Disney Cruella: Hello, wildes Herz! - Maureen Johnson - E-Book

Disney Cruella: Hello, wildes Herz! E-Book

Maureen Johnson

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Beschreibung

Bevor sie zu Cruella de Vil wird, rennt die Teenagerin Estella mit ihren besten Freunden und kleinkriminellen Partnern Horace und Jasper durch die Straßen von London. Als eine zufällige Begegnung Estella in die Welt der jungen, reichen und berühmten Menschen katapultiert, beginnt sie sich zu fragen, ob sie für mehr bestimmt ist. Aber was ist der Preis dafür, mit der schnellen Masse mitzuhalten – und ist es ein Preis, den Estella zu zahlen bereit ist?

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Für Gig. Danke für die Musik. Sie war großartig.

1

ALLES FÜR ALLE UND ÜBERALL

„NA, SOWAS, du schon wieder!“, ertönte eine Stimme.

Die sechzehnjährige Estella drehte sich um. Vor ihr stand einer der Harrods-Sicherheitsleute, ein rotgesichtiger Mann mit dichtem Schnurrbart.

„Wie bitte?“, fragte sie entgeistert. „Nehmen sie Ihre Finger von mir.“

Sie sprach so laut, dass sich mehrere Leute gleichzeitig umdrehten. Ein Tourist hob eine Kamera, also zog der Mann Estella an ihrer Tasche mit sich und führte sie ein paar Meter weiter außer Sichtweite. Der Wachmann wusste genau, was er tat: Das große Londoner Kaufhaus Harrods war kein passender Ort für eine Szene. Schon gar nicht im Hochsommer, wenn es in dem Geschäft von Touristen aus aller Welt nur so wimmelte.

„Die Tasche“, sagte er. „Aufmachen!“

„Nein“, erwiderte sie schnippisch. „Ich beschwere mich bei Ihrem Vorgesetzten!“

„Öffnen Sie die Tasche!“

Estella seufzte.

Sie musste es zugeben: Alles war schiefgelaufen.

Estella war einer Frau in einem pinkfarbenen Kleid gefolgt, die ihr rotes Haar neckisch zu einer wackelnden Hochsteckfrisur drapiert hatte und von Theke zu Theke ging. Sie kaufte Käse, überteuerte Kekse, kandierte Früchte und eingelegte Nüsse. Sie hatten den ganzen Weg bis zur Meeresfrüchtetheke zurückgelegt, wo die Frau den Fischverkäufer mit der Frage löcherte, wie frisch der Fisch sei. Schließlich lautete Harrod’s Motto: „Alles für alle und überall“, dabei hätte es eigentlich heißen müssen: „Alles für alle Reichen überall“. Alles traf durchaus zu. Wer von etwas träumte – und es bezahlen konnte –, der bekam bei Harrods alles.

Satin und Pelze? Ja, klar.

Schuhe, Mäntel und Hüte? Selbstverständlich.

Ein Spielzeugauto? Ein echtes Auto? Ein Flugzeug? Eine Jacht? Alles kein Problem. Einen Sarg? Ein Diadem? Einen Löwen? Einen Goldbarren? Harrods machte es möglich. Aber nirgends nahm das Kaufhaus sein Motto ernster als in seinen riesigen Food Halls mit ihren kilometerlang wirkenden, elegant gefliesten Fußböden. Hier gab es die besten und vielfältigsten Lebensmittel, die England – und die Welt – zu bieten hatte. Hier regierten der unverkennbare Duft der Käsetheke, das Geräusch der Messer, die der Metzger wetzte, und die Süßwarenabteilung, die in allen Farben des Regenbogens schillerte. Mitten in dieser Pracht stand Estella in ihrem grünen Schulrock und Blazer. Ihr rötliches Haar trug sie lang, glatt und mit Pony wie die berühmteste Rothaarige der Hauptstadt, Jane Asher, die glamouröse Freundin von Paul McCartney.

Estella, die versuchte, es sich im Leben so leicht wie möglich zu machen, genoss die Kühle der Meeresfrüchte­theke, die an diesem heißen Freitagnachmittag hoch mit Eis bepackt war, aus dem glasäugige Fische schauten.

„Wie frisch sind Ihre Austern?“, fragte die Frau in Pink den Mann hinter der Theke.

„Äußerst frisch, Madam“, antwortete der Mann. „Heute Morgen frisch geliefert.“

Die Frau starrte auf die klobigen Austernschalen, als wollte sie sie für sich selbst sprechen lassen.

„Sicher?“

„Absolut sicher, Madam.“

Die Frau war in ihr Austern-Verhör vertieft. Ihre Tasche hing locker von ihrer Armbeuge herab, und sie achtete nicht auf Estella, die in ihrer Schuluniform völlig harmlos wirkte. Ihre Brieftasche hatte einen einfachen Verschluss, der sich innerhalb von einer Sekunde öffnen ließ. Solche Geldbörsen waren ein Geschenk für Taschendiebe und Kleinganoven. Der Mann hinter der Meeresfrüchtetheke beachtete Estella nicht, denn sie hatte genauso rotbraunes Haar wie die Frau. Wer sollte Estella denn sonst sein als die Tochter dieser reichen Kundin?

Dieser einfache Trick funktionierte immer.

Estella rückte näher und interessierte sich intensiv für den großen Hummer, der jämmerlich auf dem Eis lag. Nur noch ein paar Zentimeter …

Da tauchten die Touristen auf.

„Hierher! Hier geht’s lang!“ Vom Eingang dröhnte eine Stimme in die Halle:

„Hier entlang, meine Damen und Herren! Passen Sie auf sich auf, kommen Sie durch, kommen Sie durch, ganz genau, hier geht’s weiter.“

Ein Mann, der eine kleine Fahne mit der Aufschrift Swinging London Tours trug, führte eine Gruppe von etwa fünfzig Personen. Die Besucher staunten über die Szenerie. Sie bewunderten die endlos langen Feinkosttheken. Zückten ihre Kameras und knipsten. Die Frau an der Meeres­früchtetheke drehte sich abrupt um. Ihre Handtasche mit ihr. Sie war nun außerhalb von Estellas Reichweite zwischen dem Körper der Frau und dem Glas der Vitrine.

„Ach du meine Güte“, sagte die Frau und betrachtete die Gruppe. „Diese grässlichen Leute. Warum lassen sie die hier rein?“

Es war eine rhetorische Frage, und der Mann hinter der Theke antwortete nicht.

Die Touristen drängten sich in der Halle und beanspruchten den gesamten Raum – und die gesamte Luft. Sie trugen formlose Reisekleidung, grauenhafte Kleider und noch grässlichere Hosen und Hemden.

Estella fiel das auf, denn über so etwas konnte sie einfach nicht hinwegsehen. Sie analysierte immer Schnitt und Nähte jedes Kleidungsstücks, das ihr unter die Augen kam. Ihr Geist stellte rasend schnell Berechnungen zu Outfits an.

Estella designte Mode. Hervorragende Mode. Möglicherweise die beste Mode in ganz London. Nur wusste London das noch nicht.

Einige der Touristen näherten sich der Meeresfrüchte­theke.

„Sehen Sie sich das an!“, staunte einer der Männer mit einem breiten amerikanischen Akzent. „So viel Fisch!“ Die Gruppe murmelte zustimmend, zugleich überrascht und erfreut über die Tatsache, dass es an einer Fischtheke Fisch gab.

„Dann nehme ich jetzt einfach ein paar Dosen geräucherte Austern“, erklärte die rothaarige Frau schnippisch und ging zu den Konserven. Estella seufzte und folgte ihr, weil sie sich langweilte. Warum waren die Rothaarigen, die ihr die beste Tarnung boten, nur immer am wählerischsten und pingeligsten? Mit dem Rotton hatte das bestimmt nichts zu tun.

Als sie der Frau hinterherging, winkte ihr einer der Touristen aus der Gruppe zu. „Miss, könnten Sie bitte ein Foto von mir und meiner Frau machen?“

Estella hätte Nein sagen sollen. Sie war beschäftigt. Sie war seit über zwanzig Minuten ihrer Beute gefolgt, die jetzt zum Greifen nah war. Aber der Mann sah aus, als sei er verzaubert von ihr.

Da war es, das Gegenmittel zu ihrer Langeweile, die Gelegenheit für ihren Auftritt. Liebenswert zu sein. Ihr Plan war gescheitert, und Estella lebte gern im Hier und Jetzt.

„Ah!“, rief sie. „O ja! Na klar!“

„Schau mal, ein Schlips!“, rief die Frau und klatschte aufgeregt in die Hände, als Estella sich neben sie stellte. „Tragen die Mädchen hier Krawatten?“

„In der Schule“, antwortete Estella höflich.

„Wollt ihr ein Foto mit dem englischen Mädchen?“, rief die Frau eifrig ihren Freunden zu. „Millie! Jake! Schaut sie euch an! Sie trägt einen Schlips!“

Estella blieb für einige Minuten still. Sie hatte ihre rothaarige Tarnung verloren, aber eine ganze Horde lauter, frecher amerikanischer Fans gefunden. Sie ging von einem zum nächsten, lächelte, posierte – ein perfektes englisches Teenager-Mädchen.

Dann sah sie plötzlich vom Weitem ein Gesicht. Es sah sich suchend um – es war auf der Suche nach ihr. Das Rotgesicht mit dichtem Schnurrbart war ihr nur allzu bekannt. Die Augen von Red Face fixierten die ihren. Zeit, zu verschwinden.

„Ach ja …“, improvisierte Estella, „meine Mum. Ich habe sie verloren. Ich muss sie suchen.“

„Natürlich.“ Die Gruppe winkte ihr nach. „Einen schönen Tag!“

Estella bahnte sich ihren Weg durch die Menge. Zuerst war sie höflich und sagte in freundlichem Ton „Entschuldigung“, während sie Richtung Tür drängte. Aber dann wurde sie immer energischer, bis sie am Ende gar nicht mehr um Entschuldigung bat und sich einfach durch die Menschen schob. Sie war fast am Ziel – die große schwere Tür war nur noch ein paar Schritte entfernt.

Estella stemmte sich dagegen. Sobald sie es nach draußen geschafft hatte, atmete sie tief die schwüle Londoner Luft ein.

Da zerrte etwas von hinten an ihr. Jemand hielt den Riemen ihrer Tasche fest. Weglaufen konnte sie nicht.

„Machen Sie die Tasche auf.“

Estellas Gesichtsausdruck wechselte von berechtigter Wut zu energischer Abwehr.

„Sie sind nicht zuständig!“, rief sie. Ihr Ton war nun überhaupt nicht mehr weich und vornehm. Jetzt sprach sie die Sprache des unverfälschten, rauen London.

„Der Gehweg unter der Markise ist noch Eigentum von Harrods“, erwiderte das Rotgesicht. „Ich rufe die Polizei, falls Sie es darauf anlegen. Hier sind jede Menge Polizisten in der Nähe. Also …“

Mit der freien Hand holte er eine Pfeife aus seiner Tasche und schob sie zwischen die Lippen.

„Na dann“, sagte Estella und öffnete ihre Tasche. „Hier. Bitte schön.“

Red Face griff in die Tasche und untersuchte den Inhalt. Er fand ein Französischbuch und ein Federmäppchen.

„Innentaschen nach außen kehren.“

„Ich habe Rechte, das wissen Sie“, sagte Estella, leerte aber trotzdem ihre Tasche. Ein kleines zerknittertes Stück Papier fiel heraus. Red Face beugte sich vor und hob es auf.

„Was ist das?“ Er faltete es auseinander.

Ich liebe Bullen stand auf dem Papierschnipsel.

Die Visage des Wachmanns war nun tief gerötet.

„Ich liebe die Polizei.“ Ihr Ton war jetzt wieder pflaumenweich.

„Was haben Sie damit gemacht?“, schnauzte er sie an. „Ich habe Sie gesehen!“

„Was haben Sie gesehen? Sie schmutziger alter Mann, der junge Mädchen wie mich beobachtet.“

„Sie haben der Touristin die Brieftasche gestohlen“, rief er zornig. „Ich habe es ganz genau gesehen.“

„Die Hitze macht Ihnen wohl zu schaffen“, antwortete sie und klimperte mit den Wimpern.

„Verschwinden Sie“, sagte er und wurde noch röter. „Wenn ich Sie noch einmal hier sehe, dann werde ich …“

„In eine Riesenhimbeere verwandelt? Ein Tänzchen machen? Flügel und einen Schnabel bekommen? Sagen Sie es. Was werden Sie dann?“

Red Face hob die Pfeife erneut an seine Lippen. Estella riss sich los, machte einen Schritt rückwärts und lief davon.

„Auf Wiedersehen, Schatz.“ Sie hauchte ihm einen Kuss zu. „Ich werde unsere gemeinsame Zeit nie vergessen.“

Als Estella weg war, näherte sich ein verwirrter Tourist dem Wachmann.

„Machen Sie das mit allen, die den Laden verlassen?“, fragte er. „Ist das die englische Art?“

2

DIE SCHRECKLICHE PARTY

ESTELLA SCHLENDERTE durch die Brompton Road und mischte sich unter eine große Gruppe Schüler, die wie sie gekleidet waren. Smaragdgrüne Schul­uniform, grün-gold gestreifte Krawatten und flache Matrosenmützen. Die meisten hatten in der Hitze ihre Blazer ausgezogen, was Estella nun ebenfalls tat. Wie jedes Mal, wenn sie es geschafft hatte, zu entwischen, durchströmte sie eine entspannte, unbekümmerte Freude. Je knapper es gewesen war, desto größer die Freude.

Ein Doppeldeckerbus mit einer Werbung für das neue Beatles-Album Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band fuhr vorbei. Die Beatles hatten fantastische neue Klamotten – Militäruniformen aus edwardianischer Zeit in Lindgrün, Fuchsia, Stahlblau und Pfirsichrot. Etwas kam ins Rollen in diesem Sommer 1967. London war zum coolsten Ort der Welt geworden. Die Presse sprach über Swinging London. Keine schwerfällige graue Kleidung mehr. Keine düsteren Gesichtsausdrücke oder höfliche Zurückhaltung mehr. Keine Rationierung mehr, keine stille Würde. Es war wie in Der Zauberer von Oz, in dem Moment, in dem sich das schwarz-weiße Kansas plötzlich in die kräftigen, satten eines neuen, unbekannten Lands verwandelt. In London war die Mode, die Musik, die Szene – und die ganze Welt wollte die Show sehen. Daher auch die vielen Touristengruppen.

Das reiche, pralle Leben war nicht zu übersehen. Es zeigte sich überall – in den Farben der Kleidung und der Busse und der Bäume im Park, im Geruch der Erde nach dem Regen, in der Stimmung der Schülergruppe, unter die sich Estella gemischt hatte. Sie gehörte eigentlich nicht zu ihnen, war aber in ihren lärmenden, drängenden Strom hineingeraten, der noch stärker pulsierte als sonst, da das Ende des Schuljahrs alle beflügelte.

Sie hatte fast das Gefühl, die Witze zu verstehen, die sich die anderen erzählten. An so einem Tag wurde niemand abgewiesen. Die Londoner Jugend war eine einzige große, bewegende Kraft, und alles war wunderbar.

Die Schüler gingen zum Hyde Park, wie jeden Tag nach der Schule. Sie wollten sich an The Serpentine entspannen, dem langen Freizeitsee im Park. Hier konnte man Boote mieten und einen so schönen Nachmittag wie diesen wunderbar genießen.

Estella ließ sich ins Gras fallen, nah genug bei den anderen, um das Gefühl zu haben, Teil ihrer Gemeinschaft zu sein.

Ein paar Minuten später tauchten zwei Jungen in ihrem Alter auf, ebenfalls in Schuluniformen, und ließen sich neben Estella nieder. Einer war groß und schlaksig, hatte ein markantes Kinn und braune Locken. Der andere war korpulent und hatte einen rötlichen Teint. Er sah unglaublich selbstzufrieden aus.

„Ich dachte schon, das wäre es gewesen“, sagte Jasper, der größere. „Musstest du wirklich auch noch für Fotos posieren? Bist du ein Popstar?“

„Ich wollte die Touristen nicht enttäuschen“, antwortete sie.

„Das war riskant. Er war dir dicht auf den Fersen.“

„Ich wusste, wo er war, und hatte genug Zeit, zu verschwinden.“

Horace griff sich ihre Schultasche. Für den Kaufhaus­detektiv von Harrods hatte sie leer ausgesehen, aber Horace griff in ein verstecktes Innenfutter und förderte mehrere Dinge zum Vorschein. Er zählte. „Sechs Brief­taschen, eine Uhr, ein paar dieser Reiseschecks – die taugen nichts – und immerhin mindestens fünfzig Pfund.“

„Ach ja, und das …“ Estella griff in den Bund ihres Rocks und holte das schmale Lederportemonnaie hervor. Sie hatte es beim Hinausrennen dem Touristen an der Tür aus der Tasche gezogen. Sie warf es Horace zu, der es sofort durchsuchte.

„Da sind noch dreißig Pfund drin!“, stellte er zufrieden fest.

Jasper streckte sich lang im Gras aus und lächelte in die Sonne hinauf. „Ich liebe die Touristensaison“, sagte er. „Und dieses Jahr wird sie richtig gut. Swinging London für immer!“

„Wenn es so weitergeht, können wir uns vielleicht ein Auto leisten! Stell dir vor, ein Auto!“ Horaces Blick war träumerisch verklärt.

„Was würdest du mit einem Auto machen?“, fragte ­Jasper. „Du kannst nicht fahren.“

„Ich lerne es, und dann fahre ich damit herum.“

„Wahrscheinlich gegen einen Pfosten.“

„Ganz sicher nicht“, protestierte Horace beleidigt. „Ich kann fahren lernen.“

„Bitte sag mir, dass du mir etwas zu essen mitgebracht hast“, mischte sich Estella nun ein.

Horace holte eine Papiertüte mit einem in fettdichtes Papier eingewickelten Sandwich hervor.

„Dosenfleisch und Senf“, sagte er und reichte Estella das Sandwich. „Extraviel Senf, alles voller Pfeffer.“

Sie packte es in Windeseile aus. Sie hatte einen Mordshunger. Estella aß gern scharf und liebte Senf. Sie mochte es, wenn es so scharf war, dass sie fast niesen musste. Und am allermeisten liebte sie Pfeffer. Sie pfefferte alles so stark, dass es andere zum Husten und Würgen gebracht hätte.

Jasper und Horace fabulierten weiter darüber, was sie mit der ganzen Beute machen könnten, die sie in diesem Sommer bestimmt einfahren würden. Was sie alles kaufen könnten. Einen richtigen Fernseher. Neue Schuhe. Estella aß ihr Sandwich und spürte die Sonne auf ihrer Haut. Es war ein guter Tag. Mit Einnahmen wie diesen konnten sie gut leben.

Die Touristensaison war immer gut, aber jetzt, da London zum beliebtesten Ort der Welt avanciert war, würde alles noch besser laufen.

Die Schüler um sie herum amüsierten sich, lachten, unterhielten sich und rempelten sich gegenseitig an. Einer hatte ein tragbares Radio dabei. Gerade lief ein Lied, das der Ansager als Everybody’s Sun von der Gruppe Electric Teacup angekündigt hatte. Electric Teacup. Aus dem Kreischen einiger der Mädchen in Schuluniform schloss Estella, dass die Band oder jedenfalls der Song beliebt war. Der Text war ein bisschen zu kitschig – etwas über Tee und die Sonne, die allen gehörte. Aber die Melodie hatte etwas und regte Estellas Fantasie an. Unter dem fröhlichen Klaviergeklimper lag das Echo einer Orgelstimme – eine tiefere, düsterere Variante der gleichen Melodie. Der Bass wob sich hypnotisch durch das Stück. An der Oberfläche mochte der Song glatt wirken, aber er hatte einen Unterton, etwas Dunkles und Verspieltes – wie ein verschlüsselter Scherz, der nur für jene bestimmt war, die ihn hören wollten.

„Ich liebe dieses Lied“, schwärmte eines der Mädchen. „Sie sind besser als die Stones.“

„Du spinnst ja“, protestierte eine andere.

„Nein, gar nicht. Er hat eine bessere Stimme als Mick Jagger.“

Die Gruppe diskutierte über Bands und ihre Vorzüge, während Estella sie unauffällig beobachtete. Was sie wohl heute Abend machten? Einige würden nach Hause in ihre schönen Häuser gehen. Andere würden über das Wochen­ende wegfahren. Viele von ihnen, so vermutete sie, gingen abends zum Musikhören und Tanzen in einen der vielen Londoner Clubs. Sie wirkten alle so glücklich.

Ein Paar lag nebeneinander im Gras. Der Junge hatte seinen Kopf dem Mädchen zugewandt. Sie flüsterten innig miteinander. Was kümmerte Estella dieses romantische Paar, dessen junge Liebe sicher dem Untergang geweiht war? Und was gingen diese Schüler sie überhaupt an? Schließlich war Estella schon vor langer Zeit schmerzlich klar geworden, dass die Schule – und sämtliche Kinder, die dorthingingen – nichts für sie war.

So hatte eigentlich alles angefangen.

Es war nicht Estellas Schuld. Wirklich nicht. Das meiste, was in ihrem Leben bisher schiefgelaufen war, lag an ihrem Haar – ihrem echten Haar. Es war schwarz auf der einen und weiß auf der anderen Seite. Sie fiel damit auf, aber nicht so, wie sie es gern wollte.

Estella war eine Visionärin. Ein Genie, um ehrlich zu sein. Sie hätte auffallen müssen, weil sie die begabteste, kreativste Schülerin der ganzen Schule gewesen war. Stattdessen war sie ein Sozialfall mit einem Wohl­tätigkeitsstipendium und Haaren wie ein Stinktier.

Es spielte keine Rolle, wie oft ihre Mutter Catherine ihr gesagt hatte, sie habe genauso ein Recht, ihre noble Schule zu besuchen, wie alle anderen Schüler dort. Sobald sie auf diese Schule gekommen war, hatten sie sie schikaniert – die Mobber.

Noch einmal: Es war nicht Estellas Schuld.

Wenn sie sie anspuckten – was sie getan hatten –, musste sie sich doch verteidigen. Wenn sie ihr die Schuld für einen gemeinen Streich gegen eine Lehrerin in die Schuhe schoben – was sie getan hatten –, musste sie doch etwas unternehmen. Wenn sie sie in den Müllcontainer warfen – was sie getan hatten –, musste sie darauf reagieren. Selbst wenn der Aufenthalt im besagten Container Estella ihren Hund und treuesten Begleiter Buddy beschert hatte.

Estella war mit diesen Tyrannen fertiggeworden. Sie hatte ihre Rache sorgfältig geplant, obwohl Catherine sie angefleht hatte, es nicht zu tun. Und ihre Rache war süß gewesen, hatte allerdings auch ihre Schullaufbahn beendet. Zum Glück hatte Estellas Mutter sie aus der Schule geholt, bevor der Rektor sie rauswerfen konnte – etwa fünf Sekunden, bevor sie geflogen wäre, aber darauf kam es an.

Die Wahrheit war, anders als Estella hatte Catherine es kommen sehen. Catherine hatte Estella schon sehr früh das Nähen beigebracht. Anfangs hatte sie Estella noch angeleitet, sich an die Schnittmuster zu halten und entlang der Linien zu schneiden. Aber es hatte sich schnell herausgestellt, dass Estella keinem anderen Muster als ihrem eigenen folgen konnte. Ihre Entwürfe waren besser, einfallsreicher.

Catherine wusste, dass Estella eine größere Bühne brauchte, eine Chance, in der Welt zurechtzukommen. Als Estellas kurze und skandalumwitterte Schulkarriere abrupt endete, war Catherine bereit, sich dem Schicksal zu fügen und die Gelegenheit zu nutzen, das Unvermeidliche am Schopf zu packen. Sie entschloss sich, Estella die Chance zu geben, ihr Talent so zu entfalten, wie sie es verdiente.

Catherine hatte ihre Habseligkeiten in ihr klappriges kleines Auto gepackt und die beiden – plus Buddy – waren nach London gefahren. Estella hatte einen kurzen Anflug von Traurigkeit verspürt, als sie und ihre Mutter ihr kleines Haus zum letzten Mal verließen, aber er verflog schnell, als sie auf die Autobahn fuhren und sie das erste Schild nach London sah.

London. Die Hauptstadt. Der Ort, an dem jede Menge passierte.

Die Zukunft. Etwas brodelte in Estella, eine Aufregung, die so stark war, dass es sich anfühlte, als wirbelte sie sie aus dem Auto bis ganz zu den Wolken hinauf. Sie und ihre Mutter lächelten sich an, beide spürten die Magie dieses Moments – der Regen im Nebel schimmerte silbern, wie verzaubert. Dieser theatralische Nebel würde sich bald auflösen, um Wunderbares zu enthüllen. Alles lag vor ihnen.

Wären sie nur direkt nach London gefahren, wäre alles gut gewesen.

„Ich muss auf dem Weg in die Stadt anhalten“, hatte Catherine gesagt. „Um einen Freund um Hilfe zu bitten, damit wir wieder auf die Beine kommen.“

„Was für einen Freund?“

Darauf antwortete Estellas Mutter ihr nicht. Statt­dessen fuhr sie den Wagen durch mehrere große Tore. Auf ihnen prangte ein seltsames Symbol – ein Familienwappen mit einem dreiköpfigen Dalmatiner, wie der Hund, der die Pforten der Hölle bewacht, nur war dieser Hund schwarz-weiß gefleckt.

Seltsam.

Als sie das Haus sah, zu dem die Auffahrt gehörte, vergaß Estella das merkwürdige Wappen. Es war großartig. Den Anblick des alten Herrenhauses vor dem Nacht­himmel würde sie nie vergessen. Die Umrisse des Hauses sahen wie Zähne aus. Beinahe unwirkliches Licht erleuchtete jedes Fenster von innen. Sie hörte Musik, die aus dem Herrenhaus erklang und die Luft rundum erfüllte. Neben ihnen fuhren weitere Autos vor, die allerdings viel teurer waren als ihres.

Es stiegen die außergewöhnlichsten Menschen aus.

Oder vielleicht die gewöhnlichsten Menschen in der außergewöhnlichsten Kleidung. Estella verstummte trotzdem ehrfürchtig.

Alle waren gekleidet wie am Hof von Ludwig XVI. Die Frauen trugen langhaarige, gepuderte Perücken und unglaublich prächtige, riesige Kleider aus Seide und Pelz. Diese ganzen Farben! Das schockierende Pink mit himmelblauen Streifen. Violett mit Gold. Zartes Blattgrün mit butterweichem Gelb.

„Bleib im Auto“, hatte ihre Mutter ihr befohlen.

Das war das Einzige, was sie tun musste – im Auto bleiben.

Ganz einfach. Und Estella wollte brav sein. Das wollte sie wirklich.

Aber die Motte muss ins Licht fliegen. Die Natur verlangt es so.

Estella musste sich diese Kleider einfach genauer ansehen. Alles in ihr schrie danach, sie aus der Nähe zu betrachten oder wenigstens von ein bisschen näher. Also stieg sie mit Buddy im Schlepptau aus dem Wagen.

Ins Haus zu kommen, war kein Problem. Estella folgte ein paar Dienern und schlüpfte durch die riesige Küche. In der Hektik wurde sie unsichtbar. Zwölfjährige können sich in der Welt der Erwachsenen leicht unsichtbar machen. Sie müssen sich kaum darum bemühen.

Von der Küche aus gelangte sie in den Kern des Hauses, wenn man es überhaupt als Haus bezeichnen konnte. Denn die meisten Häuser hatten keine großen Ballsäle aus glänzendem Marmor mit geschwungenen Treppen. In den meisten Häusern ließen sich keine Modenschauen veranstalten, mit großen Laufstegen, auf denen Models hin- und herstolzierten, um die neuesten Kreationen der Saison vorzuführen. Während Estella das Geschehen mit offenem Mund verfolgte, schwebte eine Frau auf einer Schaukel von der Decke. Sie war schöner gekleidet als alle im Saal und schien auch wichtiger als alle anderen zu sein.

„Auf zum Kuchenessen!“, rief sie und landete sanft auf der Treppe, wo ein Dalmatiner-Trio auf sie wartete.

Es gab wirklich eine riesige Torte, und alle jubelten. Die Szene war so überwältigend, dass Estella eine Weile ihre Mutter vergaß. Sie vergaß auch alles andere in ihrem Leben.

Und genau in diesem Moment ging alles schief.

Buddy war auch nicht schuld daran. Wie hätte er widerstehen können, einem Eichhörnchenfell-Kleid nachzujagen? Solchen Rufen der Natur musste man gehorchen.

Er sprang auf den Laufsteg.

Estella musste ihn wieder einfangen. Vergeblich versuchte sie, ihn zur Vernunft zu bringen. Doch wenn sie ehrlich war, war es sehr lustig gewesen, zu sehen, wie die Models flohen und das Personal hinter ihr herlief. Und wer konnte schon widerstehen, eine so große Torte umzuwerfen?

Es wäre einer der Höhepunkte in ihrem kurzen Leben gewesen, wären nicht im nächsten Augenblick die drei wilden Dalmatiner hinter ihr und Buddy her gewesen. Die beiden rannten aus dem Haus in die Nacht und versteckten sich zwischen den Büschen. Na gut. Vielleicht hätte sie im Auto bleiben sollen.

Dann sah Estella etwas, das keinen Sinn ergab. Ihre Mutter und die Frau von der Schaukel, die wie eine Königin aussah, waren beide draußen und führten eine hitzige Diskussion. Sie standen direkt am Rand einer Klippe. Über ihnen zuckten Blitze.

Die Dalmatiner tauchten wieder auf und rannten über den Rasen. Estella schluckte. Aber sie stürzten an Buddy und Estella vorbei. Hielten zähnefletschend auf Estellas Mutter und die Frau zu. Und das letzte Bild, das Estella von ihrer Mutter im Kopf behielt, war: Die Dalmatiner schossen direkt auf sie zu und Catherines anmutige, geschmeidige Gestalt stürzte die Klippe hinunter.

Irgendeine innere Stimme riet Estella, davonzulaufen. Sie rannte über das Gelände. Buddy war direkt neben ihr. Sie sah Scheinwerfer. Einen Lastwagen, und sie schaffte es zusammen mit Buddy, hinten auf seine Ladefläche zu springen.

Estellas nächste Erinnerungen waren Verkehrsgeräusche gewesen. Sie hatte durch die Plane gespäht und London gesehen.

Der Lastwagen fuhr am Regent’s Park vorbei, einer ­Sehenswürdigkeit, die sie ihrer Mutter in dem Reise­führer gezeigt hatte, den sie im Auto durchgeblättert hatte. Als der Lastwagen an einer roten Ampel hielt, sprangen sie und Buddy ab. Vollkommen erschöpft hatte sie es gerade noch zu einem Springbrunnen geschafft, der sanft plätscherte. Es war so beruhigend. Sie streckte sich neben dem Brunnen aus und schlief sofort ein.

Als sie wieder aufwachte, starrte ihr ein kleiner Hund mit einer Augenklappe ins Gesicht. Dann trat ein großer Junge in Estella Gesichtsfeld. Sie kniff die Augen zu und tat, als schliefe sie noch. Sie spürte, dass der Junge neben ihr stand.

„Morgen“, sagte er.

Estella bewegte sich nicht.

„Also …“, ertönte eine andere Stimme, „was ist mit ihr?“

„Sie beobachtet uns“, antwortete der große Junge. „Aber sie stellt sich schlafend.“

„Verdeckte Ermittlerin?“

„Für eine Polizistin sieht sie zu verängstigt aus.“

Das war zu viel für Estella.

„Ich habe keine Angst“, sagte sie und presste immer noch ihre Augen zu.

„Außerdem“, fügte der Junge hinzu, „scheint sie erst ungefähr zwölf zu sein, also wahrscheinlich zu jung.“

Das war nun wirklich eine Zumutung. Niemand hatte ihr je gesagt, sie hätte Angst, und bisher hatte sich auch noch niemand darüber lustig gemacht, dass sie noch nicht ganz erwachsen war. Estella sprang auf und starrte die beiden Jungen an. Sie freute sich, als sie ihren Gesichtern ansah, dass ihre plötzliche Aktion sie erschrocken hatte.

„Bleibt zurück!“, sagte sie.

Buddy knurrte zu ihrer Verteidigung. Der seltsame einäugige Hund stellte sich vor den Jungen auf.

„Ich trage sie einfach weg“, sagte der zweite Junge.

Er ging auf sie zu. Estella trat ihm sofort in den Bauch. Der erste Junge baute sich vor ihr auf.

„Hör zu, Schätzchen“, sagte er in breitem Londoner Akzent. „Die Bullen kommen hier jeden Tag um acht Uhr morgens vorbei, pünktlich wie ein Uhrwerk. Du solltest mit uns kommen.“

Der zweite Junge, der sich immer noch den Bauch hielt, schaute seinen Freund ungläubig an.

„Auf keinen Fall! Geh zurück zu deiner Familie, kleines Mädchen.“

„Sie hat keine Familie“, sagte der erste Junge.

Sie hat keine Familie. Die Worte hallten in Estellas Kopf wider.

Er hatte recht. Ihre Mutter war weg, verschwunden auf der anderen Seite dieser Klippe. Deshalb war sie hier.

Sie war allein – allein auf der Welt. Sie hatte niemanden außer Buddy, der seinen felligen Körper an ihr Schienbein drückte und ihren Schmerz spürte.

„Woher weißt du das?“, fragte der zweite Junge.

„Das sehe ich ihr an.“

Seine einfühlsame Freundlichkeit war zu viel. Sie würde nicht anfangen zu weinen. Das wollte sie nicht. Sonst würde sie nie wieder aufhören.

In diesem Moment tauchte die Polizei auf.

„Fünf vor acht“, sagte der große Junge. „Wie ungerecht.“ Er wandte sich an Estella. „Du musst weglaufen. Wir müssen alle abhauen. Jetzt sofort!“

In diesem Moment lief Estella zum ersten Mal vor der Polizei weg, aber sicher nicht zum letzten Mal. Die beiden Jungen waren Jasper und Horace.

Das Trio wurde bald unzertrennlich.

Jasper und Horace waren mehr als nur Estellas Freunde – sie waren ihre Familie und füllten, so gut sie konnten, die Lücke, die ihre Mutter in Estellas Leben hinterlassen hatte. Sie waren alles, was sie brauchte.

Mit ihnen war sie zufrieden und glücklich. Sie vermisste niemanden aus ihrem früheren Leben – außer ihrer Mum –. und sie brauchte definitiv niemanden sonst.

So viel war sicher.

„Wenn wir genug einnehmen, können wir uns sogar ein Motorrad kaufen …“, sagte Horace.

Estella blinzelte einmal, dann noch einmal, denn sie hatte das Paar auf der Wiese gedankenverloren angestarrt. Sie küssten sich nicht. Sie redeten. Sehr intensiv. In mancher Hinsicht kam es ihr intimer vor als Küssen. Was sagten sie zueinander? Was sagte man zu jemandem, wenn man sein Gesicht so nah vor sich hatte?

Was war es, was war daran so wichtig, so geheimnisvoll, so …

„Au!“

Ein zusammengeknülltes Stück Papier traf Estella am Hinterkopf.

„Kommst du mit nach Hause?“, fragte Jasper.

Estella schob sich das letzte Stück Sandwich in den Mund. Dann stand sie auf, strich den Schmutz von ihrem Rock und sah das Paar ein letztes Mal verstohlen und mit gesenktem Kopf an. Sie bemerkten es nicht. Ein Monster hätte aus The Serpentine auftauchen können und sie hätten es wahrscheinlich nicht bemerkt.

„Komm jetzt!“, sagte Jasper.

Estella schüttelte das beunruhigende Gefühl ab, das sie plötzlich überfallen hatte. Sie wollte nicht zulassen, dass sie sich darin verlor, andere Leute anzustarren und darüber nachzudenken, was oder wen sie hatten. Oder darüber, was für Entscheidungen sie im Leben getroffen hatte, die sie von ihnen unterschied.

London swingte in diesem Sommer, und Estella wollte daran teilhaben.

3

ROT ODER GELB

IN LONDON gab es viele Welten.

Die strahlend weißen Hochhäuser, die zwei Halbmonde um den Piccadilly Circus bildeten, eine bunte, laute Kreuzung mit greller Werbung für Seife, Make-up und Veranstaltungen.

Die Paläste und Parks voller Enten, Schwäne und in der Sonne sitzender Menschen.

Die gold-roten Backstein-Reihenhäuser von Kensington.

Das verwinkelte, düstere Viertel Soho, in dem sich die Umgebung abrupt in dunkle und schmutzige Ecken und Winkel verwandeln konnte, man wunderbare und schreckliche Dinge sah und dann ebenso abrupt wieder ein klassisches Museum oder eine Straße mit teuren Geschäften auftauchte.

Und dann gab es Orte wie den, wo Estella, Jasper und Horace wohnten und den sie liebevoll als ihren Unterschlupf oder ihre Höhle bezeichneten. Dort hatte es im Krieg vor über zwanzig Jahren Bomben gehagelt und nichts war wiederaufgebaut worden. Sie wohnten in einem Haus, das in Wirklichkeit nur ein halbes war.

Eine Bombe hatte einfach eine ganze Seite weggerissen, und die andere Hälfte war eindrücklich von diesem Mangel gezeichnet. Ein Flickenteppich aus Farbe und Tapeten wies darauf hin, wo früher Zimmer gewesen waren: ein rosa Viereck, ein Stück rosa Flockdruck-Tapete aus Viktorianischer Zeit, chinesisches Blau. Überreste von Treppen, lustige Zickzacklinien, verbanden diese bunten Mosaikstücke.

Kaum jemand wollte in einem halben Haus wohnen, also stand es leer und war dem Verfall preisgegeben. Hausbesetzer, Landstreicher und andere Streuner nahmen es in Besitz. Dazu gehörten Jasper und Horace und mit ihnen auch Estella.

An diesem heißen Sommernachmittag studierten die besagten Herumtreiber ihre auf einem klapprigen Tisch ausgebreitete Beute des Tages. Jeder nahm etwas Geld für sich, und der Rest kam in einen Krug. Uhren und andere Ware wurden aussortiert. Sie würden sie an ein paar sympathische Verkäufer aus ihrem Bekanntenkreis verkaufen.

Jetzt war Zeit zum Entspannen. Jasper ging zum Plattenspieler.

„Was wollt ihr hören? Rolling Stones? Beatles?“

Die Musikauswahl in ihrer Höhle war nicht groß. Meistens hörten sie Radio. Aber sie hatten drei Alben.

„Beatles“, sagte Estella in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete, während sie zu ihrem Nähtisch durch den Raum ging.

„Wir müssen uns ihre neue Platte kaufen, die gerade herausgekommen ist. Wie heißt sie noch mal? Captain Beetroot oder so?“

„Sergeant Pepper.“

„Ja, genau. Die sollten wir uns besorgen. Wir haben ein bisschen Kohle übrig.“

Wink, der einäugige Chihuahua von Jasper und Horace, schlief in einem Korb mit Stoffen neben Estellas Nähmaschine.

„Los, zieh Leine“, befahl sie Wink. Er sollte da nicht reingehen, aber jedes Mal, wenn sie nicht da waren, hielt er dort sein Nickerchen. Wink sprang ohne zu protestieren heraus und ging zu seinem Bett, das ein weiterer Stapel aus Stoffen und alter Kleidung war.

In Estellas Teil des Unterschlupfs war es am vollsten. Ihr Schlafzimmer war nicht der Rede wert. Es bestand aus einem durchgelegenen Bett und einem Nachttisch. Aber an ihrem Arbeitsplatz standen eine kostbare Nähmaschine, riesige Stoffstapel und mehrere Schaufensterpuppen.

Die Geschäfte sortierten sie erstaunlich oft aus. Keiner wollte eine Schaufensterpuppe, deren Kopf nur noch nach hinten schauen konnte, weil jemand ihn zu heftig zur Seite gedreht hatte, oder der ein Arm aus dem Ärmel gerutscht und auf den Boden gefallen war. Sie landeten im Müll, und Leute wie Estella zogen sie heraus.

Ihre wackeligen Schaufensterpuppen stabilisierte sie mit Schnüren und Draht von Kleiderbügeln. So arbeitete die Modedesignerin Mary Quant sicher nicht, aber es erfüllte seinen Zweck. Sie nach Hause zu bringen, war natürlich eine andere Sache. Es musste im Schutz der Dunkelheit geschehen, da es ziemlich verdächtig war, etwas in ein leerstehendes Haus zu schleppen, das aussah wie ein lebloser Körper.

Bevor sie sich setzte, schaute Estella in den Spiegel. „Ich muss mir wieder die Haare stylen“, stellte sie fest.

Sie ging ins Bad und holte ihr rotes Haarfärbemittel unter dem Waschbecken hervor. Estella musste es alle paar Wochen verwenden, damit ihre natürliche, schwarz-weiße Haarfarbe nicht durchschimmerte. Niemand durfte ihr echtes Haar sehen, denn wer es einmal gesehen hatte, vergaß es nicht mehr. Und nicht vergessen zu werden, war für jemanden in ihrer Branche sehr schlecht.

Sie hatte nur sehr kurz überlegt und sich dann entschlossen, ein Rotschopf zu werden. Als Estella das erste Mal in ihr Versteck gekommen war, hatte Horace ihr zwei Tuben mit Farbe angeboten, eine rote und eine gelbe. Sie wählte die rote. Es hatte sie einige Zeit und Mühe gekostet, den Farbton richtig hinzubekommen. Die weiße Seite ihres Kopfs hatte wie ein Bus geleuchtet und die schwarze war ein schlammig trübes Kastanienbraun geworden. Aber Estella gab sich Mühe und arbeitete daran, so wie sie an allem arbeitete. Bald war ihr ein gleichmäßiges intensives Rotblond gelungen, mit dem sie nicht ganz unattraktiv aussah, wie sie selbst zugeben musste.

Estella drückte die Tube mit dem widerlich riechenden Färbemittel in ihr Haar und rieb die Chemikalien von der Wurzel bis zu den Spitzen ein, während sie im Bad ihr Spiegelbild prüfte.

„Und was nehmen wir uns morgen vor?“, fragte Jasper und kletterte mit seiner Gitarre im Schlepptau in die von Balken zu Balken gespannte Hängematte.

„Das British Museum? Das ist am Wochenende perfekt. Schön voll.“

„Aber langweilig“, kommentierte Horace, ohne den Blick von seinem The-Beano-Comic zu lösen. „Nur ein Haufen alter Steine und so.“

„Was denkst du, Stel?“, fragte Jasper.

„Museum geht immer“, meinte sie und stopfte ihr klebriges Haar unter eine Gummikappe. „Aber das Wetter ist so schön. Wir könnten es im Regent’s Park versuchen. Oder im St. James’s Park und uns dann bei der Wach­ablösung zu Pferd die Menschenmenge vor dem Palast vornehmen.“

„O ja, ich mag das Gedränge vor dem Palast“, sagte Jasper. „Horace?“

„Ich bin dafür. Park und Palast. Dann können wir wenigstens ein Eis kaufen.“

Die Haare sicher verpackt, kehrte Estella an ihren Tisch zurück und nähte ein paar neue Verkleidungen mit versteckten Taschen im Innenfutter fertig. Anschließend arbeitete sie an einem neuen Kleid weiter – keine Verkleidung, sondern eines ihrer eigenen Designs.

Es war ein Patchworkstück – kein Quilt, sondern ein Mosaik. Die Idee war ihr gekommen, als sie eines Tages beim Betrachten der Außenwand des Hauses bemerkt hatte, dass das Gebäude sie von Weitem von der Seite an einen Garten erinnerte. Ihr fiel ein, dass sie viele winzige Stoffstücke in verschiedenen Farben und Mustern besaß. Denn egal wie groß oder klein, Estella bewahrte alle Stoffreste auf. Schon in ihrer Kindheit hatte sie aus den Stoffresten, die ihre Mutter, eine Näherin, auf den Boden fallen ließ, eigene Kreationen gebastelt. Sie hatte ihre Schätze auf dem Boden ausgelegt und ein Kleid entworfen, das aussah wie ein Blumenlabyrinth in voller Blüte. Aus der Ferne entstand ein klares Bild, aber je näher man dem Kleid kam, desto detaillierter waren die einzelnen Drucke und Muster zu erkennen.

Ende der Leseprobe