Die Schildkröten - Veza Canetti - E-Book

Die Schildkröten E-Book

Veza Canetti

0,0

Beschreibung

Veza Canettis unveröffentlichter Exil-Roman spielt in Österreich nach dem »Anschluß«: Ehemals friedliche Nachbarn werden plötzlich zu Handlangern des NS-Regimes. Ein schockierender Roman, der die Ängste, die Niedertracht und den Stolz der Menschen zeigt. Das Hauptwerk Veza Canettis, das man als Gegenstück zur Blendung sehen kann.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 342

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Über das Buch

Veza Canettis erst 1999 veröffentlichter Exil-Roman spielt in Österreich nach dem »Anschluss«: Ehemals friedliche Nachbarn werden plötzlich zu Handlangern des NS-Regimes. Ein schockierender Roman, der die Ängste, die Niedertracht und den Stolz der Menschen zeigt. Das Hauptwerk Veza Canettis, das man als Gegenstück zur Blendung sehen kann.

Veza Canetti

Die Schildkröten

Roman

Carl Hanser Verlag

ERSTER TEIL

I. Das Kreuz

Eva, die den Berg hinaufging, hielt den Kopf gesenkt. Sie bohrte den Blick in die Erde, als suche sie auf dem Boden. Sie ging sehr langsam.

Rechts und links von der Allee dehnten sich weite Parks mit üppigen Bäumen in der Sonne. In den Parks lagen die Villen.

Eva atmete den Duft der Rosen ohne Behagen. Sie war erschöpft und blieb einmal stehen.

Im Weitergehen vergaß sie ihr Gesicht in der Luft. Es schien sich nach oben zu sehnen. Es waren neue Züge darin, ein frischer Gram zerschnitt es in harte Streifen, zerschnitt die weichen Schatten. Es mochte ein schönes Gesicht gewesen sein. Als sie es wieder senkte, fiel das schwarze Haar darüber.

Der Weg wurde eben und nun ragten wilde Sträucher aus der Erde. Sie wucherten über ein Gitter und versteckten es. Eva legte die Hand an das Gitter. Müdigkeit lähmte ihren Willen. Sie stand und vermochte nicht, die Türe aufzuschieben. Plötzlich wich das Gitter von selbst ihrer leichten Berührung und öffnete sich weit.

Das überraschende Weichen des Tores enthob sie einer Kraftanstrengung. Sie stand wie von selbst im Garten.

Da erschrak sie heftig. Vom Balkon hing breit und lang eine Fahne, sie schmiegte sich die Mauer entlang bis auf die Erde, die rote Farbe erbarmungslos verbreitend. Sie bebte und loderte im Wind, dehnte sich riesenhaft, und dann auf einmal schrumpfte sie ein.

Jetzt kam ein Mann zum Vorschein, der von der Fahne versteckt auf dem Balkon gestanden war. Er breitete die Arme aus und bot, von der Fahne beschattet, ein düsteres Bild. Denn die Augen steckten wie in hohlen Wangen. Er riß geärgert an dem Zug und zerrte die Fahne in ihre Breite. Wieder erhob sie sich angeschwollen und brutal. Befriedigt sah er jetzt an ihr hinunter, sein Gesicht verdünnte sich noch mehr, als er es senkte. Die Fahne sah aus wie Blut. Wie Blut, das fließt, das sickert, das trocknet und wieder aufgefrischt wird. Er gab ihr einen starken Schwung. Sie fegte in einer lohenden Welle über den Boden.

Eva wollte vorübereilen, doch die Fahne wehte aufgebläht bis zur Rampe hin, schwang sich über die Rampe, verlegte ihr den Weg, sie konnte nicht zurückweichen, sie verfing sich und stürzte nieder.

Wer auf dem Boden liegt, bekennt seine Niederlage ein. Man hat nichts mehr zu tragen, wenn man liegt. Man hat keinen Stolz mehr, man hat auch keine Bürde. Man ist jeder Last enthoben.

Sie richtete die Augen nach oben und sah den Mann lächeln. Es lächelt so der Tod. Er blickte sie an, wiewohl mit hohlen Augen. Sie stand auf, entwand sich der Fahne und eilte ins Haus.

Das Haus hatte eine Halle in matten Farben. Die Wände waren etwas zerbeult, aber peinlich rein. Zwei Säulen trugen den ersten Stock, es sah alles ein bißchen verschlafen und verwunschen aus.

Als wäre sie noch immer von den roten Wogen gejagt, flüchtete Eva in ihre Wohnräume. Leise öffnete sie die Türe zu einem Raum, der von der langen Zimmerreihe abgeschieden an der Südseite lag. Er war wie eine Klause gebaut, die Wände entlang liefen glänzende Bücherreihen. Die Südwand führte zu dem Balkon mit der Fahne.

Der Lesende an dem fein polierten Tisch in der Mitte war in ein Buch vertieft. Dennoch, als die Türe sich in den Angeln drehte, wandte er sich um und lächelte.

Das Lächeln eines Menschen mag viel von seinem Charakter verraten, seine Güte, seine Gedankentiefe, seine Aufgeschlossenheit für alles Leben, oder es mag ihn preisgeben und entlarven. In diesem Falle aber stand nichts dergleichen zu befürchten. Es gibt ein Lächeln, dessen Enthüllung den Beschauer unterwirft.

Eva sammelte sich, als sie sein Lächeln sah, sie schloß rasch die Türe und ging mit leisen Schritten auf den Balkon.

Der Fahnenheld war verschwunden. Er mußte wohl hinuntergeklettert sein. Da stand er nun wirklich im Garten und prüfte befriedigt die Fahne, die jetzt in die Breite gebändigt war und ihm gehorchte. Grausam lächelnd schritt er aus dem Garten, wandte sich noch einmal um und schlotterte endlich den Berg hinunter.

Der Lesende in seinem Bibliothekszimmer schien wieder ganz versunken und konnte den Vorfall nicht wahrgenommen haben. Er versenkte sich wohl mit Absicht in einen fremden Geist.

Wie stellt man es an, dachte sie, daß man es ihm sagt, wie eine gute Nachricht, wie etwas Selbstverständliches und Leichtes. Wie bringt man es zuwege, ihre Sprache so zu verändern, daß sie hier vernommen wird? Die Sprache jener Männer mit einem Totenkopf als Sinnbild ihrer Macht.

Sie trat vom Balkon zurück ins Zimmer und berührte leicht seine Schulter. Sie versuchte zu lächeln, es zerschnitt ihr Gesicht und ließ nur die Schatten zurück. Betroffen stand er auf und führte sie auf den Balkon hinaus. Stumm wies sie auf die Fahne.

»Ist es diese Fahne, die dich erschreckt?«

Ihr Gesicht zeigte jenen Ausdruck, der ihm an ihr gefiel, weil er mit viel Kraft zurückhält, was er so stark zu sagen hätte.

»Dann werde ich dir eine Geschichte erzählen. Von unserem größten Weinbauern unten im Dorf. Er steckt um keinen Preis eine Fahne an sein Haus, also bringen sie eine und schlagen sie selber an seinen Balkon. Den nächsten Tag ist sie freilich verschwunden. Sie schlagen noch eine Fahne an, die ist am dritten Tag zerfetzt, wie mit tausend Scheren zerschnitten. Sie schleppen wieder eine Fahne herbei, diese Fahne bleibt. Sie leuchtet rot, das Volk geht vorüber und lacht, das ganze Dorf defiliert daran vorbei, jeder bringt einen Freund aus dem Nachbardorf, man hat seinen Spaß. Die Fahne ist nämlich über Nacht zusammengeflossen, in eine glatte Fläche. Die Swastika ist verschwunden, sie ist über und über rot und zeigt weder das weiße Feld noch das schwarze Mal.

Eine vierte Fahne wird herbeigeschafft, an allen Seiten fest gespannt, und das schwarze Kreuz wird eingebrannt. Den nächsten Tag ist ein Kreuz da, aber nicht das Hakenkreuz. Ein braunes Marterholz mit dem Heiland hängt in der Mitte, mit Christus, der sich verblutet und mit seinem Blut die Fahne färbt. Seither hat der Weinbauer keine Fahne mehr, aber dafür das Kreuz. Und das Kreuz wird ihm bleiben.«

Er trat zurück in den Arbeitsraum, da rief sie auf einmal und zeigte auf den Balkon:

»Die Fahne ist wieder eingeschrumpft!«

Sie ging ihm nach in das stille Gewölbe, dem die Bücherreihen Weite und Würde gaben. Sie brachte es nicht über die Lippen.

»Unsere Weinbäuerin hat mich heute angesprochen. Sie sagt, der Himmel hätte alles verkündet. Erst war er grellrot, in tiefer Nacht, das war das Vorzeichen. Dann erschien der Komet, und das bedeutet Unglück. Sie betet jetzt, daß nicht auch noch ein Erdbeben kommt, wenn ein Erdbeben kommt, bedeutet es Krieg.«

»Das Erdbeben ist gekommen, Eva.«

Sie sah ihn an wie etwas Verlorenes.Wie etwas, das nur mehr auf Hoffnung gebaut ist. Wie einen, der versucht, auf dem Meer zu gehen. Sie konnte es nicht aussprechen.

»Du hast mir nicht gesagt, Eva, was unten beschlossen wurde.«

Sie hatte das Gefühl, als spräche sie es nur beiläufig, als sähe sie fest und ruhig drein. Sie wußte nicht, daß sie bis in die Lippen erblaßte:

»Du mußt das Land verlassen, Kain.«

Er wandte den Kopf zur Seite und blickte in die Landschaft hinaus. Nur das leise Beben seines Halses verriet ihn. Das waren die Hügelreihen und Wiesen, die zu ihm gehörten, die Bäume oben am Saum, die zum Himmel zeigten. Das war das Haus, wie für ihn entworfen, ein Haus, das den Spießer ärgert und den Künstler entzückt, weil es so lose gebaut ist, verschwenderisch und mit sinnlosen Verstecken. Mit Türmen über dem Dach und unter dem Dach, mit Wendeltreppen selbst in den Zimmern. Der Garten ist so groß wie das ganze Land. Ein lächerlicher Garten. Alles verwildert und wuchert hier. Daß gerade Wildes und Wucherndes schön ist, und gerade das Unkraut, das die Kinder hier unten ausreißen. Sie sind so klein wie Käfer und so groß wie Rüben. Die Venus, die den schwarzen Schatten wirft, lebt, woher hätte sie sonst den Schatten.Wer dich von hier im Schlaf entführt, damit du es nicht weißt, oder auf den Rücken eines Vogels setzt, damit man es verträumt und vor Staunen vergißt, was man verlassen muß. Wer dir einen Aeroplan vors Haus führt und du steigst ein und fährst geradewegs zur glücklichen Insel …

»Man muß das Land verlassen und wird ermattet weichen und nicht im Triumph. Es wird Kämpfe geben und Angst bis in den Tod. Wenn es nur nicht zu lange dauert, damit sich die Gesichter nicht auch verändern.«

Sie blickte rasch weg. Wie kann sie es denn aussprechen, daß sie sich schon verändert haben! Hier wird erlebt, wie die bösen Gefühle sich wecken lassen, wie die Faust sie niederhält oder losläßt, ganz wie die Faust will.

»Was fürchtest du denn heute so sehr, was ist es denn wirklich?« Er bückte sich freundlich zu ihr hinunter.

Es war das Läuten, das sie heftig erschrecken machte. Jedes Läuten hier und immer. Das Läuten an der Türe, nicht die Kirchenglocken. Das Läuten an der Türe.

»Es hat aber nicht geläutet, nicht an der Türe. Die kleine Kirchenuhr hat geschlagen und im Kirchturm hat die Frau des Bäckers die Glocke gezogen. So friedlich geht es zu, hier oben. Gar nicht nach Tod und Gewalt.«

»Der deutsche Offizier macht mir bang, der eben eingezogen ist. Mit dieser blonden Frau. Ich gehe an dieser Frau vorüber und reiche ihr bis zur Schulter. Es drückt mich, ich schleiche vorbei und senke den Kopf. Wie zum Hohn hat er sich diese Frau mitgebracht, diese deutsche Frau, die aussieht wie aus den Wäldern geholt, und an ihren Zöpfen herbeigeschleppt. Mit Gewalt.«

»Ja«, sagt er, »und sie sieht ganz so aus, stolz und wie mit Gewalt geraubt. Und viel zu schön, um Haß zu nähren.«

»Und du kannst glauben, es wird nichts an ihr hängenbleiben? Von den neuen Gesetzen? Du hast dein Latein vergessen, Kain. Es schlagen jeden Tag neue Gesetze auf uns nieder, gegen Menschen mit schwarzen Haaren. Zuletzt wird es sie auch berühren.«

Er blickte sie an, die doch nie Haß wecken konnte. Selbst dieser starke Mensch war unsicher geworden.

»Wenn dir diese Frau gefällt, dein Dürer-Bild, so gefällst du ihr ebenso, das ist immer gegenseitig. Schöne Frauen fallen sich gern um den Hals, eine der anderen.«

»Ihnen sind aber die Ohren voll von den Reden ihrer Führer, wenn sie ihnen folgen, wird bald kein Platz mehr auf dem großen Friedhof sein. Die jüdische Gemeinde muß ein großes Stück dazukaufen …«

»Aber das Volk läßt sich nicht dumm machen.«

»So denkst du«, sagte sie, »so kannst du denken, weil es in dir selbst friedlich aussieht. Weil dich diese Blicke nicht treffen. Weil deine Züge zufällig slawisch sind und deine Augen hell. Aber ich — man haßt mich plötzlich, bis ich mich selbst hasse«, gesteht sie heftig. Sie geht an einer deutschen Frau vorüber und möchte niedersinken und Himmel und Erde anklagen. Man ist schwarz und alles umher ist schwarz. Und wie ein düsterer, unheimlicher Schatten schleicht man sklavisch an den schmerzenden Blicken vorbei.

»Wer wird dich böse ansehen, Eva!«

»Mag sein, daß ich es fühle und nicht beweisen kann. Aber daß ich es fühle! Daß so der Stolz brechen kann! Ich fürchte — die Kinder auf der Straße, die mich mit Steinen bewerfen, das fürcht ich, so töricht es klingt.«

»Aber Eva!« Er streichelte ihr Haar. »Du fürchtest etwas ganz anderes. Hast du es erlebt, hat man es dir angedroht, in einem Brief geschrieben, erzählt, ich weiß es nicht. Wenn du es nur aussprechen könntest, es ist so beklemmend, wenn du es verschweigst!«

»Diesen Mann …«, stammelt sie und erbleicht über ihre eigenen Worte. »Diesen schrecklichen Menschen … der die Fahne über den Balkon gespannt hat … wie ein böses Vorzeichen … jetzt steht er in der Allee … da steht er!«

Angstvoll zeigt sie auf die Allee.

»Wozu aber hinunterschauen! Den Kopf heben und aufblicken! Türme besteigen und ins Land sehen! Du warst schon lange nicht auf dem Turm oben und dabei hab ich dir eine Überraschung vorbereitet. Ich hab sie jetzt heruntergeholt, sonst verkümmert sie, die Überraschung.«

Er öffnete eine Kiste. Eine Schildkröte lag darin, in Gras gebettet. Er hat sie vor einer Schmach gerettet. Die neuen Herren lassen es sich nicht genügen, ihre Fahnen aufzuhängen, es wächst das Hakenkreuz überall und einem zum Hals heraus.

»Unten im Dorf verkauft der Holzschnitzer in seiner Bude jetzt zum Andenken an die fröhlichste Stadt Zentraleuropas Schildkröten, mit dem Hakenkreuz versehen, es wird ihnen für alle Zeiten ins Gehäuse gebrannt. Diese hier ist gerettet. Sich vorzustellen, daß das Hakenkreuz noch weiter in dem Tier leben sollte, wenn die Idee, die es hierher verpflanzt hat, schon jetzt zu modern beginnt. Die Chinesen sagen ihr ein hohes Alter nach und beschreiben sie als Orakeltier. Sie bringen ihre Schale zum Glühen und lesen in den Rissen ihre Zukunft.«

»Wie werden wir sie denn nähren?«

»Mit einer Handvoll Gras.«

»Wie unbeholfen sie ist, jetzt ist sie umgefallen und kann sich nicht umwenden. Auf dem Rücken liegend muß sie verhungern, trotz ihrer Bescheidenheit.«

»Tragen wir sie in die Sonne zu den Schwalben«, sagte Eva und sie gingen, die Schildkröte behutsam eingebettet, mit ihr die Wendeltreppe hinauf in eine Turmstube. Hinter einer Tapetentüre versteckt befand sich eine kleine Loggia. Hier hatten es Schwalben friedlich und behaglich gefunden und sich ein Nest im Fensterrahmen gebaut. Hier hauste jetzt mit ihnen die Schildkröte.

Eva stellte die Kiste in die Sonne. Dann hob sie das Tier mit der flachen Hand auf, um den Kopf zu bewundern. Auf einmal erschrak sie und legte es rasch zurück. War selbst die Sonne verblendet, daß sie dies ans Licht brachte! War es eine Vorbedeutung? Ein chinesisches Orakel? Ihr schien es ganz deutlich, das verhaßte Mal.

»Siehst du etwas?« fragte sie beklommen.

Er neigte sich über das rätselhafte Tier, mit Staunen in den Augen. In die Maschen des Gehäuses hatte die Natur ein märchenhaftes Zeichen gewoben, die Swastika. Dunkel und fast nicht sichtbar, hob es sich vom Untergrund ab. Nicht jedem Auge sichtbar.

»Ein Felsen in Sankt Helena hat den Kopf Napoleons vorausgeahnt, ehe dieser dort erschien. Jeder Reisende sieht es so, Eva, doch erst, seit Napoleon dort gefangen war. Wir geben dem Unförmigen Form.«

»Aber Napoleon ist dort gestorben.« Entsetzt blickte sie auf das kleine Tier, das wie ein schreckliches Geheimnis in der Sonne lag.

»Es ist besser, wir gehen. Hier oben hört man nicht, wenn es läutet.« Sie schlug ein Wolltuch über das Gehäuse, um den Zauber zu lähmen.

»Dann wäre es fast besser, wir bleiben hier oben.«

Sie stiegen langsam die Treppe hinunter. Im weiten Raum löste sich der Bann.

»Werden die Schwalben sie nicht quälen?«

»Das tun nur die großen Vögel. Der Geier stürzt sich gern auf sie.«

»Dann verkriecht sie sich aber in ihr Haus.«

»Das nützt ihr nichts. Er faßt sie mit seinen Klauen und trägt sie hoch hinauf in die Lüfte. Dann läßt er sie fallen und an einem Felsen zerschmettern. Und schält sich bequem ihr weiches Fleisch heraus.«

»Unheimlich ist das. Unheimlich ist jeder große Raubvogel. Weil er nichts Menschenähnliches hat, nur das eine: die Raubhände. Es ist wie ein Symbol.«

»Eines, hinter dem Zeus selbst sich versteckt, wenn er auf Raub ausgeht. Aber warum bist du über deinen eigenen Gedanken so erschrocken, Eva, was erschreckt dich daran so sehr?«

»Mein Gott, nein … es ist etwas anderes … es hat geläutet.«

Der Verurteilte vor seiner Hinrichtung verhält sich merkwürdig. Es kann geschehen, daß er aufrecht zum Schafott und seinem Tod entgegengeht und dies ist bei politischen Verbrechern nicht selten, diese Helden sterben mit ihrem Bekenntnis auf den Lippen. Der gemeine ruchlose Mörder bricht feige zusammen, ja man hat mehrfache Mörder gesehen, die sich so kläglich aufführten, daß man sich die Frage stellte, woher nahmen sie den traurigen Mut zu ihrer Tat? Sie werden zur Richtstätte getragen und ohnmächtig in ein anderes Sein befördert. Es sind freilich auch einige apathisch diesen schrecklichen Weg gegangen, so fühllos, daß man sich fragte, wissen sie denn, was vorgeht, haben sie kein Herz im Leibe, nicht einmal für sich selbst? Wenn aber ein Fanatiker den letzten Weg geht, will es zuweilen scheinen, als schütze ein Gott ihn vor der Fähigkeit zu ahnen, was jetzt mit ihm geschehen wird.

Bei vollem Bewußtsein und mit Todeskälte geht man zur Türe, wenn die Glocke schellt. Man öffnet und stellt sich breit vor, denn über Leichen geht ihr Weg.

Es schellte, es schellte ein zweites Mal.

Wenn es das Ende bedeutet, dieses Läuten. Wenn ein Schwarzgekleideter draußen steht, mit den Totenköpfen am Knauf und an der Kappe. Wenn es die letzte Antwort ist. Wenn der Mann jetzt draußen ist und eintreten will.

Eiskalt öffnete Eva die Türe.

Im Rahmen stand ein junges Mädchen.

Sie ist blond und das Haar fliegt über ihr Gesicht. Die hohe Gestalt überwältigt das Matrosenkleid, es ist, als wäre kein Kleid vorhanden, so selbstherrlich macht sich der Körper geltend. Die starken Schultern kehren sich heraus, das Mädchen ist selbstbewußt und dennoch stockt es an der Schwelle. Sie sieht Eva fragend an und tritt erst ein, als diese lächelt. Sie geht auch zögernd weiter, durch die zweite Türe und in den großen Raum mit dem breiten Balkon. Er sitzt weit weg, sehr weit, man bewegt sich auf ihn zu und es ist viel zu verbergen. Daß die Hände zittern, daß man rot wird! Wäre man nicht so jung, der reife Mensch weiß sich zu halten. So steht einem alles im Gesicht geschrieben, ganz besonders liest es ein solcher Mensch.

Kain reicht ihr die Hand und ist erfreut.

Das Zimmer ist verwandelt.

Ist es das junge Mädchen, das die Schatten vertrieben hat? Ihr Körper scheint sie hinauszudrängen und nimmt die Last dieser beiden auf sich und ohne sie zu fühlen. Denn auch Eva hinter ihr, Eva lacht.

»Es ist gut, daß ich nebenan wohne«, stellt Hilde fest und man weiß nicht, meint sie es für sich, meint sie ihre älteren Freunde, die sie besuchen kommt. Sie setzt sich an den Rand des Diwans.

So groß, denkt Eva, ist sie und mit diesem blühenden Körper sitzt sie schwebend, als wäre sie leicht wie eine Feder.

»Es ist gewiß erfreulich, daß Sie nebenan wohnen, Fräulein Hilde, wollten Sie noch etwas damit sagen, oder ist es nur so eine allgemeine Feststellung?« Er lächelte.

»Natürlich will ich etwas sagen!« Sie ist noch atemlos, noch befangen, aber sie genießt es auch, daß es ihr gelingen wird, diesen Menschen zu interessieren. Man hat allerhand versucht, man hat Vorträge angehört, hat sich Bildungsbrocken angeeignet, er denkt voraus, und was er nicht weiß, errät er. Das ist sicher die Art aller Schriftsteller, sie haben diesen Blick, der durch den Kopf durchsieht, als hätte man Augen aus Glas. Es hypnotisiert, man fühlt es, bis ins Herz hinein.

»Es muß schon etwas Interessantes sein, wenn Hilde unerwartet kommt«, sagt Eva freundlich. »Und so erhitzt ist sie, mit ganz heißen Kinderwangen. Und blinzelt immer zur Allee hinunter, was geschieht denn dort Entscheidendes?«

Da sitzt doch eigentlich das Exemplar eines Menschen, wie er Eva erschrecken müßte. Wie töricht diese Theorie ist! Was an diesem Mädchen ist verschieden und akzentuiert, was charakterisiert sie als nicht ›arisch‹? Nicht einmal der Mangel an Ebenmaß in den Zügen, er ist hier unter den Städterinnen häufig und bei dem Mädchen reizvoll.

»Es wird die Fahne auf unserem Balkon sein. Ich hab sie aber nicht selbst befestigt, das kannst du mir glauben.«

»Das weiß ich!« Hilde blinzelt behaglich und geheimnisvoll, wie eine Katze in der Sonne. »Ich weiß noch mehr, ich weiß, wer sie befestigt hat! Ich kenn den Mann!«

Kain setzt sich in den Lehnstuhl und ist auf alles gefaßt.

»Was würden Sie sagen, wenn ich Sie mit einem Aeroplan aus Österreich herausbringe! Hätt ich nur fliegen gelernt, jetzt könnt ich es brauchen! Was würdet ihr dazu sagen, Eva!«

»Daß es gut ist, so jung zu sein. Man freut sich des Lebens und die Zuschauer freuen sich mit und scheiden Überschwang von Wunsch und Möglichkeiten.«

»Jetzt nehmt ihr mich nicht ernst und werdet euch gleich schämen. Was ich erlebt hab!« Der Schlips an ihrer Bluse fliegt herum und ist so rot wie ihr Mund. Ihr Hals ragt lang aus der Falte des Kragens.

»Ich werde es tun! Ich bring euch beide heraus! Ihr staunt! Die ganze Stadt wird staunen! Wir erheben uns über das Land und verlassen es mit Verachtung. Von oben herab. Wir spucken hinunter!«

Und jetzt erzählt Hilde. Denn dieses Mißtrauen ist lähmend. Man verliert den Glauben an sich, wenn man noch zögert.

Hilde hat etwas Interessantes erlebt. Mit einem Mann, der aussieht wie ein Ast im Winter. Er steht in der Allee und befestigt eine Fahne an der Zitterpappel, spannt sie über die Breite der Allee und bindet sie an die Telegraphenstange. Wer sich ihm nähert und kein Hakenkreuz trägt, wird angehalten.

Frau Wlk will durchgehen. Sie ist Scheuerfrau und reinigt das Haus, in dem Hilde sich eben befindet. Sie stammt aus einem Dorf nicht weit von Prag und trägt kein Hakenkreuz. Mager und verhärmt steht sie da, und man fühlt, der Mann kann ihr nichts anhaben. Aber sie hat Humor. Sie klappt die Jacke um und trägt auf der Brust ein riesiges Bild des Führers, ein Hakenkreuz, ein Erntesträußchen, eine Kornblume und die Imitation eines Parteizeichens. Sie wird angeherrscht, weil sie ihre Gesinnung versteckt hält, statt sie offen zu bekennen.

Hinter ihr trippelt die Hausfrau hinauf, die Hausfrau ebendieses Hauses, in dem Frau Wlk scheuert und in dem Hilde jetzt zu Gast ist. Auch sie trägt kein Abzeichen, aber sie wird milde behandelt. Denn ihre nationalsozialistische Gesinnung ist bekannt. Ein Reicher trägt kein Geld bei sich.

Sie ist jetzt das Um und Auf der neuen Ordnung, die Rasse. Dem Führer wird jetzt gehuldigt und nicht dem Gekreuzigten. Das bedeutet diese Fahne. Der Führer hat erlassen: Der Mensch sei arisch. Er sei vertrauensvoll. Er glaube an ihn und verneige sich vor ihm. Er lasse ab von allen Gedanken, von aller Eigenmacht. Er begebe sich in die Gewalt des Führers. Der werde für ihn sorgen. Besser als Jesus Christus.

Zur Verteidigung seiner Hoheit hat der Führer seine Trabanten aufgestellt. Sie lauern auf Straßen und Plätzen. Und haben acht, daß sich jeder unterwirft.

Zum Glück, Hilde ist blond. Und darum vergißt der Mann vor der Fahne seine Sendung und fängt ein Gespräch mit ihr an. Hilde bleibt stehen, denn es ist ein SA-Mann mit hoher Charge, er versichert ihr das. Und daß er Ordnung schaffen wird und stramm vorgehen.Wer Gehorsam leistet, hat nichts zu fürchten. Warum sie aber kein Hakenkreuz trägt?

Weil sie Jüdin ist, sagt Hilde.

Der Mann ist starr. Die Fahne fällt von der Telegraphenstange und weint. Ob es kein Irrtum ist? Ob man sie nicht als Kind geraubt hat? Ob die Mutter nicht arisch ist und, von dem Bankier zur Ehe gezwungen, sich dann mit dem Gärtnerjungen gerächt hat. Den Bankier mit dem Gärtnerjungen verwechselt. Denn ein Bankier muß er sein, der Papa, das zeigt die Perlenkette an ihrem Hals und der feine Strumpf.

Nein, von allem stimmt nichts. Papa ist Privatgelehrter. Die Großmutter war groß und blond wie sie, Hilde, aber sie stammt aus dem Ghetto. Mama, ja Mama ist schwarz und wird schon dick, gesteht Hilde, aber andere Leute sind noch dicker.

Der Mann ist gerührt von so viel Offenheit. Es zeichnet die Vertreter seiner Partei aus, daß sie die Schwachen beschützen. Er trägt ihr seinen Schutz an. Ob sie sich fürchtet weiterzugehen? Er wird sie begleiten. Sie dankt, sie fürchtet sich nicht. Sie wohnt hier oben gleich in der nächsten Villa und es ist ihre Villa, die Villa von Papa.

Es ist die Villa ohne Fahne, sagt er nachdenklich. Er kann ihr leider diese Ehre nicht erweisen, sie aufzupflanzen, eben wegen dieser Großmutter aus dem Ghetto. Denn nur Menschen arischer Abstammung sind Herrenmenschen. Die andern sind Sklaven und werden an ihren Platz gestellt, sie werden den Germanen dienen müssen, daran ist nicht zu rütteln, die daran sind, sich zu Herren der Welt aufzuschwingen. Freilich, wenn ein Mädchen schön ist, ist es eine schöne Sklavin. Und einer schönen Sklavin geht es immer gut. Und sie darf um eine Gunst bitten: Er wartet.

Sie bittet gleich um eine, sagt sie. Man hat an allen Häusern angeschlagen, daß wir schlecht sind, nicht wert hier zu leben, wir sind niedrig und gemein und sollen fort. Uns bleibt nichts anderes übrig, als das Land zu verlassen. Das ist mit Schwierigkeiten verbunden, man darf nichts von seinem Besitz mit sich nehmen, und Bettler will kein fremdes Land einlassen. Nüchtern ausgedrückt, man bekommt kein Visum. Sie scheut keine Spesen und möchte hinaus. Sie sagt es ihm, denn sie sieht an seinem Zeichen, daß er seines Zeichens Pilot ist. Sie würde mit Leidenschaft aus dem Land fliegen. Ihm sei es eine Bagatelle, sie über die Grenze zu bringen.

Er lacht. So einfach ist es nicht. Es herrscht strenge Kontrolle. Ganz besonders auf dem Flugplatz. Jeder wird gesondert vorgenommen und perlustriert. Selbst Arier müssen die Kontrolle dulden, denn es gibt Verräter, die ihre Pflicht hier nicht erfüllen wollen. Wenn man bei ihr auch gern vergessen möchte … Aber etwas anderes geht. Sie soll sich einen Aeroplan kaufen, das geht.

Sie klatscht in die Hände vor Freude. Aber er vergißt schon wieder. Wer wird ihn ihr verkaufen!

Er muß nachdenken. Es ist natürlich schwer. Es ist fast unmöglich. Nur ihm nicht. Er kann ihn für sie kaufen und sie tritt erst gar nicht auf den Plan. Sie schweigt. Sie hat nur zu schweigen. Sonst wendet sich alles und mit aller Schärfe gegen sie. Auf sie fällt der Verdacht, er selbst ist erhaben. Ein SA-Mann läßt sich nicht bestechen.

Er wird sichs überdenken und sie morgen treffen. Und ihr Bescheid geben, sie soll für alle Fälle die Anzahlung mitbringen. Selbstverständlich handelt es sich um eine Ziffer, die kein Trinkgeld ist. Sie kauft ein Flugzeug, kein Pferd.

Als Hilde in ihrer Erzählung so weit gekommen war, wurde sie unterbrochen. Und zwar sprachen die beiden Zuhörer gleichzeitig, jeder aus einem anderen Grund entsetzt. Kain prophezeihte ein böses Ende dieses Handels. Er schilderte ihr, wie ihr der Mann das Geld abnehmen und sie dann einsperren wird, damit sie nichts ausplaudern kann. (Er übertrieb, um sie zu erschrecken.)

Sie will den Aeroplan nicht für sich, sagt sie gekränkt. Sie will ihn auch nicht für die Eltern. Für ihre Freunde hier hat sie ihn, damit Eva nicht immer erschrickt, wenn es läutet. Damit sie einsteigen und in einigen Stunden auf der Insel landen. Und sie sah Kain an, mit einem Blick, der auch einen härteren Menschen verwirrt hätte.

Aber Eva läßt sich nicht rühren. Man wird erniedrigt, heute und hier in dieser Stadt. Aber man bekennt sich nicht dazu. Man trifft sich nicht mit einem SA-Mann, man verbietet ihm diese Zumutung. Sie erlaubt es nicht, das Rendezvous!

»Wenn der Mann unten steht«, sagte jetzt plötzlich Kain und brach die Geschichte vollkommen ab, »und Werner kommt gerade herauf! Werner, der sich nicht ruhig anhalten läßt! Der an nichts glaubt. Und nie glauben wird, daß er völlig rechtlos geworden ist. Daß er ein Fremder ist, ein Untermensch, ein Dieb, ein Ausbeuter, ein Kinderschänder, schlimmer als das alles, da er nicht ›arisch‹ ist. Obwohl er doch als erster aus seinem Institut entlassen wurde, weil seine Nase sich um ein winziges Stück nach unten krümmt. Der dennoch noch immer nicht glauben kann, daß es diesen Führer wirklich gibt.«

Kain war sehr besorgt um Werner, seinen Bruder. Dem er so sehr dem Äußeren nach glich und doch wieder nicht glich, weil seine Nase nach aufwärts ging, zum Glück für Kain, gegen den so viel vorlag, in der neuen Ordnung, nämlich, daß er Schriftsteller war, in seiner Arbeit ungebunden und nicht ›arisch‹.

Eva antwortete ihm zerstreut. Werner kam nicht herauf, denn er kam nie herauf. Es gab hier oben nichts Interessantes für ihn. Keine neu zu entdeckenden Steine. Und sonst sah er keinen Grund heraufzukommen. Etwa aus Geschwisterliebe? Etwa weil der Ältere sich ganz besonders in solchen Zeiten um den Jüngeren sorgen müßte? So war Werner nicht.

›Keine interessanten Steine‹? Jetzt interessierte es Hilde.

Werner ist Geologe. Gestein bedeutet ihm alles, darum will er auch nicht wegfahren. Das ist das Geheimnis. Er hat ein Visum und fährt nicht weg. Er ist mit allen Fasern an diese Erde hier gebunden. Er ist hier angeschmiedet.

»Er ist wie eine Schildkröte«, erklärt Kain. »Sie klammert sich an Felsen und gleicht sich dem Felsen an. Sie hat ein schweres Leben, wenn sie auf den Rücken fällt. Sie muß verhungern, sie kann sich nicht umwenden. Ihr Haus ist zugleich ihr Tod. Werners Haus ist seine Heimat.«

»Und diese Schildkröte ist Ihr Bruder?«

Kain erschrak selbst über seinen Vergleich.

»Ich möcht ihn schrecklich gern kennenlernen.«

»Er ist ein Hagestolz«, entgegnete Eva, »Steine bedeuten ihm alles, Steine, die er nach Hause bringt und mit Etiketten zärtlich versieht.«

Hilde war verletzt. Sie wollte ihn nicht heiraten.

Wenn sie sich jetzt schon kränkt, noch ehe sie ihn sieht, was wird erst dann daraus werden, dachte Kain. Werner ist widerborstig und rauh. Aber wer den Blick hat, muß über seine reinen, klaren Augen staunen, die seine ganze Geschichte in aller Unschuld erzählen. Nun, das macht ihm weiter nichts. Er schert sich nicht darum, was die anderen denken. Er versteckt auch nichts. Er hat nichts als seine Rechtlichkeit, und die braucht er nicht zu verstecken.

»Ich hab ihn unlängst belauert, wie er vor einem Regal steht. Er berührt vorsichtig einen Stein, streichelt ihn zärtlich, nimmt ihn auf, lächelt, seine schönen Augen werden ganz hell. Aber auf einmal zuckt er zusammen. Er erinnert sich, daß er nicht mehr ihm gehört, er legt ihn zurück, als wäre es glühende Kohle. Er hat kein Recht mehr auf seine Erde. Mich läßt er seine Sammlung nicht einmal richtig ansehen.«

»Weil du nur eine Frau bist.«

»Der kommt mir eher vor wie ein dicker, stacheliger Kaktus. Daß Sie diesen Bruder haben!«

»Ich hab den Wolf in Schönbrunn immer herzlich bedauert. Er hetzt in dem kleinen Käfig hin und her, bis zur Erschöpfung, labt sich und hetzt sich weiter, in dumpfer Unruhe. So ergeht es jetzt meinem Bruder. Er hat sich selbst eingekerkert, in sein Zimmer mit den kleinen Steinen. Er läuft hin und her und sein redliches Gesicht ist bekümmert. Es ist ein Schmerz, den er nicht begreift, nicht den Ursprung, nicht die Ursache, nicht den Sinn.«

Hilde wollte noch einmal wissen, wie er aussah.

»Die Augen sind«, sagte Eva, »klar und blau. Das Haar trägt er lächerlich abgeschoren, wie ein Pudel im Sommer. Um die Zeit nicht mit der Pflege zu verlieren. Er ist breit gewachsen, frisch in den Bewegungen und mit einer frischen Gesichtsfarbe. Weil er sich viel im Gebirge aufhält und dort Grabungen vornimmt. Dabei ist er rührend andächtig und betrachtet seine mit Adern durchzogenen Steine durch die Lupe. Er sieht Kain sehr ähnlich, das heißt Kain ähnelt ihm, Werner ist der viel Ältere.«

Eva, die eben so ruhig gesprochen hatte, erbleichte jetzt zu Tode. Sie fing zu zittern an und blieb wie gelähmt. Sie stellte sich dann auf und ging wie ein Automat zur Türe, aber sie schien nicht mehr sie selbst zu sein.

Und jetzt dachte sie, wie gut er wäre, dieser Aeroplan. Damit es nicht immer läutet, an der Gangtüre läutet. Damit man nicht zittern muß, immer tödlich getroffen. Wie gut es wäre wegzufliegen, um jeden Preis, und das Land zu verlassen.

Dasselbe dachten die beiden, die im Zimmer blieben. Hilde nahm ihre Position wahr und sprach es aus.

Ob sie mit dem Aeroplan vors Dach fahren wolle, und er steigt ein? Die neuen Herren werden unten stehen und friedlich zusehen! Ob es so zugeht hier in dieser Stadt? Dann müßte man nicht das Land verlassen. Denn, wie bitter ist es, das Land zu verlassen.

Das Land verlassen.

Dieser Satz und dieses Gebot sind in der Stadt Mitteleuropas, die einmal die fröhlichste Stadt genannt wurde, an der Tagesordnung. Es hört ihn der einfache Mann. Er verzichtet auf sein kleines Glück und rüstet sich mit schreckensbleichen Wangen zur Wanderung. Dieser Satz stört den Arzt auf und der Arzt senkt beschämt den Kopf. Denn es sind nicht so viele Pflastersteine in den Straßen als Wunden, die er geheilt hat. Und der Arzt beschließt zu gehen. Es hört diesen Satz der Anwalt, er sieht sich verloren. Es mag der kleine Mann in der Fremde von neuem beginnen, es mag der Arzt ein neues Lazarett bauen, der Anwalt tritt in ein fremdes Land mit Gesetzen, die hier ungesetzlich sind. Nichts von seinem Wissen ist dort Wissen, niemand hört ihn an. Er ist ein Entwerteter.

Es hört diesen Satz der Maler, der die Landschaft hier ausersehen hat. Sein Auge bindet die milden Farben dieses Erdenstrichs zusammen, seine Bilder erzählen die Geschichte dieser Stadt. Der Maler schnürt seine Palette ein und beschließt zu wandern. Und es ist ein schwerer Entschluß.

Am schwersten überfällt es den Dichter. Die Sprache ist seine Seele, die Figuren, die er gestaltet, sind sein Körper. Er kann nur Atem schöpfen, wo seine Sprache lebendig ist, und sein Leben erlischt, wo er nicht mehr versteht und nicht verstanden wird. Vielleicht trifft dieser Satz darum den Dichter so sehr, obwohl der Entschluß schon längst in ihm reif ist. Obwohl er alles in sich zu einer Trennung zwingt. Obwohl er es wie eine gute Fügung ansieht, wenn ihm die Wanderung in ein fremdes Land gelingt, wenn sich eine neue Erde für ihn auftut, wenn er Einlaß findet und nicht an der Schwelle zurückgewiesen wird. Wenn sein guter Name ihm den Weg ebnet in eine neue Heimat. Denn er weiß eines: Er wird nicht leicht seinen Weg antreten. Er wird ermattet weichen, es wird Kämpfe geben, Angst bis in den Tod. Die Angst herrscht jetzt im Herzen Europas, deren Bewohner die ›Liebenswürdigen‹ genannt wurden. Deren Häuser Geschichte waren. Deren Frauen Schubertlieder sangen. Die Angst trägt eine braune Uniform und die Swastika. Sie steigert sich in eine schwarze Uniform mit Totenköpfen. Sie erreicht den Höhepunkt in einem Führer, der nichts Menschliches an sich hat als seine Unmenschlichkeit.

Die braune Uniform, SA genannt, erscheint am hellen Tag und in tiefer Nacht und läutet an. Vor diesem Läuten erschrickt jeder. Denn jeder hat einmal ein Gebet verrichtet, einen Herzog verehrt, einen Gedanken gehabt und einen Juden gekannt.

Spricht der schlichte Mann seine Gedanken aus, so ist er verdammt. Ja, hier wird verdammt, wer selbst nicht spricht. Es wird der Gläubige verdammt, weil er an Gott glaubt. Der Freigeist, weil er sich nicht fesseln läßt. Der Künstler, weil er die Weite ersehnt, der Politiker, weil er eine Lösung sucht, und der Jude wird ans Kreuz genagelt, weil er von Christus stammt. Und sie alle werden mit schrillem Läuten aus ihren Häusern geholt und weggeführt, in Lager gebracht und erniedrigt, bis ihre Seele nicht mehr weiter kann und der Körper stirbt.

Vor diesem Läuten erschrecken die Tschechen, weil sie ihre Heimat lieben. Die Tschechen leben hier als unentbehrliche Handwerker. Die Männer schneiden die besten Anzüge und fügen die besten Schuhe zusammen. Die Frauen kochen die besten Mahlzeiten und säubern das Haus aufs beste.

Gottlob, über dieses Läuten ist Eva umsonst erschrokken. Denn draußen stand Frau Wlk, die Bedienerin. Sie arbeitet erst oben, bei der Hausfrau. Sie putzt ihr die Wohnung, die Halle, die Säule, die Rampe, sie fegt ihr den obersten Stock, sie wäscht ihr das Zeug, das schon morsch ist, sie kocht die Suppe für den alten Hund, sie zerreibt ihr Leben, für die Hausfrau.

Wenn sie oben fertig ist, staubt sie die Bücher unten ab, im Arbeitsraum des Doktor Kain. Sie reinigt die Hefte, in die er seine Bücher schreibt, die unzähligen Blätter auf dem Schreibtisch, sie verschleudert kein Streifchen Papier, denn durch jedes geschriebene Wort ist es geheiligt.

Sie scheuert zuletzt die Küche in der großen Wohnung und jetzt ist sie schon sehr müde. Sie bewegt sich nur langsam und zerfahren. Und sie erzählt. Sie erzählt und hat ihr Gesicht nicht verändert. Sie trägt es nicht unterm Arm, wie der Tod. Sie verzerrt es nicht, wie der Haß. Sie zerreißt es nicht, wie die Lüge, sie zerfetzt es nicht, wie die Verleumdung. Sie setzt ihre treue Miene auf, sie spricht heute wie gestern.

In dieser Stadt, in der alle Schatten waren.

So daß Eva sich in der Küche zu schaffen macht, um ihr zuzuhören, wenn sie erzählt. Es schadet auch nichts, wenn man ihr ein wenig hilft, sie ist wirklich müde. Der Zeiger der Uhr läuft, die Arbeit geht nicht weiter. Sie putzt nicht, aber die Zeit flieht. Stunden sind vergangen, viele Stunden, für eine Küche, die ganz naß geblieben ist, die Schüsseln triefen, der Herd trieft, der Boden rinnt, die schwachen Hände haben nur Pfützen zurückgelassen.

Aber wie gut erzählt Frau Wlk.

Eva sieht sie erwartungsvoll an. Es ist so wichtig, wie sie gestimmt ist, welches Thema ihr heute liegt, so wichtig für eine Verbannte. So wichtig, wenn die Gedanken vorgeschrieben werden. Denn Frau Wlk läßt sich nichts vorschreiben. Sie zetert über Braun und Schwarz, über Führer und Verführte. Und sie ist heute besonders aufgeregt. Denn da ist ein Mann unten, im Zinshaus, wo sie wohnt, mager wie ein Besen, das Gesicht wie ein Totenkopf, so ein Kerl von der Partei, ein SA oder wie das heißt, der hat ihnen schon gestern eine Fahne über das Haus gehängt. Obwohl da lauter Tschechen wohnen. Jetzt steht er in der Allee und fährt die Leute an. Er heißt Pilz. Giftpilz, Schimmelpilz, Fliegenpilz, so variiert ihn Frau Wlk. Er wohnt unten, wo sie wohnt, ist ein Braunhemd, ist ein großes Tier, denn er hat eine kleine Nummer. Die kleine Nummer, das bedeutet, er war schon einer der ersten in der nationalsozialistischen Partei. Er war sozusagen unter den Gründern. Er ist soviel wert wie ein Wohltäter, der für den Bau des Spitals das meiste Geld gezahlt hat. Nichts ist er wert, verbessert sie sich und wird zornig über ihre eigenen Worte. Er drangsaliert die Tschechen, die unten wohnen, er hat sich am Wahltag im Lokal aufgestellt und aufgepaßt, wie jeder wählt.

Es schien, daß von dieser kleinen Nummer eine faszinierende Wirkung ausging. Denn Frau Wlk beschwerte sich. Selbst die Hausfrau hier im Hause, die so gut ist, der sie das Haus reinigt, selbst sie war bestochen. Die doch jeden Sonntag in die Kirche geht. Die ihr letztes Geld in den Sammelstock wirft, für eine neue Wachsfigur der Heiligen Jungfrau. Es ist hier im Hause die richtige Atmosphäre, um die Hausfrau zu verderben. Der Pilz ist heraufgekommen und hat sie gleich für sich gehabt. Und die Hausfrau, die so heikel ist, läßt ihn heraufziehen, bloß, weil er ihr Südtirol versprochen hat.

»Um Gottes willen, Frau Wlk, der Mann wird hier heraufziehen?«

»Sie hängt an Südtirol, weil sie ihre Schwester dort hat und dort geboren ist.«

»Hier ins Haus wird er ziehen?«

»Bis ich von einem End zum anderen geh, brechen mir die Füß. Die vielen Türen! Da kann sich einer gut verstecken, wenn die Polizei kommt. Bei der einen Tür rennt er hinein, bei der anderen heraus. Das ist gut zum brauchen bei diesen Zeiten.«

»Welche Wohnung bekommt er denn? Dieser Pilz?«

»Wann fahren Sie denn schon weg, Frau Doktor? Das ist eine Gemeinheit, der Herr Doktor nimmt doch die Spinnen auf ein Blatt, so einen Menschen jagen sie weg. Er soll nur wegfahren, sie schlagen doch die Leute blutig.«

»Eines kann ich Ihnen sagen, Frau Wlk, der Herr Doktor würde sich nie schlagen lassen.«

»Er soll wegfahren, bevor der Pilz heraufzieht.«

»Aber welche Wohnung bekommt er denn?«

»Schaun Sie die Fräulein Hilde an! Im Garten steht sie mit dem Herrn Doktor. Er ist ein starker Mann und kräftig. Jetzt hat er schon wieder den schrecklichen Frosch in der Hand.«

»Das ist eine Schildkröte, Frau Wlk.«

»Er hat so ein gutes Herz, sogar das Vieh erbarmt ihn. Ihm ist leid, daß sie die Kämme aus dem Tier machen. Mir tuts nicht leid, ein Hund, ja der tut mir leid, aber so ein Vieh hat keine Seele. Jetzt zeigt er den Frosch den Kindern. Die Kinder haben ihn aber gern.«

»Welche Wohnung bekommt er?«

»Wer kriegt eine Wohnung?«

Frau Wlk ist manchmal verstockt. Oder versteht sie nicht, wie brennend diese Frage ist? Wie bange sie macht! Wie sie sogleich beantwortet werden muß, beantwortet um jeden Preis! Man versucht es auf Umwegen. Ob er hohle Wangen hat und eine schmutzige Haut. Ja, freilich, beteuert sie und sagt, sie würde ihr eigenes Fleisch mit dem Menschen nicht tauschen, und wenn er zehnmal Braunhemd heißt.

Wie reich das Fräulein Hilde ist! Als Kind trug sie lange goldene Locken. Und kam lieber zu ihr hinunter, um mit ihrem Buben zu spielen, statt in die Schule zu gehen. Gar oft wurde sie aufgeregt im ganzen Ort gesucht und saß friedlich bei ihr in der Stube auf dem blanken Boden, neben ihrem Jungen. Jetzt ist der Junge im Arbeitsdienst in Pommern, und die Hilde ist groß und stark, fast größer als der Herr Doktor.