Die Schatten von London - In Aeternum - Maureen Johnson - E-Book

Die Schatten von London - In Aeternum E-Book

Maureen Johnson

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Beschreibung

Rory arbeitet endlich mit den Shades zusammen. Die skrupellose Jane hat jedoch zehn Teenager in ihre Gewalt gebracht, darunter Rorys Mitschülerin Charlotte. Alles deutet auf einen Massenmord hin und einen Fluch, der ganz London in einen Albtraum stürzen wird. Die drei verbliebenen Shades versuchen mit allen Kräften das Unheil abzuwenden, bis Rory herausfindet, dass jemand, dem sie bedingungslos vertraut hat, ein entsetzliches Geheimnis hütet ...

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Foto: © Heather Weston

DIEAUTORIN

Maureen Johnson ist New York Times und USA Today Bestsellerautorin von mehreren YA-Romanen. Sie hat bereits mit John Green und Cassandra Clare an einigen Gemeinschaftsprojekten gearbeitet. Maureen Johnson hat einen Abschluss in Creative Writing an der Columbia University gemacht. Sie wurde bereits für den Edgar Award und den Andre Norton Award nominiert und das Time Magazine hat sie unter die Topleute gewählt, denen man auf Twitter folgen sollte. Die Autorin lebt in New York, ist oft auf Lesereise in Großbritannien, verbringt aber bewiesenermaßen die meiste Zeit auf Twitter.

Von Maureen Johnson ist bei cbt bisher erschienen:

Die Schatten von London (Band 1)

Die Schatten von London – In Memoriam

(Band 2)

The Boy in the Smoke (Stephens Geschichte als eOnly)

Maureen Johnson

Die Schattenvon London

In Aeternum

Aus dem Englischenvon Dagmar Schmitz

Kinder- und Jugendbuchverlag

in der Verlagsgruppe Random House

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1. Auflage

Deutsche Erstausgabe Januar 2016

© 2015 by Maureen Johnson

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

»The Shadow Cabinet«

bei G.P. Putnam’s Sons, a division of Penguin Young Readers Group, New York.

© 2016 für die deutschsprachige Ausgabe by cbt Verlag

in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Aus dem Englischen von Dagmar Schmitz

Lektorat: Kerstin Kipker

Umschlaggestaltung: init | Kommunikationsdesign,

Bad Oeynhausen

unter Verwendung eines Motivs von Corbis (Pete Saloutos, Blend Images), Thinkstock (Nadezda Pyastolova, Simona Dumitru)

MG · Herstellung: kw

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN: 978-3-641-17300-5

www.cbt-buecher.de

Für Zelda

22. Dezember 1973 West-London

In der Hyssop Close Nummer 16 waren den ganzen Tag die Vorhänge nicht aufgezogen worden. Die gesamte Nachbarschaft war sich einig: Seit nach dem Ableben der Smithfield-Wyatts deren Zwillinge das Regiment übernommen hatten, ging es in dem Haus drunter und drüber. Allein schon, was für Leute dort verkehrten: Rockmusiker, Schauspieler und alte, in lange Mäntel gewandete, bärtige Männer, von denen manche Nachbarn argwöhnten, es könnte sich um Dichter handeln. Aber am schlimmsten war die Horde ungepflegt aussehender, grellbunt gekleideter junger Leute mit langen Haaren. Es waren immer dieselben, die zu jeder Tages- und Nachtzeit plaudernd und lachend im Haus ein und aus gingen und ihre Zigarettenstummel in anderer Leute Rosenstöcke schnipsten. (Waren das überhaupt Zigaretten?) Und wer war bloß dieses Mädchen, das jetzt dort wohnte – mal abgesehen davon, dass sie nichts Gutes im Schilde führen konnte? Allein schon, wie sie herumlief mit ihren kurzen Haaren, die genauso rot leuchteten wie die Londoner Stadtbusse, und den Männeranzügen, die sie ständig anhatte.

Allerdings musste man den Zwillingen zugutehalten, dass sie stets ausgesucht höflich waren und nie irgendwelchen Lärm veranstalteten, sodass es eigentlich keinen Grund gab, die Polizei zu rufen. Schließlich war es kein Verbrechen, den ganzen Tag zwielichtige Gestalten bei sich ein und aus gehen zu lassen und die Vorhänge nicht aufzuziehen. Aber irgendetwas stimmte nicht in der Hyssop Close. Immer wieder kam es dort zu unerklärlichen Stromausfällen, von denen die benachbarten Straßen nicht betroffen waren, Fensterscheiben zersprangen aus unerfindlichen Gründen und Katzen nahmen Reißaus.

Vielleicht war es eine Hippie-Kommune, die in Nummer 16 lebte. Oder das Haus war ein Treffpunkt für studentische Unruhestifter – die schossen ja jetzt überall wie Pilze aus dem Boden. In New York machten sich solche Studentengruppen neuerdings sogar in den besseren Wohngegenden breit und bastelten Bomben. Eine dieser Kommunen hatte es tatsächlich geschafft, ein Haus in die Luft zu jagen! Das hatte zumindest in der Zeitung gestanden. Womöglich hatte sich in Nummer 16 eine ganze Horde von Bombenlegern eingenistet!

Auf jeden Fall stimmte etwas nicht in dem Haus, und die Nachbarn behielten es wachsam im Auge und warteten darauf, dass sich die Vorhänge bewegten und ihnen ein Blick ins Innere gewährt wurde …

Dort zündete das Mädchen mit den leuchtend rot gefärbten kurzen Haaren gerade die Kerzen im Wohnzimmer an. Ihr Name war Jane Quaint. Die Horde junger Leute, die von den Nachbarn so argwöhnisch beobachtet wurde, hatte es sich auf den Sofas und dem flauschigen Flokati-Teppich bequem gemacht. Jane drehte mit dem Feuerzeug eine Runde durch den Raum. Sid und Sadie legten großen Wert auf Kerzenlicht, sie konnten gar nicht genug davon kriegen. Das Kerzenlicht entfaltete in diesem Zimmer aber auch eine ganz besondere Wirkung, weil sich sein flackernder Schein in den vielen verglasten Oberflächen der Möbel spiegelte und leuchtende Pfade in das samtige Dunkel schnitt. Funkelndes Licht oder schwarze Schatten – ein Raum der Extreme in einem Haus der Extreme. Irgendein Scherzkeks hatte einmal gesagt, das Haus sehe aus wie ein viktorianisches Bordell auf dem Mars.

Auf ihrem Weg von Kerze zu Kerze ließ Jane den Blick über die Gesichter der anderen wandern: Michael, Domino, Prudence, Dinah, Jonny, Mick, Aileen, Badge, George und Ruth. Jane kannte sie alle gut. Sie waren in Ordnung, und jeder Einzelne von ihnen war etwas Besonderes – auch wenn sie vielleicht nicht unbedingt die Hellsten waren. Jane mochte sie sehr.

»Wo sind Sid und Sadie?«, fragte Dinah.

Dinah war erst fünfzehn und damit die Jüngste. Im Gegensatz zu Janes Haaren war ihr Rotschopf echt und ihr Gesicht von Sommersprossen übersät.

»Sie kommen gleich«, antwortete Jane.

»Was läuft hier heute Abend überhaupt?«

Die Frage kam von Mick – Mick, dem wunderschönen Jungen mit den wunderschönen langen schwarzen Haaren. Alle waren in Mick verliebt und er wusste es. Dass ihm die Herzen so leicht zuflogen, hatte ihn überheblich werden lassen. Er führte sich auf, als wäre er von königlichem Geblüt und würde in Kürze die Krone zum Paradies erben.

»Sid und Sadie kommen runter, sobald sie fertig sind. Sie entscheiden, ob sie euch erzählen, was heute Abend hier läuft, oder nicht. Ihr könnt froh sein, dass ihr überhaupt hier sein dürft.«

Mick warf Jane unter seinen langen Wimpern einen herausfordernden Blick zu und lächelte.

»Wir warten schon seit einer Ewigkeit.«

»Ihr wartet seit einer Stunde. Und jetzt halt die Klappe und rauch noch eine Zigarette.«

»Und wofür sind die da?«

Er zeigte auf eine Anordnung roter Glaskelche auf dem Spiegeltisch.

»Frag nicht. Du erfährst es noch früh genug«, sagte Jane.

»Ach, vergiss es. Gib uns lieber was zu trinken.«

Jane ignorierte ihn, stattdessen fragte sie: »Habt ihr alles genau so gemacht, wie es euch aufgetragen wurde?«

Zustimmendes Gemurmel ging durch den Raum. Sicherheitshalber schaute Jane noch einmal jeden Einzelnen forschend an.

»Spielt es eine Rolle, wie lange wir im Wasser waren?«, fragte Aileen. »Ich meine nur, weil jedes Mal sofort die Bullen angetanzt kommen, wenn man in den Fluss geht. Ich war bloß eine Minute drin, aber ich habe mir das Gesicht und die Hände gewaschen, so, wie du es gesagt hast.«

»Das sollte genügen«, sagte Jane.

»Wahrscheinlich kriegen wir nach dem Bad in der Themse alle Durchfall. Wir, die gesegneten Kinder, werden grummelnde Bäuche haben.« Mick setzte sich auf dem Teppich auf. »Gib uns endlich was zu trinken, Jane.«

»Du bleibst gefälligst nüchtern und wartest, bis Sid und Sadie hier sind.«

»Ich werde mal hinaufgehen und schauen, was sie da oben treiben.«

»Das wirst du schön sein lassen«, erwiderte Jane.

Die anderen verfolgten den kleinen Disput mit staunendem Interesse. Solche Entgleisungen kamen sonst nicht vor. Irgendetwas war heute Abend eindeutig anders. Wenn Sid und Sadie alle zusammenriefen, wurde es meist spannend. Jane wusste das besser als irgendjemand sonst.

Bevor Jane Sid und Sadie kennenlernte, war ihr Leben absolut bedeutungslos gewesen. Sie war ein Niemand, hing in einem Kaff im Norden fest und arbeitete in einem kleinen Laden. Eines Abends wurde sie auf dem Nachhauseweg von einem Mann aus der Nachbarschaft überfallen. Er zerrte sie über ein mondbeschienenes Feld zu einem Teich, schlug sie nieder und ließ sie dann einfach dort liegen, wahrscheinlich in dem Glauben, sie sei tot. Aber Jane war nicht tot. Sie überlebte und besaß seitdem die Gabe, Geister zu sehen. Ihr altes Leben war vorbei. Sie ließ es hinter sich und stieg in einen Bus nach London. Dass sie kein Geld hatte, kümmerte sie nicht weiter. Sie wohnte in besetzten Häusern, ernährte sich von weggeworfenen Lebensmitteln und stöberte in Esoterik-Shops nach okkulten Büchern. Bis an einem Sommertag schließlich sie in den Buchladen kamen, in dem Jane sich gerade aufhielt. Sid trug einen silberfarbenen Anzug, eine rote Krawatte und hatte einen Hut auf, den er so tief ins Gesicht gezogen hatte, dass er ein Auge verdeckte. Sadie erinnerte in ihrem fließenden smaragdgrünen Seidenkleid und den weichen Lederschläppchen an eine Waldnymphe. Sie dufteten nach Jasmin und Patschuli und teuren Zigaretten und sahen aus wie Wesen aus einer anderen, perfekteren Welt. Beim Hereinkommen fiel ihr Blick sofort auf Jane, die in ihrem gestohlenen und inzwischen ziemlich abgerissenen Anzug auf dem Boden fläzte und ein Buch von Aleister Crowley las.

Sadie ging geradewegs auf sie zu und schaute zu ihr hinab. »Ich habe so das Gefühl, dass du eine von uns bist. Geht es dir nicht auch so, Sid?«

Sid schob mit dem Zeigefinger seinen Hut nach hinten und betrachtete Jane aufmerksam.

»Ich denke ja, Schwesterherz«, sagte er und fügte an Jane gewandt hinzu: »Deine Augen sehen mehr als die Normalsterblicher, stimmt’s, Liebes?«

Jane konnte sich nicht erklären, woher sie das wussten. Sehr bald schon sollte ihr klar werden, dass Sid und Sadie Smithfield-Wyatt anders waren als andere. Für Sid und Sadie gehörte jeder, der die Gabe hatte, zur Familie. Man war einer von ihnen undgehörte dadurch automatisch der skurrilen Clique an, mit der sie sich umgaben. Nur Jane hatte von Anfang an eine Sonderstellung eingenommen. Nicht, dass sich ihre Gabe von denen der anderen unterschieden hätte. Was Jane auszeichnete, war ihre Zähigkeit. Die anderen waren durch kleinere Unfälle oder Krankheiten zu ihrer Gabe gekommen, sie war ihnen mehr oder weniger in den Schoß gefallen. Aber Jane hatte auf dem mondbeschienenen Feld um ihr Leben gekämpft. Vermutlich strahlte sie das jetzt aus, es lag wohl in ihrem Blick und ihrer entschlossenen Miene. Die anderen hatten Glück gehabt und überlebt – Jane hingegen hatte sich mit aller Kraft gegen den Tod gewehrt und den Kampf gewonnen.

Sid und Sadie hatten das auf den ersten Blick erkannt. Sie sahen einfach alles.

»Oh ja«, hatte Sid gesagt und Jane die Hand gereicht, um ihr vom Boden aufzuhelfen. »Sie ist etwas Besonderes.«

»Ich mag sie, Sid. Sie ist eine von uns.«

»Ich stimme dir voll und ganz zu, Schwesterherz. Dann ist es also beschlossene Sache. Du wirst mit uns kommen. Die Bücher, die wir besitzen, sind ohnehin viel exquisiter.«

Er machte eine abschätzige Geste, die den gesamten Buchladen und die Leute darin einfasste. Alles an den beiden wirkte richtig und vermittelte Sicherheit, weshalb Jane ohne zu zögern Sids Hand ergriff, ihnen nach draußen folgte, in ihren gelben Jaguar stieg und mit ihnen nach Chelsea fuhr. Eine Woche später zog sie in ihr Haus auf der Hyssop Close und wurde zu ihrer Stellvertreterin. Das war jetzt fünf Jahre her.

Es war in vielerlei Hinsicht alles auf den heutigen Abend hinausgelaufen.

Mick wollte gerade wieder anfangen zu stänkern, als sich wie auf ein geheimes Kommando die Tür zum Wohnzimmer öffnete und Sid und Sadie in den Raum traten. Sie waren Zwillinge, keine eineiigen natürlich, aber ihre Ähnlichkeit war absolut frappierend. Beide waren groß und blond und sehr blass. Sie hatten das gleiche Make-up aufgetragen – silbern glitzernden Puder auf den Wangen und hellen, bis in die Stirn hochgezogenen Lidschatten, der ihre Brauen verschwinden ließ, sodass ihre blauen Augen geisterhaft leuchteten. Der kalten dunklen Jahreszeit zum Trotz waren sie ganz in sommerliches Weiß gekleidet – Sid hatte einen leichten weißen Anzug an, Sadie ein hauchdünnes, fast durchsichtiges langes Kleid, dessen langer Saum über den schweren Teppich streifte. Um den Hals trugen sie identische silberne Anhänger in Form einer Mondsichel.

»Wer ist denn hier so ungeduldig?«, erkundigte sich Sid.

»Der übliche Verdächtige.« Jane deutete auf Mick.

Mick grinste zwar immer noch, grub aber kleinlaut die Fingerspitzen in den Teppich.

»So geht das nicht.« Sid beugte sich zu Mick hinunter und sah ihn an. »Verstehst du?«

»Sorry, Sid«, murmelte Mick zerknirscht. Von seinem angeberischen Getue war keine Spur mehr zu sehen.

»Schon gut. Wir lieben dich trotzdem.« Sid tätschelte Mick den Kopf, dann durchquerten er und seine Schwester den Raum, worauf die anderen, die am Boden saßen, sich beeilten, ihre Beine einzuziehen und ihnen Platz zu machen.

»Was passiert heute Abend?«, fragte Dinah. »Ihr habt gesagt, es wäre was Besonderes?«

»Oh und ob.« Sid ging um sie herum und setzte sich aufs Sofa.

»Es werden ein paar ganz wunderbare Dinge passieren«, ergänzte Sadie und schaute lächelnd zu Jane hinüber. »Wir werden heute das heiligste Mysterium unseres Glaubens zelebrieren. Wenn du bitte so reizend wärst, Jane?«

Jane nahm die rote Kristallkaraffe vom Sideboard und füllte die Glaskelche auf dem Tisch.

»Das ist der Kykeon, der heilige Trank der Mysterien«, erklärte Sadie. »Wir haben ihn genauso zubereitet, wie es vorgeschrieben ist, mit geheiligter Gerste, Minze und Honig.«

»Wir vollziehen heute Abend die Mysterien?«, hauchte Dinah.

»So ist es. Hier.« Sid reichte ihr ein Glas.

Eine Schockwelle schien durch den Raum zu gehen. Jane hatte nichts anderes erwartet. Die Mysterien zu vollziehen, war keine Kleinigkeit.

»Ihr habt uns kein Wort gesagt«, meinte Domino.

»Es ist besser, den Dingen offen und unvoreingenommen zu begegnen«, sagte Sadie. »Was gibt es Schöneres, als überrascht zu werden?«

»Habt ihr gefastet und im heiligen Fluss gebadet, wie wir es euch aufgetragen haben?«, fragte Sid.

Erneut erhob sich zustimmendes Gemurmel, nur lauter diesmal, und auch Micks Stimme war darunter. Sid und Sadie verteilten die gefüllten Kelche, strichen jedem Einzelnen über den Kopf und flüsterten ihm liebevoll etwas zu. Jane füllte die letzten drei Gläser – für sich, Sid und Sadie.

»Wie ihr wisst, ist heute Sonnenwende. Wir begehen sie als Familie und verabschieden gemeinsam die Dunkelheit«, begann Sadie. »In dieser Familie wissen wir alle, dass es keinen Tag ohne die Nacht, kein Leben ohne den Tod und den Tod nicht ohne das Leben gibt. Alles ist ein unendlicher Kreislauf und wir sind ein Teil davon. Heute Nacht wird uns etwas Wunderbares offenbart werden. Erhebt eure Gläser mit uns und trinkt.«

Dreizehn Kelche erhoben sich. Zehn wurden geleert.

»Oh.« Dinah nahm ihr Glas von den Lippen. »Es schmeckt so …«

Bei ihr setzten die Zuckungen zuerst ein. Sie war immerhin die jüngste und kleinste von ihnen. Einen Moment später fingen auch die anderen neun an zu husten und sich an den Hals zu greifen. Jane sah Verwirrung in ihren Blicken aufflackern – und die Erkenntnis, dass der Trank mehr war als nur bitter.

»Es geht ganz schnell«, sagte Sid. »Wehrt euch nicht dagegen, meine Lieben.«

Jane hatte nicht damit gerechnet, dass es so dramatisch sein würde. Sie hatte angenommen, dass sie einfach sanft einschlafen würden. Nicht, dass sie würgen, schreien, um sich schlagen und die Hände in den Teppich krallen würden. Mandelgeruch mischte sich unter den Duft der Kerzen und Räucherstäbchen – und der Gestank von Erbrochenem. George wollte zur Tür kriechen, doch Sadie stellte ihm den Fuß auf den Rücken und er sackte flach auf den Boden. Die Geräusche waren das Schlimmste, also ging Sid zur Musikanlage, setzte die Nadel auf die Schallplatte, die noch auf dem Plattenteller lag, und drehte die Lautstärke auf. Kurz darauf hallte David Bowies neuester Song durch den Raum.

Es dauerte etwa fünf Minuten, ungefähr so lange, wie der Song lief. Mick war der Letzte, der ging, und er war auch derjenige, den Jane im Auge behalten musste. Sie sah sein schönes Gesicht aschfahl werden. Sein selbstgefälliges Grinsen wich panischer Angst, als der hübsche, hochmütige Junge begriff, dass er sterben würde. Und obwohl er immer behauptet hatte, nicht an den Tod zu glauben, sagte sein Gesichtsausdruck etwas anderes. Sie wollte ihn an sich ziehen, ihn festhalten und beruhigen. Ihm sagen, dass alles gut werden würde. Dass es die Sache wert war. Aber sie konnte sich nicht von der Stelle rühren. Erst als Mick einen letzten tapferen Versuch machte, sich zur Tür zu retten, neben der sie stand, sprang sie entsetzt zur Seite. Aber er brach zu ihren Füßen zusammen und blieb reglos liegen.

Der Song war zu Ende. Sid hatte das letzte Stück auf der Platte gewählt, und es ertönte ein statisches Knistern, als die Nadel über die Fläche ohne Rillen rutschte. Jane hörte das leise Klacken des Tonarms, als er sich vom Plattenteller hob und in seine Ausgangsposition zurücksank. Keiner der am Boden Liegenden bewegte sich mehr.

»Das wäre also geschafft«, sagte Sid. »Es hat ein bisschen länger gedauert als gedacht, aber bei den wirklich guten Dingen ist das ja oft so. Lasst uns schnell weitermachen.«

Sadie ging zum Couchtisch und öffnete einen großen schwarzen Kasten, in dem drei Dolche mit sichelförmigen Klingen lagen.

»Ich habe sie aus der Kiste«, erklärte sie, während sie zwei Dolche herausnahm und einen an ihren Bruder weiterreichte. Den dritten hielt sie Jane hin. Jane war unfähig, sich von der Wand zu lösen. Sie hatte gewusst, dass es zehn Tote geben würde, aber in ihrer Vorstellung hatten sie nicht so zusammengekrümmt und mit vor Schmerz entstellten Zügen dagelegen. Einige hatten sich im Todeskampf aneinander festgeklammert und bildeten nun ein grauenvolles Knäuel aus erstarrten Gliedmaßen. Sie hatte nicht damit gerechnet, über Leichen hinwegsteigen zu müssen – vor ein paar Sekunden waren es noch lebendige Menschen gewesen.

»Jane …«, drängte Sadie.

»Entschuldige«, sagte Jane. »Natürlich.«

Sie schüttelte den Kopf, holte tief Luft und trat über Mick hinweg. Seine wunderschönen langen Haare verdeckten einen Großteil seines Gesichts, aber eben nicht völlig. Seine Augen waren blutunterlaufen und weit aufgerissen, sein Mund stand offen, als würde er um Luft ringen, die Lippen waren blau angelaufen. Jane ergriff den dritten Dolch.

Kurz entschlossen fügten sie jedem der Toten einen kleinen Schnitt zu. Das hervorquellende Blut fingen sie in einem sauberen Weinglas auf und ließen es so lange herumgehen, bis sie jedem der zehn ein paar Tropfen entnommen hatten.

»Den Teppich können wir jetzt wohl vergessen.« Sid betrachtete bedauernd den Flokati zu seinen Füßen. »Okay, kommt. Wir dürfen keine Zeit verlieren.«

Sie stiegen die im Dunkeln liegende Treppe zum obersten Zimmer hoch. Es ging zur Straße hinaus und diente als Bibliothek. Der Boden war von Perserteppichen bedeckt, die sich an den Rändern zum Teil überlappten, und an den Wänden hingen Wandteppiche. In jeder Faser und Buchseite hatte sich der Geruch von Räucherstäbchen und Zigarettenrauch festgesetzt. Abgesehen von den Bücherregalen waren sämtliche Möbeloberflächen von einer Patina aus Wachs und Asche bedeckt. Und die Bücher – die kostbaren Werke, die Sid und Sadie mit so viel Mühe und Sorgfalt aus allen Ecken der Welt zusammengetragen hatten – standen liebevoll und gut gehütet in den Regalen. Sie waren sehr empfindlich, bei einigen handelte es sich um handschriftlich angefertigte Kopien und von den meisten gab es nicht einmal ein zweites Exemplar.

Sadie ging ans Fenster und zog, eine sichtbare Staubwolke aufwirbelnd, die Vorhänge auf. Sanft glitzernder Mondschein flutete in den Raum.

»Muss das sein, Darling?«, fragte Sid. Er stand in der Mitte des Raums neben einem runden Tisch, auf dem eine Flasche und ein Metallpokal standen.

»Mondlicht gehört nun mal dazu, auch wenn es nicht zwingend erforderlich ist«, entgegnete Sadie.

»Vermutlich. Aber jetzt können die neugierigen alten Tanten von gegenüber hereinschauen. Du kennst sie doch.«

»Sollen sie ruhig.«

Sid hob das Weinglas mit dem Blut und hielt es gegen das Mondlicht.

»Wie das Blut im Licht funkelt«, flüsterte er.

Sadie lächelte und ging zu ihm hinüber.

»Auf die heilige Demeter.« Sie nahm die Flasche.

»Cheers, Demeter«, sagte Sid grinsend.

»Zeig wenigstens ein bisschen Respekt, Sid.«

»Sie weiß, dass ich sie verehre.«

Sie gossen den Inhalt ihrer jeweiligen Gefäße gleichzeitig in den Pokal. Das Blut floss etwas langsamer als der Gerstensud. Als der Pokal gefüllt war, nahm Sadie einen Dolch mit gebogener Klinge – ähnlich denen im Wohnzimmer – und rührte damit bedächtig die darin enthaltenen Substanzen um. Anschließend säuberte sie die Klinge sorgfältig mit einem weißen Tuch und legte beides auf den Tisch. In Janes Augen hatten Sid und Sadie niemals schöner ausgesehen als genau in diesem Moment, in dem sie sich im Mondlicht über den Pokal beugten. Sie glichen dem Bild einer Tarot-Karte.

»Gut so?«, fragte Sadie.

»Perfekt, Schwesterherz.«

»Bist du bereit?«

»Immer. Das Schlimmste, was uns passieren kann, ist, dass wir uns irren.«

»Wir irren uns nicht.« Aber in Sadies Tonfall schwang der Hauch eines Zweifels mit. Sie zögerte. Jane war wie gelähmt. Sie hatte noch nie einen der Zwillinge zaudern sehen.

»Es spielt ohnehin keine Rolle. Jetzt gibt es kein Zurück mehr«, erwiderte Sid ruhig.

»Wahrscheinlich nicht.«

»Und wenn wir recht haben, wovon ich ausgehe, dann ist es das Risiko wert. Wer nichts riskiert, erreicht auch nichts. Es ist uns weder bestimmt, alt zu werden, noch zu sterben, Schwesterherz.«

Er strich seiner Schwester sanft über die Wange und hob ihr Kinn an. Sie lächelte.

»Du hast recht.«

Und einfach so verflog der Anflug von Zweifel und sie wandten sich Jane zu.

»Danke für alles, Jane«, sagte Sadie. »Wir werden uns bald wiedersehen.«

»Sehr bald schon«, ergänzte Sid.

»Ich weiß«, flüsterte Jane.

Sid und Sadie schauten sich lächelnd an. Ohne den Blick voneinander zu lösen, griff jeder von ihnen nach dem Medaillon, das an der Kette um ihren Hals hing, und öffnete es. Es befand sich jeweils ein kleiner, stumpf wirkender Diamant darin.

»Wir haben unsere Aufgabe erfüllt«, sagte Sadie feierlich.

»Und wir haben in unserer unnachahmlichen Art den Kalathos ersetzt«, erwiderte Sid und deutete auf den Pokal.

Sie legten jeder eine Hand darauf.

»Wie sehe ich aus?«, fragte Sid. »Ich will unbedingt gut aussehen.«

»Du siehst fabelhaft aus«, antwortete Sadie.

»Tja dann«, grinste Sid. »Wie sagte Oscar Wilde noch? ›Entweder die Tapete geht – oder ich.‹«

»Also wirklich, Sid.«

»Warum? Das sind doch ausgezeichnete letzte Worte. Oder fällt dir etwas Besseres ein?«

»Ja«, antwortete Sadie. »Überrasch mich.«

Sadie trank als Erste. Sid nahm ihr den Pokal ab, als sie zuckend zu Boden sank. Er hob ihn an die eigenen Lippen und trank. Sekunden später fiel ihm der Pokal aus der Hand und polterte, die dunkelrote Flüssigkeit verschüttend, erst gegen den Tisch, ehe er auf dem Boden landete. Sie hatten das Gift, das sie zu sich genommen hatten, sehr viel höher dosiert als bei den anderen vorhin, bei ihnen würde es also sehr viel schneller gehen.

Nach Janes Empfinden ging es trotzdem nicht schnell genug.

Sie musste über sie wachen. So lautete ihre Aufgabe. Und diese Aufgabe war erst erfüllt, wenn es vorbei war.

Drei Vermisste

The night is darkening round me

The wild winds coldly blow

But a tyrant spell has bound me

And I cannot, cannot go

– Emily Brontë»Spellbound«

1

Sanftes Morgenlicht erfüllte den Raum, das zarte Taubengrau eines Dezembermorgens. Stephen lag friedlich im Bett – ohne seine Brille. Draußen rauschte der Großstadtverkehr, wie er es in London vermutlich immer tun würde.

»Sind Sie sicher, dass es funktioniert hat, Rory?«, fragte Mr Thorpe.

Wir waren jetzt nur noch zu dritt im Zimmer – Mr Thorpe, Boo und ich. Mr Thorpe war unser Aufpasser vom Nachrichtendienst MI5. Ich wusste kaum etwas über ihn, nur, dass sein jungenhaftes Gesicht in starkem Kontrast zu seinen grauen Haaren stand. Bisher war Stephen immer derjenige gewesen, der mit ihm zu tun hatte. Thorpe kümmerte sich dann um alles. Er verschaffte uns Zugang zu Aufnahmen von Überwachungskameras, sorgte dafür, dass Sicherheitssysteme abgeschaltet, Polizeiberichte abgeändert und uns Türen geöffnet wurden. Aber er hatte weder die Gabe, Geister zu sehen, noch Einfluss auf das, was momentan in diesem Krankenhauszimmer geschah.

Callum war schon gegangen. Er war aus dem Raum gestürmt als ihm aufging, was ich getan hatte. Oder besser gesagt, was ich glaubte, getan zu haben. Es war ja nicht so, als hätte ich eine wohlüberlegte Entscheidung getroffen. Es war einfach keine Zeit gewesen, um das Für und Wider abzuwägen.

Stephen war seit vier Minuten tot.

»Ich weiß, dass er irgendwo ist«, sagte Boo. »Wir müssen nur anfangen zu suchen. Als Erstes noch mal hier im Krankenhaus und danach in den beiden Apartments, also dem alten und dem neuen, meine ich. Und wenn er dort nicht ist, kommen wir hierher zurück und fangen noch einmal von vorn an. Okay?«

Kurz bevor die Geräte abgeschaltet wurden, hatte ich Stephens Hand umklammert und sie nicht mehr losgelassen. Denn wenn meine Theorie stimmte, dann hatte ich als Terminus die Macht, ihn auf diese Weise zurückzuhalten. Ich konnte nicht verhindern, dass er starb, aber ich konnte ihn in einen Geist verwandeln.

Boo tigerte unruhig zwischen Tür und Bett auf und ab. »Jo ist ja auch wieder genau da aufgewacht, wo sie starb. Geister neigen dazu, sich in der Nähe des Ortes aufzuhalten, an dem sie gestorben sind, zwar nicht alle, aber die meisten. Wir sollten hierbleiben. Oder uns zumindest im Krankenhaus umsehen. Was meinst du? Würde er hierher zurückkommen? Vielleicht dauert es nur eine kleine Weile?«

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