Die Schatten - Guillermo del Toro - E-Book

Die Schatten E-Book

Guillermo del Toro

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Beschreibung

Als die junge FBI-Agentin Odessa Hardwick zusammen mit ihrem Partner, dem hochdekorierten Agenten Walt Leppo, zum Haus eines Mörders gerufen wird, bietet sich ihr ein Bild des Grauens. Der Mann hat seine gesamte Familie bestialisch abgeschlachtet und die Polizeibeamten attackiert, ehe er getötet werden konnte. Einzig die kleine Tochter des Täters hat überlebt. Walt will sich um das verstörte Kind kümmern – und rastet plötzlich völlig aus. Odessa ist gezwungen, ihn zu erschießen. Im Moment seines Todes glaubt sie, einen schwarzen Schatten zu sehen, der Walts Körper verlässt. Hat sie sich die unheimliche Gestalt nur eingebildet? Odessas Nachforschungen führen sie auf die Spur eines mysteriösen Mannes namens Hugo Blackwood, der behauptet, die beste Waffe der Menschheit gegen ein uraltes Grauen zu sein …

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Seitenzahl: 412

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DASBUCH

Mississippi-Delta, 1962. In den Sümpfen werden mehrere Weiße erhängt aufgefunden. Der einzige Tatverdächtige ist ein kleiner schwarzer Junge. Als FBI-Agent Earl Solomon ihn verhören will, muss er feststellen, dass der Junge mit Ketten ans Bett gefesselt ist und sich wie verrückt gebärdet. Er stößt immer wieder ein einzelnen Wort hervor: Blackwood.

Newark, New Jersey, 2019. Die FBI-Agenten Odessa Hardwick und Walt Leppo werden zu einem Tatort gerufen. Der Mörder hat seine ganze Familie brutal abgeschlachtet, ehe er selbst getötet werden konnte. Nur seine kleine Tochter hat überlebt. Leppo will sich um das Kind kümmern – und rastet plötzlich völlig aus. Odessa muss ihren Partner erschießen. Im Moment seines Todes glaubt sie, einen Schatten zu sehen, der Leppos Körper verlässt. Sie ist beinahe davon überzeugt, dass sie sich das alles nur eingebildet hat, als sie Agent Solomon kennenlernt, der eine unheimliche Geschichte zu erzählen hat …

DIEAUTOREN

GUILLERMODELTORO wurde 1964 in Guadalajara, Mexiko, geboren, wo er auch die Filmschule besuchte. Heute zählt Del Toro, der mit Werken wie Pans Labyrinth und Hellboy Filmgeschichte schrieb, zu den bekanntesten und erfolgreichsten Regisseuren der Welt. Für seinen Film The Shape of Water – Das Flüstern des Wassers wurde er mit einem Oscar ausgezeichnet. Nach der Trilogie The Strain – Die Saat arbeitet er nun erneut mit Bestsellerautor Chuck Hogan zusammen.

CHUCKHOGAN ist Autor internationaler Thriller-Bestseller wie Endspiel und Mördermond. Für Endspiel wurde er mit dem renommierten Hammett Award ausgezeichnet. Chuck Hogan lebt in Massachusetts.

GUILLERMO DEL TORO

CHUCK HOGAN

DIE SCHATTEN

DIE BLACKWOOD-TAPES

ROMAN

AUS DEM AMERIKANISCHEN VON

KRISTOF KURZ

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Titel der Originalausgabe:

THEHOLLOWONES

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Deutsche Erstausgabe 03/2021

Redaktion: Sven-Eric Wehmeyer

Copyright © 2020 by Guillermo del Toro and Chuck Hogan

Copyright © 2021 der deutschsprachigen Ausgabe

und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: DASILLUSTRAT, München,

unter Verwendung eines Motivs von Shutterstock.com/FOTOKITA

Satz: Leingärtner, Nabburg

e-ISBN 978-3-641-26548-9V001

www.heyne.de

CH:

Für Richard Abate

GDT:

Für Algernon Blackwood,

Lord Dunsany und Arthur Machen

Dem aufmerksamen Leser wird sicher nicht entgangen sein, dass der Name unserer Hauptfigur eine Verbeugung vor einem Schriftsteller darstellt, den wir sehr bewundern: Algernon Blackwood, Erfinder des Genres der »okkulten Detektivgeschichte«. Obwohl einige der in diesem Buch beschriebenen religiösen Riten der dramatischen Wirkung wegen ein bisschen ausgeschmückt wurden, haben wir uns bemüht, so eng wie möglich bei den Tatsachen zu bleiben. Insbesondere möchten wir darauf hinweisen, dass Grabräuberei und Leichendiebstahl aus okkulten Motiven in New Jersey weder der Vergangenheit noch dem Reich der Fiktion angehören. Beides geschieht tatsächlich. Auch heute noch.

AUFTAKT

Der Briefkasten

Eingezwängt zwischen zwei Hochhäusern im Bankenviertel Manhattans steht zwischen Stone Street Nummer 13 und 15 ein kleines Gebäude, das offiziell die Nummer 13½ trägt.

Seine graue Steinfassade ist keine eineinhalb Meter breit und nur zehn Meter hoch. Ihr einziger Zweck scheint zu sein, einem altmodischen Briefkasten aus Gusseisen als Befestigung zu dienen.

Der schmucklose Briefkasten verfügt lediglich über einen Einwurfschlitz. Ein Türchen, durch das man an die Post gelangen könnte, ist nirgendwo zu finden.

Hinter dem Briefkasten ist nichts als Mörtel und massiver Stein.

Die Geschichte dieses kleinen urbanen Mysteriums lässt sich bis in die holländische Kolonialzeit zurückverfolgen. Seit 1822 wird die Grundsteuer stets pünktlich von der Anwaltskanzlei Lusk and Jarndyce beglichen. Für die Zeit davor lassen sich keine Grundbucheinträge finden, doch nichts gibt zur Vermutung Anlass, dass es irgendwann einmal zu Unregelmäßigkeiten gekommen wäre.

Die älteste Erwähnung des Kastens reicht bis zu einem im 18. Jahrhundert gedruckten Traktat zurück, das den Titel Die höchlichst vollständige Erzählung der merkwürdigenGeschicke und wundersamen Wechselfälle im Leben des Jan Katadreuffe bis zu seinem schlussendlichen Eingang in das ewige Reich Unseres Herrn trägt.

In dieser vierseitigen Flugschrift – erschienen 1763 im Folioformat bei Long and Blackwood – wird die Geschichte eines wohlhabenden Gewürzhändlers erzählt, der einen Pakt mit einem Dämon eingeht, welcher ihm die sichere Ankunft seiner Schiffe und ihrer Ladung garantieren soll.

Die Schiffe erreichen wohlbehalten ihr Ziel, doch seitdem wird der Kaufmann von einem bösen Geist heimgesucht. Nacht für Nacht beißt ihn dieser Geist, zerkratzt seinen Rücken und bemächtigt sich seines Körpers, sodass die gequälte Seele unter erbarmungswürdigem Geheule dazu gezwungen ist, sündhafte und äußerst gewalttätige Handlungen zu begehen.

Das Stück berichtet weiter von einem hilfsbereiten Laien, der einem gelehrten Geistlichen folgende Lösung des Problems anempfiehlt: »Ein Eisenkasten in Neu-Yorkens High Street nimmt/nur Briefe, die an Blackwood adressieret sind. Darin legt nieder, wer von derlei Spuk geplagt/seines Kummers Natur, und baldig Hilfe naht …«

Der Geistliche beharrt jedoch darauf, dass der einzige Weg zur Erlösung im Herrn und in den Sakramenten liege. Katadreuffe bezahlt Litaneien und Messen, wird so wenige Stunden vor seinem Tod vom Fluch befreit und stirbt als erlöster Mensch.

Ein kleiner unscheinbarer Grabstein auf dem zur Rector Street zugewandten Friedhof der Trinity Church erinnert an ihn:

Hier ruhen die sterblichen Überreste von Jan Katadreuffe, Gewürz- und Holzhändler, gestorben am 16. Oktobertag des Jahres 1709 im zweiundvierzigsten Lebensjahre. Du, der du an mir vorübergehst: Ich bin, was du sein wirst. Ich war, was du bist. Bedenke, dass du sterben musst, und sei bereit, mir nachzufolgen …

Im Lauf der Jahrhunderte war Stone Street Nummer 13½ des Öfteren Objekt rechtlicher Streitigkeiten, doch kein noch so kostspieliger Prozess, egal ob von Behörden oder Privatfirmen angestrengt, konnte einen Besitzerwechsel erzwingen. Und so kommt es, dass sich der Briefkasten noch immer an Ort und Stelle befindet. Ein Geheimnis vor aller Augen – nur dass die meisten Menschen daran vorbeigehen, ohne ihn überhaupt eines Blickes zu würdigen.

Vor zehn Jahren installierte ein großer Versicherungskonzern, der im Gebäude auf der anderen Straßenseite residiert, drei Überwachungskameras. Ein geduldiger Beobachter hätte herausfinden können, dass, obwohl durchaus einige wenige Briefe in den Kasten geworfen werden – etwa einer alle drei Wochen –, niemand kommt, um sie abzuholen. Trotzdem scheint der Briefkasten nie überzuquellen.

Ein den Briefkasten umgebendes Gerücht hat sich im Laufe der Jahrzehnte allerdings erhärtet: Jeder Brief, der in den Kasten geworfen wird, ist eine dringende Bitte – ein verzweifelter Hilfeschrei –, und auf jedem Umschlag steht derselbe Name:

Hugo Blackwood, Esq.

2019. Newark, New Jersey.

Odessa legte die Speisekarte beiseite und sah sich im Soup Spoon Café nach einer Tafel mit den Tagesgerichten um. Schließlich fiel ihr Blick auf ein Whiteboard neben dem Empfangspult am Eingang. Die mit rotem Filzstift auf weißem Grund geschriebenen Großbuchstaben weckten eine längst vergessen geglaubte Erinnerung an ihre Ausbildung an der FBI Academy in Quantico, Virginia.

Ein Dozent für Verhaltensforschung hatte die unterschiedlichen Totschlagskategorien mit einem quietschenden roten Stift auf die große Tafel im Hörsaal geschrieben.

Die verschiedenen Kategorien, so der Dozent, hatten nichts mit den Verbrechen an sich zu tun – also etwa der Tötungsmethode oder des Grades an Brutalität –, sondern mit dem Zeitraum zwischen den Taten.

Vergehen Wochen, Monate oder gar Jahre zwischen den Morden, spricht man von einem Serienmörder.

Ein Rauschmörder begeht in einer bestimmten Zeitspanne unmittelbar oder in kurzen Abständen und unter Umständen an verschiedenen Orten mindestens vier Morde.

Der Amokläufer schließlich tötet üblicherweise an einem Ort und in schneller Folge mehrere Menschen.

Die letzten beiden Kategorien ließen sich nicht scharf voneinander abgrenzen. Ein Vorfall, der sich gerade einmal fünfundsiebzig Meilen von dem Café, in dem sie gerade saß, zugetragen hatte, war besonders schwierig einzuordnen: Es handelte sich nach gängiger Auffassung um den ersten Amoklauf in den Vereinigten Staaten.

Am 6. September 1949 verließ Howard Unruh, ein achtundzwanzigjähriger Weltkriegsveteran, in seinem besten Anzug und einer gestreiften Fliege das Haus seiner Mutter in Camden, New Jersey. Er hatte sich beim Frühstück so heftig mit seiner Mutter gestritten, dass diese sich in der Gewissheit, dass etwas Schreckliches geschehen würde, zu den Nachbarn geflüchtet hatte.

Unruh ging, bewaffnet mit einer deutschen 9mm-Luger-Pistole und dreißig Schuss Munition, zu Fuß in die Stadt. Innerhalb von zwölf Minuten erschoss er unter anderem in einer Apotheke, einem Friseurgeschäft und einer Schneiderei dreizehn Menschen und verletzte drei weitere. Obwohl er schon länger Mordabsichten gehegt hatte – in seinem Tagebuch fand sich eine Liste mit seinen persönlichen Feinden –, waren unter den Opfern auch mehrere Menschen, die einfach nur das Pech gehabt hatten, ihm an diesem wolkenlosen Dienstagmorgen über den Weg zu laufen. Opfer und Augenzeugen beschrieben Howards Blick während der Tat als glasig und tranceartig.

Die genaue Klassifikation dieses Verbrechens war natürlich nur für Strafverfolgungsbeamte interessant. Was wirklich zählte, war die Tatsache, dass es seit Unruhs Amoklauf über sechzig Jahre lang keine vergleichbare Mordserie in New Jersey gegeben hatte.

Bis zu dem Abend, an dem Walt Leppo Hackbraten bestellte.

»Ist der auch frisch?«, fragte Walt die junge Kellnerin, als er von der Herrentoilette zurückkam.

»Auf jeden Fall«, sagte sie.

»Wären Sie in diesem Fall so nett und würden nachsehen, ob vielleicht noch von heute Mittag ein, zwei Scheiben übrig geblieben sind? Vielleicht auf der Wärmetheke, so richtig schön trocken und schon hart an den Rändern?«

Die Kellnerin starrte ihn noch eine Weile an, unsicher, ob er sie auf den Arm nehmen wollte. Wahrscheinlich studierte sie an einer der nahe gelegenen rechtswissenschaftlichen Fakultäten. Odessa hatte sich das dritte Jahr ihres Jurastudiums in Boston ebenfalls durch Kellnern finanziert. Sie konnte sich noch gut an das unbehagliche Gefühl erinnern, das sie beschlichen hatte, wenn eine bestimmte Sorte männlicher Gäste einen ungewöhnlichen, leicht unheimlichen oder an Fetischismus grenzenden Essenswunsch geäußert hatten – meistens hatte es sich um verschrobene Eigenbrötler gehandelt, die sich höchstwahrscheinlich gewünscht hätten, eine Frau ebenso leicht wie ein Gericht von einer Karte bestellen zu können.

Die Kellnerin sah Odessa an, die Leppo gegenübersaß. Odessa schenkte ihr ein ermutigendes Lächeln von Frau zu Frau.

»Da muss ich mal nachsehen«, sagte die Kellnerin.

»Vielen Dank. Ein Endstück wäre mir am liebsten«, sagte er, schloss die Speisekarte und reichte sie ihr. »Früher haben wir zu den Endstücken immer Popöchen gesagt«, fügte er hinzu, sobald die Kellnerin wieder gegangen war.

Odessa nickte, als fände sie das sehr faszinierend. »Serienmörder«, sagte sie freundlich.

Walt zuckte mit den Schultern. »Weil ich meinen Hackbraten so mag, wie ihn meine Mutter immer gemacht hat?«

»Und oralfixiert auch noch. Meine Güte.«

»Weißt du was, Dessa? Man kann alles sexualisieren. Einfach alles. Anscheinend sogar Hackbraten.«

»Ich wette, dass du auch verbrannten Toast magst.«

»Schwarz wie Kohle. Was ist eigentlich aus der Vorschrift geworden, dass Anfänger keine verdienten Agenten analysieren dürfen?«

Beide drehten den Kopf, als die ersten Regentropfen gegen das Panoramafenster des Soup Spoon Café schlugen.

»Na toll«, sagte Leppo.

Odessa sah auf ihr Handy. Das Niederschlagsradar der Wetter-App zeigte eine große, jade- und mintfarbene Regenfront, die sich wie eine Giftgaswolke auf Newark zuschob. Sie drehte das Smartphone um, sodass Leppo es ebenfalls sehen konnte. Ihre Regenschirme lagen ungefähr einen halben Block von hier neben der Remington-Schrotflinte Kaliber 12 im Kofferraum ihres Wagens.

»Regen in Jersey, das ist, als würde man einen Hund abduschen«, sagte Leppo. »Alles wird nass, und nichts wird sauber.«

Odessa grinste. Ein typischer »Leppo-ismus«. Weitere Regentropfen prasselten gegen die Fensterscheibe. Die wenigen Passanten auf der Straße waren nur verschwommen zu erkennen, doch sie beschleunigten eindeutig ihre Schritte.

Es braute sich etwas zusammen.

Wie eine spätere Auswertung der Daten ergab, hing in demselben Augenblick, in dem Leppo seinen Hackbraten bestellte, ein gewisser Evan Aronson etwa ein Dutzend Meilen nördlich von Newark in der Telefonwarteschleife seiner Krankenversicherung fest und hörte sich Siebzigerjahre-Softrock an, während er darauf wartete, sich über eine Zuzahlung zu beschweren, die man ihm wegen eines kürzlich erfolgten Aufenthalts in der Intensivstation in Rechnung stellte. Bei dem Treffen, das sein Jahrgang anlässlich des zehnjährigen Jubiläums ihres Abschlusses an der Rutgers University abgehalten hatte, war auch der von seiner Studentenverbindung traditionell spät in der Nacht durchgeführte Sprung über ein mobiles Klohäuschen nachgestellt worden. Er hatte sich bei dem Versuch, seinen ehemaligen Mitbewohner Brad »Boomer« Bordonsky aufzufangen, den linken Bizeps gerissen – nicht zuletzt deshalb, weil Bordonsky seit damals mindestens fünfzehn Kilo zugelegt hatte.

Während Evan einen weiteren von Styx’ größten Hits über sich ergehen ließ, beobachtete er von seinem Schreibtisch im Büro einer Charterfluggesellschaft auf dem Teterboro Airport, wie eine nagelneue Beechcraft Baron G58 aus einem nahe gelegenen Privathangar rollte. Dann kletterte der hochgewachsene Pilot aus dem Cockpit des eine Million Dollar teuren, zweimotorigen Kolbenflugzeugs. Der Mann war ungefähr Mitte fünfzig und trug eine graue Trainingshose, einen Pullover und Sandalen. Er wechselte ein paar Worte mit einem Mechaniker, dann verschwand er wieder im Hangar und ließ die Maschine mit laufenden Motoren stehen.

Kurze Zeit später kehrte der Pilot mit einem großen Schraubenschlüssel in der Hand zurück.

Nur wenige Piloten und noch weniger Flugzeugeigentümer führten anstehende Reparaturen eigenhändig durch. Und schon gar nicht, wenn die beiden 300-PS-Motoren noch liefen und sich die Propeller schneller drehten, als es das menschliche Auge erfassen konnte. Evan stand auf, um besser sehen zu können. Er trug den linken Arm in einer Schlinge, in der rechten Hand hielt er den Telefonhörer, der durch ein Kabel mit dem Apparat auf dem Schreibtisch verbunden war. Den Funkrichtlinien des Flughafens zufolge waren Mobilgeräte verboten.

Über dem Heulen der Propellerturbine hörte Evan einen lauten Knall, gefolgt von einem Klirren.

Nach dem zweiten Klirren reckte er den Hals, damit er den Piloten besser sehen konnte, der sich anscheinend hinter dem Rumpf der Beechcraft befand. Der große Mann umrundete die Tragfläche, dann sah Evan, wie er mit dem Schraubenschlüssel ausholte und ein brennendes Positionslicht zertrümmerte. Das rote Plastikgehäuse zersplitterte in tausend Teile, die sich auf der Rollbahn verteilten. Die Glühbirne erlosch.

Dieser Akt des Vandalismus gegen ein Flugzeug im Wert von einer Million Dollar kam so unerwartet, dass Evan laut aufkeuchte. Inzwischen war das Kabel des Telefonhörers, aus dem gerade »Lady« drang, beinahe bis zum Zerreißen gespannt. Die sanfte Ballade bildete eine denkbar unpassende Hintergrundmusik zu dem Anblick des Flugzeugbesitzers, der seine eigene Maschine zerstörte.

Üblicherweise wurde ein solcher Hightech-Privatjet gehegt und gepflegt wie ein verhätscheltes Haustier und so gründlich gewartet wie ein Sportwagen. Was dieser Mann hier tat, war damit vergleichbar, einem preisgekrönten Rennpferd mit einem Schraubenzieher die Augen auszustechen.

Das konnte unmöglich der Besitzer sein, dachte Evan. Irgendjemand verursachte Tausende Dollar Schaden an dem Flugzeug … und wollte es womöglich stehlen.

»Mr. Aaronson, ich habe jetzt Ihre Daten vorliegen …«, sagte die Versicherungsangestellte in dem Augenblick, in dem Evan den Hörer fallen ließ. Er landete auf dem Boden, das Kabel rollte sich auf dem Schreibtisch zusammen. Evan rannte aus dem Büro. Die kalten Regentropfen trafen ihn wie kleine Nadelstiche. Er sah sich zu beiden Seiten um, ob jemand in der Nähe war, der ihm helfen konnte.

Inzwischen hatte der große Mann sein Zerstörungswerk vollendet. An dem Flugzeug, das sich dunkel vor einem kleinen roten Notlicht abzeichnete, brannte keine einzelne Birne mehr.

»HEY!«, rief Evan und wedelte mit dem Arm, der nicht in der Schlinge steckte, lief ein paar Schritte auf das Flugzeug zu und rief noch einige weitere Male »HEY!«, um die Aufmerksamkeit von jemandem – dem Mechaniker oder einem anderen Mitglied der Bodencrew im Hangar – zu erregen, der zwei gesunde Arme hatte.

Ein Mechaniker ging auf den Piloten zu, um ihn aufzuhalten, woraufhin der Pilot mit dem Schraubenschlüssel ausholte und ihm mit drei heftigen Schlägen die rechte Schädelseite zertrümmerte. Der Angriff dauerte nur wenige Sekunden, dann brach der Mechaniker zuckend auf dem Boden zusammen und hauchte sein Leben aus.

Der Pilot ging in die Hocke und hieb weiter auf den Schädel des Mechanikers ein wie ein Höhlenmensch, der seiner Beute endgültig den Rest geben wollte.

Evan erstarrte. Sein Gehirn schien nicht in der Lage, einen solchen Gewaltausbruch zu verarbeiten.

Der Pilot warf den Schraubenschlüssel mit einem lauten Klappern beiseite, umrundete den linken Propeller, wobei er ihm gefährlich nahe kam, kletterte auf die Tragfläche und stieg in das mit einer Glaskuppel überdachte Cockpit.

Das Flugzeug, das lediglich durch die Instrumententafel des Cockpits beleuchtet wurde, machte einen Ruck und rollte los. Der grünblaue Schein des Garmin-G1000-LCD-Displays ließ das Gesicht des Mannes wie die Fratze eines Aliens aussehen.

Evan konnte den Blick nicht von seinen leblosen Augen abwenden.

Wie ferngesteuert griff der Pilot nach etwas im Cockpit, das Evan nicht richtig erkennen konnte. Dann zerbarst das rechte Fenster der Glaskuppel in Licht und Lärm, und mehrere Kugeln aus einem halbautomatischen AK-47-Sturmgewehr bohrten sich wie heiße Nägel in Evans Körper. Seine Knie gaben nach, er ging zu Boden, schlug mit dem Kopf auf dem Asphalt auf und verlor das Bewusstsein.

Evan verblutete, ohne etwas davon mitzubekommen, während sich die verdunkelte Beechcraft der Rollbahn näherte.

Odessa hatte den Salat mit Steak ohne Zwiebeln bestellt, da sie den Geschmack nicht die ganze Nacht im Mund haben wollte. Dazu trank sie Kaffee, wie es bei FBI-Agenten üblich war, deren Schicht noch eine ganze Weile dauerte.

»Wusstest du«, sagte Leppo, nachdem sich die Kellnerin wieder entfernt hatte, »dass man auf den Speisekarten statistisch gesehen mehr Spuren von menschlichen Exkrementen findet als irgendwo sonst in einem Restaurant?«

Odessa nahm ein kleines Fläschchen Handdesinfektionsmittel aus der Tasche und stellte es auf den Tisch wie eine Schachfigur nach einem erfolgten Angriff.

Leppo fand sie sympathisch, das war offensichtlich. Er hatte eine erwachsene Tochter, daher konnte er sich gut in sie hineinversetzen. Es gefiel ihm, sie unter seine Fittiche zu nehmen. Beim FBI gab es zwar keine einander fest zugeteilten Partner, doch er hatte sich vorgenommen, sie anzulernen und ihr zu zeigen, wie man es »richtig machte«. Und sie war eine aufmerksame Schülerin.

»Mein Dad hat dreißig Jahre lang in ganz New York City Restaurantküchenbedarf verkauft, dann hat sich seine Pumpe verabschiedet«, fuhr er fort. »Er hat immer gesagt – und das ist wohl die wichtigste Lektion, die ich einer Agentin im dritten Jahr mit auf den Weg geben kann –, dass der Maßstab für die Sauberkeit eines Restaurants die Toilette ist. Bei einer hygienischen, ordentlichen und funktionsfähigen Toilette kann man auch davon ausgehen, dass die Küche, in der das Essen zubereitet wird, tipptopp in Schuss ist. Und weißt du, wieso?«

Sie konnte es sich denken, wollte seinen Redefluss aber nicht unterbrechen.

»Weil derselbe unterbezahlte Einwanderer aus Chile oder El Salvador sowohl die Toilette als auch die Küche putzt. Die gesamte Gastronomiebranche – ja, wenn man so will, die menschliche Zivilisation überhaupt – steht und fällt mit dem Einsatz dieser hart arbeitenden Menschen.«

»Wo wären wir ohne Einwanderer«, sagte Odessa.

»Das sind Helden«, sagte Leppo und prostete ihr mit seiner Kaffeetasse zu. »Wenn sie sich nur genauso gut um die Sauberkeit der Speisekarten kümmern würden.«

Odessa lächelte, dann schmeckte sie Zwiebeln in ihrem Salat und verzog enttäuscht das Gesicht.

Der erste Notruf kam aus Teterboro. Ein Privatflugzeug war ohne Flugerlaubnis des Towers gestartet und nach Osten über Moonachie und die Interstate 95 in Richtung Hudson River geflogen. Die mutmaßlich gestohlene Maschine gewann und verlor ständig mehrere tausend Meter an Höhe, wodurch sie regelmäßig unter den Radarerfassungsbereich geriet.

Die Hafenbehörde von New York und New Jersey löste Katastrophenalarm aus. Im Einklang mit den Richtlinien der Flugaufsichtsbehörde wurde der Flughafen Teterboro sofort geschlossen. Alle geplanten Flüge wurden abgesagt und sämtliche Flugzeuge, die sich im Anflug befanden, zum Linden Municipal Airport umgeleitet, einem kleinen Landeplatz im südlichen New Jersey, der hauptsächlich von Rundflugmaschinen und Helikoptern genutzt wurde.

Der erste Privatnotruf stammte vom Kapitän eines Schleppers, der weniger als eine Meile südlich der George Washington Bridge auf dem Hudson River dahinschipperte. Seinen Angaben zufolge war ein Flugzeug ohne Beleuchtung extrem tief zwischen Schlepper und Brücke durch den Regen geflogen und hätte dabei »Knallgeräusche« von sich gegeben. Der Kapitän meinte, dass der Pilot Knallkörper auf sein Schiff abgeworfen hätte, und äußerte die Befürchtung, dies könne der Anfang eines »neuen elften Septembers« sein.

Der zweite Anruf stammte von einem Geschäftsmann aus der Modebranche, der gerade auf dem Nachhauseweg war und die George Washington Bridge Richtung Fort Lee überquerte. Er gab an, eine »große Drohne« gesehen zu haben, die auf die Upper West Side von Manhattan zugeflogen sei.

Dann folgte eine wahre Flut von Notrufen besorgter Einwohner Manhattans, die behaupteten, dass ein Flugzeug an ihrem Arbeitsplatz oder Wohnhaus vorbeigerauscht sei. Die Maschine wurde über dem Central Park gesehen, wie sie parallel zur Fifth Avenue nach Süden flog. Da jegliche Beleuchtung fehlte, war sie nur schwer auszumachen. Die Positionen der Handys, von denen die Notrufe abgesetzt wurden, ließen auf eine Flugbahn schließen, die diagonal über Lower Manhattan und Greenwich Village und wieder zurück zum Hudson führte.

Die Fähre nach Staten Island näherte sich gerade der Freiheitsstatue, als die Beechcraft auf ihr Heck herabstieß. Die Flammenstöße mehrerer Sturmgewehrsalven drangen aus der rechten Seite des Cockpits. Die Projektile schlugen in den orangefarbenen Schiffsrumpf der MVAndrew J. Barberi ein, einige zerschmetterten die Fenster im Passagierbereich. Zwei Pendler wurden durch die Schüsse verwundet, siebzehn weitere Passagiere erlitten durch die entstehende Panik weitaus schwerere Verletzungen. Die Fähre drehte bei und kehrte zur Anlegestelle in Lower Manhattan zurück.

Später entdeckte man drei Einschusslöcher im Kupfer von Krone und Fackel der Freiheitsstatue. Verletzt wurde dort jedoch niemand.

Die Beechcraft drehte scharf nach Westen ab und kehrte in den Luftraum über New Jersey zurück. Sie wurde über Elizabeth gesehen, wie sie durch den abendlichen Regen Kurs auf Newark nahm, New Jerseys bevölkerungsreichste Stadt.

Der Newark Liberty Airport wurde geschlossen und der gesamte Luftverkehr umgeleitet.

Dann folgten mehrere Meldungen, denen zufolge sich ein zweites Flugzeug über dem Süden New Jerseys befand, die sich jedoch später als Sichtungen derselben Maschine herausstellten.

Gelegentlich sank die Beechcraft so tief, dass sie sich kaum dreißig Meter über dem Erdboden befand. Einem Fahrgast in einem Linienbus auf dem Jersey Turnpike, der über ausnehmend scharfe Augen verfügte, gelang es, das Luftfahrzeugkennzeichen am Heck der Beechcraft zu entziffern und dieses per SMS der State Police zu übermitteln.

Zwei F-15-Jagdflugzeuge starteten von der Otis Air National Guard Base auf Cape Cod und flogen mit Überschallgeschwindigkeit in Richtung Manhattan.

Die ganze Nacht über hallten Polizeisirenen durch das Stadtgebiet von Newark. Die Beechcraft wurde binnen weniger Minuten über dem Pulaski Skyway, dann Weequahic, Newark Bay, dem MetLife-Stadion und schließlich über den Meadowlands gesehen, sodass die Streifenwagen wenig effektiv von einer Sichtung zur nächsten rasten.

»Wie ist der Hackbraten?«, fragte Odessa.

»Der Beste, den ich je gegessen habe«, antwortete Leppo mit vollem Mund.

Odessa schüttelte den Kopf und hob die leere Kaffeetasse, um die Kellnerin auf sich aufmerksam zu machen. Sie würde das Koffein dringend brauchen – gerade arbeiteten sie an einem Korruptionsfall, der immer weitere Kreise zog und in den auch Cary Peters verwickelt war, der ehemalige Stabschef des Gouverneurs von New Jersey. Peters war vor drei Monaten zurückgetreten – vermutlich, um zu verhindern, dass auch der Gouverneur in den Fokus der Ermittlungen geriet. Die Beweisaufnahme war vor Kurzem abgeschlossen worden, doch der daraus resultierende Skandal hatte ernste Konsequenzen für Peters’ Berufs- und Privatleben nach sich gezogen (wie nicht anders zu erwarten, wenn man siebzehnhundert Dollar für einen Abend im Scores Gentlemen’s Club vom Wahlkampffonds seines Chefs abzwackt). Den Kopf für den Gouverneur hinzuhalten hatte seinen Preis: Peters’ Privatleben einschließlich der Trennung von seiner wütenden Frau wurde in allen Einzelheiten in Fernsehen und Presse breitgetreten, was sogar dazu führte, dass die Stadtverwaltung von Montclair auf Anraten der örtlichen Polizeibehörde Parkverbotszonen um Peters’ Haus einrichtete, um die Heerscharen von Reportern auf Abstand zu halten. Peters hatte dem ständigen Druck nicht standgehalten. Anfang des Monats hatte man ihn wegen Trunkenheit am Steuer festgenommen, und laut einer Nachrichtenwebsite war es wohl nur eine Frage von Tagen, bis Peters einknickte und, um seine Haut zu retten, einen Deal mit der Staatsanwaltschaft einging, den Gouverneur ans Messer lieferte und die wahre Dimension des Skandals öffentlich machte.

Für das FBI und insbesondere für Leppo und Odessa stellte der Fall in dieser Phase nur noch lästigen Papierkram dar. Im FBI-Hauptquartier im Claremont Tower in Newark wurde rund um die Uhr gearbeitet, um die kürzlich von den Behörden und dem Wahlkampfbüro des Gouverneurs zur Verfügung gestellten Unterlagen zu sichten. Odessa und Leppo hatten die letzten vier Nächte damit verbracht, E-Mails, Arbeitsverträge und Spesenabrechnungen zu prüfen. Im Digitalzeitalter bestanden die Hauptermittlungsaufgaben nun mal in forensischer Datenanalyse und der Entschlüsselung der allgegenwärtigen digitalen Spuren.

Es hatte einen Grund, weshalb das FBI mit Vorliebe Anwälte einstellte.

Dieses Abendessen in einem zweifelhaften Restaurant in einer heruntergekommenen Ecke einer der gefährlichsten Städte Amerikas stellte Odessas einzige Ablenkung von der endlosen Aktenprüfung dar. Sie hätte sich die ganze Nacht Leppos mit vollem Mund vorgetragene Weisheiten anhören können.

Dann begannen ihre mit dem Display nach unten auf dem Tisch liegenden Handys gleichzeitig zu vibrieren, was niemals ein gutes Zeichen war.

Überraschenderweise handelte es sich jedoch nicht um eine dienstliche Nachricht, sondern um eine Eilmeldung der New York Times. Aus einem vom Flughafen Teterboro entführten Kleinflugzeug waren unbestätigten Quellen zufolge über Manhattan Schüsse aus einer halbautomatischen Waffe abgegeben worden. Der Newsticker unter der Schlagzeile wurde ständig aktualisiert: Anscheinend hatte das Flugzeug den Hudson River überquert und war in der Nähe von Newark gesichtet worden.

»Scheiße«, sagte Leppo, stopfte sich ein gewaltiges Stück Hackbraten in den Mund und nahm die Serviette von seinem Schoß. Odessa würde wohl auf ihren Kaffee verzichten müssen. Es war immer besser, selbstständig in Aktion zu treten, als auf den entsprechenden Befehl zu warten. Die Erfahrung hatte sie gelehrt, vor einem Einsatz die Toilette aufzusuchen. Währenddessen bezahlte Leppo das Essen mit seiner Kreditkarte.

Er stand bereits im Regen und hielt sich die Gratisbroschüre eines Immobilienmaklers über den Kopf, als Odessa das Lokal verließ. Sie warteten eine Lücke im dichten Verkehr ab, überquerten im kalten Regen die Straße und liefen Richtung Norden zu ihrem Dienstwagen, einem silbernen Chevrolet Impala.

Durch das Prasseln des Regens und das Rauschen der Reifen auf dem feuchten Asphalt hörte Odessa die beiden Motoren erst, als sich das Flugzeug beinahe direkt über ihrem Kopf befand. Die unbeleuchtete Beechcraft schnitt mit leicht seitlich geneigten Tragflächen etwa sechzig Meter über ihnen durch den strömenden Regen.

Kaum war das Flugzeug da, war es auch schon wieder weg. Die Situation hatte etwas Unwirkliches. Odessa blieb so abrupt stehen, dass Leppo in sie hineinlief.

»Meine Güte«, keuchte Leppo.

Als Odessa sich ans Steuer des Impala setzte, übertönte die plärrende Sirene eines vorbeifahrenden Streifenwagens das allmählich leiser werdende Brummen der Flugzeugmotoren.

Leppo telefonierte bereits mit der Zentrale. Vom Hauptquartier in den obersten sechs Stockwerken des Claremont Tower an den Ufern des schmalen braunen Passaic River konnte man ganz Newark überblicken.

»Wohin?«, fragte Odessa, während weiteres Blaulicht die Regennacht erhellte.

»Es hat keinen Sinn, ihm zu folgen«, sagte Leppo und deutete an der Kreuzung nach links. Also zurück zum Hauptquartier.

Leppo verband das Handy über Bluetooth mit den Lautsprechern des Wagens. »Davey, wir waren gerade beim Essen. Es ist direkt über uns weggeflogen. Wie ist die Lage?«

»Terrorwarnung«, sagte Davey. »Von der Otis Air Base sind zwei Jets aufgestiegen.«

»Von der Otis Air Base?«, fragte Leppo ungläubig. »Und was sollen die machen? Den Vogel direkt über Hoboken abschießen?«

»Wenn es sein muss. Er fliegt einen Zickzackkurs über den Hudson, vollführt ein paar riskante Manöver und ballert wahllos auf die Stadt runter.«

»Wer ist ›er‹, wissen wir das?«

Odessa machte einem weiteren Streifenwagen Platz, der in die entgegengesetzte Richtung raste.

»Das Flugzeug ist auf den Geschäftsführer der Stow-Away Corporation registriert. Das ist eine Firma für Lagerraumvermietung. Ihr wisst schon, diese großen orangefarbenen Gebäude. Höchstwahrscheinlich ist die Maschine aber gestohlen. In Teterboro wurde eine Leiche gefunden, ein Mechaniker. Moment, Walt …«

Davey legte eine Hand über das Mikro, sodass sie nicht mehr verstehen konnten, was er einem anderen Agenten zurief. Odessa und Leppo sahen sich an.

»Stow-Away«, sagte sie. Eine dunkle Ahnung beschlich sie.

Leppo nickte. »Das ist gar nicht gut.«

Der Geschäftsführer von Stow-Away, ein gewisser Isaac Meerson, war ein bekannter Großspender der Republikanischen Partei von New Jersey … und mit dem Gouverneur und Cary Peters gut befreundet.

»Unmöglich«, sagte Leppo.

»Was ist unmöglich?«, fragte Davey, der wieder in der Leitung war.

»Dass Stow-Away in den Peters-Korruptionsskandal verwickelt ist, an dem Hardwicke und ich arbeiten. Haben wir schon eine Beschreibung des Piloten?«

»Nein. Aber ich kann mal nachfragen.«

Odessa hielt an einer roten Ampel. Die Scheibenwischer bewegten sich so schnell hin und her, dass es aussah, als würde das Licht der Verkehrsampel flackern. »Und was machen wir jetzt?«

»Keine Ahnung«, sagte Leppo. »Mit unserem Fall kann das nichts zu tun haben, oder?«

»Peters war depressiv und hat sich mehr oder weniger zurückgezogen«, sagte Odessa. »Und das mit seiner Frau, das gestern in der Zeitung war …«

»Dass sie sich scheiden lassen will? Das ist ja wohl keine große Überraschung.«

»Nein«, sagte Odessa. »Trotzdem …«

Odessa kannte Leppo mittlerweile ziemlich gut. Offensichtlich zog er Peters ernsthaft als Verdächtigen in Betracht. »Er kommt mir ganz und gar nicht wie der Typ vor, der ein Flugzeug klaut«, sagte er.

»Er hat Flugstunden genommen, vergiss das nicht«, sagte sie. »Er war kurz davor, den Pilotenschein zu machen, als er plötzlich Panikattacken bekam. Steht alles in seiner Akte.«

Leppo nickte. Er wusste offenbar auch nicht weiter. »Scheiße, scheiße, scheiße, scheiße, scheiße.«

Davey meldete sich wieder. »Leider wissen wir noch gar nichts über den Piloten.«

»Ist auch nicht so wichtig. Wie lautet die letzte bekannte Position der Maschine?«, fragte Leppo.

»Zuletzt wurde sie nordwestlich von Newark gesehen«, sagte er. »Über Glen Ridge. Walt, ich muss leider …«

»Ja, schon klar«, sagte Leppo und legte auf.

»Er fliegt in Richtung Montclair«, sagte Odessa. »Glaubst du etwa …?«

»Dass er das Flugzeug in sein eigenes Haus krachen lässt?«, beendete Leppo ihren Satz.

»Es ist wohl nur eine Frage der Zeit, bis es nicht mehr ihm gehört«, sagte Odessa, »sondern seiner Frau.«

Leppo nickte. Es war beschlossene Sache. »Mach die Fackel an.«

Odessa griff unter das Armaturenbrett nach dem Schalter, mit dem sich die rot-blauen Kennleuchten an Front und Heck des Fahrzeugs aktivieren ließen. Dann trat sie aufs Gas und manövrierte den Impala durch den Verkehr in Richtung Montclair.

Das Flugzeug sorgte für mehrere Unfälle auf den Straßen. Der schlimmste davon ereignete sich auf dem Garden State Parkway, wo sieben Autos ineinanderfuhren und den Verkehr in nördlicher Richtung auf unabsehbare Zeit zum Erliegen brachten.

Die Maschine gewann über East Orange leicht an Höhe, drehte dann nach Westen ab und ging wieder in den Tiefflug, wo sie vom Radar nicht erfasst werden konnte. Über dem Nishuane Park streifte die linke Tragfläche der Beechcraft eine Baumkrone. Dem Piloten gelang es jedoch, das Flugzeug wieder in seine Gewalt zu bringen und weiterzufliegen. Mehrere Beobachter äußerten die Vermutung, dass der Pilot entweder nach einem Landeplatz oder nach ihm vertrauten Orientierungspunkten suchte.

Einige Minuten später verschwand die Maschine völlig von der Bildfläche.

Dann erhielten sie die ersten Meldungen, dass es westlich von Orange einen Flugzeugabsturz gegeben habe. Alle Streifenwagen und Rettungskräfte im Umkreis wurden in Alarmbereitschaft versetzt und warteten auf die Bekanntgabe der genauen Absturzstelle. Doch nach längerem Suchen und viel Hin und Her stellte sich heraus, dass es sich um Falschmeldungen handelte.

Die zweimotorige Beechcraft landete schließlich auf der ersten Spielbahn – einem geradeaus führenden, abschüssigen Par-5-Loch – eines 9-Loch-Kurses des Golfclubs von Montclair. Die Maschine kam zweimal mit den Reifen auf, dann grub die linke Tragfläche eine tiefe Furche in das Grün und drängte das Flugzeug in eine Linkskurve, bis das Fahrwerk in einem Bunker versank und die Schnauze der Beechcraft vor dem Waldrand zum Liegen kam.

Ein Augenzeuge, der gerade seinen Wagen auf dem Parkplatz des Golfclubs abgestellt hatte und ausgestiegen war, um ein emotional forderndes Telefongespräch mit seinem Mitbewohner zu führen, bemerkte einen Mann, der schnellen Schrittes ein nahe gelegenes Wäldchen verließ. Der Mann, dem offensichtlich nicht bewusst war, dass er eine blutende Wunde auf der rechten Seite seines Kopfes hatte, sah den Zeugen mit, wie dieser später zu Protokoll gab, »toten Augen« an. Da er davon ausging, dass der Mann unter Schock stand, beendete der Zeuge sein Telefongespräch und rief dem Mann etwas zu. Dieser beachtete ihn nicht weiter, sondern ging zielstrebig auf den mit laufendem Motor dastehenden Jeep Trailhawk des Zeugen zu, stieg ein und fuhr mit hoher Geschwindigkeit davon. Wie der Zeuge später berichtete, schloss er die Fahrertür erst, als er schon beinahe außer Sichtweite war.

Obwohl sie dank des Blaulichts einigermaßen gut vorankamen, herrschte starker Verkehr. Leppo dirigierte Odessa mithilfe der Navigations-App auf seinem Handy über verschiedene Seitenstraßen zum Wohnsitz von Peters’ Frau in Upper Montclair.

Sie hatten bereits entschieden, die örtliche Polizei nicht zu verständigen. »Die haben schon mehr als genug zu tun, und es ist ja auch nur eine Vermutung. Wir wollen auf keinen Fall wichtige Ressourcen von einem echten Notfall abziehen.«

»Dann schließt du einen Terroranschlag also aus?«, fragte Odessa.

»Und wenn doch, wäre der schnell vorbei, dafür werden die Kampfjets schon sorgen. Aber wenn nicht … dann haben wir es hier mit einem verzweifelten Typen zu tun, der nicht mehr weiterweiß. Mit drei Kindern und einer einstweiligen Verfügung und ohne jede Hoffnung darauf, dass alles wie früher wird.«

Odessa dachte darüber nach. Es wäre schon ein unglaublicher Zufall, wenn es sich bei dem Piloten um Cary Peters handelte. Die Wahrscheinlichkeit war äußerst gering.

»Eine Scheidung kann einen in den Wahnsinn treiben«, sagte Leppo. »Wusstest du, dass ich vor Deb schon mal verheiratet war?«

Deb, eine winzige Frau mit roten Medusenhaaren, die einen riesigen roten Chevy-Tahoe-SUV fuhr, war seit zwanzig Jahren mit Leppo verheiratet. Odessa hatte sie exakt zweimal getroffen. Das erste Mal, um sich beschnuppern zu lassen, kurz nachdem sie Leppos neue Partnerin geworden war. Odessa hatte darauf geachtet, so harmlos wie möglich zu wirken, und Deb war ihr gegenüber auch tatsächlich nett, aufgeschlossen und höflich gewesen, hatte sie jedoch auch eine Stärke spüren lassen, die Odessa sofort registriert und respektiert hatte. Beim zweiten Mal hatte Odessa bei einer Grillparty Leppos Kinder und Deb Odessas Freund Linus kennengelernt. Von diesem Augenblick an war zwischen ihnen alles in bester Ordnung gewesen.

»Wir waren beide noch jung. Die Ehe hielt kein Jahr, aber ich brauchte zwei Jahre, um mich davon zu erholen. Gott sei Dank hatten wir keine Kinder. Peters scheint mir nicht der Typ für eine derart durchgeknallte Aktion, doch ich kann mich natürlich auch irren. Aber lass dir eines gesagt sein: Du weißt erst, wer du wirklich bist, wenn man dich tief verletzt hat.«

Odessa nickte. Gelegentlich gab Leppo neben beruflichen Ratschlägen auch Lebensweisheiten von sich.

»Weißt du überhaupt, wo du hinfährst?«, fragte er.

Sie befanden sich in einem gehobenen Wohnviertel. »Wir sind gleich da«, sagte sie und bog scharf links ab.

Die Straßen waren menschenleer. Es war das Paradebeispiel einer Schlafstadt. Sie fuhren an gepflegten Rasenflächen und hell erleuchteten Häusern vorbei. Es schien völlig unvorstellbar, dass hier etwas Schlimmes geschehen könnte.

»Ach du Scheiße«, sagte Leppo.

Da sah sie es auch. Ein Jeep parkte auf dem Randstein. Die Fahrertür stand offen, die Scheinwerfer brannten, der Motor lief noch.

Sie stellte den Impala unmittelbar hinter der Heckstoßstange des Geländewagens ab, um eine mögliche Flucht zu erschweren. Leppo gab der Zentrale die Adresse durch, dann machten sie sich einsatzbereit.

Odessa sprang mit der Hand auf der Pistole im Holster aus dem Wagen und rannte in einem großen Bogen zur Fahrertür des Jeeps. Die Innenbeleuchtung brannte. Das Auto war leer und stand auf einem umgefahrenen Parkverbotsschild.

Sie drehte sich zum Haus um, einem zweistöckigen Bau im Neu-Tudorstil mit weit überstehenden, steilen Dächern. In beiden Etagen brannte Licht. Die Eingangstür war geschlossen. Von der Einfahrt hinter einer niedrigen Steinmauer zu Odessas Linken führte ein schmaler Weg zu einem unbeleuchteten Seiteneingang.

Odessa wollte sich gerade zu Leppo umdrehen, als sie den Schuss hörte. Erschrocken wirbelte sie herum. Ein zweiter Schuss ertönte, und sie sah Mündungsfeuer im Fenster einer Dachgaube.

»Leppo!«, rief sie und zog ihre Glock.

»Jetzt geht’s los«, sagte er. Seine Stimme klang gedämpft und wie aus weiter Entfernung. Odessas Ohren dröhnten in einem dumpfen Bmp-pmp-Rhythmus, was allerdings nicht von dem Schuss, sondern von dem Adrenalin herrührte, das in ihren Adern kreiste. Leppo rannte an ihr vorbei die Einfahrt hinauf. Sie folgte ihm, die Waffe vom Körper weg und vor sich auf den Boden gerichtet.

Die Insektenschutztür war geschlossen, der eigentliche Seiteneingang dagegen stand offen. Leppo betrat das Haus als Erster. Odessa versuchte, nach Stimmen, Schritten oder Ähnlichem zu lauschen, doch das Rauschen in ihren Ohren war viel zu laut.

»FBI! FBI!«, rief sie und konnte ihre eigene Stimme über das Dröhnen hinweg kaum hören.

Leppo vor ihr schrie dasselbe: »Waffe runter, FBI!«

Odessa hörte keine Antwort. Leppo wohl auch nicht, da er weiter in die Küche vordrang. Odessa folgte ihm und blieb vor einer geschlossenen Schranktür stehen.

Sie stieß die Tür mit dem Fuß auf. Es war kein Schrank, sondern eine Vorratskammer. Auf dem Boden vor ihr lag eine Frau auf dem Rücken, die Arme an den Seiten. Man hatte ihr die Kehle durchgeschnitten. Sie hatte sich gewehrt – ihre Handflächen waren mit Wunden bedeckt.

»HIERLIEGTJEMAND!«, rief Odessa, rechnete jedoch nicht damit, dass Leppo zurückkehren und das Opfer in Augenschein nehmen würde. Sie umrundete die wachsende Blutlache und tastete nach dem Puls, ganz so, wie man es ihr in der Ausbildung beigebracht hatte. Der Hals der Frau war noch warm, doch sie konnte kein Pulsieren, kein Lebenszeichen feststellen. Als sie mit dem Daumen gegen das Kinn der Frau drückte, öffnete sich die Halswunde etwas, sodass Luft oder Gase in einer großen hellroten Blutblase daraus entwichen.

Odessa taumelte zurück. Obwohl eine warme Welle der Übelkeit ihre Kehle erreichte und sie sich taub und schwerelos fühlte, riss sie sich zusammen. Sie erkannte das Mordopfer: Es war Peters’ Noch-Ehefrau.

Diese Erkenntnis brachte sie wieder zur Besinnung, und siedend heiß fiel ihr etwas ein. Drei Kinder.

Mit einem Mal war sie wieder völlig klar. Ihr blieb gar nichts anderes übrig. Ihre Sinne waren aufs Äußerste geschärft – und sofort hörte sie Schreie von oben.

»LEPPO!« Wieder rief sie Walts Namen, um ihm zu verstehen zu geben, dass sie die Treppe hinaufkam. Gleichzeitig musste sie wissen, wo er sich befand. Auf der FBI-Akademie hatte man ihnen praktisch jede Woche eingeschärft, wie groß die Gefahr war, sich bei einem Einsatz gegenseitig über den Haufen zu schießen.

Weitere Schreie ertönten. Odessa rannte die Treppe hinauf, wobei sie mit jedem Schritt zwei Stufen auf einmal nahm.

»LEPPO!«

Sie sah sich im Flur um. Er war leer. Durch ein zur Straße zeigendes Fenster drang flackerndes blaues Licht. Offenbar war Verstärkung in Form der örtlichen Polizei eingetroffen. Das pulsierende Blaulicht war jedoch wenig tröstlich – es verlieh dem Flur eine bedrohliche Geisterbahnatmosphäre.

Sie stellte sich in den nächsten Türrahmen. Das Zimmer dahinter war in zarten Pfirsich- und Rosatönen gehalten. Die Decke auf dem ungemachten Bett war verknittert. Unter einem blutigen Laken neben dem Bett lag eine kleine menschliche Gestalt.

Das kann nicht wahr sein. Das kann einfach nicht wahr sein.

Odessa hob ein Ende des Lakens so weit hoch, dass sie einen kleinen nackten Fuß, einen Knöchel und eine dünne Wade sehen konnte. Den Anblick des verstümmelten Leichnams und erst recht seines Gesichts ersparte sie sich.

Hektisch atmend und mit einem lauten Klingeln in den Ohren, kehrte sie in den Flur zurück. In regelmäßigen Abständen verschwamm alles vor ihren Augen. »LEPPO!«

Vor ihr lag ein weiteres Zimmer. Durch die geöffnete Tür konnte sie ein Poster der New York Rangers an der Wand erkennen. Die Menge an Blut, mit der die Eishockeyspieler darauf bespritzt waren, ließ auf eine durchtrennte Schlagader schließen. Ein leichter Eisengeruch hing in der Luft …

Das Bett war leer, auch auf dem Boden lag niemand. Odessas Blick huschte hektisch durch den kleinen dunklen Raum.

Ein Schrank. Eine halb geöffnete Schiebetür. Schnell drückte Odessa sie bis zum Anschlag auf – und sah die Leiche eines Jungen, der wie eine Puppe vor der gegenüberliegenden Wand zusammengesackt war und sie aus toten Augen anstarrte.

Das ist nicht real, das ist nicht real …

Odessa wirbelte mit der Waffe im Anschlag herum. Das Zimmer war leer. Es geschah alles so schnell.

Im Nebenraum schlug etwas so heftig gegen die Wand, dass ein Bilderrahmen herunterfiel und auf dem Boden zersplitterte. Ein Schrei, ein Poltern, dann ein weiterer Schlag gegen die Wand.

Ein Kampf?

»LEPPO!«

Odessa stürmte in den blau erleuchteten Flur. Als sie sich der nächsten Tür näherte, taumelten zwei miteinander kämpfende Männer hindurch.

Odessa brachte sich breitbeinig in Schussposition. Leppo war im flackernden blauen Licht sofort zu erkennen. Dann drehte ihr auch sein Gegner das Gesicht gerade so weit zu, dass sie Cary Peters erkennen konnte. Er trug eine Trainingshose und hatte Blutflecken auf den Knien und den Knöcheln seiner nackten Füße.

Ein Messer. Die Klinge blitzte im blauen Licht auf. Es war ein Fleischmesser mit dickem Griff, doch Odessa sah es ganz deutlich in Leppos Hand. Einen Sekundenbruchteil lang war sie völlig verwirrt.

Ein Messer? Was ist mit Leppos Glock?

»AUFDENBODENODERICHSCHIESSE«, rief sie. »SOFORT!«

Leppo stellte sich mit dem Messer in der Faust hinter Peters und umklammerte ihn mit beiden Armen. Sie rangen miteinander. Peters rammte den linken Handballen gegen Leppos Kinn und versuchte, ihn von sich wegzudrücken. Es war ein Kampf auf Leben und Tod, und dem in Ungnade gefallenen Stabschef gelang es unter großer Anstrengung, seinen Oberkörper zu drehen und Odessa einen Blick zuzuwerfen, den sie in ihrem ganzen Leben nicht mehr vergessen sollte.

Anders als erwartet, trug er keine irre Grimasse der Aggression zur Schau, sondern schien sie beinahe Hilfe suchend anzustarren. Flehentlich. Er wirkte verwirrt und verzweifelt, obwohl das Blut seiner Kinder und seiner Frau an seinem Gesicht und seinen Händen klebte.

Er blickte sie mit den konfusen, orientierungslosen Augen eines Mannes an, der soeben aus einem lebhaften und grässlichen Albtraum erwacht ist.

Jetzt wirkte es, als müsse er sich gegen Leppo zur Wehr setzen – als wäre der ältere FBI-Agent der Angreifer. Erst in diesem Augenblick begriff Odessa so richtig, dass es Leppo war, der das Messer schwang, während Peters unbewaffnet war.

»WALT!«

Odessa hatte Peters direkt im Visier. Leppo musste ihn doch einfach nur von sich weg und zu Boden stoßen. Der Kampf war vorbei.

»ZURÜCK, WALT! ICHHABEIHN!«

Wenn sie jetzt schoss, würde die Kugel Peters’ Körper durchschlagen und sich in Leppo bohren. Doch ihr Partner schien sie überhaupt nicht zu hören.

Peters wandte sich wieder von Odessa ab. Seine Kräfte schwanden. Die Hand, in der Leppo das Messer hielt, hob sich immer höher. Peters nahm seine Hand von Leppos Kinn und Kehle und umklammerte den Arm seines Gegners, um ihm die Waffe zu entwenden.

»Bitte … nicht«, rief Peters.

»DASISTDIELETZTEWARNUNG!«, schrie Odessa.

Mit einer verzweifelten Kraftanstrengung gelang es Peters, Leppo von sich und gegen die Wand zu stoßen. Leppo war aus der Schusslinie. Peters drehte sich zu Odessa um und hob die Hand. »Nicht …!«

Odessa schoss zweimal.

Peters fiel rücklings auf den Boden. Er griff sich an seine von den beiden Kugeln zerfetzte Brust, wand sich auf dem Läufer und drückte den Rücken durch. Odessa blieb in Schussposition, die Waffe auf seinen Oberkörper gerichtet. Peters holte tief und seufzend Luft, sodass es in den Einschusslöchern zischte. Einen winzigen Moment lang flackerte so etwas wie Verständnis in seinen Augen auf – als wäre er gerade aufgewacht oder zu Sinnen gekommen. Dann trübte sich sein Blick, und eine einzelne Träne lief seine linke Wange hinunter.

Odessa hatte auf einen Mann geschossen. Er verblutete. Sie sah ihm beim Sterben zu.

Leppo dagegen beachtete sie nicht weiter.

Peters’ Körper erschlaffte. Er lag reglos da. Aus den Todesseufzern, die aus seiner Brust drangen, wurde ein hohes Seufzen, das dem Pfeifen eines undichten Reifens ähnelte. Seine Augen wurden glasig, sein Blick stumpf.

Es war vorbei.

Odessa, die seit dem Abfeuern ihrer Waffe unbewusst die Luft angehalten hatte, atmete ebenfalls aus.

»Ich habe ihn umgebracht«, sagte sie zu Leppo, mehr aber noch zu sich selbst. »Ich habe ihn erschossen.«

In diesem Moment nahm Odessa beinahe gleichzeitig zwei Dinge wahr: erstens einen leichten Brandgeruch wie von Lötpaste, zweitens die über die Sirenen kaum zu hörenden Schreie eines Mädchens aus einem weiteren Schlafzimmer.

»Hilfe! Wer ist da?«

Peters’ drittes Kind. Es war noch am Leben und offenbar unverletzt.

Odessa konnte den Blick nur mit Mühe von Peters’ Leichnam lösen. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie Leppo sich umdrehte und auf das letzte Zimmer am Ende des Flurs zuging. Wahrscheinlich wollte er das einzige noch lebende Familienmitglied trösten.

Odessa entspannte sich ein wenig. Sie richtete sich auf, trat einen Schritt vor und betrachtete den Mann, den sie soeben erschossen hatte.

Als Leppo die Tür erreichte, hielt er einen Moment lang inne. Odessa blickte auf, als er gerade den Raum betrat. Er hatte das Messer noch in der Hand.

Odessas erster Gedanke war, dass dies nicht den Vorschriften entsprach. Es handelte sich um eine Mordwaffe, und sie musste dementsprechend beweismitteltechnisch behandelt werden.

»Leppo!«, rief sie ihm über die Leiche des barfüßigen Mörders hinweg nach. Peters’ Fußsohlen waren schmutzig, fast schwarz, was die ganze Sache irgendwie noch tragischer machte.

Dann war Leppo verschwunden. Und Odessa stand allein neben dem Mann, den sie getötet hatte, in dem blau flackernden Flur.

Ihr Magen revoltierte, doch es war nicht dieselbe Übelkeit, wie sie bei der Entdeckung von Mrs. Peters’ verstümmeltem Leichnam in ihr aufgestiegen war. Nur die wenigsten FBI-Agenten feuerten in ihrer beruflichen Laufbahn ihre Dienstwaffe überhaupt im Einsatz ab. Es würde eine Anhörung geben. Gott sei Dank hatte sie mit Leppo einen Augenzeugen.

Odessa trat um Peters’ Leichnam herum, ohne ihn dabei aus den Augen zu lassen. Seine blutverschmierten Hände lagen noch auf den Einschusswunden, seine leeren Augen starrten zur Decke.

Sie näherte sich dem Kinderzimmer mit gesenkter Waffe, um die überlebende Tochter nicht zu erschrecken. Dann trat sie in die Tür, durch die Leppo soeben gegangen war.

Das neunjährige Mädchen trug einen sonnengelben Schlafanzug, auf dem Zeichentrickküken aus lächelnden weißen Eiern schlüpften. Walt Leppo stand hinter ihr und hielt einen Schopf ihres blonden Haars in seiner Faust. Das Mädchen hatte den Mund geöffnet, doch kein Schrei drang daraus hervor. Ihr Körper war verdreht, als wollte sie sich ihm entwinden, doch Leppo hatte sie fest gepackt.

In der anderen Hand hielt er das Küchenmesser – doch nicht etwa, wie man ein wichtiges Beweisstück halten würde, sondern mit der Spitze nach unten wie eine Waffe.

Odessas Verstand versuchte fieberhaft, sich einen Reim auf das zu machen, was sie da vor sich sah. Vielleicht hält Leppo die Kleine nur fest, damit sie nicht davonläuft und am Ende noch ihren toten Vater im Flur oder die Leichen ihrer Geschwister und ihrer Mutter sieht.

Doch diese in einem Sekundenbruchteil gewonnene Erkenntnis widersprach dem Ausdruck auf Leppos Gesicht, seinem schiefen Grinsen und seinen bedrohlichen, puppenähnlichen Augen. Es wirkte fast, als zeigte er dem Kind die blutverschmierte Klinge mit Absicht.

»Leppo?«, fragte Odessa.

Das alles ergab keinen Sinn. Leppo schien nicht einmal zu bemerken, dass Odessa mit ihm im Raum war. Er hob das Messer, um nun seinerseits die Klinge zu betrachten, während das Mädchen vergeblich den Kopf hin und her warf und versuchte, seinem eisernen Griff zu entkommen.

»Leg das weg, Walt«, sagte Odessa. »Walt! Leg das Messer hin!«

Sie konnte nicht glauben, dass sie diese Worte tatsächlich aussprach. Und sie hätte sich niemals träumen lassen, einmal die Glock auf ihn zu richten. Und obwohl es jedem ihrer Instinkte zuwiderlief, zielte sie nun mit ihrer Dienstwaffe auf einen anderen FBI-Agenten.

Leppo wandte sich wieder dem Mädchen zu. Er riss grob an ihren Haaren, sodass ihre weiche Kehle nun völlig entblößt war. Hier stimmte etwas ganz und gar nicht.

Und plötzlich wusste Odessa, was als Nächstes geschehen würde. »LEPPO!«, schrie sie.

Walt Leppo stach ohne Vorwarnung zu. Die Klinge drang durch Fleisch, Knochen und Knorpel und blieb schließlich im Schlüsselbein des Mädchens stecken – ein Übelkeit erregendes, dumpfes Knacken erklang, als Leppo versuchte, das Messer wieder zu befreien, und dem Mädchen dabei die Schulter auskugelte.

Die Kleine schrie.

Aus reinem Reflex drückte Odessa zweimal ab. Die Glock hüpfte in ihren Händen.

Die Wucht der Schüsse schleuderte Leppo nach hinten, sodass er sich um die eigene Achse drehte und gegen einen Nachttisch neben dem Bett krachte, ohne das Haar des Mädchens loszulassen.

Das heulende und blutende Kind wurde mitgerissen, landete auf Leppo und konnte sich endlich befreien. Drei dicke Haarsträhnen blieben in seinen Händen zurück.

Schnell kroch das Mädchen auf allen vieren in die entgegengesetzte Ecke des Raums.

Bei seinem Sturz hatte Leppo einen Luftbefeuchter vom Nachttisch gerissen. Das Wasser aus dem Tank floss nun auf den Teppich. Leppo sackte vor der Bettkante zusammen, bis sein Kopf und seine Schultern in einer unnatürlichen Position davor zum Liegen kamen.

Odessa stand wie versteinert da. »Leppo!«, schrie sie schließlich, als hätte jemand anderes auf ihn geschossen, obwohl sie ihn doch über die rauchende Mündung ihrer eigenen Waffe hinweg anstarrte.

Von unten waren laute Stimmen zu hören. Die Polizisten hatten endlich das Haus betreten.

Leppos grässliches Grinsen verschwand, seine Augen wurden trübe. Odessa starrte ihn an. Sie konnte nicht glauben, was soeben geschehen war. Da bemerkte sie etwas …

Ein Dunst, wie flirrende Luft bei großer Hitze, löste sich von Leppos verdrehtem Körper. Etwas – eine Präsenz, eine Erscheinung – schwebte wie Sumpfgas im Raum. Sie war völlig farblos, doch … da war wieder der Geruch von Lötpaste, der sich deutlich von dem Korditgestank abhob, der aus dem Lauf ihrer Waffe drang …

Leppo sackte noch weiter in sich zusammen, als hätte etwas seinen Körper im Augenblick des Todes verlassen.

Als die Polizisten aus Montclair den Raum stürmten, fanden sie dort eine auf dem Boden sitzende junge Frau vor, die die Arme um ein schluchzendes, zitterndes, neunjähriges Mädchen mit einer tiefen Messerwunde in der Schulter gelegt hatte. Ein Mann mittleren Alters, der offenbar mit zwei Schüssen getötet worden war, lag zwischen Bett und Nachttisch. Die junge Frau nahm einen Arm von dem zappelnden, heulenden Mädchen und zeigte den bewaffneten Beamten ihren FBI-Dienstausweis.

»Agent angeschossen«, presste sie zwischen hektischen Atemzügen hervor. »Agent angeschossen …«