Das Blut - Guillermo del Toro - E-Book

Das Blut E-Book

Guillermo del Toro

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Beschreibung

Die Zukunft der Menschheit steht auf dem Spiel

New York. Eine geheimnisvolle Seuche verwandelt die Bewohner der Stadt einen nach dem anderen in Vampire. Eine kleine Gruppe von Menschen stellt sich ihnen entgegen, doch der Kampf scheint aussichtslos: Die Seuche droht den gesamten Planeten zu befallen – und damit das Ende der menschlichen Zivilisation einzuläuten.

Nachdem ein mysteriöser Vampirvirus New York befallen hat, droht sich die Seuche nun über das ganze Land, ja die ganze Welt zu verbreiten. Ephraim Goodweather, der Chef des New Yorker Seuchenpräventionsteams, hat es sich zur Aufgabe gemacht, den blutrünstigen Monstern, die die Straßen der Stadt unsicher machen, die Stirn zu bieten. Es gelingt ihm, den Parasiten, der die Infektion hervorruft, zu identifizieren. Doch er kommt zu spät: Zwischen den Vampiren der Alten und der Neuen Welt bricht ein gnadenloser Krieg aus, und beide Seiten schrecken vor nichts zurück, um die Herrschaft über den Planeten zu übernehmen. Der Kampf um die Zukunft der Menschheit hat begonnen ...

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Seitenzahl: 531

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Inhaltsverzeichnis
Widmung
Das Ende der Welt …«
22 TAGE ZUVOR … - GRAUER HIMMEL
Knickerbocker Loans and Curios, East 118th Street, Spanish Harlem
Die Nachtpatrouille
Der Meister
Copyright
Für Lorenza, in Liebe
GDT
Für meine vier Lieblingsmonster
CH
Das Ende der Welt …«
Aus dem Tagebuch von Ephraim Goodweather
Freitag, 26. November
Das Ende der Welt kam nach sechzig Tagen. Und wir tragen die Schuld daran - unsere Versäumnisse, unsere Arroganz.
Als die Krise endlich in Washington wahrgenommen wurde - analysiert, verhandelt und schließlich durch Mehrheitsbeschluss ignoriert wurde -, hatten wir bereits verloren. Die Nacht gehörte ihnen. Und nun ist uns auch noch das Tageslicht entglitten …
Dabei ist nicht viel Zeit vergangen, seit wir unseren »unwiderlegbaren Videobeweis« in die Welt hinausgeschickt haben - aber die Wahrheit wurde in Tausenden höhnischer Gegenbeweise und Parodien ertränkt, die sich im Internet wie ein Sturzbach ausbreiteten. Das Ganze wurde zu einem Witz für die Late Night Shows, wir sind ja alle so schlau, ha ha - bis die Nacht über uns hereinbrach und wir uns einer erbarmungslosen Leere gegenübersahen.
Die erste Reaktion der Öffentlichkeit auf eine Epidemie: Man will sie nicht wahrhaben.
Die zweite Reaktion: Man sucht nach einem Sündenbock.
Um vom eigentlichen Problem abzulenken, werden die üblichen Verdächtigen bemüht: Finanzkrisen, soziale Unruhen, rassistische Übergriffe, Terroranschläge.
Doch letztlich waren wir es. Wir alle. Ohne Ausnahme. Wir ließen es geschehen, weil wir uns nicht im Traum vorstellen konnten, dass es überhaupt geschehen könnte. Wir waren zu clever. Zu fortschrittlich. Zu mächtig.
Jetzt ist die Dunkelheit vollkommen.
Und es gibt keine Wahrheiten mehr, keine unanfechtbaren Tatsachen, keine gemeinsame Wurzel unserer Existenz. Die Grundbausteine der menschlichen Biologie wurden neu sortiert - aber nicht in unserer DNA, sondern in unserem Blut.
Unserem Blut …
Parasiten und Dämonen sind nun überall. Wenn wir sterben, erwartet uns nicht mehr der natürliche Verwesungsprozess, sondern eine so komplexe wie diabolische Verwandlung. Eine Mutation. Eine Veränderung.
Sie haben uns unsere Nachbarn, unsere Freunde, unsere Familien genommen; die Ungeheuer tragen die Gesichter unserer Liebsten. Wir wurden aus unseren Häusern vertrieben, aus dem Paradies verstoßen und irren jetzt durch das öde Land auf der Suche nach einem Wunder. Wir Überlebenden sind verwundet, gebrochen, besiegt.
Aber nicht verwandelt. Wir sind nicht wie sie.
Noch nicht.
Dies ist kein Bericht, keine Chronik der Ereignisse. Sondern ein Klagelied, eine letzte Erinnerung an das Ende der Zivilisation.
Die Dinosaurier hinterließen so gut wie keine Spuren von ihrer Existenz. Nur einige in Bernstein eingeschlossene Knochen. Ihren Mageninhalt. Ihren Kot.
Ich hoffe, dass wir der Nachwelt etwas mehr hinterlassen werden.
22 TAGE ZUVOR …
GRAUER HIMMEL

Knickerbocker Loans and Curios, East 118th Street, Spanish Harlem

Spiegel sind die Überbringer schlechter Nachrichten, dachte Abraham Setrakian. Er stand unter dem grünlichen Schein der Wandlampe und betrachtete sich im Badezimmerspiegel.
Ein alter Mann, der in ein noch älteres Glas starrte.
Die Ränder der Spiegelfläche waren bereits schwarz, und im Laufe der Zeit würde sich die Schmutzschicht immer weiter bis zur Mitte vorarbeiten. Auf sein Spiegelbild zu. Auf ihn zu.
Bald kommt die Stunde deines Todes.
Das war die Nachricht, die ihm der Silberspiegel überbrachte. Setrakian war dem Tod - oder Schlimmerem - schon viele Male nahe gewesen und ihm immer wieder knapp entronnen. Aber diesmal war es anders. Er sah es in seinem Spiegelbild. Das Unvermeidliche …
Und dennoch schöpfte er einen gewissen Trost aus der Wahrheit, die ihm diese alten Spiegel vor Augen führten. Sie waren ehrlich und rein. Dieser hier war ein ganz außergewöhnliches Stück: Jahrhundertwende, schwer und massiv, mit Drähten an der gefliesten Wand befestigt. Insgesamt befanden sich etwa achtzig silberne Spiegel in Setrakians Wohnung. Sie hingen an den Wänden, standen auf dem Boden, lehnten gegen Bücherregale. Sein Drang, sie zu sammeln, war fast zwanghaft. So wie Menschen, die die Wüste durchquert haben, den wahren Wert von Wasser kennen, wusste Setrakian um die Bedeutung von Silberspiegeln, und er konnte nicht anders, als jedes Exemplar zu erwerben, dessen er habhaft werden konnte; besonders, wenn es sich um kleine, tragbare Spiegel handelte.
Silberspiegel besaßen eine uralte, fast vergessene Eigenschaft.
Im Gegensatz zur landläufigen Meinung haben Vampire sehr wohl ein Spiegelbild. Betrachtet man sie in einem am Fließband produzierten, modernen Spiegel, so ist ihre Reflexion nicht von der normaler Menschen zu unterscheiden. In Silberspiegeln jedoch ist ihr Bild unscharf, verwischt. Irgendeine physikalische Eigenschaft von Silber bewirkt es, dass diese virusbefallenen Ungeheuer nur verzerrt gespiegelt werden. Ein Warnsignal. So wie der magische Spiegel bei Schneewittchen können Silberspiegel nicht lügen.
Und so studierte Setrakian eingehend sein Bild in jenem großen, schweren Silberspiegel zwischen dem Porzellanwaschbecken und der Ablage, auf der seine Pulver, Salben, das Mittel gegen die Arthritis und die Arzneien für seine verkrüppelten Hände standen.
Es war unübersehbar, dass seine Kräfte schwanden. Dass sein Körper eben nur ein Körper war, nichts mehr. Alt, schwach, im Verfall begriffen. Es war zweifelhaft, ob er die Anstrengung einer Verwandlung überhaupt überstehen würde. Nicht alle Opfer des Vampirvirus überlebten diese Tortur.
Sein Gesicht. Die tiefen Falten in seinem Gesicht waren wie ein Fingerabdruck, den die Zeit höchstpersönlich hinterlassen hatte. Innerhalb weniger Tage - weniger Nächte - schien er um zwanzig Jahre gealtert zu sein. Seine Augen waren klein, trocken, gelblich wie Elfenbein. Er war totenblass, und das graue Haar lag auf seinem Kopf wie dünnes, silbernes Gras, das ein Sturm umgeweht hatte.
Pick-pick-pick.
Er hörte den Ruf des Todes. Hörte Jusef Sardus Stock vor seinem Haus. Hörte sein Herz schlagen.
Er blickte auf seine verkrüppelten Hände. Wenn er alle Willenskraft aufbrachte, gelang es ihm noch, sein silbernes Schwert zu packen und zu führen - für etwas anderes waren sie kaum mehr zu gebrauchen.
Der Kampf gegen den Meister hatte ihn über die Maßen geschwächt. Der Meister war stärker gewesen, als Setrakian es in Erinnerung gehabt hatte. Er hatte ihn unterschätzt. Sträflich unterschätzt. Das Ungeheuer war direkter Sonneneinstrahlung ausgesetzt gewesen, die UV-Strahlen hätten das Virus in seinem Körper mit einer Kraft wie von zehntausend Silberschwertern attackieren müssen - doch der Meister hatte ihnen standgehalten. Und war geflohen.
Was ist das Leben schon anderes als eine Abfolge von kleinen Siegen und großen Niederlagen? Was gab es da noch zu tun? Sollte er aufgeben?
Nein, Abraham Setrakian würde niemals aufgeben.
In diesem Moment allerdings gab es nur Reue. Hätte er nur dieses getan und jenes gelassen. Hätte er nur das Gebäude gleich in die Luft gesprengt, als er sicher war, dass sich der Meister darin aufhielt. Hätte Eph ihn doch nur seinem Schicksal überlassen und nicht in diesem entscheidenden Moment beschlossen, ihn zu retten. Hätte …
Allein beim Gedanken an diese vertanen Gelegenheiten fing sein Herz an, wie wild zu klopfen. Sein Puls flatterte, ungeduldig wie ein Kind, das am liebsten auf- und davongelaufen wäre.
Pick-pick-pick.
Ein tiefes Summen übertönte seinen Herzschlag.
Setrakian kannte dieses Geräusch nur zu gut. Es war die Ouvertüre zum Untergang, das Geräusch, das man hörte, wenn man auf der Intensivstation aufwachte - gäbe es noch funktionierende Intensivstationen …
Mit tauben Fingern schüttelte der alte Professor eine weiße Tablette aus einer Schachtel. Nitroglyzerin beugte Angina Pectoris vor, indem es die Venen entspannte und weitete, sodass der Blutfluss zu seinem Herzen und damit die Sauerstoffzufuhr gewährleistet blieben. Es war eine sublinguale Tablette, die sich unter seiner trockenen Zunge langsam auflöste.
Sofort spürte er ein angenehmes, prickelndes Gefühl. Und in wenigen Minuten würde das Summen in seinem Herzen verklingen.
Die schnell wirkende Pille verlieh ihm neues Selbstvertrauen. All die Zweifel, all die Schuldzuweisungen, all die Trauer, die er gerade noch gehegt hatte, erschienen ihm plötzlich wie Zeitverschwendung.
Er war zurück im Hier und Jetzt. Manhattan, seine Wahlheimat, stand vor der Vernichtung. Manhattan brauchte seine Hilfe.
Wenige Wochen erst waren vergangen, seit die Boeing 777 der Regis Air auf dem John-F.-Kennedy-Flughafen gelandet war. Seit der Ankunft des Meisters und dem Ausbruch der Seuche. Setrakian hatte es von der ersten Meldung in den Nachrichten an gewusst - so wie man den Tod eines geliebten Menschen ahnt, wenn das Telefon spät in der Nacht klingelt.
Atemlos hatte die ganze Stadt mitverfolgt, was mit dem geheimnisvollen Flugzeug geschah. Nur wenige Minuten, nachdem es sicher gelandet war, hatten sich alle elektronischen Geräte in der Maschine abgeschaltet. Dunkel, wie tot stand es auf der Landebahn. Das Einsatzteam der CDC, des Centers for Disease Control and Prevention, betrat in Schutzanzügen das Flugzeug, nur um Passagiere und Besatzung tot vorzufinden - ausgenommen vier »Überlebende«, deren Zustand jedoch kritisch war. Die Anwesenheit des Meisters verschlimmerte die Symptome ihrer Krankheit. Versteckt in seinem Sarg im Frachtraum der Maschine, war es dem Vampir gelungen, den Atlantik zu überqueren. Und ermöglicht hatten ihm das der Einfluss und das Geld eines todkranken Milliardärs: Eldritch Palmer. Der sterbende Mann hatte beschlossen, nicht zu sterben - und dafür die Herrschaft des Menschen über diesen Planeten geopfert. Nach einer Inkubationszeit von vierundzwanzig Stunden übernahm das Virus die Kontrolle über die »toten« Passagiere, sie erhoben sich von den Seziertischen und verbreiteten die Seuche in den Straßen New Yorks.
Abraham Setrakian begriff die Tragweite, die Bedeutung dieser Epidemie, doch der Rest der Welt verschloss die Augen vor der furchtbaren Wahrheit. Inzwischen hatte auch auf dem Londoner Heathrow Airport eine Maschine kurz nach der Landung einfach abgeschaltet und war auf der Rollbahn stehen geblieben. Genau wie ein Air-France-Jet auf dem Flughafen Orly in der Nähe von Paris. Eine Maschine auf dem Narita International Airport in Tokio. Eine weitere auf dem Franz-Josef-Strauß-Flughafen in München. Ein Flugzeug auf dem für seine strikten Sicherheitsmaßnahmen bekannten Ben-Gurion-Flughafen in Tel Aviv wurde kurz nach der Landung von einer Antiterroreinheit gestürmt - alle 126 Passagiere waren entweder tot oder lagen im Koma. Und trotzdem wurde es versäumt, die Frachtabteile zu durchsuchen oder all diese Maschinen gleich zu vernichten. Alles ging viel zu schnell, und falsche Informationen und schiere Ungläubigkeit taten ihr Übriges.
So ging es weiter. Madrid. Peking. Warschau. Moskau. Brasilia. Auckland. Oslo. Sofia. Stockholm. Reykjavik. Jakarta. Neu-Delhi. In einigen Ländern mit autoritären oder paranoiden Regierungen wurden die Flughäfen vernünftigerweise sofort unter Quarantäne gestellt, aber … Irgendetwas in Setrakian sagte ihm, dass all diese »toten« Flugzeuge rund um die Welt ein Ablenkungsmanöver waren und nicht primär der Verbreitung der Seuche dienten. Nur die Zeit würde erweisen, ob er mit dieser Vermutung Recht hatte - doch Zeit war nun ein sehr knappes Gut.
In nur wenigen Tagen hatten die strigoi der ersten Generation - die Passagiere der Regis-Air-Maschine und die, die ihnen nahestanden - das zweite Stadium der Verwandlung erreicht. Sie gewöhnten sich an ihre Umgebung und ihre neuen Körper. Sie lernten, sich anzupassen. Zu überleben. Sich zu vermehren. Die Angriffe, die sie im Schutz der Nacht durchführten, wurden in den Medien als »Unruhen« bezeichnet, Unruhen, die weite Teile des Stadtgebiets erfasst hatten. Was durchaus der Wahrheit entsprach - auch am helllichten Tag waren Plünderung und Vandalismus längst nichts Außergewöhnliches mehr -, doch niemandem schien aufzufallen, dass die Übergriffe in der Nacht dramatisch zunahmen.
Nachdem in anderen Städten der USA ähnlich chaotische Zustände ausgebrochen waren, fiel die Infrastruktur des Landes langsam, aber sicher in sich zusammen. Die Versorgung mit Nahrungsmitteln funktionierte nur noch eingeschränkt. Die Krankmeldungen häuften sich, und durch die fehlenden Arbeitskräfte konnten Stromausfälle und Engpässe bei der Energieversorgung nicht mehr behoben werden. Es dauerte inzwischen eine Ewigkeit, bis sich Polizei oder Feuerwehr blicken ließen. Dafür nahmen Plünderungen und Brandstiftungen dramatisch zu.
Die Städte versanken im Chaos.
Setrakian starrte in sein Gesicht und wünschte sich sehnlichst, dort den jungen Mann zu erkennen, der er einmal gewesen war. Ja, vielleicht sogar das Kind. Dann dachte er an den kleinen Zachary Goodweather, der im Gästezimmer gleich am Ende des Flurs schlief. Setrakian, der am Ende seines Lebens angekommen war, bedauerte diesen Jungen. Zack war erst elf Jahre alt - und doch war seine Kindheit bereits vorbei. Die Realität hatte ihn mit ihren festen, widerlichen Klauen gepackt. Die Realität in Gestalt einer Kreatur, die einst seine Mutter gewesen war.
Der alte Professor wandte sich vom Badezimmerspiegel ab, schleppte sich zum Küchentisch, setzte sich, legte die Hände auf das Gesicht und wartete, dass der Schwindelanfall vorüberging.
Auf große Tragödien folgt immer Einsamkeit, und nun drohte ihn die Einsamkeit einzuhüllen wie ein Leichentuch. Er trauerte um seine vor langer Zeit verstorbene Frau Miriam. Die Erinnerung an sie - an ihr wahres Ich - war von den Fotografien getrübt, die er von ihr besaß; er hatte sie sich so oft angesehen, dass er nur mehr diese Momentaufnahmen vor Augen hatte, die ihr eigentliches Wesen nicht wirklich wiedergaben. Sie war die Liebe seines Lebens gewesen. Er konnte sich glücklich schätzen, eine so schöne Frau umworben und geheiratet zu haben, auch wenn ihm dies angesichts des Erlebten sehr schwer fiel. Er war der Schönheit begegnet und er war dem Bösen begegnet. Er hatte das Beste und das Furchtbarste des letzten Jahrhunderts erlebt - und überlebt. Nun wurde er Zeuge, wie alles zu Ende ging.
Er dachte an Kelly Goodweather, Ephraims Exfrau. Er hatte sie einmal im Leben und dann einmal im Tod gesehen. Er verstand, was dieser Mann zu erleiden hatte. Er verstand, was die Welt zu erleiden hatte.
Von draußen die Geräusche eines weiteren Autounfalls. Schüsse. Die heulenden Alarmanlagen von Fahrzeugen und Häusern. Schreie, die durch die Nacht hallten und das Ende der Menschheit verkündeten … Auf den nächtlichen Straßen ging es nicht mehr darum, Besitz oder Leben zu verlieren - auf den nächtlichen Straßen ging es darum, die Seele zu verlieren.
Setrakian ließ die Hände sinken. Sein Blick fiel auf einen Katalog, der auf dem Küchentisch lag. Ein Auktionskatalog von Sotheby’s. Die Versteigerung sollte in wenigen Tagen stattfinden. Und das war kein Zufall - ebenso wenig wie die Sonnenfinsternis, die rund um die Welt ausgebrochenen militärischen Konflikte oder die Finanzkrise Zufälle waren. Die Teile fügten sich wie bei einem Puzzle zusammen.
Er blätterte in dem Katalog, fand die Seite, die er suchte. Dort war - ohne Abbildung - ein altes Buch aufgeführt:
Occido Lumen (1667) - Ein vollständiger Bericht über den ersten Ausbruch der Vampirplage sowie die umfassende Widerlegung aller Argumente gegen ihre Existenz. In der Übersetzung von Rabbi Avigdor Levy. Aus Privatbesitz. Durchgehend illustriert, im Originaleinband. Geschätzter Wert: 15 bis 25 Millionen Dollar.
Dieses Buch - und nur dieses Buch allein, jegliche Faksimiles und fotografischen Reproduktionen waren unbrauchbar - war von elementarer Bedeutung, um den Feind, die strigoi, zu verstehen. Und ihn zu vernichten.
Occido Lumen basierte auf einer Sammlung antiker mesopotamischer Keilschrifttafeln in sumerischer Sprache, die im Jahre 1508 in einer Höhle im Zagrosgebirge entdeckt worden waren. Die fragilen Tontafeln wurden an einen reichen Seidenhändler verkauft, der damit durch ganz Europa reiste. In Florenz wurde dieser Händler eines Tages erdrosselt in seinen Geschäftsräumen aufgefunden, nachdem man seine Lagerhäuser in Brand gesteckt hatte, und die Tafeln gingen in den Besitz zweier Schwarzkünstler und Totenbeschwörer über, in den des berühmten John Dee und den eines eher unbekannteren Mannes namens John Silence. Dee war Berater der englischen Königin Elizabeth I. und ein Meister seines Fachs, doch selbst er konnte die Tafeln nicht entziffern. Er fügte sie schließlich seiner Sammlung magischer Artefakte hinzu - bis er 1608 aus Geldnot gezwungen war, sie über seine Tochter Katherine an den gelehrten Rabbi Avigdor Levy aus Metz in Lothringen zu verkaufen. Der Rabbi verbrachte die nächsten Jahrzehnte damit, die Tafeln zu entschlüsseln. Er verfügte über ein für diese Arbeit einzigartiges Talent; es sollte fast drei Jahrhunderte dauern, bis jemand in der Lage war, eine derartige Leistung zu wiederholen. Schließlich machte Avigdor Levy die Ergebnisse seiner Arbeit, zusammengefasst in einem Buch, Louis XIV. zum Geschenk.
Nachdem er den Text studiert hatte, befahl der König die Gefangennahme des alten Rabbi und die Zerstörung der Tontafeln, der Bibliothek und aller heiligen Gegenstände Avigdor Levys. Die Tafeln wurden zerschlagen, und das Buch des Rabbis verstaubte gemeinsam mit etlichen anderen verbotenen Objekten in einem Gewölbe. 1671 jedoch ordnete Madame de Montespan, die Kurtisane des Königs, die eine große Leidenschaft für das Okkulte hegte, im Geheimen die Wiederbeschaffung des Buches an. Es fiel in den Besitz von Catherine Monvoisin, einer Hebamme, die Madame de Montespan als Hofzauberin und enge Vertraute diente, bis die Kurtisane im Zuge der Affaire des Poisons ins Exil gezwungen wurde.
Das Buch verschwand - und tauchte im Laufe der Jahrhunderte immer wieder auf.
1823 befand es sich im Besitz des berüchtigten Londoner Exzentrikers und Gelehrten William Beckford. Es war Teil seiner Bibliothek auf Fonthill Abbey, einem gewaltigen Anwesen im neogotischen Stil, Schauplatz zahlreicher Orgien und Exzesse. Beckford sammelte dort »verbotene« Bücher, Kuriositäten natürlichen und widernatürlichen Ursprungs sowie allerlei skandalöse Kunstobjekte. Das Anwesen samt Sammlung ging jedoch zur Begleichung einer Schuld an einen Waffenhändler, und Avigdor Levys Text blieb wieder fast ein Jahrhundert lang verschollen. 1911 wurde er auf der Liste einer Auktion in Marseille geführt, irrtümlicherweise - oder auch mit Absicht - unter dem Titel Casus Lumen. Das Buch selbst wurde jedoch nie zur Ansicht ausgestellt, und die Auktion fand wegen einer mysteriösen Seuche, die die Stadt befiel, nie statt. Seither war man davon ausgegangen, dass das Occido Lumen vernichtet worden war.
Doch nun befand es sich hier. In New York.
15 bis 25 Millionen Dollar … Wie sollte Setrakian so viel Geld auftreiben? Das war ein Ding der Unmöglichkeit - es musste einen anderen Weg geben, an das Buch zu gelangen.
Seine größte Sorge allerdings - die er mit niemandem teilte - war, dass dieses Spiel, das vor so langer Zeit begonnen hatte, bereits verloren war. Dass der König, der die Menschheit repräsentierte, bereits im Schach stand und nur noch trotzig letzte sinnlose Züge auf dem weltumspannenden Spielbrett ausführte.
Der alte Professor schloss die Augen. Das Summen in seinen Ohren wurde lauter und lauter. Warum taten die Pillen ihre Wirkung nicht?
Und dann begriff er.
Das Summen hatte nichts mit seiner Krankheit, seiner Gebrechlichkeit zu tun. Es war ein durchdringender, tiefer, kaum hörbarer Ton.
Sie waren nicht allein.
Der Junge, dachte Setrakian.
Pick-pick-pick.
Eine Mutter war auf der Suche nach ihrem Kind.
Zack Goodweather saß im Schneidersitz auf dem Dach der Pfandleihe, den Laptop seines Dads aufgeklappt vor sich. Das Dach war der einzige Ort im ganzen Gebäude, wo er Verbindung ins Internet hatte - indem er sich das ungesicherte Heimnetzwerk eines Nachbarn zunutze machte. Das Funksignal war erbärmlich schwach, die Statusanzeige wies lediglich einen bis zwei Balken auf, und so ging seine Internetrecherche nur quälend langsam voran.
Sein Dad hatte ihm verboten, den Computer zu benutzen, und überhaupt sollte er in diesem Moment eigentlich in seinem Schlafsack liegen, aber der Elfjährige hatte auch in normalen Nächten Schwierigkeiten, einzuschlafen - eine leichte Form der Agrypnie, die er seinen Eltern seit geraumer Zeit verheimlichte.
Insomni-Zack! Das war der Name des ersten Superhelden, den er sich ausgedacht hatte. Er hatte sogar einen achtseitigen Comic über ihn gemacht - geschrieben, gezeichnet und getuscht von Zachary Goodweather. Darin ging es um einen Jugendlichen, der nachts durch die Straßen von New York streift, um Terroristen und Umweltverschmutzern und sonstigen bösen Buben das Handwerk zu legen. Den Faltenwurf des Capes, das der Superheld trug, bekam er nie so richtig hin, dafür konnte er ziemlich gut Gesichter zeichnen, und auch die Darstellung der Muskeln war ganz okay.
Ein Insomni-Zack war genau das, was die Stadt jetzt brauchte. Schlaf war ein Luxus, den sich niemand mehr leisten konnte - jedenfalls niemand, der wusste, was Zack wusste, oder gesehen hatte, was er gesehen hatte.
Sein Daunenschlafsack lag im Gästezimmer im zweiten Stock. Der Raum roch so muffig wie einige von den Zimmern im Haus seiner Großeltern, die außer neugierigen Kindern niemand mehr betrat. Offenbar hatte ihn Mr. Setrakian (oder Professor Setrakian - Zack hatte noch nicht so richtig kapiert, ob er nun Professor war oder nicht und was es überhaupt mit der Pfandleihe auf sich hatte) jahrelang als Abstellkammer benutzt. Zwischen schiefen Bücherstapeln standen jede Menge alte Spiegel, eine Garderobe voll eingemotteter Klamotten und einige verschlossene Kisten. Die Schlösser an den Kisten waren wirklich gut - nicht so billige, die man mit einer Büroklammer und einem Kugelschreiber öffnen konnte, was Zack natürlich sofort versucht hatte.
Dieser Kammerjäger, Vasiliy Fet (oder V, wie Zack ihn nennen sollte), hatte ihm eine uralte Acht-Bit-Nintendo-Spielkonsole an einen Sanyo-Fernseher angeschlossen, der noch mit Drehreglern bedient wurde; er hatte die Sachen zwischen dem ganzen Krempel im Erdgeschoss gefunden. Und jetzt erwarteten sie alle von Zack, dass er Ruhe geben und The Legend of Zelda spielen würde. Glücklicherweise hatte sein Zimmer kein Schloss. Nur ans Fenster hatten sein Dad und Vasiliy Eisenstangen montiert, innen statt außen, fest an die Stahlträger in der Mauer geschraubt - die Überbleibsel eines Käfigs, von dem Setrakian behauptete, er habe ihm in den Siebzigerjahren des letzten Jahrhunderts wertvolle Dienste geleistet.
Zack war klar, dass sie ihn nicht einsperren wollten.
Sie wollten sie aussperren.
Er versuchte, das Profil seines Vaters auf der CDC-Homepage anzuklicken, und erhielt die Nachricht: SEITE KANN NICHT ANGEZEIGT WERDEN. Sie hatten ihn also aus den Regierungsseiten herausgelöscht. Auf verschiedenen Nachrichtenseiten, die er nach »Dr. Ephraim Goodweather« durchsuchte, stand, dieser sei ein in Ungnade gefallener CDC-Beamter, der ein Internetvideo fabriziert habe, auf dem »seiner Behauptung nach« die Tötung eines in einen Vampir verwandelten Menschen zu sehen war. Dieses Video habe er ins Internet gestellt (in Wahrheit hatte Zack es für ihn hochgeladen, und trotzdem durfte er es sich nicht ansehen), um die nach der Sonnenfinsternis ausgebrochene Panik für seine eigenen sinisteren Ziele zu missbrauchen.
Die letzte Behauptung war natürlich gequirlte Kacke - Dads einziges »Ziel« war es, Leben zu retten.
Eine andere Website beschrieb Goodweather als einen »bekannten Alkoholiker, der in einem langwierigen Sorgerechtsprozess steckt und sich mittlerweile mit seinem Sohn auf der Flucht befindet«. Als er das las, wurde Zack das Herz schwer. Im selben Text stand, sowohl Goodweathers Exfrau als auch ihr Freund würden derzeit vermisst und seien vermutlich tot.
In den letzten Tagen war Zack vieles auf den Magen geschlagen, aber die Lügen, die dieser Bericht verbreitete, waren ganz besonders schlimm. Kein einziges Wort stimmte. Kannte denn niemand die Wahrheit? Oder … interessierte sich einfach niemand dafür? Es war aber auch möglich, dass hier jemand die Probleme, die seine Eltern hatten, »für seine eigenen sinisteren Ziele« missbrauchen wollte.
Die Kommentare zu den Artikeln waren noch schlimmer. Aber im Moment konnte er sich nicht um diese Flut anonymer Beschimpfungen kümmern, in denen mit selbstgerechter Arroganz über seinen Vater hergezogen wurde. Was Zack beschäftigte, war die schreckliche Wahrheit über seine Mutter - dagegen wirkten die giftigen Kommentare in den Blogs und Foren einfach nur banal.
Wie soll man um jemanden trauern, der gar nicht richtig gestorben ist?
Wie soll man jemanden fürchten, der sich in alle Ewigkeit nach einem sehnt?
Würde die Welt die Wahrheit kennen, so wie Zack sie kannte, dann wäre der Ruf seines Dads im Nu wiederhergestellt und man würde ihm endlich zuhören - doch leider würde sich ansonsten nichts ändern.
Seine Mom, sein ganzes Leben würden nie wieder so sein wie früher.
Zack wusste das - und doch wünschte er sich, dass irgendetwas geschah, was alles wieder ins Lot rückte, die Normalität wiederherstellte. Einmal, als Kind, also mit fünf oder so, hatte er einen Spiegel zerbrochen. Er hatte ihn schnell mit einem Laken bedeckt und sich dann mit aller Kraft gewünscht, dass er wieder heil wäre, bevor seine Eltern die Bescherung bemerkten. Genauso sehr hatte er sich gewünscht, dass sich seine Eltern wieder ineinander verlieben würden, dass sie eines Tages einfach aufwachen und sich eingestehen würden, einen schweren Fehler gemacht zu haben.
Und so hoffte er jetzt in seinem Innersten, dass sein Dad das Unmögliche möglich machen würde. Gegen jeden Widerstand. Zack hielt ein Happy End nach wie vor nicht für ausgeschlossen. Und zwar für alle. Vielleicht sogar für seine Mutter - wenn sie denn wieder so sein würde wie früher.
Tränen stiegen in ihm auf, und dieses Mal kämpfte er nicht dagegen an, schließlich war er allein auf dem Dach. So sehr wollte er seine Mutter wiedersehen! Allein bei dem Gedanken an sie bekam er Angst - und trotzdem sehnte er sich nach ihr. Er wollte in ihre Augen sehen. Wollte ihre Stimme hören. Wollte, dass sie ihm das Problem in ihrer ruhigen Art erklärte, wie sie es immer mit komplizierten Dingen getan hatte. Alles wird wieder gut …
Ein Schrei in der Nacht riss ihn aus seinen Gedanken. Zack blickte nach Norden. Die West Side stand in Flammen, eine dunkle Rauchsäule stieg in die Luft. Er sah zum Himmel, konnte jedoch keinen einzigen Stern und nur wenige Flugzeuge erkennen. Dabei waren heute Nachmittag sogar Kampfjets zu hören gewesen.
Er rieb sich das Gesicht mit der Armbeuge und wandte sich wieder dem Computer zu. Er brauchte nicht lange, um auf dem Desktop den Ordner zu finden, in dem die Videodatei gespeichert war, die er nicht sehen durfte. Ein Mausklick, und …
… er hörte Dads Stimme aus dem Laptop. Und begriff, dass es sein Vater war, der die Kamera hielt - Zacks Kamera, die er sich damals ausgeborgt hatte.
Zuerst war alles dunkel. Sie waren in einem Schuppen oder so. Eines dieser Wesen saß sprungbereit in der Hocke und stieß ein heiseres Grunzen und ein Zischen aus, das aus der Tiefe seiner Kehle zu kommen schien. Dann das Rasseln einer Kette. Die Kamera zoomte näher heran, bis der Mund der Kreatur deutlich zu erkennen war. Ein Mund, der sich weiter öffnete, als es normal war. Ein Mund, in dem etwas zappelte, das wie ein dünner silberner Fisch aussah.
Die Augen des Wesens glänzten und waren weit aufgerissen - Zack hielt diesen Blick erst für einen Ausdruck von Trauer und Wut. Und es hatte offenbar ein Hundehalsband um, an dem die Kette hing; das andere Ende war am Boden befestigt. In der Dunkelheit des Schuppens wirkte der Vampir unnatürlich bleich, ja, seine Haut war so blutleer, dass sie fast zu leuchten schien. Plötzlich wich er vor dem blauen Schein einer Lampe zurück, und der Stachel peitschte wütend aus seinem Mund. Dann, als sich das Licht in seine Muskeln fraß, stieß er einen heiseren Schrei aus. Wie ein krankes Tier, das sich vor Schmerzen windet.
»Genug«, sagte eine Stimme im Video. »Befreien wir ihn von seinem Leid.« Es war die Stimme von Mr. Setrakian, aber sie klang überhaupt nicht so ruhig und freundlich, wie der alte Mann sonst immer mit Zack sprach.
Setrakian trat ins Blickfeld und rezitierte einige Worte in einer fremden, uralt klingenden Sprache - als würde er einen Dämon beschwören oder einen Fluch aussprechen. Dann hob er ein langes, silbernes Schwert ins Mondlicht. Die Kreatur heulte auf, als Setrakian die Klinge mit aller Kraft niedersausen ließ …
In diesem Moment hörte Zack Stimmen, die ihn vom Video ablenkten. Stimmen, die von der Straße zu ihm heraufdrangen. Er klappte den Laptop zu, stand auf und spähte vorsichtig über die Dachbrüstung auf die 118th Street hinunter.
Eine Gruppe von fünf Männern kam langsam auf das Gebäude zu, gefolgt von einem SUV. Sie trugen Waffen - Gewehre - und klopften an jede Tür. Der SUV blieb an der Kreuzung vor der Pfandleihe stehen, und die Männer rüttelten am Sicherheitsgitter des Hauses. »Aufmachen!«, riefen sie.
Zack entfernte sich vom Rand des Daches. Besser, er ging wieder in sein Zimmer, bevor noch jemandem einfiel, nach ihm zu suchen …
Und dann sah er sie. Ein Mädchen im Highschool-Alter, das auf dem Dach eines Nachbargebäudes stand. Nur ein brachliegendes Grundstück trennte sie von der Pfandleihe. Eine sanfte Brise hob ihr Nachthemd und ließ es um ihre Knie flattern. Ihr Haar dagegen bewegte sich nicht, sondern hing schwer und strähnig nach unten.
Sie stand am Dachrand, nur wenige Millimeter vom Abgrund entfernt, doch völlig im Gleichgewicht. Als wollte sie jeden Augenblick losspringen - obwohl sie wissen musste, dass es ein unmöglicher Sprung war, dass sie es niemals schaffen würde.
Zack starrte sie an. War sie ein Mensch?
Er hob die Hand. Winkte ihr zu.
Sie starrte einfach zurück.
Dr. Nora Martinez - wie Ephraim Goodweather ehemalige CDC-Angestellte - öffnete die Vordertür der Pfandleihe. Fünf Männer in Kampfmontur, mit schusssicheren Westen und Sturmgewehren, sahen sie durch das Sicherheitsgitter grimmig an. Zwei von ihnen hielten sich Taschentücher vor den Mund.
»Alles klar bei Ihnen?«, fragte einer der Männer.
»Ja«, erwiderte Nora. Sie suchte die Uniformen nach Abzeichen oder sonstigen Symbolen ab, konnte jedoch nichts erkennen. »Solange das Gitter hält, ist alles in Butter.«
»Wir gehen von Tür zu Tür«, sagte ein anderer Mann. »Sichern die Straßen.« Er deutete Richtung 117th Street. »Da unten gibt’s wohl Ärger. Aber wir glauben, dass sich das Gröbste inzwischen in die Stadt hinein verlagert hat.« In die Stadt hinein, hieß: Harlem.
»Und Sie sind …«
»Besorgte Bürger, nur besorgte Bürger. Sie sollten sich hier nicht ganz allein verschanzen, Ma’am.«
»Sie ist nicht allein«, sagte Vasiliy Fet. Der vom New Yorker Gesundheitsamt bestellte Schädlingsbekämpfer und freiberufliche Kammerjäger baute sich hinter Nora auf.
Die »besorgten Bürger« musterten den großen Mann. »Sind Sie der Inhaber dieses Ladens?«
»Das ist mein Vater«, sagte Vasiliy. »Auf welche Art von Ärger sind Sie denn aus?«
»Wir versuchen, diese Irren in den Griff zu kriegen, die für die Unruhen verantwortlich sind. Und die Mitläufer, die Profit aus der Krise schlagen wollen. Das verschlimmert die Situation zusätzlich.«
»Ihr klingt wie Cops«, sagte Vasiliy.
»Wenn Sie vorhaben, die Stadt zu verlassen«, sagte ein anderer Mann, offensichtlich bemüht, schnell das Thema zu wechseln, »dann sollten Sie so bald wie möglich aufbrechen. Die Brücken und Tunnel sind so gut wie dicht. Hier geht alles den Bach runter.«
»Wollen Sie nicht rauskommen und uns helfen?«, fragte der Erste. »Wir müssen etwas unternehmen.«
»Werd’s mir überlegen«, murmelte Vasiliy.
»Los, weiter!«, rief in diesem Moment der Fahrer des SUV, der mit laufendem Motor auf der Straße stand.
Der Uniformierte warf Nora und Vasiliy einen finsteren Blick zu und sagte: »Viel Glück! Sie werden es brauchen.«
Nora sah den Männern noch für eine Weile nach, dann schloss sie die Tür. »Sie sind weg«, sagte sie.
Ephraim Goodweather, der ihnen zugehört hatte, kam aus dem abgedunkelten Teil des Flurs. »Diese Narren«, brummte er.
»Cops«, sagte Vasiliy. Er beobachtete die Männer durch das Fenster, bis sie um die Ecke verschwunden waren.
»Woher willst du das wissen?«, fragte Nora.
»Das weiß ich eben.«
Nora sah Eph an. »Zum Glück hast du dich nicht blicken lassen.«
Eph nickte. »Wieso trugen sie keine Abzeichen?«
»Wahrscheinlich haben sie beim Feierabendbier die Köpfe zusammengesteckt und beschlossen, dass sie die Stadt nicht vor die Hunde gehen lassen wollen«, sagte Vasiliy. »Ihre Frauen sind bestimmt längst in Jersey, also haben sie hier nichts anderes zu tun, als ein paar Köpfe einzuschlagen. Die Cops denken ja immer, dass ihnen der Laden gehört. Womit sie auch irgendwie Recht haben. Wie bei einer Straßengang - das hier ist ihr Revier, und das verteidigen sie.«
»Wenn man genau darüber nachdenkt, dann gibt es keinen großen Unterschied zwischen ihnen und uns«, bemerkte Eph.
»Außer, dass sie mit Blei schießen und nicht mit Silber.« Nora griff nach Ephs Hand. »Wir hätten sie warnen sollen.«
»Ich habe sie gewarnt. Sie alle. Und deshalb bin ich jetzt auf der Flucht.«
Nora und Eph waren die Ersten gewesen, die das mysteriöse Flugzeug betreten hatten, nachdem das Einsatzkommando die Tür geöffnet und die toten Passagiere entdeckt hatte. Die Tatsache, dass die Körper nicht dem natürlichen Verwesungsprozess unterworfen waren, sowie das geheimnisvolle Verschwinden des sargähnlichen Kastens während der Sonnenfinsternis hatten Eph davon überzeugt, dass es sich hier um eine Epidemie handelte, die nicht mit gewöhnlichen medizinisch-wissenschaftlichen Kriterien erklärt werden konnte. Und diese Überzeugung hatte ihn empfänglich gemacht für die Geschichte des Pfandleihers Abraham Setrakian, der ihm schließlich die schreckliche Wahrheit über die Seuche erzählt hatte. Ephs verzweifelte Bemühungen, der Welt die wahre Natur dieser Krankheit mitzuteilen, hatten zum Bruch mit der CDC geführt. Die Behörde hatte daraufhin versucht, ihn mit einer fingierten Mordanschuldigung zum Schweigen zu bringen. Und seither war er auf der Flucht …
Er sah Vasiliy an. »Ist alles im Wagen?«
»Wir können sofort los.«
Eph drückte Noras Hand. Sie wollte nicht, dass er ging.
»Vasiliy? Ephraim? Nora?« Setrakians Stimme tönte von der Wendeltreppe im hinteren Teil des Hauses.
»Hier unten, Professor«, rief Nora.
»Jemand nähert sich«, sagte der alte Mann.
»Keine Angst, die sind schon wieder weg. Nur ein paar Typen, die auf eigene Faust für Recht und Ordnung sorgen
wollen. Und schwer bewaffnet dazu.«
»Ich spreche nicht von Menschen«, erwiderte Setrakian. »Und ich kann den kleinen Zack nirgends finden.« Die Tür zu Zacks Schlafzimmer flog krachend auf. Der Junge wirbelte herum - und sah seinen Dad kampfbereit hereinplatzen.
»Mann, Dad!«, rief Zack und setzte sich im Schlafsack auf.
Eph sah sich um. »Setrakian hat doch gerade eben hier nach dir geschaut.«
»Äääh …« Zack rieb sich demonstrativ die Augen. »Wahrscheinlich hat er mich hier auf dem Boden einfach übersehen.«
»Ja. Vielleicht.« Eph sah seinem Sohn tief in die Augen. Er glaubte ihm ganz offensichtlich nicht, aber momentan schien er wichtigere Dinge zu tun zu haben, als seinen Sohn beim Lügen zu ertappen. Er durchquerte das Zimmer und überprüfte das vergitterte Fenster. Zack bemerkte, dass er eine Hand hinter dem Rücken hielt und offenbar etwas vor ihm versteckte.
Nun schoss Nora ebenfalls in den Raum und blieb abrupt stehen, als sie Zack sah.
»Was ist denn los?«, fragte Zack und stand auf.
Sein Vater schüttelte den Kopf und lächelte, um ihn zu beruhigen, doch das Lächeln war einen Tick zu schnell auf seinem Gesicht erschienen - ein Lächeln, das sich nicht im Geringsten in seinen Augen widerspiegelte. »Ich wollte nur mal nach dir sehen. Du wartest hier, okay? Ich bin gleich wieder da.« Eph verließ den Raum, wobei er das Ding hinter seinem Rücken weiterhin verborgen hielt.
War es ein Silberschwert?
»Bleib hier«, sagte Nora ebenfalls und schloss die Tür hinter sich.
Wonach hatten sie nur gesucht? Zack hatte einmal gehört, wie seine Mom in einem Streit mit Dad Noras Namen erwähnt hatte. Nun, eigentlich war es kein richtiger Streit gewesen, da sie sich zu diesem Zeitpunkt bereits getrennt hatten, Mom hatte einfach ihrem Ärger Luft gemacht. Außerdem hatte Nora seinen Dad dieses eine Mal geküsst - kurz bevor er mit Mr. Setrakian und Vasiliy losgezogen war. Und bis zur Rückkehr der drei Männer war sie die ganze Zeit über angespannt, irgendwie nicht sie selbst gewesen. Danach hatte sich alles völlig verändert: Zack hatte seinen Dad noch nie so niedergeschlagen erlebt - ein Anblick, den er nie wieder sehen wollte, und wenn er ewig lebte. Und Mr. Setrakian schien krank geworden zu sein. Zack, der Möchtegernspion, hatte ein paar Gesprächsfetzen aufgeschnappt, aber nicht genug, um sich ein richtiges Bild machen zu können.
Es ging um irgendeinen »Meister«.
Es ging um das Sonnenlicht, das es nicht geschafft hatte, »ihn zu vernichten«.
Es ging um »das Ende der Welt«.
Zack stand allein in seinem Schlafzimmer und versuchte, sich einen Reim auf diese mysteriösen Dinge zu machen, als er plötzlich eine Bewegung in einigen der Spiegel bemerkte, die an der Wand hingen. Ein vibrierender Fleck; etwas, das er eigentlich deutlich hätte sehen müssen, das auf der Spiegelfläche jedoch verschwommen und verwischt erschien.
Da war etwas am Fenster.
Zack drehte sich um, erst ganz langsam - dann ruckartig.
Sie hing an der Außenwand. Ihr Körper war verkrümmt und verdreht, die Augen, rot und groß, funkelten. Ihr Haar war dünn und bleich und fiel ihr in Büscheln aus. Das Kostüm, das sie an jenem Tag im Schulunterricht getragen hatte - wie lange war das her? -, war an einer Schulter zerrissen und die Haut darunter mit Dreck verschmiert. Die Nackenmuskeln waren angeschwollen und verformt. Blutwürmer schlängelten sich unter Wangen und Stirn.
Mom.
Sie war zu ihm gekommen. Und er hatte gewusst, dass sie kommen würde.
Instinktiv ging er auf sie zu. Dann sah er ihre Miene, die sich von einem Ausdruck des Schmerzes in eine Fratze verwandelte, für die es nur ein Wort gab: dämonisch.
Sie hatte die Eisenstangen bemerkt.
Blitzschnell öffnete sie den Mund - so weit, wie es auch bei dem Ungeheuer in dem Video zu sehen gewesen war -, und ein Stachel schoss aus der Stelle in ihrer Kehle, wo einmal ihre Zunge gewesen war, drang durch die zersplitternde Glasscheibe und zischte durch das Loch auf Zack zu. Der voll ausgefahrene Stachel war fast zwei Meter lang und endete in einer scharfen Spitze, die nur wenige Zentimeter vor seinem Hals zum Stillstand kam.
Zack erstarrte. Seine durch einen plötzlichen Asthmaanfall verkrampften Lungen hinderten ihn daran, Luft zu holen.
Am Ende des fleischigen Fortsatzes zitterte und zuckte die gespaltene Spitze. Zack blieb wie angewurzelt stehen. Nach einigen Sekunden entspannte sich der Stachel, und mit einem fast beiläufigen Nicken ließ Kelly ihn wieder in ihren Mund zurückgleiten. Dann stieß sie ihren Kopf durch das Fenster, wobei der Rest der Scheibe zersprang, und versuchte, sich durch die Eisenstangen zu quetschen. Nur wenige Zentimeter trennten sie von Zacks Kehle - dann würde sie endlich ihr geliebtes Kind heimholen …
Zack war von ihren Augen wie hypnotisiert. Sie waren rot und hatten in der Mitte schwarze Punkte. Verzweifelt suchte er darin nach irgendetwas, das ihn an seine Mom erinnerte.
War sie tot, wie sein Vater gesagt hatte? Oder lebte sie noch?
War sie für immer verschwunden? Oder war sie hier - genau hier, bei ihm, in diesem Zimmer?
Gehörte sie noch zu ihm? Oder gehörte sie zu jemand anderem?
Kelly rammte ihren Kopf gegen die Eisenstangen. Ihre Haut platzte auf, die Knochen knackten. Wie eine Schlange, die sich in einen Hasenbau zwängt, versuchte sie mit aller Macht, die Distanz zwischen sich und der Kehle des Jungen zu verringern. Wieder klappte ihr Kiefer auf, die glühenden Augen fixierten Zacks Hals direkt über dem Adamsapfel …
Und dann stürmte Eph erneut ins Zimmer. Sah, wie Zack dastand und Kelly anstarrte. Sah, wie der Vampir seinen Kopf durch die Eisenstangen quetschte, kurz davor, den Stachel auszufahren.
»Nein!«, schrie Eph, zog ein Schwert mit silberner Klinge hinter seinem Rücken hervor und sprang vor seinen Sohn.
Nun war auch Nora wieder da, schaltete eine Lumalampe ein, und das grelle UV-C-Licht leuchtete auf. Der Anblick von Kelly Goodweather, diesem verwandelten Menschen, dieser Monster-Mutter, widerte sie an. Trotzdem ging sie mit dem virustötenden Licht in der Hand auf sie zu.
Eph bewegte sich ebenfalls auf Kelly und ihren grässlichen Stachel zu. Die Augen des Vampirs sprühten vor Zorn.
»Fort mit dir!«, brüllte Eph, als hätte er es mit einem wilden Tier zu tun, das auf der Suche nach Futter in sein Haus eingedrungen war. Er richtete das Schwert auf den Vampir.
Kelly warf ihrem Sohn noch einen letzten Blick zu - einen Blick voll schmerzhafter Sehnsucht -, dann brachte sie sich außer Reichweite von Ephs Klinge und kroch über die Außenwand davon.
Nora stellte die Lampe in das Gitter, sodass das tödliche Licht das gesamte Fenster erfasste und Kellys Rückkehr verhinderte.
Eph wandte sich seinem Sohn zu - der nicht länger vor sich hin starrte, sondern die Hände um den Hals gelegt hatte. Sein Brustkorb zuckte. Zunächst hielt es Eph für einen Ausdruck von Verzweiflung, bis er begriff, dass es sich um einen Asthmaanfall handelte. Der Junge hatte sich innerlich verkrampft. Er konnte nicht atmen.
Entsetzt durchsuchte Eph das Zimmer nach Zacks Inhalator. Fand ihn auf dem riesigen alten Fernseher. Drückte Zack das Gerät in die Hand und führte es zu seinem Mund.
Zack atmete ein, und das Medikament weitete seine Lungen. Sofort bekam der Junge wieder Farbe im Gesicht - und dann kippte er um.
Eph versuchte Zack zu stützen, doch der rappelte sich selbst wieder auf und schubste seinen Vater weg. »Mom!«, rief er mit heiserer Stimme und rannte auf das zerbrochene Fenster zu.
Kelly setzte ihre Flucht über die Backsteinmauer fort. Mit den Krallen, zu denen sich ihre Mittelfinger entwickelten, konnte sie sich wie eine Spinne an der Fassade festklammern. Und die Wut verlieh ihr zusätzliche Kraft. Mit all der Leidenschaft einer Mutter, deren Kind in höchster Not nach ihr ruft, spürte sie die Nähe ihres Sohnes. Seine Trauer - seine menschliche Trauer - wirkte wie ein Leuchtfeuer für sie; seine Sehnsucht nach ihr verstärkte ihr bedingungsloses Verlangen nach ihm.
Als ihre Augen Zachary Goodweather erblickt hatten, hatte sie weder einen kleinen Jungen noch ihren geliebten Sohn gesehen, sondern einen Teil von sich selbst, jenen Teil, der sich hartnäckig weigerte, seine Menschlichkeit aufzugeben. Blut von ihrem Blut, nur dass es noch menschenrot, nicht vampirweiß war; Blut, das anstatt Nahrung Sauerstoff transportierte. Ein unvollkommener Teil ihrer selbst, der mit Gewalt von ihr ferngehalten wurde.
Sie musste ihn haben. Mehr als alles andere.
Es war keine menschliche Liebe, sondern vampirisches Verlangen. Vampirsehnsucht. Die menschliche Fortpflanzung ist ein schöpferischer, auf Wachstum angelegter Prozess - die vampirische Reproduktion dagegen läuft genau andersherum, das Virus befällt gesunde Organismen, attackiert lebende Zellen, transformiert sie nach seinen eigenen Bedürfnissen.
Menschliche Liebe wird in ihr Gegenteil verkehrt. Aber dieses Gegenteil ist nicht Hass oder Tod. Das Gegenteil von Liebe ist die Infektion. Liebe ermöglicht die Verschmelzung von Samen- und Eizelle, sodass aus der Vereinigung der DNA-Pools ein neues, einzigartiges Lebewesen entsteht; die Infektion dagegen ist die genaue Umkehrung dieses Reproduktionsvorgangs: Eine fremde Substanz befällt eine lebende Zelle und erzeugt Tausende und Abertausende identischer Kopien ihrer selbst. Statt schöpferischem Austausch blinde Zerstörung - eine Perversion, eine Vergewaltigung.
Die Kreatur, die einst Kelly gewesen war, brauchte Zack. Solange er noch menschlich war, war sie unvollkommen.
Nun stand sie am Rand des Daches. Die Zerstörung und das Leid, das die Stadt um sie herum ergriffen hatte, berührten sie in keiner Weise. Sie kannte nur den Durst, das Verlangen nach Blut, seinem Blut.
Gerade wollte sie sich nach einem anderen Zugang zu diesem Steinkasten umsehen, in dem sich ihr Sohn verbarg, als sie knirschende Schritte hörte. Jemand kam über den Kies des Daches auf sie zu.
Es war der alte Jäger. Setrakian. Trotz der Dunkelheit und obwohl sein Körper, dessen Blut sehr langsam floss, nur wenig Wärme abgab, konnte sie ihn genau erkennen. Er hielt ein Silberschwert in der Hand.
Er wirkte klein, geradezu winzig, aber inzwischen kamen ihr alle Menschen klein vor. Winzig und armselig, Wesen, deren erbärmliche Intelligenz ihnen gerade so das Überleben ermöglichte. Die Menschen waren eine niedrigere Stufe der Evolution. Aussortiert. Überholt. Nicht in der Lage, die Botschaft des Meisters zu begreifen.
Der Meister … Er war immer in ihr. In jedem von ihnen. Sie alle waren Teile eines perfekten Ganzen.
Setrakian kam weiter auf sie zu, sein Schwert funkelte grell in ihren Augen, das Schwert, mit dem er ihr den Kopf abschlagen wollte … Und in diesem Moment sprach der Meister in ihr, und als er in ihr sprach, sprach er auch im Kopf des alten Mannes.
Abraham.
Es war der Meister, zweifellos, und doch war es nicht jene Ehrfurcht gebietende Stimme, wie Kelly sie kannte.
Abraham. Nicht.
Es war die Stimme einer Frau. Kelly hatte sie noch nie in ihrem Leben gehört.
Setrakian dagegen erkannte sie. Kelly spürte, wie sich sein Puls beschleunigte.
Ich lebe auch in ihr … Ich lebe in ihr …
Der alte Jäger hielt inne, und Kelly sah sein Zögern, die Schwäche in seinen Augen. Und ergriff ihre Chance. Sie ließ den Kiefer herunterklappen, spannte die Muskeln … Doch plötzlich riss Setrakian das Schwert nach oben, stieß einen Schrei aus und ging auf sie los. Das Funkeln der Silberklinge brannte sich in ihre Augen.
Sie hatte keine Wahl. Sie wirbelte herum, rannte an der Brüstung entlang, sprang und kroch die Wand des gegenüberliegenden Gebäudes hinunter. Auf dem brachliegenden Grundstück neben der Pfandleihe angekommen, warf sie einen letzten, ebenso zornigen wie wehmütigen Blick zurück.
Der alte Mann stand allein auf dem Dach und sah zu ihr hinunter.
Eph ging zu seinem Sohn, griff ihn am Arm und zog ihn außer Reichweite des glühend heißen UV-Lichts der Lampe, die am Fenster stand.
»Lass mich!«, rief Zack.
»Kumpel«, sagte Eph sanft, um ihn zu beruhigen. Um sie beide zu beruhigen. »Partner. Z. Hey!«
»Du wolltest sie umbringen!«
Eph wusste nicht, was er darauf sagen sollte. In gewisser Weise hatte sein Sohn Recht. »Sie … sie ist bereits tot.«
»Für mich nicht!«
»Aber du hast sie doch gesehen, Z.« Eph wollte einer Diskussion über den Stachel in Kellys Mund aus dem Weg gehen. »Du hast sie gesehen. Das ist nicht mehr deine Mom. Es tut mir so leid.«
»Du musst sie nicht umbringen!« Zacks Stimme war noch immer heiser.
»Doch, das muss ich. Das muss ich.« Eph versuchte, Zack in den Arm zu nehmen, doch der Junge wandte sich schroff ab, umklammerte Nora, in diesem Augenblick offenbar die nächstbeste Ersatzmutter, und weinte sich an ihrer Schulter aus.
Nora sah Eph aufmunternd an. Der seufzte lediglich und drehte sich zur Tür, wo Vasiliy Fet stand.
»Gehen wir!«, sagte Eph.

Die Nachtpatrouille

Die fünf Cops außer Dienst marschierten weiter die Straße hinauf, Richtung Marcus Garvey Park, während ihr Sergeant in seinem Privatwagen nebenher fuhr. Sie trugen keine Abzeichen, mussten auf keine Überwachungskameras achten und keine Berichte abliefern. Es gab keine Anhörungen, keine Disziplinarausschüsse, keine Dienstaufsichtsbehörde mehr. Hier ging es nur um das Recht des Stärkeren. Hier ging es darum, Ordnung in das Chaos zu bringen, die Dinge, mit welchen Mitteln auch immer, geregelt zu kriegen.
Das FBI hatte die Angelegenheit als »übertragbare Manie« bezeichnet, als »seucheninduzierte Demenz«.
Was war nur aus den guten alten »Verbrechern« geworden?
Die Regierung plante, die State Troopers einzusetzen. Die Nationalgarde. Die Armee.
Warum ließen sie es nicht erst einmal die einfachen Gesetzeshüter versuchen?
»Hey! Was zum …«
Einer der Männer hielt sich den Arm. Ein tiefer Schnitt war dort zu erkennen, der Stoff des Ärmels war glatt durchtrennt.
Der nächste Stein landete vor ihren Füßen.
»Schmeißen die jetzt mit Steinen?«
Sie beobachteten die Dächer.
»Da!«
Ein großer behauener Quader in Form einer Lilie flog auf sie zu. Sie sprangen nach allen Seiten in Deckung. Der Stein zerbrach auf dem Beton, die Splitter prallten gegen ihre Schienbeine.
»Da drin!«
Zwei von ihnen rannten auf die Tür zu und stürmten ins Haus. Schon war der erste Cop auf der Treppe. Auf dem Absatz des ersten Stocks stand ein Mädchen im Nachthemd.
»Raus hier, Kleine!«, rief der Cop, drängte sich an ihr vorbei und wollte gerade die nächste Treppe in Angriff nehmen. Aber dort oben bewegte sich jemand. Da der Cop weder auf einen Haftbefehl warten noch den Einsatz von Gewalt auf den Notfall beschränken musste, forderte er den Kerl pro forma auf, stehen zu bleiben, und eröffnete dann das Feuer. Vier Schüsse, vier Treffer. Der Mann ging zu Boden.
Langsam näherte sich der Cop dem Aufständischen. Es war ein Schwarzer. Grinsend blickte der Cop die Treppe hinunter und rief: »Ich hab einen!«
Der Schwarze setzte sich auf. Dem Cop gelang es gerade noch, einen weiteren Schuss abzufeuern, dann war der Mann schon aufgesprungen, packte ihn, ging auf seinen Hals los. Der Cop wirbelte herum. Sein Gewehr war zwischen ihm und dem Angreifer eingeklemmt. Er spürte, wie das hüfthohe Treppengeländer in seinem Rücken nachgab …
… und dann stürzten sie zusammen in die Tiefe und landeten hart auf dem Boden des Erdgeschosses. Der zweite Cop, der am Fuß der Treppe stand, riss sein Gewehr hoch, legte auf den Aufständischen an, der dort auf seinem Kumpel lag und versuchte, ihm in den Hals zu beißen - doch bevor er abdrücken konnte, warf ihn etwas ebenfalls zu Boden.
Das Mädchen im Nachthemd. Sie war vom Treppenabsatz gesprungen und hatte ihn umgerissen. Seine Augen weiteten sich vor Entsetzen, als sie sich rittlings auf ihn setzte und sich an seinem Hals zu schaffen machte.
Ein dritter Cop lief in das Haus, sah, was dort vor sich ging, und schoss auf das Mädchen. Drei Schüsse, die sie gegen die Wand schleuderten. »Fresst Blei!« Der Cop legte auf den anderen Spinner an - aber in diesem Moment tauchte hinter ihm eine Hand auf, und ein langer, krallenartiger Nagel schlitzte seine Kehle auf. Er wirbelte herum und taumelte in die Arme der Kreatur.
Kelly Goodweather, deren Sehnsucht nach ihrem Sohn sich in puren Blutdurst verwandelt hatte, schleifte den Cop mit einer Hand hinter sich her. Zog ihn in die nächstgelegene Wohnung. Schlug die Tür hinter sich zu, damit sie ungestört fressen konnte.

Der Meister

Die Gliedmaßen des Mannes zuckten ein letztes Mal, der letzte Atemhauch, der seinem Mund entwich, duftete süß wie Parfüm, und sein letzter Seufzer beendete die Mahlzeit des Meisters. Der gewaltige Schatten ließ den nackten, toten Körper los, und er fiel neben den vier anderen, die zu Füßen des Meisters lagen, zu Boden.
Sie alle hatten die gleiche Wunde im weichen Fleisch auf der Innenseite des Oberschenkels - der Stachel des Meisters hatte sich direkt in die Hauptschlagader gebohrt. Die weit verbreitete Vorstellung, dass Vampire ihre Opfer am Hals
Die Originalausgabe erscheint unter dem Titel THE FALL bei HarperCollins, New York
Copyright © 2010 by Guillermo Del Toro & Chuck Hogan
Copyright © 2010 der deutschsprachigen Ausgabe und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München in der Verlagsgruppe Random House GmbH Redaktion: René Nibose-Mistral Herstellung: Helga Schörnig Satz: Leingärtner, Nabburg
eISBN 978-3-641-05000-9
www.heyne.de
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