige Gestalt, das leichte Hinken, weil sein linker Fuß wegen einer Krankheit kleiner und schwächer war und er ihn deshalb stets hinter sich her ziehen musste; seine schmale Gestalt im Widerschein der Öllampen, wenn er den langen Korridor abschritt, der zu ihren Gemächern führte. Eilig blinzelte sie solange, bis ihre Augen nicht mehr nass und feucht erschienen, und nahm all ihre Kräfte zusammen, um eine undurchdringliche Miene aufzusetzen. Sie wollte sich auf keinen Fall schwach zeigen, und das ganz bestimmt nicht vor der Garde. Sie überlegte, wie sie vor dem Rat der Kurfürsten, danach vor dem Ministerialrat auftreten, welche Verse sie für die Krönungszeremonie auswendig lernen müsste, und versuchte sich in Gedanken an die Gesichter der Räte zu erinnern, die sie zuletzt als Kind gesehen hatte. Sie versuchte sich zu beschäftigen, um ja nicht die Trauer hochkommen und von ihr Besitz ergreifen zu lassen.
Damicans Rede riss sie aus ihren Gedanken. »Das sind traurige Neuigkeiten«, sagte er. Er schritt den Raum ab. Er zeigte auf die einzelnen Männer der Garde. »Gut, dass Ihr die Sicherheit der Thronerbin ernst nehmt. Wie ich sehe, habt Ihr zwei Männer mitgebracht, die das Schwert mit der linken Hand führen. Und die anderen vier sind Rechtshändler. Aber sie sehen etwas unerfahren aus, frisch und jung. Ich habe gehört, dass der Kaiser seine besten Soldaten direkt in die kaiserlichen Kasernen abkommandiert. Aber hier, in der kaiserlichen Provinz, werden die… zweitbesten Kämpfer hinbeordert. Die zweitklassigen Fähigkeiten kann man an einem anderen Detail gut erkennen: Eure Männer halten die Fackeln mit der Schwerthand, was für jegliche Auseinandersetzung eher hinderlich ist. Und Euer Schwert, das vortrefflich für den offenen Kampf im Freien ist, ist doch so schwer und klobig, dass Ihr es wahrlich nicht so leicht auf engem Raum und bestimmt nicht auf vier Fuß Entfernung schwingen könnt, ohne Mitkämpfer empfindlich zu hemmen oder, noch schlimmer: zu verletzen.«
Fyona kannte ihren Mentor in- und auswendig. Seine Rede war eine Botschaft, die nur für ihre Ohren bestimmt war. Er nannte ihr Details, schätzte die Kampfesstärke von Ivor und seinem Gefolge ein.
Er schätzte sie als Gefahr ein.
»Ihr versteht nichts von Kampfkünsten«, sagte Ivor schroff. Damican lächelte amüsiert über Ivors Direktheit und signalisierte theatralisch seine Verwunderung. »Doch in einem habt Ihr Recht«, führte Ivor weiter aus. »Fyonas Leben ist in Gefahr. Aber keine Sorge. Es braucht keine Fremden, die sich der Prinzessin annehmen. Denn wir kümmern uns. Auch wenn ich Euch noch nie mochte...«
»Das trifft mein Herz«, warf Damican in einem unbekümmerten Ton ein.
»…verspreche ich ihr einen schnellen Tod, ohne Schmerzen. Für Euch hingegen gilt mein Wort nicht...«, fuhr Ivor fort und lächelte verächtlich.
Er baute sich vor Damican auf, hob das Schwert und wollte es im nächsten Moment schon wie einen Beil niedersausen lassen, doch Damican stieß einen grellen, flehentlichen Schrei aus, dass Ivor überrascht inne halten musste.
»Der große, legendäre Gelehrte Philidor – ein jämmerlicher Angsthase! Ich wusste es schon immer«, sagte Ivor lachend und schaute um Zustimmung erheischend zu seinen Männern, die allesamt in die grässliche Heiterkeit einstimmten, und über den Mentor, der die Hände zu einer Geste der Gnade gefaltet hatte, spottend den Kopf schüttelten oder sich lustig machten.
Fyona spürte ihr Herz rasen und richtete sich etwas auf. Die Muskeln verkrampften, ihre Beine fühlten sich bleiern und schwer an, und eine unsichtbare Last legte sich auf einmal auf ihren Nacken. Ihr Vater war verstorben, Ivor wollte sie töten! Sie fühlte sich für einen kurzen Moment hilflos, ausgeliefert. Der Gedanke schnürte ihr die Luft ab.
Sollte sie sich aufspielen, als zukünftige Herrscherin Ivor geißeln, ihm Vorwürfe machen, an seine Loyalität appellieren und ihn einschüchtern? Sie wusste instinktiv, dass das nur verschwendete Mühe war. Der Mann konnte sie nicht ausstehen, das hatte sie schon immer gewusst. Jetzt hatte er sich mit jemandem verbündet und erwartete für den niederträchtigen Meuchelmord eine Belohnung. Und der Preis für ihren Kopf musste gewaltig sein. Wer steckte dahinter? Wer würde es sich zutrauen, die Thronerbin ermorden zu lassen und das Reich zu destabilisieren? Es könnte nur ein Minister oder Ministerin sein, vielleicht aber auch ein Kurfürst, der einen Aufstand anzetteln wollte und bestimmt mit einem Heer schon auf dem Weg nach Nova Bergama war, in den Thronsaal ihres Vaters.
Unwillkürlich fiel Fyonas Blick auf den Wandteppich, der golden, in schimmernden grell-bunten Farben und reich mit Verzierungen den Kaiser, ihren Vater, bei der Jagd in den Bergen zeigte: Der Hirsch wurde gnadenlos von einer Truppe an berittenen Jägern verfolgt, es steckten schon etliche Pfeile in seinem Leib und der Kaiser selbst, der mit seinem silbern schimmernden Rüstung einen Blickfang und den Mittelpunkt des Teppichs bildete, stach mit einem goldenen Schwert nach dem Tier, das sich offensichtlich in sein Schicksal ergeben hatte.
Sie würde Ivor nicht umstimmen können, egal, was sie ihm versprechen würde. Deshalb lenkte sie die Aufmerksamkeit auf sich selbst. So hatte es ihr Damican beigebracht, um mit aufkommenden Gefühlen von Panik und Aussichtslosigkeit umzugehen. Sie horchte in sich hinein, blendete alle anderen Geräuschen aus und brauchte tatsächlich nicht lange, bis sie aufmerksam fühlen konnte, wie sie atmete. Sofort fiel die Last der Angst von ihren Schultern und ihre Gedanken klärten sich. Als würde sie ihr drohender Tod gar nichts angehen, begann sie sachlich ihre Optionen durch zu gehen, um diesen Raum lebend verlassen zu können: Es trennten sie nur acht Schritte von der Tür, die in ihr Schlafgemach führte. Und von da könnte sie über den in die Wand eingelassenen Geheimgang, der sich direkt neben ihrem Bett befand, ungehindert bis hinunter zu den Stallungen gelangen. Die Flucht wäre durchaus möglich… Sie musste nur an den sieben Männern vorbei kommen.
Als die Soldaten aufgehört hatten zu lachen, bemerkten sie, dass Damican immer noch mit einer flehentlichen Geste vor ihnen stand. Aber in seinem Gesicht lag ein Ausdruck von aufrichtiger Verwunderung. »Was belustigt Euch? Ich versuche doch nur Euer Leben zu retten.«
Da wurde es den Männern zu viel und stutzig wechselten sie fragende Blicke – hatte der Lehrer den Verstand verloren? Ivor schmunzelte, als hätte er einen schlechten Scherz gehört.
»Genug gelacht«, sagte er ungehalten. Dann gab er gefühllos, als würde er beim Wirt ein Gericht bestellen, den Befehl, dass sie alle die Waffen zücken sollten.
Damican riss bestürzt die Augen weit auf. »Ivor, bitte!« - Damican beugte demütig das Knie - »verzeiht mir meine kleinen Späße, die ich mir so oft mit Euch erlaubt habe. Und wenn Ihr Euch von mir nicht genug gewürdigt wisst, dann seid versichert, dass natürlich auch ich von den großen Taten von Ivor Mikus auf den Drachen-Feldern der Biestmenschen gehört habe. Ihr seid ein großer Krieger, ein edler Diener des Kaisers – oder in wessen dunklem Dienste auch immer Ihr Euch nun befindet. Aber das geht mich gar nichts an! Ich bitte Euch, legt die Waffen nieder und verlasst Mudko.«
Ivor verzog aber nur ungläubig das Gesicht und hob das Schwert, um es im nächsten Moment auf Damicans Kopf niedersausen zu lassen.
Doch Fyona war schneller.
Bevor die wuchtige Klinge ihr Ziel treffen konnte, hatte Fyona aus einer schnellen Bewegung heraus den Kuchen samt Silbertablett Ivor ins graue Gesicht geschmettert, nahm sogleich zwei Schritt Anlauf und wischte die erste Wache mit einem Tritt von den Beinen, rempelte sogleich den ersten Fackelträger hart an, dass dieser mit der Fackel gegen den kostbaren Wandteppich torkelte und der Stoff Feuer fing. In der nächsten Sekunde schon züngelten lichterlohe Flammen bis zur Decke.
Bevor die nächste Wache, ein milchgesichtiger Jüngling ohne Bartwuchs, sein Schwert ziehen konnte, ging er mit schmerzverzerrtem Gesicht zu Boden, weil Fyona seinen Arm gepackt und ihm gekonnt auf den Rücken gedreht hatte, so dass er sich windend auf den Knien wiederfand. Fyona überspannte den Arm im Schraubstock-Griff, suchte dabei aber gefasst den Blick der nächsten Wache, ein hübscher Junge mit feinen Gesichtszügen, der drauf und dran war, sich in mörderischer Absicht mit erhobenem Kurzschwert auf sie zu stürzen. Doch als er die Entschlossenheit in ihren Augen sah, stockte er. Als würde Fyona ihm demonstrieren wollen, wie weit sie gehen würde, wenn er weitermachen sollte, legte sie noch mehr Kraft in den Schraubgriff – und hörte den Arm des Unglücksseligen mit einem leisen Knacks brechen.
Der Jüngling schrie schmerzerfüllt auf, die hübsche Wache ließ klirrend das Schwert fallen, wich ängstlich zurück, während Ivor sich den Kuchen endlich aus dem Gesicht gewischt, das Schwert gepackt hatte und sprachlos die Situation umriss.
»Was tut ihr? Es ist doch nur ein Mädchen!«, rief er fassungslos.
Damican hatte sich während des Durcheinanders seelenruhig erhoben und unbeschadet zur Tür, die ins Schlafgemach führte, zurückgezogen. Er hielt sich den weiten Ärmel seiner purpurnen Kutte vor Mund und Nase und murmelte, als würde er zu sich selbst sprechen: »Ihr habt anscheinend nicht mitbekommen, Ivor, dass Fyona seit ihrer Kindheit von den besten Meistern des Schwertes, der Armbrust und des Bogens ausgebildet wurde. Ihr denkt, ich bettle um Fyonas Leben? Im Gegenteil. Ich hatte nur Mitleid mit Euch.«
Fyona hatte in der Zwischenzeit ein Schwert von einer Wache entwendet, und stieß einem anderen mit der Klinge durch den Bauch, durch die Stelle, die die braunen Lederplatten der Rüstung nicht abdeckten, und hieb einem anderen hart mit dem Ellbogen gegen das ungeschützte Kinn, so dass dieser augenblicklich in sich zusammen sackte und ohnmächtig auf den Boden sank.
Ivor schaute überwältigt von Damican zu Fyona, die nun mit einem Schwert in der Hand und mit dem dunklen Blut der verwundeten Wache an den Händen und ihren langen pechschwarzen Haaren sich dunkel vor den Flammen des Wandteppichs abzeichnete und ihn mit einem bedrohlichen Glanz in den Augen fixierte. Unwillkürlich blitzte vor Ivors Augen die rabenschwarze Teuflin auf, deren Silhouette er als Glasmalerei in der prachtvollsten aller Kirchen, in der Sankt Opal Kathedrale von Nova Bergama gesehen hatte. Jetzt schien sie lebendig vor ihm zu stehen und dürstete mehr mörderische Entschlossenheit aus, als je einer seiner Gegner auf den Schlachtfeldern.
Angst durchzuckte mit einem Mal Ivor und er musste wie betäubt schlucken.
»Fyona!«, rief Damican und deutete ihr besorgt, zu ihm zu kommen. Er musste dabei wegen des Rauchs heftig husten. Fyona verstand instinktiv, auf welche Gefahr Damican anspielte.
»Glück für Euch«, sagte sie und bohrte sich mit ihren Blicken für einen Augenblick in Ivors Schädel, bevor sie zu Damican eilte. »Der Rauch macht jeglichen Kampf unmöglich.«
Damit ließ sie das Soldatenschwert fallen, packte Damican am Arm und zog ihn hinter sich her, hinaus aus dem Gemach, das in wenigen Augenblicken einstürzen und jeden unter Rauch und Flammen begraben würde.
Ivor wusste, dass er Fyona und Damican in diesem Moment nicht hinterhersetzen konnte, ohne den eigenen Tod zu riskieren. Und, so musste er sich beschämt eingestehen, saß ihm auch etwas die Angst in den Knochen. So entschied er, in die andere Richtung aus dem Raum zu fliehen. Er rief beim Laufen seinen Soldaten Befehle zu und veranlasste, die Burg abzuriegeln – dunkel ahnend, dass dies nicht viel helfen würde, um die Prinzessin aufzuhalten.
Als er die Gemächer der Prinzessin verlassen hatte und sich in Sicherheit wusste, erwachte sein Mut wieder und er murmelte aus zusammengepressten Lippen: »Noch seid Ihr nicht gekrönt, Prinzessin. Und mein Herr und ich werden Euch schon noch finden, bevor Ihr den Kaiserpalast erreicht! Verlasst Euch darauf.«
»Der Kaiser hat sich lange nicht mehr bei den Spielen blicken lassen«, sagte nachdenklich Granz und klimperte mit den kaiserlichen Kupfermünzen in der Hand, die das Profil des Herrschers zierte. »Ich weiß gar nicht, wer die Nachfolge antreten wird. Er hat eine Tochter, habe ich gehört. Wenn es eine Krönungszeremonie gibt, sollte ich mich schleunigst auf den Weg in die Hauptstadt machen. Der gesamte Adel des Kontinents wird dort auftauchen!«
Granz war beleibt, so alt, dass tiefe Falten sein Gesicht zerwühlten, und sehr geizig. Doch er sprach nie mit sich selber. Seine Worte galten Nikko, der über die Kutsche strich. Granz handelte mit allen Dingen, die sich nicht wehren konnten, von ihm weggetragen oder fortgeführt zu werden. Heute war es eine größere Kutsche, kastenförmig, schwarz angestrichen, die etwas länger war als gewöhnliche Kutschen und mannshohe Bretter an beiden Seiten aufwies, die den Innenbereich neugierigen Blicken entzogen.
»Der Wagen gehörte dem Totengräber«, sagte Granz. »Er hat die Särge damit zum Friedhof transportiert. Aber der Totengräber selbst ist schließlich auch verreckt und ich habe die Kutsche bekommen. Macht Euch keine Sorgen, ich habe sie putzen lassen. Nur für Euch…. Für dich!« Granz warf einen kritischen Blick auf seinen Kunden: Mit einem Kind hatte er noch nie Geschäfte gemacht. Er musterte Nikko eindringlich, er schätzte ihn auf zwölf Jahre. Mit seinen dichten Wuschelhaaren, seiner ärmlichen Weste machte er aber keinen vermögenden Eindruck. Und wo waren überhaupt seine Eltern? Granz schnäuzte krachend in seine Handfläche und wischte sie an seiner Hose ab.
Nikko war älter geworden, es waren gut drei Jahre seit der Nacht vergangen, in der er B. begegnet war. Zusammen mit B. war er weitergezogen und hatte die Hauptstadt Nova Bergama verlassen.
Die Sonne war hinter den Hügeln verschwunden und Nikko war dankbar, dass er den Kaufmann noch erwischt hatte, bevor dieser seine Habseligkeiten packen und sein Geschäft für den Tag schließen konnte. Es war ein kleines Dorf und die Läden machten kurz vor der Dämmerung zu, selbst die Wirtshäuser verriegelten ihre Türen.
Aber das lag vermutlich nicht an der Dunkelheit, sondern an dem Gerücht, dass ein blutsaugendes Monster nachts im Umland Jagd machte.
»Ich schließe«, sagte Granz und warf einen betont unschuldigen Blick auf Nikko. Er wollte durch Zeitdruck den Jungen zu einer Entscheidung zwingen. »Nimmst du nun die Kutsche? Das ist aber nicht so, als würdest du eine Stange Brot kaufen. Sie kostet etwas, nicht zu wenig, aber doch weniger als sie wert ist…Oder hast du etwa das Geld nicht?«
Nikko zückte einen kleinen Lederbeutel, wiegte ihn nachdenklich in der Hand. »Das Geld habe ich«, sagte er. Er blickte sich um. »Aber mir fehlt ein Pferd.«
»Ein Pferd?«, wunderte sich der Kaufmann. »Warum brauchst du eine Kutsche, wenn du nicht einmal ein Pferd besitzt?« Er seufzte groß, beugte sich dann hinunter zu Nikko. »Die Geschäfte in letzter Zeit liefen bei mir nicht gut. Da manche glauben, dass ein Vampir in der Umgebung ist, trauen sich viele Reisende nicht in unser kleines, feines Dörfchen. Das ist aber totaler Unfug! Ich will diesen Wagen verkaufen, ich muss endlich wieder Geld verdienen. Deshalb habe ich ein Freundschaftsangebot für dich: Wenn du den Wagen nimmst, bekommst du noch mein bestes Pferd dazu!«
Nikko lächelte angenehm erstaunt. »Das hört sich gut an«, sagte er. »Ein paar der Bretter sind morsch, das ist mir aufgefallen.«
»Morsch?«, Granz wollte gerade protestieren.
»Doch wenn ihr ein tüchtiges Pferd habt, dann kaufe ich die Kutsche«, sagte Nikko. Sein Lächeln hatte etwas Warmes, Offenes. Er konnte damit Menschen für sich einnehmen. Man erkannte leicht, dass er keine Hintergedanken hegte. Dass er sich für andere interessierte und sie mit ihren Fehlern mochte. Und so dachte sich Nikko nichts dabei, als er dem Kaufmann ehrlich erklärte, dass er kaufen wollte.
Ein bisschen lächelte Nikko auch nur so offen und einnehmend, weil er unerfahren war. Besonders, wenn es um die Abwicklung von Käufen ging.
»Wunderbar«, sagte der Kaufmann ohne eine Miene zu verziehen. »Aber das kostet dann das Doppelte.«
»Was?« Nikko schluckte. »Willst du mich… Willst du mich doch übers Ohr hauen!«
»Na, wer denkt denn sowas? Die Kutsche ist dein. Nur… Wenn ich dir mein bestes Pferd dazugebe, dann muss ich meinen kleinen Karren selber ziehen. In meinem Alter geht das auf den Rücken und dann muss ich täglich die Heiler besuchen. Die Ärzte kann ich mir gar nicht erst leisten. Und die Salben und Tees, die sie mir verkaufen… Warst du schon einmal bei so einem Heiler? Das kostet ein Vermögen.«
Nikko stutzte. »Vielleicht finde ich woanders ein Pferd? Wenn du den Preis verdoppelst, bleibt mir selbst gar nichts mehr übrig.«
»Wo willst du denn in der Nähe ein Pferd finden? Einen Esel, ja, die gibt es. Aber ein starkes, großes, gewaltiges Pferd, das dich über die Berge ziehen kann? Nein, das einzige Pferd der Umgebung nenne ich mein eigen! Und bald du – wenn du es kaufst!«
Der Laternenanzünder grüßte beim Vorbeigehen, er hatte nun auch die letzte der fünf Laternen der Ortschaft entzündet und machte sich eilig auf den Heimweg, er wollte nicht im Dunkeln draußen sein. Ein dunkelgelbes Flackern wusch über die grauen Pflastersteine hinweg, die letzten Fensterläden wurden quietschend geschlossen.
Nikko kratzte sich am Kopf. »Also gut«, sagte er seufzend. »Ich kaufe.«
»Abgemacht!«, sagte der alte Kaufmann. Es war, als würde neue Lebensenergie mit einem Mal seinen Körper durchzucken. Er reichte Nikko freudig die Hand. »Du hast eine richtige Entscheidung getroffen. Komm, ich führe dich zu meinem Pferd, eine Stute. Sie steht auf der anderen Seite, in meinem Garten.«
Die Häuser des Dorfs waren nicht dicht beieinander gebaut, sondern verfügten jeweils über eine eigene, kleine Grünfläche, die kaum breiter und größer war als ein Gemüsebeet.
»Brauchen Pferde nicht viel mehr Auslauf? Die rennen doch rum und…«, sagte Nikko verwundert.
»Nicht meine Lahme«, sagte der Kaufmann. »Die ist ganz zahm und braucht das alles nicht.«
»Die Lahme?«
»So heißt sie«, sagte der Kaufmann. Er bemerkte aber gleich die Falten auf Nikkos Stirn, und bemühte sich, Nikkos Zweifel zu entkräften: »So habe ich sie im Spaß genannt. Aber das hat nichts mit ihren Fähigkeiten zu tun. Sie ist wild, stark, eine Naturgewalt!«
Als Nikko vor der Lahmen stand, verstand er, dass ihn der Kaufmann übers Ohr gehauen hatte. Das Pferd war in der Tat zahm… es war aber auch fast leblos, mager und schwach.
Nikko schaute den Kaufmann wütend an. »Ich will mein Geld zurück«, sagte er.
»Geschäft ist Geschäft«, sagte Granz. »Lass dich von ihrem Anblick nicht täuschen. Sie ist wirklich ein treues Pferd. Sie läuft nie weg!«
»Wie denn auch? Sie hat kaum Kraft, um überhaupt auf den Beinen zu stehen!«, Nikko schnaubte aus.
»Mal langsam jetzt«, sagte der Kaufmann und lächelte nicht mehr. »Wirfst du mir etwa vor, zu betrügen? Sei vorsichtig, Junge. Ich frage dich auch nicht, wie du an so viel Geld rangekommen bist, dass du dir Kutsche und Pferd leisten kannst. Wo ist dein Vater, wo deine Mutter? Ein Junge mit diesem prallen Geldbeutel? Das kann nicht ganz richtig sein!« Der Kaufmann grinste wieder, aber diesmal zeigte sich ein abschätziges Lächeln auf den Lippen. Er fühlte sich überlegen. Die unnütze Kutsche und den jämmerlichen Gaul war er gleich los und würde dafür fürstlich entlohnt werden. »Her mit dem Geld!« Granz entriss Nikko den Lederbeutel aus der Hand.
»Ich mag keine Betrüger«, hörten sie da eine Männerstimme.
Der Kaufmann wirbelte herum und sah einen Mann neben sich stehen, er hatte sich lautlos genähert, musste sich regelrecht angeschlichen haben. »Wie seid Ihr in meinen Garten gekommen?«, wunderte sich Granz.
»Genauso wie Ihr«, sagte B. knapp. »Denkt nicht, dass ich geflogen wäre oder sonst etwas in der Art. Ich kann nämlich nicht fliegen. Wir Menschen können nicht fliegen!«
»Aha«, sagte der Kaufmann.
B. wirkte genervt, als würde ihn die ganze Situation unendlich zur Last fallen, und würdigte Granz keines Blickes. »Können wir es jetzt auf meine Art machen?«, fragte er Nikko.
»Nein«, sagte Nikko.
»Er ist ein Betrüger«, sagte B.
»Hey, ich bin auch noch da«, sagte Granz. Er blickte unsicher von Nikko zu B. und wieder zu Nikko und wusste verunsichert nicht, was er von diesem Auftritt halten sollte. Doch riss er sich zusammen und erklärte fest: »Ich weiß nicht, was hier los ist. Aber ihr kriegt keinen einzigen Taler, keine Silbermünze, keinen Meter Seide, bestimmt nicht die Kutsche und schon gar nicht die Lahme. Nichts bekommt ihr von mir! Und das Geld behalte ich auch! Ihr beide tragt ja nicht einmal eine Waffe. Wie wollt ihr mich zwingen? Mit den Fäusten?!«
»Mit den Zähnen!«, hörte Granz auf einmal B.s raue Stimme ganz dicht neben seinem Ohr und fühlte einen kühlen Hauch an seinem Nacken, dass seine Haare sich sofort aufrichteten. Eine Gänsehaut jagte über seinen Rücken. Das war, kurz bevor er einen Biss am Hals spürte. Er versuchte sich erschrocken zu befreien, doch hielt sein Widerstand nicht lange an. Schon in der nächsten Sekunde fühlte er sich auf einmal matt und müde, als würde ihn eine Eisenglocke zerdrücken. Ihm war auf einmal alles egal und am liebsten würde er in seinem Bett liegen und schlafen.
»Du sollst ihn nicht aussaugen!«, ermahnte Nikko flüsternd B.
»Ef if nurf aa kleenfer Biff«, sagte B.
»Und du sollst nicht mit vollem Mund sprechen!«, fügte Nikko hinzu.
B. zog seine Fangzähne aus Granz‘ Hals und wiederholte: »Es ist doch nur ein kleiner Biss!« Dabei leckte er sich mit der Zunge über die Lippen und lächelte genüsslich. »Ich habe wirklich lange nicht mehr Menschenblut gekostet!«
»Verwandle ihn bloß nicht in einen Vampir«, warnte Nikko.
»Quatf!«, sagte B. und trank noch einen kräftigen Schluck aus Granz. Er wischte sich den Mund ab. »Gebissene verwandeln sich nur zu Vampiren, wenn sie das Blut des Vampirs zu trinken kriegen, der sie gebissen hat. Und Granz bekommt von mir nichts. Auch unser Geld nicht.«
»Das entscheide ich«, sagte Nikko. Er nahm Granz an der Hand und half ihm, sich auf den Boden zu setzen. Der Kaufmann war wie betäubt und ließ alles mit sich umstandslos machen.
»Danke«, sagte Granz zu Nikko. Doch da fiel ihm etwas auf und er zeigte mit dem Finger auf B.s Mund: »Mein Blut klebt Euch noch an den Lippen.«
»Verzeiht«, sagte B. höflich und wischte sich eilig mit einem schwarzen Leinen-Taschentuch über das Gesicht. »Besser?«
Granz nickte zufrieden. »Viel besser.«
»Du kannst dein Geld wieder einstecken«, sagte B. »Meinte ich doch!«
Doch Nikko schüttelte den Kopf. »Schau ihn dir doch an! Er sieht bedauernswert aus.«
»Aber das legt sich doch. Ein paar Tage, dann kann er wieder gerade laufen und sprechen. Und sich selber anziehen. Dann noch ein paar Wochen und er kann wieder sich selber beim Denken hören.« B. war sich keiner Schuld bewusst und zuckte mit den Schultern.
»Er kann die Münzen behalten«, sagte Nikko und atmete durch. »Wir werden schon wieder etwas Geld auftreiben. Wie auch immer.«
B. protestierte, doch Nikko hatte sich entschieden. Er tätschelte die Lahme, die der Kaufmann an den Zaun angebunden hatte. »Eigentlich werden Pferde immer scheu, wenn du auftauchst. Aber sie blieb ruhig.« Nikko lächelte dem Pferd freundlich zu. »Wir nehmen sie mit und schauen mal, ob sie die Kutsche ziehen kann.«
»Gut«, sagte B.
»Toll«, sagte Granz.
»Oh Mann«, sagte Nikko und blickte mitleidig auf Granz.
Doch dieser bekam das nicht mit. »Gern geschehen«, sagte er und wiegte wie betäubt den Kopf hin und her. »Ist Euch auch so schwindelig?« Er lächelte freundlich, als würde er zwei Stammkunden verabschieden, und winkte Nikko und B. hinterher, bis sie zusammen mit der Lahmen aus seinem Garten verschwunden waren.
»Du solltest nicht so viele Menschen anknabbern«, sagte Nikko leicht vorwurfsvoll zu B. Sie hatten die Lahme vor die schwarze Kutsche gespannt und zu ihrer großen Freude zeigte sich, dass das Tier noch nicht so tot war, wie es aussah. Es konnte tatsächlich die Kutsche ziehen. »Zum Glück sind wir aber dann nicht mehr hier, wenn er zu sich kommt und allen erzählt, dass ihn ein Vampir gebissen hat.«
»Die Lahme tut ihrem Namen alle Ehre«, sagte B., der neben Nikko auf der Sitzbank Platz genommen hatte. »Selbst eine Schildkröte ist schneller.«
»Nikko beugte sich etwas vor und tätschelte das Tier. » Wir haben keine Zeitnot«, sagte er. »Hauptsache, sie kommen voran.«
»Was für ein schwaches Pferd. Ich denke an die hundert Pferde in meine Gestüt, damals…«, B. blickte zum Nachthimmel und schloss wehmütig die Augen. Nikko kannte das. Immer, nachdem B. viel Blut getrunken hatte, erzählte er ausgiebig von seiner prachtvollen Vergangenheit als Vampir-Fürst.
Jedoch hatte er seine Burg, seine Familie und seine Freunde nach dem Großen Krieg verloren. Das war passiert vor mehr als hundertfünfzig Jahren, als Vampire im Kaiserreich gelebt hatte. Doch sie wurden nach dem Krieg verfolgt und getötet, ihre Güter unter den Kurfürsten aufgeteilt, ihre Existenz geriet schnell in Vergessenheit. Vampire wurden zum Stoff von Legenden und Märchen und nur die wenigsten im Reich wissen noch, dass es sie tatsächlich einmal gegeben hatte, dass Vampire bekannte Schlossherren und -damen waren, mächtige Fürsten, die mit den Menschen kooperierten und sie achteten, die sich aber auch von ihrem ungeheuren Blutdurst leiten ließen.
B. war nach dem Großen Krieg untergetaucht und hatte sich vor den Menschen versteckt. Er hatte stets im Verborgenen gelebt. Vorsichtig hatte er seinen Opfern aufgelauert und immer darauf geachtet, nachdem er sie überwältigt hatte, keine Spuren zu hinterlassen, die die Bevölkerung alarmieren könnten. Er musste sehr sorgfältig arbeiten. Denn wenn ihm jemand auf die Schliche kam, ihn töten wollte, konnte er nicht weit fliehen. Er war abhängig davon, nachts Zuflucht in der Erde, am besten in seinem Sarg, zu finden. So stark er nachts war, so hilflos und aufgeschmissen lebte er tagsüber, stets in der Furcht, von einer rachsüchtigen Meute gefunden und ans Tageslicht geschleift zu werden. So war er stets viel unterwegs gewesen, bis er Nikko kennengelernte.
Eines seiner größten Probleme war, wie er den Sarg, sein Zuhause, stets mit sich führen konnte. Mit Nikko fanden sie immer wieder Mittel und Wege, den Sarg verborgen in einer Kiste, von einem Ort zum anderen zu befördern, und an einem geheimen Ort zu verstecken.
So gerne und ausschweifend B. über seine alten Reichtümer erzählte, so waren ihm doch sämtliche Fragen über seinen Körper oder seine Eigenschaften als Vampir unangenehm. Nikko wusste das, aber manchmal ging mit ihm die Neugier durch und er konnte es sich nicht verkneifen, B. darauf anzusprechen. Schließlich existierte kein Nachschlagewerk über Vampire und ihre Fähigkeiten. Jedenfalls – nicht mehr seit dem Großen Krieg. Die einzige Gewissheit war, dass Vampire – wie in allen bekannten Legenden – das Sonnenlicht fliehen mussten.
Nachdem B. und Nikko einen Pakt geschlossen hatten, dass sie beide zusammenhalten, dass niemand den anderen verraten würde, hatte Nikko B. gedrängt, seine Ernährung umzustellen. B. jagte nicht jede Nacht, aber jede Woche brauchte er seine Blutzufuhr, sonst verhungerte er kläglich. Nikko überzeugte ihn schließlich nach mehr als zwei Jahren, in der Zeit, in der sie zusammen durch die Länder des Reichs streiften, auch einmal Tierblut zu kosten. Nach anfänglichem Zögern und nach einer Episode in ihrem Leben, in der Nikko und B. mit Mühe einem Lynchmob entkommen waren, die den Vampir finden und töten wollte, hatte B. den Gedanken zugelassen. Und zu seiner Überraschung hatte er das Blut von Tieren durchaus genießbar gefunden. Er trank mittlerweile am liebsten Rotwild, manchmal jedoch wurde er rückfällig und saugte einen Zweibeiner aus.
»Die Lahme zieht deinen Sarg. Zeig Dankbarkeit!«
»Es ist ein Pferd«, sagte B. und verschränkte die Arme vor der Brust. »Sie versteht nicht, was du sagst. Und mich auch nicht.«
»Es ist eine lange Strecke. Wir brauchen nun einmal ein Pferd, um deinen Sarg mitzunehmen«, sagte Nikko.
»Aber ein lebendiges«, seufzte B.
Nikko zeigte mit einer Kopfbewegung hinter sich in den abgedunkelten Bereich, wo B.s Sarg weilte. Sie waren kurz zuvor mit der neu gekauften Kutsche an ihrem Versteck vorgefahren: einem kleinen Bretterbeschlag an der Waldgrenze. Unter die leicht vergammelten Holzlatten hatten sie ursprünglich B.s Sarg vergraben. Nikko hatte stets bei Sonnaufgang den Boden mit Brettern vernagelt, damit niemand, der zufällig vorbeikam, zufällig einen schlafenden Vampir entdecken konnte. Kurz vor der Abenddämmerung hatte Nikko dann die Bretter gelöst und sie beiseite gepackt, damit B. zur Nacht sein Versteck verlassen konnte. So hatten sie ein paar Monate gelebt. Aber nicht ganz freiwillig: Wieder einmal hatte sie sich vor Verfolgern verstecken müssen, die auf der Suche nach einem Vampir waren und die Gegend durchkämmten.
Seit ihrer Begegnung von vor rund drei Jahren waren B. und Nikko unterwegs. Sie hatten es nie geschafft, an einem Ort länger als ein paar Wochen zu bleiben. Auch wenn sie liebend gern länger geblieben wären. Stets kam ihnen etwas in die Quere: Entweder waren es die kleinen Diebstähle, die Nikko verübte und die aufflogen. Oder es war B. selbst. Irgendwann kam der Moment, wo er jemanden aussaugte. Entweder wurde er bei der Tat ertappt, es folgten lautes Kreischen und viele entsetzte »Ein Vampir!«-Rufe – oder aber: Nachdem er schon fort war, fiel jemandem bei der ausgebluteten Person Bissspuren am Hals auf. So oder so wurde es dann zu gefährlich, um noch länger an dem Ort zu bleiben.
Auch wenn er rastlos seit drei Jahren mit B. kreuz und quer durch das Reich zog, war Nikko dankbar, B. gefunden zu haben. Nach den trostlosen, trüben Jahren, die er alleine auf der Straße verbracht hatte, hatte er jemanden kennengelernt, mit dem er gemeinsam gegen die Gefahren der Welt bestehen konnte. Nikko und B. hielten zusammen.
Es war aber nicht immer einfach.
»Meinst du, im Norden können wir auch mal länger an einem Ort leben? Ohne ständig Angst zu haben, dass man uns findet?«, sagte Nikko. Er hatte B. schon oft von den Nordlanden schwärmen gehört. Nun wollte er erneut hören, wie schön es dort war. Nikko brauchte dies, um sich selbst von der Idee zu überzeugen. An der Nordgrenze des Reiches begann die weite Taiga, eine sumpfige Eiswüste, die von Wäldern durchzogen war. Nur wenige Menschen wohnten dort. Es war ein eher trostloses, grenzenlos weites Land. B. war der Überzeugung, dass Nikko und er dort zwischen den wenigen Dörfern in Frieden leben würden. Sie würden nicht mehr umherziehen müssen. Auch schmolzen neuerdings tausendjährige Gletscher, öffneten sich neue Passagen, die in fernere, unbekannte Länder führten, die noch auf keiner Landkarte verzeichnet waren.
Im Norden gab es Platz für B. und Nikko. Dort könnten sie vielleicht endlich so etwas wie eine Heimat finden.
»Es wird wunderbar«, begann B. Er malte in schönsten Farben aus, wie Nikko und er dort leben würden: B. würde auf die Jagd nach Rentieren gehen, Nikko könnte Menschen in den Jurte-Dörfern der Nomanden oder in den Dörfern der sesshaften Menschen treffen. Er könnte Fischer in dem Eismeer werden… B. erzählte ausschmückend von Rentieren, Goldmienen, Lagerfeuern und Schneegestöber und wohlig-warmen Hütten aus Eis und Nikko hörte zu, als die Lahme sie zog.
Kurz vor der Morgendämmerung kam eine winzige, fingergroße Fledermaus angeflattert und nahm auf B.s Finger Platz. »Ah, Kokoro, mein guter Freund. Es ist also Schlafenszeit«, sagte B., deutete eine kleine Verbeugung an und zog sich in den abgedunkelten Bereich der Kutsche zurück.
Nikko hörte, wie knarzend der Deckel des Sargs gehoben wurde. Dann wühlten B.s Finger in der feuchten Erde. Im Gegensatz zu den Särgen der Menschen befand sich auch im Sarg der Vampire Erde. B. hatte Nikko erklärt, wie wichtig dies für die Haut der Nachtwesen wäre. Bevor der Sarg verschlossen wurde, drang B.s dumpfe Stimme wehleidig an Nikkos Ohr: »Wenn das Pferd doch nur schneller laufen könnte. Oder es wenigstens nicht so ruckeln würde!«
»Gute Nacht«, sagte Nikko.
»Guten Morgen«, gab der Vampir zurück. »Mach nicht so lange. Geh auch mal schlafen.« Dann zog er den Sargdeckel mit einer kraftvollen Bewegung zu.
Nikko lächelte matt und murmelte dann aber mit zusammengezogenen Brauen zu sich selbst: »Es ist noch ein langer Weg bis in die Länder des Nordens.