Briefe an Georges - Veza Canetti - E-Book

Briefe an Georges E-Book

Veza Canetti

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Beschreibung

Veza und Elias Canetti fliehen 1938 nach London. Dort führen sie ein ärmliches Emigranten- und ein hochkompliziertes Eheleben, über das sich beide mit Elias Canettis in Paris lebendem Bruder Georges austauschen. Der hebt die Briefe – aus dem Wien der dreißiger, aus dem London der vierziger Jahre – sorgfältig auf. Lange nach seinem Tod werden sie 2003 in einem feuchten Keller in Paris aufgefunden. Sie sind nicht nur ein bewegendes Dokument, sondern ein veritables Stu?ck Literatur: der Briefroman einer Dreiecksgeschichte.

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Über das Buch

Veza und Elias Canetti fliehen 1938 nach London. Dort führen sie ein ärmliches Emigranten- und ein hochkompliziertes Eheleben, über das sich beide mit dem in Paris lebenden Georges austauschen. Der hebt die Briefe – aus dem Wien der dreißiger, aus dem London der vierziger Jahre – sorgfältig auf. Lange nach seinem Tod werden sie 2003 in einem feuchten Keller in Paris aufgefunden. Sie sind nicht nur ein bewegendes Dokument, sondern ein veritables Stück Literatur: der Briefroman einer Dreiecksgeschichte.

Hanser E-Book

Veza und Elias Canetti

Briefe an Georges

Herausgegeben von Karen Lauer

und Kristian Wachinger

Carl Hanser Verlag

ISBN 978-3-446-25341-4

Text nach der Erstausgabe: Herausgegeben von Karen Lauer und Kristian Wachinger

© 2006, 2016 Elias Canetti Erben Zürich, Carl Hanser Verlag München

Umschlaggestaltung: S. Fischer Verlag / www.buerosued.de

Cover: Georges Canetti, St. Hilaire 1935

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Datenkonvertierung E-Book:

Kreutzfeldt digital, Hamburg

Es ist eine Fügung, dass die zwei Götter, die ich anerkenne, der Künstler und der Arzt, Brüder sind, und es könnte eine glückliche Fügung sein, hätte nicht das Auftreten des Arztes meine Liebe gespalten.

Veza an Georges, 24. September 1937

Wien–Paris, Juni 1933

Venetiana Taubner-Calderon, 35, geboren in Wien am 21. November 1897, Autorin von Erzählungen, die sie unter dem Pseudonym veza magd u.a. in der sozialdemokratischen Wiener Arbeiter-Zeitung veröffentlicht hat; seit acht Jahren liiert mit

Elias Canetti, 27, ältester von drei Brüdern, geboren am 25. Juli 1905 in Rustschuk/Bulgarien am Unterlauf der Donau, nach einer Jugend in Manchester, Wien, Zürich und Frankfurt Absolvent eines Chemiestudiums in Wien und Autor eines noch unveröffentlichten Romans.

Georg Canetti, 22, jüngster der drei Brüder, geboren in Rustschuk am 23. Januar 1911, angehender Arzt, seit zwei Jahren in Paris, wo auch seine Mutter Mathilde und der mittlere Bruder Nissim leben, und gerade unter dem Namen georges »naturalisierter« Franzose.

Veza und Elias Canetti werden im Herbst 1938, nachdem sie aus ihrer Wiener Wohnung vertrieben wurden, über Paris nach London fliehen. Georges Canetti wird die Briefe seines Bruders und seiner Schwägerin sorgfältig aufheben (ebenso wie einige seiner eigenen Briefentwürfe), im Gegensatz zu Elias, der die Briefe seiner Frau und seines Bruders vernichtet. Erhalten ist trotzdem: der Briefroman einer Dreiecksgeschichte.

Georges an Veza (Entwurf), 10. Juni 1933

Paris, den 10. Juni 1933

Meine allerbeste Veza,

soeben ist Ihr Brief angekommen und ich muß wirklich sagen daß er geradezu unverständlich ist – obwohl ich ihn sehr gut verstehe. Nur eines ist ganz klar, daß nämlich ich der einzige halbwegs normale Mensch unter uns 4 (Sie, Elias, Mama und ich) bin. Sie haben meinen Brief in einer Weise mißverstanden, die einfach haarsträubend ist; haben allerhand zwischen, unter und neben den Zeilen gelesen, nur darauf geantwortet – und überhaupt, wer wollte denn in der Sache zwischen Mama und Elias eine Antwort von Ihnen? Daß ich Ihnen darüber schrieb sollte doch nicht heißen daß ich Ihnen darin auch nur die geringste Rolle beimaß: Sie hatten sie gewiß, aber nur passiv, waren nur ein Vorwand an dem der ganz gesetzmäßige Konflikt zwischen Mama und Elias neue Nahrung fand genau so wie er sie bei hundert anderen Anlässen gefunden hätte und gefunden hat. Ich schrieb Ihnen darüber wie man mit einem Freund etwas besonders trauriges, das einen beschäftigt, bespricht, sich bei ihm Rat und Hoffnung einholt, wie man sich überhaupt gerne von Zeit zu Zeit ausspricht – und Sie? Mit einer gewiß schönen, hier aber ganz unangebrachten Leidenschaft haben Sie das mißverstanden, einen Vertrauensbeweis – einen der höchsten, die es geben kann, nämlich Dinge, die meine Mutter betreffen mit irgendwem – selbst wenn Sie es sind – zu besprechen – haben Sie in weiß Gott welche geheime Anklage umgedeutet die nun selbstverständlich ebenso fruchtlos erscheinen müßte, wenn sie überhaupt berechtigt wäre, als sie in Wirklichkeit unsinnig ist. Haben Sie denn bei mir noch nicht begriffen, Veza, daß ich nie Ziele verfolge, die ich nicht ausspreche, oder, viel eher, daß ich sie nur vor dem nicht ausspreche, dem sie zugute kommen sollen? Sie dürften darin den Beweis eines unverschämten Hochmuts sehen, doch ist es nun einmal so. Und welche Ziele hätte nun mein Brief verfolgen können? Höchstens das, Ihnen zu zeigen, was der Elias mit anderen Menschen – mit seiner Mutter! – angerichtet hat und Ihnen so die Schwere, die unerträgliche Schwere der eigenen gegenseitigen Beziehung zu ihm irgendwie erträglicher zu gestalten – aber wie falsch wäre das gedacht! Als ob in solchen Fällen nicht gerade das Bewußtsein der Einsamkeit das kostbarste ist, was einem bleibt – wenigstens bei wertvollen Menschen. Jedenfalls hab ich mir darin nichts zu Schulde kommen lassen, weil ich gar nichts erreichen wollte. – Es bleibt wie Sie sehen, kein Angriff zurück, kein »empörender«, es sei denn, daß das empörende im Gegenangriff liegt. Wie können Sie sich denn ernstlich vorstellen daß ich von irgend welch idiotischem Gerede überhaupt wußte – und wenn schon, daß ich Ihnen dann nicht direkt darüber geschrieben hätte und nicht »par faits interposés«, wie man sagt. Wie können Sie sich ferner vorstellen, daß meine Mutter dessen Urheber ist! Sie ist es nicht, ich gebe Ihnen mein Ehrenwort darauf. Und zu guter letzt, daß sie aus meinen Briefen spricht! Darüber muß ich lachen, und Sie, die Sie meine geistige Unabhängigkeit kennen und nur im Affekt vergessen konnten, doch jetzt wohl auch. Meine liebe gute Veza, lassen wir doch in unseren Briefen den Jammer der Umwelt außer Spiel: ich erlebe ihn mit und wollte Ihnen darüber berichten, Sie aber erleiden ihn mit und glauben in Ihrem Leid daß

Georges an Veza (Entwurf), 25. Oktober 1933

Paris, den 25. Oktober 33

Meine liebe Veza,

Also sind aus den 3 Tagen Gnadenfrist, die Sie mir gewährt hatten, – nach Ende der Prüfung –, 14 geworden. Für die ersten Tage versteht sich das ja sehr leicht, und ich brauche Ihnen gar nicht erst zu erklären wie nötig es ist nach so großen Anstrengungen seine Nerven auszuspannen – eigentlich eher, sie anders zu spannen. Aber das Wichtigere war schon, ich muß das ohne weiters zugeben, die Schwierigkeit, wieder anzuknüpfen. Nicht, daß zwischen uns beiden irgend etwas wieder geknüpft werden müßte, nicht wahr, aber es haben sich halt sagen wir, viele Knoten gebildet, die ebenso verbinden als stören. Nun ließen sie sich ja durchschneiden, so wie es etwa einer der »blonden Germanen« tun würde – die so auffallend oft in Ihren Briefen wiederkehren – dies ganz nebenbei. Ich bin da anders und muß Ihnen zunächst also mitteilen, daß der Canetti seit Freitag nicht mehr in Paris ist, sondern in Straßburg. 1H Monate hat sein Aufenthalt gedauert. Es wäre viel darüber zu berichten, obwohl wir wenig beisammen waren und obwohl die recht unangenehme Atmosphäre, an der vor allem Nissims Braut Schuld trug, es zu einer wirklichen und dauernden Herzlichkeit nie kommen ließ. Aber auch anderes war daran Schuld. Der Elias ist wohl einer jener Menschen die eine ganz spezielle Optik, ganz bestimmte Treffwinkel und Beleuchtungsgrade brauchen, um voll zur Geltung zu kommen, und die hatte er in Paris entschieden nicht. Beim Elias darf die unleugbare Diskrepanz zwischen dem Dichter und dem restlichen Menschen nicht in allzu grellem Licht erscheinen und das ist nur dann möglich wenn der Dichter übermächtig wird und alles andere beschattet: das war aber in Paris notwendigerweise unmöglich, und deshalb war auch vieles am Elias nicht so wie es hätte sein sollen. Damit will ich Ihnen aber durchaus nicht sagen, daß ich dank dieser Umstände, den Elias anders beurteilen lernte, sondern Ihnen nur erklären, weshalb er, der ja solche Sachen sofort fühlt, sich hier unwohl fühlte und trotz vieler schöner Detailerinnerungen von Paris nur ein unangenehmes Gesamtbild zurückbehalten haben kann. Es gefällt einem halt dorten am besten wo man am besten gefällt – wem immer es auch sei. Das gilt bei Gott für die Spezi »Dichter«.

Georges an Elias (Entwurf), 26. November 1933

Den 26. November 1933

Mein lieber Bruder Elias,

gerade heute drängt es mich besonders, Dir zu schreiben, und so tue ich es auch.

Seit über einem Monat ist mein Leben von all den Dingen, die es unmittelbar vorher so ganz ausgefüllt haben, vollkommen abgewendet: ich lese mich durch Berge von Büchern hindurch, und immer größer wird mein Hunger, die Nachklänge, die sie zurücklassen, lauter und lauter werden zu lassen. Ich bin wie ein Insekt, das sich häutet; unter dem übergroßen Druck der Arbeit fürs Internat – er sollte noch fürs Mündliche anhalten, aber das ist mir ganz gleichgültig –, unter der unerträglichen Spannung der letzten Monate ist plötzlich ein Damm gebrochen und nun wogt und flutet in unaufhaltbarem Strom ein unendlicher Reichtum wirklichen Lebens in mir: findet er, vorläufig wenigstens, seinen Ausdruck in, besser nach Büchern anderer. Gerade deshalb bin ich so traurig darüber, daß Du jetzt nicht hier bist; denn es wäre viel von unserer gegenseitigen Fremdheit, die unser guter Wille nicht immer zu beseitigen verstand, durch eine Gleichgestimmtheit geschwunden, die, eben weil zeitbegrenzt, bei Dir organisch und dauernd, bei mir dagegen funktionell und vorübergehend bedingt, umso stärker und nachhaltiger gewirkt hätte. Vielleicht kann dieser Brief wenigstens andeuten, was da alles möglich gewesen wäre. Zwar nicht eine Konsonanz, denn das gibt es nicht, aber eine Assonanz, wenigstens nicht die hämische Unduldsamkeit deinem inneren Erlebnisreichtum gegenüber, die ich, mich an noch oft unglücklichen Ausdrücken – Oberflächenerscheinungen Deiner 28 Jahre – stoßend, Dir immer und immer wieder entgegenbrachte, sondern freudige Erwartung, Manches sich doch in jene Ausdruckswelt emporarbeiten zu sehen, die Dir heute noch nicht in Haltung und Gebärde, wohl aber im geschriebenen Wort offensteht und durch die, welcher Form sie auch sei, zwei wirklich reiche Menschen sich stets erkennen und so auch gegenseitig festigen. Aber ich suchte nicht ernstlich danach bei Dir, weil ich es nicht am selben Orte wie bei mir fand; ganz unsinnigerweise vergaß ich, daß Du ein Dichter bist, gab vielmehr diesem Begriff nur den Sinn eines Fälschers ohne mir zu vergegenwärtigen, um wie vieles hier der Zwang zu fälschen wichtiger ist als die Kunst im Fälschen, ohne das seltsame Wesen einer Fälschung – es bleibt ja trotz allem eine – zu erkennen, die durch den tiefsten Zwang angestrebt werden muß, um am wenigsten eine Fälschung zu sein, und deren Gift nur denen erspart bleibt die am meisten danach verlangt: denn als ebensolch ein Prinzip, das seinen eigenen Gegensatz als letzte Lehre in sich trägt, muß das Dichten angesehen werden. – Ich war also ungerecht und will es nicht mehr sein, solange mir wenigstens mein klarer Blick durch die Reibungen des täglichen Beisammenseins nicht getrübt wird: welch letztere mir nämlich diese andere Einsicht gar nicht erlaubt hätten, wahrscheinlich.

Es hat mir aber dabei ein ganz wunderbares Buch geholfen, »Wolf Solent« von John Cowper Powys: ich glaube es ist das, von dem Du mir einmal als von etwas ganz großem sprachst: jedenfalls tauchte es in meiner Erinnerung als ebendas Buch auf, als ich es zufällig auf den Quais fand und deshalb kaufte.

Veza an Georges, 16. Dezember 1933

Herrn

Georg Canetti

9, rue du Pavillon

Boulogne sur Seine

Frankreich

16. Dez

Liebster Georg,

Ihr Brief war gescheit, schrecklich gescheit und schön, aber ich antworte Ihnen noch lange nicht, jetzt lass ich Siemindestens ebenso lang warten wie Sie mich.

Dafür schick ich Ihnen mit gleicher Post eine Novelle aus einem Novellenzyklus »Die Gelbe Strasse«, der im Jänner fertig sein wird. Die Vierte darunter erzählt die Geschichte Ihrer Cousine Mathilde. Die erste, die ich Ihnen schicke, hat noch Mängel jede folgende ist natürlich reifer. Ich muss Sie aber bitten mir diesmal die Kopie zurückzuschicken, denn ich brauche sie für den Band; die Vierte, die über Ihre Cousine, folgt in einigen Tagen und die mögen Sie behalten. Canetti wird bald laute Erfolge haben er hungert sich tapfer durch. Ich fange an Geduld zu bekommen. Meine Novelle bitte den A’snicht zu zeigen was ist es mit Ihnen Sie schrieben nichts darüber.

Herzlichst

Veza

Georges an Elias (Entwurf), 10. Februar 1934

Den 10. Februar 1934

Mein lieber Elias,

Heute endlich hätte ich einen langen Brief begonnen, einen »richtigen«, wenn nicht eine Nachricht dazwischengekommen wäre, die mich zwingt Dir raschestens und daher kurz zu schreiben. Es heißt, daß Du Dich mit Veza verheiratest, daß ihr im Tempel ausgeschrieben seid, bereits einmal ausgerufen wurdet und alles nach der 3. Ausrufung zu Ende sein wird. Ich kann nicht glauben, daß irgend jemand Dir so übel gesinnt sein kann, um eine derartig positive Lüge zu erfinden und zu verbreiten. Folglich muß ich die Nachricht als wahr ansehen, genau so wie ich mich immer geweigert habe, alles diesbezügliche, was sich als blödes Gerücht interpretieren ließ, auch nur im entferntesten ernst zu nehmen.

Ich will Dich nicht im geringsten in Deiner Handlungsweise beeinflussen, und weiß auch gar nicht, ob das überhaupt noch möglich ist. Halte mich mit dem Nichtbeeinflussenwollen nicht für einen Heuchler, ist es doch klar, daß Du alles, was Du hier lesen wirst, bereits weißt, und es Dir also möglich wäre, aus eigenen Stücken zu erkennen ob zwischen dem, was du weißt und dem, was Du jetzt tust auch nur der geringste Zusammenhang besteht. Ich will also nur Dein Gedächtnis auffrischen. Ich darf es, denn Du weißt wie hoch ich Veza achte, wie gerne ich sie habe und wie sehr ich andrerseits, als gerader – wenn auch verschlossener – Mensch, ihr, weil ich sie achte und gern habe, alles gute wünsche. Folglich schreibe ich hier nur für Dich und nicht gegen sie. Du bist im Begriff, die größte Dummheit zu begehen, die Du begehen kannst. Von wo man die Sache betrachtet, bleibt kein andrer Schluß übrig. Ich lasse jede materielle Frage außer Spiel, denn nie werde ich glauben, daß materielles auch nur das geringste beeinflußt haben kann: und solltest Du selbst, in Ermangelung andrer Gründe, diesen einen trotz allem aufführen wollen, so wird er für mich nur eine zynische Pose darstellen und nicht eine zynische Tat. Und übrigens ist für dergleichen Dinge eine Heirat ganz überflüssig. Es bleiben also wertvollere Beweggründe. Du willst der Veza helfen: ihr ihre Stellung in Eurem Kreis festigen, ihr als jemandem zu Dir und Deinem Aufstieg ständig gehörigem eine definitive Geltung verschaffen – denn selbst wenn Ihr Euch eines Tages trennt bleibt sie dann für alle das, was sie einmal war: und gleichzeitig willst Du ihr durch die Formalität der Heirat das Leben in dem spaniolischen Kreis, von dem sie nun einmal nicht loskommen kann, ermöglichen. Es frägt sich aber nicht nur, ob Du das alles überhaupt erreichen kannst, sondern vor allem was Du dabei unvermeidlicherweise miterreichen mußt: ein großes Unglück, das du der Veza zu den ganz geringen Kommoditäten draufgibst.

Elias an Georges, 2. März 1934

Wien, den 2. März 1934

Mein lieber Georg!

Ich verstehe, dass Dich das so sinnlose und zufällige Pech bei der mündlichen Prüfung gekränkt hat, aber wenn man jetzt, aus der Ferne, darüber nachdenkt, kann man sich nur darüber freuen. Du bist verflucht jung, was Du an Erfahrung in diesem Jahr sammelst, wird Dir praktisch nur nützen, und die Vertiefung des idiotisch mechanischen Wissens, das Du bloss für die Prüfung erbüffeln musstest, ist für eine ernsthaft wissenschaftliche Leistung unumgänglich. Je mehr Gewächse man in sich anlegt und je tiefer man sie wurzeln lässt, umso bessere Frucht trägt man. An der Zahl von Gewächsen leidest Du ja allerdings keinen Mangel, wohl aber hattest Du viel zu wenig Zeit zur Vermehrung. Überhaupt ist mir nicht bange um Dich – soweit einem nicht um die Welt im Ganzen bange sein muss. Du hast eine so glückliche Mischung von musischen und Gelehrten-Eigenschaften; und da Du gerade vor kurzem John Cowper Powyskennengelernt hast: ich sehe den Tag kommen, da Du nach einer bedeutenden Leistung als Gelehrter die Welt, nicht Dein Bruder, mit einem grossen Roman überraschst – es gibt drei Brüder Powys, alle drei Schriftsteller, und der grösste von ihnen hat zuletzt mit der Kunst begonnen, er war früher reiner Philosoph. Ich hoffe, Du weisst diese ehrende Bemerkung zu schätzen.

Carlo hast Du sehr gut gefallen; er hat mir einen begeisterten Brief über Dich geschrieben und meint, ich hätte durchaus nicht zuviel von Dir erzählt.

Nun zu meiner »seltsamen Hochzeit«. Ich weiss nicht, in welcher idiotischen Form die Nachricht zu Dir gedrungen ist. Ich schreibe Dir jetzt die Wahrheit, von der nur Renée und einige engste Freunde wissen; entscheide bitte Du selbst, ob Du sie der Mama aucherzählen sollst. Es handelt sich nämlich darum, dass sie (die Wahrheit) auf Umwegen nach Wien zurücksickern könnte, wo sie uns ungemein schaden müsste.Veza hat sehr böse Monate hinter sich. Sie war bereits im Januar, als Mit-Arbeiterin einer hiesigen Zeitung und jugoslawische Staatsbürgerin von einer Abschiebung nach Jugoslawien bedroht. Wie es aber dort in solchen Fällen zugeht, dürftest Du ja wissen. Ich kam also auf die ausgezeichnete Idee, sie zu heiraten. Da ich als staatenlos gelte, verliert sie durch die Ehe ihre Staatsbürgerschaft und kann sich, im Falle einer Abschiebung, das Land selber aussuchen. Mein Plan war leichter zu fassen als auszuführen. Eine zivile Trauung war mit meinen Papieren unmöglich, nur im spaniolischen Tempel ist die Schlamperei für solche Dinge gross genug. Da die Gefahr gross war (eine Zeitlang sah es geradezu lebensgefährlichaus, Du musst bedenken, was für ein feiner und empfindlicher Mensch Veza ist) bissen wir beide in die harte Nuss und spielten vor den Spaniolen alles was dazu gehört. Wir sind also jetzt offiziell verheiratet, und beide, laut amtlichem Trauungszeugnis staatenlos. Das ist auch für mich von Vorteil, denn meine Staatenlosigkeit war früher eine sehr heikle Sache, jedes amtliche Dokument mehr darüber verhilft mir später leichter zu einer neuen Staatsbürgerschaft.

An meiner Beziehung zu Veza hat sich dadurch nichts geändert. Sie ist mein wärmster und selbstlosester Freund (Deiner auch, was Du offenbar vergessen hast; Du schreibst ihr nie und Du weisst, wie sie auf einen Brief von Dir seit Monaten wartet!) eigentlich ist sie jetzt meine Mutter, falls ich je wirklich heiraten wollte, was kaum der Fall sein wird, würde sie natürlich sofort in eine äusserliche Scheidung willigen. Überhaupt berührt diese Hochzeit nichts von allem was da war. Ich hatte gehofft, dass Du Dir das alles, auch ohne Erklärungen, von selbst denken würdest; da Du aber in der Familie lebst, nimmst Du Hochzeiten unwillkürlich ernster. Unter den Künstlern galt Veza immer als meine Frau, und in dem schönen geistigen und seelischen Sinn, den diese Leute meinen, ist sie es ja auch. Du und sie, ihr beide, werdet immer die Menschen sein, die ich am meisten liebe, und es ist meine feste Absicht, immer einen Teil des Jahres mit ihr zu verleben (und mit Dir hoffentlich auch).

Über die hiesigen Ereignisse wünsche ich nichts zu schreiben. Du hast genug Phantasie, um Dir alle mögliche Bestialität, diesmal in ihrer anheimelnden Wiener Form vorzustellen. Ich hoffe sie Dir mündlich und ein andermal in einem Buch erschöpfend darzustellen. Meine persönlichen Aussichten sind denkbar schlecht. Vom Roman war schon früher keine Rede mehr. Er liegt jetzt in der Schweiz bei einem neuen Verlag. Die Komödie hatte intern grösstes Aufsehen erregt und eine Aufführung bei Reinhardt in der Josefstadt galt für April als sicher. Nur hatten sich die Leute bis jetzt vor einem Kontrakt wohlweislich gedrückt. Seit den letzten Ereignissen halte ich alles für unsicher. Vielleicht sehe ich das Schicksal der Komödie schwärzer als es notwendig wäre, aber ich will nur noch mit Sicherem rechnen und vor allem Dir ein richtiges Bild geben. Deinem Rat im Herbst folgend, war ich auch sonst nicht müssig. Ich habe für einen Wiener Schriftsteller, den ich zutiefst verachte, ein Filmbuch ausgearbeitet (»geholfen« nennt man das) unter der Bedingung, dass mein Name nicht genannt wird. (Es weiss also niemand davon, und Du darfst es weder Nissim noch Mama erzählen.)Der Mann ist jetzt in London, schreibt, dass die Aussichten für eine Annahme des Films ausgezeichnet sind und verspricht endgültigen Bescheid in den nächsten drei Wochen. Du musst wissen, dass ich diese Arbeit auf gut Glück gemacht habe, also ohne Bezahlung. Wird der Film angenommen, so bin ich auf gut zwei Jahre aller Sorgen enthoben.

Ausserdem habe ich einen unbegreiflich guten Freund an Dr. Cohn in Strassburg, der sich alle Mühe gibt, mir zu helfen. Seit Monaten schon bereitet er mir, vorsichtig und in aller Ruhe, eine Stelle in Strassburg vor, die mich halbtägig beschäftigen und ganz ernähren würde. Soweit ein Mensch verlässlich sein kann, ist er es; ich halte ihn für noch verlässlicher als Dich, was viel heisst, und ich höre von allen Seiten, dass er mich mehr liebt als ein Kind. Wahrscheinlich wird also daraus etwas werden. Ob ich der Arbeit, die er für mich plant, entsprechen werde, ist eine andere Frage. Sie erfordert ein flüssiges schriftliches Französisch, und dazu könntest nur Du mir verhelfen. Sollte ich also von Dr. Cohn hören, dass ich die Stelle bekomme, so fahre ich auf einen Monat oder zwei nach Paris, und Du bringst mir bei, was ich brauche. Die Pass-Schwierigkeiten würde man mir schon von Strassburg aus regeln (hoffe ich).

Im Laufe der kommenden Woche trifft in Paris ein: Dea Gombrich, eine wunderbare Geigerin, für moderne Musik die erste in Wien (sie spielt manche Sachen von Berg, Křenek, Webern als einziger Mensch auf der Welt).Sie kann unvergleichlich mehr als die Erikaund ist ein besonders lieber und bescheidener Mensch der noch dazu zu meinen und Vezas engsten Freunden zählt. In Strassburg hat sie ein Radio-Konzert, ebenso in Paris, wo sie mit Orchester spielt (Festival Autrichien am 15. März). Ihre Cousine, bei der sie wohnen wird, ist Sekretärin eines sehr wichtigen Pariser Theatermannes, dessen Name mir entfallen ist. Sie wird für meine Komödie, die sie mithat, alle Hebel in Bewegung setzen. Ich habe sie gebeten, Dich gleich anzurufen. Ich brauche Dir gar nicht sagen, dass Du Dich ihrer annehmen sollst, es wird Dir ein Vergnügen sein, einer so feinen und grundedlen und noch dazu reizvollen Frau Paris zu zeigen. Bitte sag Nissim, dass er bei seiner Firma etwas für sie tun soll – sie spielt neben modernen Sachen auch klassische Stücke, die sie wiederentdeckt hat und fast niemand ausser ihr kennt. Nissim soll sie unbedingt vorspielen lassen; ich erweise damit ausnahmsweise ihm und nicht er mir einen Gefallen, da sie eine Künstlerin von allerhöchstem Rang ist. – Für heut Schluss. Schreib gleich und ausführlich. Beruhige die Mama. Falls Du es für gut hältst, ihr den Grund meiner Trauung mitzuteilen, schärfe ihr unbedingtestes Schweigen ein, sie könnte uns in grösste Gefahr bringen. Grüsse alle. Du sei herzlichst umarmt von Deinem Elias.

Georges an Veza (Entwurf), 4. April 1934

Den 4. April 1934

Meine liebe Veza,

Dieser Brief soll Sie erreichen, in welchem Zustand ich ihn auch immer stehen lasse. Es ist der fünfte seit Juli. Ich will Ihnen vor allem sagen, daß mich die paar Zeilen, die ich durch Renée bekam, sehr freuten. Nicht weil eine traurige Veza aus ihnen sprach, sondern weil es überhaupt eine Veza war. Warum schreiben Sie mir nicht öfter? Weil ich nicht antworte? Ich tue es fast jedesmal, doch finde ich das Geschriebene nie gut genug. Folglich können Sie sich leicht ausdenken, was ich schreibe, und mir also auch antworten.

Sie irren sich, wenn Sie glauben daß ich der Formalität, wie Sie sagen allzugroße Bedeutung beimesse. Ich wollte ja nur wissen, ob sie überhaupt stattgefunden hat. Und ich bin sicher, daß ein Stück Kontrakt – noch dazu ein in einem jüdischen Tempel ausgestellter – an Ihrem so schönen und reinen Verhältnis mit seinem ganzen gegenseitigen Zueinanderhalten – wenn auch oft mit genug Ärger – nichts ändern wird. Wohl weiß ich wie leicht man sich an Banden wundschabt, die viel lockerer als die wirkliche Verbindung geknüpft sind – weshalb man sie sich eben so furchtlos auferlegte. Aber das wissen Sie ja auch.

Elias an Georges, 1. Juli 1934

Zürich, den 1. Juli

Mein lieber Georg!

Da wäre ich also schon unterwegs, mit allen Visen versehen, Hoffnung im Herzen und Traurigkeit im Kopf, nach Paris, wo ihr mich alle mit so überströmender Zärtlichkeit erwartet. Wenn ihr wenigstens die alte Wohnung noch hättet! Ich kenne Deine neue Adresse nicht und schreib Dir an die alte. Sicher werden Dir die Briefe nachgeschickt. Schreib mir bitte sofort nach Erhalt dieses Briefes, wo Du zu erreichen bist, und zwar nach Strassburg. Ich fahre nämlich Mittwoch von Zürich, wo ich wegen meiner Komödie mit dem Theater verhandle, nach Strassburg weiter, wo ich ein, zwei Tage bleibe. Ende der kommenden Woche bin ich also in Paris. Allerdings ist es möglich, dass sich mein Aufenthalt hier um zwei, drei Tage verlängert.

Du jedenfalls schreibe mir an Dr. Cohn Rue Schwilgué 16 – Strasbourg.

Ich freue mich auf Dich, trotz Deinem kühlen Brief und bitte Dich sehr darum, Dir die nächsten Wochen ein wenig freier zu halten. ScherchensTagung dauert noch den ganzen Juli und hie und da wenigstens solltest Du dabei sein, schon um die merkwürdigen Menschen zu sehen, die bei einer solchen Tagung zusammenkommen.

Wenn die Mama noch in Paris sein sollte, lass ich sie grüssen. Ein Glück, dass Paris so gross und unübersehbar ist. Das Spiessrutenlaufen zwischen sämtlichen Verwandten, das mir bevorsteht, könnte einen sonst beinahe zum Selbstmord treiben. Zum Glück komme ich ja allein.

Du also sei einstweilen umarmt von Elias (der, bitte das nicht zu vergessen, nichts von Dir will).

Elias an Georges, 18. August 1934

Strassburg, den 18. Aug.

Lieber Georg!

Stell Dir vor, was für ein Glück ich habe: man gibt mir den Schlüssel zu all den verzwickten Türchen, die wir im Münster passiert haben, und ich kann nun jeden Tag nach Herzenslust dort herumvagieren. Du ahnst gar nicht, wie froh ich darüber bin. Ich setze es sogar an den Anfang des Briefes, obwohl ich Dir nicht deswegen schreibe.

Und weswegen schreibe ich? Natürlich, wie immer: wegen Geld. Ich glaube, wenn man meine Briefe an Dich zusammenstellt, muss ich als der schmutzigste Räuber der Welt erscheinen. Sei sicher, trotzdem, dass ich es nicht bin. Nun: ich habe grössere Ausgaben in der allernächsten Zeit, nämlich 100 Frcs für ein neues Récépissé. Dr. Cohn hat die Schritte unternommen, um mir den Aufenthalt für ein Jahr zu erwirken, und einstweilen sieht die Sache günstig aus. Für Wäsche gab ich, kaum war Dein Geld da, 35 Frcs aus; Du kannst Dir ausrechnen, dass ich jetzt noch 25 Frcs in Händen habe.

Nun aber, was viel schlimmer ist: Ende nächster Woche fahren Cohns nach Karlsbad und das Mädchen auf Urlaub. Ich darf wohl im Hause bleiben, es zu hüten; aber ich habe für mein Frühstück aufzukommen und für die drei – vier Nachtmahle pro Woche, die ich sonst zu Hause einnahm. Sie bleiben bis mindestens Mitte September weg. Wie ich da auskommen werde, weiss ich wirklich nicht. Ich werde jetzt trachten, die Zahlung für das Récépissé eine Weile hinauszuschieben. Auf jeden Fall: schicke mir gleich nach Empfang dieses Briefes mindestens 200 Frcs. Denn sollte man mir doch die 100 Frcs abverlangen, so kann ich nicht gut nein sagen und damit alles gefährden. Und überlege Dir doch bitte, welche Möglichkeit es sonst gibt, mir für die erste Septemberhälfte weitere 300 Frcs aufzutreiben. Der Verkauf des Schmuckstückes ist ja ganz sicher; es handelt sich nur um Wochen. Auch dass hier in Strassburg irgendetwas für mich geschieht, ist sicher. Nur muss dazu der Sommer vorüber sein, denn im Sommer lässt sich, wie Du Dir ja denken kannst, wenig beginnen.

Ich für mich habe ja, seit ich in Strassburg bin, eine Menge getrieben. Die mittelalterliche Strassburger Chronik (von Königshofen), die ich im Urtext lese, gehört zum Aufregendsten, das ich kenne. Sie enthält ausführliche Schilderungen der Pest, der Judenverfolgungen, der Geissler. Das Vierzehnte Jahrhundert, in das ich mich immer mehr hineinlebe, ist wirklich eine Vorahnung unsrer Zeit. Nun scheint es mir sehr schwer, etwa den kommenden Krieg in Europa so darzustellen, dass er seine Maasse, seine furchtbaren Maasse voll hat, denn selbst wenn das technisch möglich wäre, würde er unglaubwürdig werden. Die exakteste Phantasie ist ja die unglaubwürdigste, denn sie entfernt sich am meisten vom Gegenwärtigen. Alle Darstellungen des kommenden Krieges haben etwas Utopisches an sich; das ist ein Unglück, denn eigentlich ist dieser Krieg schon da und er ist nichts weniger als utopisch. Da gibt nun die relativ kleine mittelalterliche Stadt (die fest umgrenzt ist, in der jeder den andern kennt, wo die Gassen sich noch zwischen Häusern fortquetschen und nicht die Häuser an Strassen stehen), die Möglichkeit, alles, dasselbe, in verringertem Massstab darzustellen. Die Stadt Strassburg im Vierzehnten Jahrhundert soll mir so etwas wie eine Landkarte der heutigen Wirklichkeit werden. Ich verwende also die alte Zeit nicht wie in einem historischen Roman, als hohlen wissenschaftlichen Aufputz, sondern als das Netz von Meridianen und Parallelkreisen, das ich zur Verkleinerung brauche. – – Übrigens würde ich mich sehr über einen Band Proust freuen; ich möchte aber einen ersten Band, damit ich der Reihe nach weiter lesen kann. Schreib mir bitte einen anständigen Brief. Aber schicke gleich einen Teil des Geldes (200 Frcs). Herzlichst Dein Bruder Elias

Elias an Georges, 13. September 1934

Strassburg, den 13. September 1934

Mein lieber Georg!

Eben erst habe ich die Fackel bekommen; Veza, die in Ferien war, konnte sie mir nicht früher schicken. Ich traue meinen Augen nicht. Vonvielen Seiten war mir das Unglaublichste angekündigt worden; besondern Eindruck machte mir natürlich schon Dein Brief, denn ich kenne Dich als vorsichtig in Deiner Ablehnung und zäh in Deiner Liebe; aber das, das, was ich diese ganze Nacht hindurch gelesen habe, hätte ich niemals erwartet. Ich schäme mich, von einem solchen Monstrum beeinflusst gewesen zu sein. Ich schäme mich des ungeheuren und bestimmenden Eindrucks, den seinerzeit der Kampf, den er nach dem 15. Juli gegen Schober führte, auf mich gemacht hat. Ich fürchte Spuren seines Einflusses in meinen Dramen und möchte ausmerzen in jeder Arbeit und in mir, was an ihn erinnert. Ich möchte ihn, obwohl er so schwach ist, körperlich züchtigen. Welch ein Thersites! Welch ein Goebbels im Geiste! Wie für diesen »Empfindsamen«, um aller Kreatur Gequälten, plötzlich Blut kein Blut, Frauen keine Frauen, Kinder keine Kinder mehr sind! Am meisten Eindruck hat ihm in Deutschland die Bedrohung des jüdisch-arischen Geschlechtslebens gemacht. Deutschland allein ist der Teufel, alles Andre also Engel. Man muss sagen: eine persönliche Weltauffassung, die einem Angst vor der eigenen macht, soweit sie persönlich ist. Karl Kraus für die Hinterbliebenen der Polizei! Karl Kraus erklärt und entschuldigt auch »Krieg«. Krieg ist Krieg! – ein Argument des Mannes, der den Hass gegen den Krieg in uns dauerhaft gemacht hat. Wie er sich den Folgen seiner Wirkung entzieht! Wie er sich für den Kampf gegen die Regierung nach dem 15. Juli und seine Abneigung gegen Schober entschuldigt. Wie er das vor allem ist, was er den Sozialdemokraten, zum Teil mit Recht, vorwirft: verantwortungslos; der Mann der grossen Verantwortung für Komma, Punkt und Strich! – Aber was erzähl ich Dir da alles, Du weisst das selbst genau so gut und besser. Nur vor einem habe ich Angst: dass Du Dich zu sehr mit ihm identifizierst,wie er vor dem Umfall war. Es scheint mir wichtiger und gesünder, die merkwürdige innere Abwehr, die man schon früher gegen ihn hatte und sich aus Dankbarkeit und Treue nur nicht einzugestehen wagte, zu untersuchen, die Beziehung zu diesem Manne wie in einem Roman psychologisch darzustellen. Man würde da zu merkwürdigen Ergebnissen gelangen: Karl Kraus ist ein Meister der Phrase; er war so etwas wie ein Hitler der Intellektuellen. Er vermochte es, Intellektuelle zu einer gläubigen Masse zu formen, und, was erstaunlich ist, durch dieselben Mittel: durch die moralische Phrase.

Wir müssen einmal lange über ihn sprechen. So sehr ich mich über die Lust am Formen freue, die in Dir erwacht ist, so glücklich ich wäre, wenn Du zu den Ärzten gehörtest, die bedeutende Schriftsteller wurden, so gern ich das falsche Vorbild der Brüder von Gogh für das gerechtere der Brüder Goncourt hergeben würde und so sehr ich Dir alles zutraue, denn viele Möglichkeiten stecken in Dir und Du hast Dich geistig wie seelisch unheimlich lange rein gehalten, ebensosehr und noch mehr bitte ich Dich: zerstöre in Dir den Götzen Kraus; versuche nicht das zu werden, was er hätte bleiben müssen. Schreib nicht Sätze wie: »über den ich mir im Französischen von niemandem, selbst Paul Valéry nicht, was dreinreden lasse« denn es könnte, nicht nur formal, ein Satz von Karl Kraus sein. Geh nicht die Wege seiner Selbst-Behauptung, denn Du hast eigene, und vergiss vor allem nicht, dass das Meiste, wofür Kraus sprachlich im Deutschen gekämpft hat, im Bereich des Französischen selbstverständlich und darum auch keine Aufgabe ist.

Es ist richtig, dass Du Deinen Bruch mit ihm gestaltest; aber ob es richtig ist, dass Du ihn in seiner Form gestaltest? Nicht wahr, eine seiner kaiserlichen Allüren ist ja die, dass er nur in seiner Sprache zu sich sprechen lässt. Ohne »Majestät« und die Floskeln, in denen er seine Erlässe von sich zu geben pflegt, ist jede Anrede an ihn umsonst. Ach, Georg, Du bist mir zu fein, zu französisch für diesen grössenwahnsinnigen Popanz; vielleicht triffst Du ihn, weil Du ihn französisch angreifst; er ist unglaublich eingebildet und hat darum im Innersten den Respekt des Parvenüs vor allem, was er nicht versteht. Du fühlst selbst, wie meine Worte sich vergreifen, ich kann nichts dafür, mich schmerzt dieser rasche unabänderliche Todessturz meines letzten Halbgottes; Götter hatte ich keine mehr. Ich glaube, Georg, wenn wir innerlich nicht sehr zusammenhalten, gehen wir in dieser Zeit zugrunde, und nicht »uns« meine ich damit, sondern das was wir den andern bedeuten können. Siehst Du, jeder kleine Satz von Dir, der mir aus dem Herzen gefühlt und aus dem Mund gesprochen ist (wie z. B. der über Deine Kollegen und den nächsten Krieg), gibt mir buchstäblich Kraft weiter da zu sein und nicht zu ersticken, denn habe ich nicht einen wirklichen Bruder? Wer hat das? Die Wenigen, die beschlossen haben, ganz allein für alle andern da zu sein, sind allein und zu schwach, es zu ertragen. – Aber es ist unsinnig, dass ich Dir jetzt vor Deiner Prüfung Jammer-Reden halte. Ich bitte Dich nur um Eines: halte mir keine Predigten und sei nicht kleinlich; es ist das Einzige, was uns noch ein wenig trennt. So wenig ich meinen Besitz je von Deinem trennen würde, – und das ist durchaus keine platonische Redensart, denn irgendein Zufall kann mich so gut reich machen wie den oder jenen, – so wenig darfst Du meine ohnehin nicht freudvolle Lage durch philiströse Ermahnungen erschweren, die Dir, kaum hast Du sie selbst niedergeschrieben, lächerlich erscheinen. Du siehst: ich bin noch in Strassburg, obwohl das eine Stadt für Wochen und nicht für Jahre ist, in einer Einsamkeit, die unerträglich ist, denn: Du bist einsam, aber Du kannst einfach verschliessen,was Du für wert hältst, ich muss mich dazu verstellen. Von Idioten und Leichen umgeben, und Gott seis geklagt, auch von meinen geliebten Irren (die aber über mich bestimmen dürfen) muss ich mich verstellen, das Lamm des jüdischen Unglücks vorstellen, das ich doch gar nicht bin, Pfui Teufel, und dann ist dieser »sanfte gute Mann« (wie wir dachten), von einer heimtückischen Taktlosigkeit, die bei der ungebildeten Edith noch angenehm war.

Man sollte alle diese Nicht-Herzen, die auf meinem Riesen-Herzen herumtrampeln, als hätten sie das Korn meiner Kunst zu dreschen, auf einen halben Tag zu Veza in die Schule schicken. – Aber Du siehst, ich bin noch da, jetzt sogar bis Ende des Monats ganz allein; ich muß auf alle Fälle den Herbst hier abwarten, denn wenn es eine Arbeitsmöglichkeit gibt, so kann sie sich erst im Oktober zeigen. Das Récépissé der Carte d’Identité, durch die mein Aufenthalt hier einstweilen gesichert wäre, könnte ich schon haben; es kostet um 100 Frcs, die ich nicht habe. Du musst mir sofort 300 Frcs schicken, 100 für das Récépissé und 200 zum Leben bis Ende des Monats. Ich habe nämlich gar nichts mehr; was ich Dir angebe, ist ein jämmerliches Existenzminimum, und nur weil der Verkauf jenes Schmuckes, von dem ich Dir sprach, schon für diese Tage gesichert schien, habe ich mich nicht früher gemeldet. Jetzt kann es wieder noch 14 Tage dauern. Lass mich bitte nicht warten; Du kannst, wenn es anders nicht geht, erst 200, und dann in einer Woche 100 schicken. Schreib einmal bitte, trotz Lernen.

Veza an Georges, 20. Dezember 1934

20. Dez.

Liebster Georg!

Ja, meine Mutter musste sterben, damit Sie mir schreiben und dann haben Sie noch kranke Lungen dazu, und deshalb sehen Sie so schlecht auf der Photo aus, die ich doch nicht zerrissen habe. Der Canetti ist heute tief betrübt, ganz traurig ist der kleine Kerl, er rennt sinnlos herum und tut nichts, und hofft Sie im Feber zu sehen. Er dürfte nämlich in einer Woche nach der Schweiz fahren, wo er mit dem Komponisten Vogel bei einem Mäzen wohnen und eine Oper komponieren (nein, dichten) wird. Nachher will er Ihrethalben nach Paris, damit er Sie sieht, er sehnt sich sehr nach Ihnen.

Ich sehn mich noch mehr aber mir nützt es nichts und ich schreib auch schon nichts mehr darüber, keine Angst!! Ich träumte von der Nacht des 17. zum 18. dass ich mit Ihnen bin und ich küsste Sie sehr und war so glücklich im Traum, dass es mir ein wenig über den Lebensüberdruss im Wachen hinweghalf. Denn den hab ich. Ich erzählte den Traum auch Elias und finde es einfach wunderbar, wie alles, was mit Ihnen zusammenhängt. Keine Angst, ich sag mir schon selbst immer stop. Denn Sie wollens nicht hören. Ich bin lebensmüde. Ja. Denn meine Mutter war wirklich gut und sie war mein guter Trottel, der sich von mir quälen liess und mich abgöttisch liebte. Jetzt bin ich ganz verlassen.

Denn Sie, Sie werden bald gesund werden und den nächsten Brief von Ihnen bekomm ich an meinem Sterbebett. Könnt ich zu Ihnen fahren und Sie auf den Mund küssen um Ihre Bazillen zu schlucken, so wär das ein Lebenszweck. Aber so! Der Canetti ist bereits ein ausgewachsener sehr egoistischer Quälgeist, sehr entwöhnt und selbstständig, der wurstelt sich auch ohne mich weiter. Er liebt mich, aber er liebt die Anna mehr und wer müsste das nicht. Ich selbst bin ihr ganz verfallen und was das merkwürdige Schicksal will! Sie liebt mich und nicht den Canetti und wenn sie mich sehen will muss sie es erkaufen, sie muss mir dafür ein Rendez-vouz mit dem Canetti bewilligen aber das wieder darf er nicht wissen, um Gottes willen, Georg, denn er liebt sie, liebt nur sie. Und sie ist auch berauschend und ein Märchen und ein »Strahl« sagt Canetti und ich sag die »geliebte Sünde« zu ihr.

Ich sollte Ihnen eigentlich die ganze Zeit schreiben, dass ich traurig bin, weil Sie krank sind, weil Sie im Spital liegen, weil … weil …, aber ich bin nicht traurig. Ich bin ganz froh, dass Sie diese Tuberkeln haben, vielleicht komm ich doch nach Frankreich und dann werd ich sagen, ich muss Sie küssen, damit Sie nicht glauben, dass Sie Tuberkeln haben und so kann ich Sie endlich küssen. Es kann aber sein, dass ich vorher Selbstmord begehe. Denn wie gesagt, meine Mutter fehlt mir sehr. Oft verwünschte ich sie, immer verhöhnte ich sie, meist quälte ich sie. Und jetzt wein ich laut und sprech laut zu ihr und flehe sie an doch bei mir zu bleiben und bin froh sie im Traum zu sehen und glaub manchmal, dass es eine Seele gibt und manchmal glaub ich es nicht und bin verzweifelt, weil nichts, nichts von ihr da sein sollte und so denk ich oft an den Gashahn. Denn niemand ist zärtlich zu mir, Georg, niemand. Es wären schon welche da, die es sein wollten, aber Canetti vertreibt sie und kommt dafür in der früh nachhause und versichert mir, dass ich eine gute Mutter zu ihm bin, eine Dichterin dazu. Denn die bin ich. Ich habe zwei Theaterstücke geschrieben. Das eine, ein Lustspiel, wird uns Geld einbringen, das Zweite ein Drama mir Ruhm. Sie spielen darin eine grosse Rolle, Sie haben keinen Namen, Sie heissen einfach »der junge Doktor«.

Ja, und sorgen müssen Sie sich nicht um uns, das fehlte noch. Jetzt sind Sie unser Herzpinkerl und können nicht aus. Denn wenn ich Ihnen einen Liebesbrief nach dem andern schicke, wird es eben sein, weil Sie krank sind, da können Sie nichts dagegen sagen. Ich schreib Ihnen nächste Woche wieder. Vielleicht werden Sie berücksichtigen, dass ich wissen möchte, wie es Ihnen geht und vielleicht werden Sie mir doch schreiben.

Ihr Brieferl an mich, wiewohl förmlich und aus purer Artigkeit geschrieben, hab ich dennoch dem Canetti unterschlagen. Ich werd das jetzt immer tun. Ich werd jeden Brief von Ihnen verheimlichen. Ja, das werd ich. Wissen Sie warum? Weil ich mir dann einrede es ist ein bisschen ein Liebesbrief, obwohl drinsteht, dass alle mich lieben müssen und ähnliche grausame Abschwächungen eines freundlichen Wortes. Ich kann Ihnen aber auch sagen, dass ich die Briefe verheimlichen werde, weil ich Ihnen immer über ihn reinen Wein einschenken will, über seinen leichten, liebenswürdigen, leichtfertigen unlöblichen Charakter. Ja, das kann ich Ihnen sagen, damit Sie eine brave Entschuldigung dafür finden. Ich werd übrigens nichts zu unterschlagen haben. Denn er wird nicht hier sein.

Es kann aber auch möglich sein, dass Ihr nächster Brief mich nicht mehr erreicht. Wegen der Sterblichkeit der Seele u.s.w. Weil ich manchmal nicht weiter kann. Ja, wenn ich oft und oft einen Brief von Ihnen hätte! Na, wenn Sie mich riefen! Aber das ist vorbei. Ich bin auch schon alt und zu traurig. Ich wär auch nur gekommen um ihre Bazillen oder was der Mensch da haben soll wegzuküssen. Durch vieles Küssen gehn sie vielleicht weg. Ich hätte Sie nur geliebt. So! Rache!

Da schreib ich und schreib ich und schreibe einem Stein. Aus. Nein. Also sorgen müssen Sie um uns nicht. Wir haben Freunde hier, die genau wissen, dass ihr Geld bei uns gut angelegt ist und die helfen uns auf den grünen Zweig. Ach Sie grüner Zweig, schreiben Sie mir doch nur eine Karte wie es Ihnen geht! Lassen Sie mich doch nicht so! Ich muss doch wissen wie es Ihnen geht. Das ist doch plausibel! Schreiben Sie auch nie wieder an Canetti, dass Sie ihm helfen würden. Ich würd ihn dann zum ersten Mal in meinem Leben verachten, wenn er es annähme. Und das würde ihn treffen. Er nimmt auch nicht an. Braucht es auch nicht.

Morgen liest er seine herrliche Komödie vor Alban Berg, Alma Mahler, der Anna (die indessen einige Augenblicke langnasiger Männer trinken wird, nicht seine, nein, nicht seine) und noch zwanzig berühmten Männern. Ich buk Vanillekipferln für den Zweck, aber sie sind verkohlt. Ich schreib etwas toll. Ja. Canetti wird tüchtig. Er schrieb einen Film für den Forster, den der Forster dann nicht spielen durfte. Könnte Ihr Bruder da nichts für diesen vorzüglichen Film tun? Er dürfte freilich nicht wissen, dass ich mitgearbeitet habe, denn wir können uns nicht schmecken. Aber warum schimpfen Sie immer so über mich, wir beide können uns doch schmecken? Zu Renée und zu Tante Bellina?

Ich muss mich jetzt um den Haushalt kümmern, das Mädchen zum sparen anhalten und Schlüssel in Verwahrung nehmen. Zwischendurch bin ich in Schlössern eingeladen und erst recht bemühen sich grosse Maler um die Gnade mich malen zu dürfen. Ja. Mich, nicht Anna. Obwohl Sie auch gleich überlaufen würden, wenn Sie herkämen. Und obwohl ich … ach. Ich sags nicht. Vielleicht schick ich Ihnen eine Photo des Porträts, falls meine Seele die Kraft hat sich vor die Staffelei zu schleppen. Das blödsinnigste Erzeugnis des Menschen ist die Seele. Das dacht ich als ich mit meiner toten Mutter in der Nacht wach lag. Ich wollt ich wär ganz tierisch. Wie gut wär es. Wie erträglich.

So. Ich mach schon Schluss. Ich denk Canetti wird auch seine Mutter besuchen. Er schämt sich halt vor ihr, weil noch immer nichts gelingen wollte. Als ob er es so nicht am weitesten bringen wird. Canetti mit Erfolg wäre schon verdorben. An der Anna ist er zerbrochen, das ist wahr. Vielleicht nützt ihm die Reise. Ich bin froh, er fährt, der arme Kerl. Er wird Sie sehen. Das will er unbedingt. Er liebt Sie wie eine Braut. Er ist verliebt in Sie.

Die Renée kommt jetzt und wird Ihnen einen Hendelbrief schreiben. Sie liebt Sie auch. Ich selbst schick Ihnen in einer Woche mein fertiges Drama nach dem Hospital, vielleicht erst in drei Wochen, bis es kopiert ist könnte so viel Zeit verstreichen. Wenn Sie Logis wechseln, lassen Sie es mich doch wissen. Aus Hochachtung für mein Werk, wenn nicht aus – eine neue Adresse gibt man doch an, Georg, und den neuen Stand der Lunge!!!!!!!!!!

Ist es nicht ein ziemlich züchtiger Brief? Für meine Art?

Ich bin so froh, dass Sie krank sind, vielleicht geben Ihnen die Frauen Ruh!

Veza.

Canetti schreibt extra.

Elias an Georges, Jahreswende 1934/35

Comologno, Montag

Mein lieber, lieber Georg! So erschreckt, verzweifelt und entsetzt war ich über Deinen Brief, dass es mehrerer Tage bedurfte, bis ich mich wieder halbwegs fassen konnte. Du armer, lieber Kerl Du, was hat Dich so weit gebracht? Du hast sicher immer zu wenig gegessen und Dich in Deinem Spital angesteckt. Ich habe mich überall nach dem »Pneumothorax« erkundigt und erfuhr zu meiner – nennen wir es – Beruhigung, dass dieser Pneumothorax sichere Heilung bedeute. Und um nicht sinnlos zu jammern, möchte ich Dir die grossen Vorteile dieser Krankheit anführen (das meine ich ernst). Du wirst Dich endlich ein paar Monate anständig ausruhen. Da oben kannst Du beim besten Willen Dich nicht mehr so herumhetzen wie sonst. Du entgehst vielleicht dem Militärdienst. Du hast Zeit für Dich und Du wirst in dieser Zeit zu einem besseren Schriftsteller als Dein Bruder. Und was für diesen Bruder das Schönste ist, er wird Dich da oben besuchen, mit Dir sein, und sobald Du vor Deiner Prüfung Ruhe hast, schöne anständige lange gescheite Briefe mit Dir tauschen. Georg, bitte tu ernsthaft alles, um ganz gesund zu werden. Ein Kerl wie Du, mit einem gut angelegten und wohlbebauten Kopf, hat Verpflichtungen, grosse gegen Alle, kleine gegen die Einzelnen, die ihn lieben und viel von ihm erwarten. Lass Deine Spannung nicht erschlaffen, behalte Deine Ziele, stecke sie nicht tiefer, nichts ist gefährlicher als eine vermeintliche Katastrophe, die Zeit hat. Veza liebt Dich wirklich und dass ich Dich liebe, weisst Du, und wenn Du Dir in Deinem Leben nichts mehr erworben hättest als die unbedingte, unerschütterliche und immer wache Neigung zweier vielleicht nicht alltäglicher Menschen, so hättest Du schon viel erworben. Ach, Georg, ich finde ja selbst alles, was ich Dir hier sagen kann, unzulänglich und recht klein, aber Du musst spüren, warum ich es sagen will, und das könnte Dich überzeugen.

Seit ich Deinen Brief habe, bin ich Dir auch räumlich viel näher, und das kam so: Wladimir Vogel, den Du ja kennst, will mit mir zusammen eine Oper schreiben, in einer ganz neuen Form natürlich und für Russland. Er schlug mir nun vor, den Januar mit ihm zusammen im Tessin zu verbringen, wo man uns ein Haus für diesen Zweck zur Verfügung gestellt hat. Mir war der Plan anfänglich nicht lieb, da ich Veza, die seit dem Tode ihrer Mutter in gar keiner guten Verfassung ist, nicht allein lassen wollte. Ausserdem sind wir finanziell in einer recht unglücklichen Lage und ich wusste nicht recht, wie ich das Reisegeld auftreiben solle. Sobald ich aber Deinen Brief in Händen hatte, beschloss ich, Dich bald zu sehen und jene andre Arbeit mit dieser Absicht zu verbinden.

Pass- und Geldschwierigkeiten, die aber jetzt behoben sind, schoben die Sache um ein paar Tage hinaus. Heute bin ich endlich so weit: mit Vogel und unsern Gastgebern zusammen hocke ich in Deiner Höhe (1100 m) mitten in den Alpen, 30 km von Locarno entfernt, unmittelbar an der italienischen Grenze und nicht mehr allzuweit von Dir, auf einem bezaubernden alten Schloss im Stil Louis XVI, und obwohl es hier so schön ist, freue ich mich auf den Februar, in dem ich Dich sehen werde. Ich will Ende Januar auf etwa 10 Tage nach Strassburg, und im Februar, wenn Du Deine Prüfung hast, nach Paris kommen (ohne Dich zu stören natürlich). Schreibe mir jedenfalls sofort, wenn Du diesen Brief hast. Ausreden haben wir ja beide keine mehr, Zeit ist in Hülle und Fülle da, und ich verspreche Dir ebenso rasche Antwort. Ich möchte ausführlichst Berichte über Dich, Deine Verfassung, Deine Tageseinteilung, und zwar sofort. Lass Dich auf das Liebevollste und Zärtlichste umarmen und küssen von Deinem Bruder Elias.

Die Post geht nämlich, und darum schliess ich den Brief ab.

Dr. Canetti »La Barca«

Comologno sopra Locarno / Tessin / Suisse.

Elias an Georges, 22. Januar 1935

Zürich, den 22. Januar 1935

Mein lieber, lieber Georg, ich bin verzweifelt, weil ich gar keine Nachricht von Dir habe, auch Veza nicht, niemand, die Adresse von Nissim weiss ich nicht mehr, ich kann mich nicht einmal bei ihm nach Dir erkundigen. Vor etwa drei Wochen schrieb ich Dir aus dem Tessin, Du musst den Brief bekommen haben; er war an die Adresse gerichtet, die Du mir angegeben hast. Es gibt nun zwei Möglichkeiten: es hat Dich vielleicht gekränkt, dass ich Dich zehn Tage auf Antwort warten liess; und da das eine schwere und durch nichts zu begütigende Anklage wäre, musst Du mir dieses eine Mal, darum beschwöre ich Dich, den Tatbestand glauben. Mein Entschluss zu reisen, um Dich zu sehen (alles Andre sind nur Nebensächlichkeiten gewesen) stand fest, als ich Deinen Brief las. Du musst wissen, dass Veza und ich in einer wirklich katastrophalen äusseren Lage sind (was Dich aber jetzt keineswegs etwas angeht) und dass ich darum in den Tagen, die Deinem Briefe folgten, mit dem Auftreiben des Geldes, mit Passlaufereien und schliess-lich mit dem Reisen selbst beschäftigt war. Die Fahrt nach Comologno ist komplizierter, als man denken würde. Aber davon ganz abgesehen, wollte ich Dir aus einer grösseren Nähe schreiben. Bitte begreife dieses Gefühl einer beinahe körperlichen Brüderlichkeit. Der Körper, der Dir jetzt Mühe macht, möchte von allen geschützt sein, die seinen Gehalt lieben; so würde ich Dir gerne als Blutspender dienen, wenn Du andern Blutes bedürftest.

Vielleicht aber bist Du gar nicht gekränkt; vielleicht geht es Dir nicht gut; aber siehst Du, Georg, es muss Dir doch klar sein, dass mich auf der ganzen Welt (und wie weit die Welt mir ist, weißt Du ja) nichts interessiert, nichts angeht, nichts quält, neben der Frage nach Deinem Befinden; und darum wirst Du mir gleich schreiben. Bitte lass mich jetzt nicht alle alten Sünden entgelten; sie waren klein, an der Liebe gemessen, die ich früher wie jetzt, und immer mehr, für Dich habe. Georg, ich muss ja wissen, wann Du in Paris bist, da ich meine ganze weitere Reise danach einteile. Ich fahre übermorgen, Donnerstag, von hier nach Strassburg weiter, wo ich etwa 14 Tage mit Vogel arbeiten möchte. (Er muss jetzt wieder in Strassburg sein.) Ich dachte daran, im Laufe des Februar nach Paris zu kommen, um Dich zu sehen; es hängt ganz von Deiner Prüfung ab, wann. Da Veza allein in keiner sehr guten Verfassung ist, möchte ich sie nicht zu lange allein lassen. Ende Februar oder Anfang März muss ich nach Wien zurück. Schreib mir also sofort, aber nicht an die Adresse von Cohn, bei dem ich auf keinen Fall wieder wohnen möchte, sondern:

Canetti, p.A. Wladimir Vogel

chez Mathis

Rue Wimpheling 2

Strasbourg.

Ich habe ein etwas merkwürdiges französisches Visum (ein Generalvisum für beliebig viele Ein- und Ausreisen, bis Ende Mai 1935 gültig). Da ich von diesem Visum noch nie Gebrauch gemacht habe, misstraue ich ihm etwas, wie allen Dingen, die zu schön sind.

Hier in Zürich wohne ich bei Dr. Rosenbaum, dem ersten Anwalt der Schweiz, einem wunderbaren und genialen Menschen, an dem ich einen Freund fürs Leben gewonnen habe. Sonntag war eine grosse Vorlesung aus meinen Sachen, bei der auch James Joyce anwesend war (er lebt zeitweise in Zürich; ein hiesiger Spezialist hat ihm ein Auge wiedergegeben; sehr lange war Joyce blind). Die Vorlesung war wohl ein Erfolg. In Zürich hätte ich jetzt für Bücher ein Publikum. Aber es ist mir gleichgültig, solange ich keine Nachricht von Dir habe. Zu Deinem Geburtstag bekommst Du von mir eine Menge Bücher. Schreibe gleich und wenn es nur drei Worte sind

Deinem Bruder Elias, der Dich über alles gern hat.

Veza an Georges, 27. Januar 1935

Georg Canetti

II.

Sanatorium des etudiants

Ferdinandstr. 29/5

St Hilaire du Touvet, Vienne

près Grenoble

Départ. Isère

Frankreich

27. 1.

Lieber Georg!

Ich bin entsetzt dass Sie nichts von sich hören lassen. Canetti ist darüber verzweifelt. Bitte um Nachricht

Veza

er ist in Strassburg Adr. bei Cohn, rue Schwilgué 16

Elias an Georges, 4. März 1935

Paris, den 4. März 1935

Mein lieber Georg,

Erst war ich sehr beunruhigt über Dein Schweigen. Jetzt hat doch wenigstens die Mama und der Nissim Nachricht von Dir. Und Du scheinst Dich gesundheitlich halbwegs gut zu fühlen. Sehr gebraucht hätte ich Vezas Stück, da ich heute nach Zürich fahre (d.h. erst nach Strassburg). Bitte schicke es jetzt eingeschrieben nach Zürich, wo ich Donnerstag spätestens sein werde.

Canetti bei Dr. Rosenbaum

Stadelhoferstrasse 26 / Zürich.

Leider kann ich diesmal bei Rosenbaum gar nicht oder nur kurz absteigen, weil sie die grösseren Gastzimmer alle besetzt haben. Ich bleibe also höchstens eine Woche in Zürich, wahrscheinlich kürzer, drum muss ich das Stück schon dort vorfinden, bitte warte also nicht länger und schick es gleich wenn Du diesen Brief bekommst, ab.

Hier habe ich eine Menge ausgerichtet, zum guten Teil mit Hilfe der Mathilde Camhi, die sich wirklich die Füsse für mich abgelaufen und überhaupt ganz reizend benommen hat. Wenn Du irgend etwas Besonderes brauchst, wende Dich ruhig an sie, Du hast an ihr, wie an all meinen Freunden, eine verlässliche Freundin. Ich bin bis zum Besitzer des Theaters de l’»Œuvre« vorgedrungen, der sich für die »Hochzeit« so weit interessiert, dass er sie persönlich lesen will. Der Inhalt und die Art der Gestaltung ist ihm sympathisch; ich glaube, ich habe dort gute Chancen.

Ich will Dir jetzt nicht alles berichten, was ich unternommen habe, nur das was Dich betrifft. Der Onkel Josef hat mich mit diesem jungen Arié von der Paramount zusammengebracht, der sich brennend für den Film interessiert. Da der Nissim so freundlich war, sich dafür nicht interessieren zu wollen, will ich es über den Arié versuchen. Den Film hast Du ja mit. Es wäre vielleicht am besten, Du übersetzt ihn in ein möglichst klares, einfaches Französisch, das aber doch gut sein muss. Ich denke, in einer guten Woche wirst Du bequem und ohne Dich anzustrengen, damit fertig. Natürlich beteilige ich Dich daran, wenn hier in Paris was daraus wird. Falls es dort oben eine Schreibmaschine gibt, kannst Du das Manuskript jemand diktieren. Falls nicht, schickst Du es ans Büro, der Onkel Josef lässt es dann abschreiben. Auf jeden Fall schreibe mir nach Zürich, ob Du es machst. Ich glaube, dass es eine leichte und angenehme Arbeit ist, die Dich kaum anstrengen kann; aber wenn Deine Ärzte andrer Meinung sind, darfst Du es natürlich nicht tun.

Bitte schreibe mir einen richtigen Brief nach Zürich, wenn es geht. Ich bin jetzt in grosser Eile und sag Dir drum Adieu. Sei auf das Herzlichste umarmt von Deinem Bruder

Elias.

Renée und Veza an Georges Poststempel vom 6. März 1935

M.

Georg Canetti

Sanatorium des Etudiants, St. Hilaire

du Touvet près

Grenoble

(Dep. Isère) France

II. Ferdinandstr.

Lieber Georg,

gratuliere Dir herzlichst zum Doktor, eine ganz großartige Leistung.

Renée.

Lieber Georg, Warum ist die Renée so rot geworden, wie sie Ihnen schrieb? Ich bin sehr stolz Doktor auf Ihre Leistung und sehr böse dass Sie nichts schreiben trotz meines »jungen Doktor«. Ich schreibe mit Grippe im Bett u. Renée meine gute Ziehtochter pflegt mich.*

Schreiben!

Sofort!

Veza

* Die Ziehtochter ist eher schlecht, sie fährt nämlich der kranken Mutter auf 14 Tage weg Skilaufen.

Georges an Elias (Entwurf), 14. April 1935

St. Hilaire, den 14. April 35

Mein lieber Elias,

Sei nicht böse daß ich Dir erst jetzt schreibe. Ich hätts vielleicht früher tun können – aber ein wirklicher Antrieb dazu war fast nie da. Ich wollte Dir nicht Gleichgültiges schreiben, auch nicht »Interessantes«, und zu Anderem reicht es nicht. – Zunächst willst Du wohl wissen wies mir geht. Es geht mir viel besser. Mit der Pariser Reise hat eine Besserung begonnen, die in den ersten Wochen geradezu sprungartige Fortschritte machte – jetzt verlangsamt sich das Tempo etwas, aber die Wendung zum Guten hält an. Ich spucke fast gar nicht mehr, habe wohl noch Bazillen – aber viel weniger als früher. Fieber hab ich überhaupt keines mehr; auf den neuen Aufnahmen zeigt sich die Kaverne fast ganz geschlossen, und schließlich hat sich auch mein Gewicht gebessert: um 3 Kilo hab ich zugenommen. Mehr kann man in 6 Wochen nicht erreichen. Eine endgültige Heilung erscheint jetzt möglich, sogar in recht absehbarer Zeit: so glaube ich kaum, daß ein zweiter Winter im Gebirge nötig sein wird. Wenns so weitergeht, kehre ich Ende September nach Paris zurück und ziehe dann wieder mit der Mama in eine Wohnung: was für uns beide die einzig mögliche Lösung darstellt; da ja die Mama nicht mehr allein gelassen werden kann – nur die Einsamkeit der letzten Monate hat sie in den Zustand gebracht, in dem Du sie gesehen hast –; und da andrerseits ich mich sehr schonen muß, wenn ich nicht, bei Wiederaufnahme der Arbeit, sofort rückfällig werden will. Es hängt jetzt, für die nächsten 4–5 Jahre, ein Damoklesschwert über mir – ein nicht zu verachtender Anreiz zum Weiterleben.

Über das Sanatorium wirst Du nun gar nicht das lesen, was Du wohl erwartest. Liegts an den Franzosen, liegts an mir, oder liegt es am Ende an der Verlogenheit derer, die bis jetzt über Sanatorien geschrieben haben – jedenfalls fehlt unserem Sanatorium jede Spannung. Zu einem Roman würde es bestimmt nicht reichen – es reicht kaum zu einem Tagebuch. Erstaunlich, wie wenig Pathos sich findet wo der Blick am meisten Pathos sucht – wahrscheinlich weil Pathos, als Diskrepanz zwischen Gesuchtem und Gefundenem, nicht gesucht werden darf um gefunden zu werden.

Veza an Georges, Poststempel vom 25. Juni 1935

Herrn

Georg Canetti

Sanatorium des Etudiants

près Grenobles

St. Hilaire du Touvet

Frankreich

25. VI.

Lieber Georg!

Ich schreibe Ihnen nur, damit Sie Ihrer Mutter die Freude machen ihr zu sagen, dass Canettis Buch durch Vermittlung von Stefan Zweig an einen neuen, sehr angesehenen Verlag, hier, erscheint. Das Buch wird meiner Ansicht nach Aufsehen machen. Auch für Amerika ist Interesse. Mehr habe ich Ihnen nicht zu sagen.

Veza

Canetti hat schon lang vor seiner Mutter zu schreiben. Ich hoffe Sie verstehen das …

Elias an Georges, 8. und 13. August 1935

den 8. August 1935

Mein lieber Georg!

Einen Monat ist es nun her, dass wir unsere schönen Tage gemeinsam in Strassburg verbracht haben, und noch immer hast Du keine Nachricht von mir. Dafür bekommst Du sie jetzt ganz aus Deiner Nähe; ich bin in Beauvais, 74 km bloss von Dir entfernt. Ich weiss gar nicht, ob Du Beauvais kennst; jedenfalls kennst Du Rouen, und da sind wir morgen. Die Reise, die ich mit Mme Cohn und ihrer Schwester, der Frau Prof. Hamm unternehme, hat uns in 2 Tagen bis hierher geführt. Der erste Tag war: Strassburg – Metz (herrliche Fahrt durch Lothringen) – Verdun – St. Ménéhould – Reims. Die Kriegsgegend, durch die wir gestern und heute fuhren, ist so niederdrückend, dass man sich am liebsten vor jedes daherfahrende Auto werfen möchte. Zwischen Laon und Compiègne ist Ort neben Ort frischgebaut. Kein Haus, und wenn es eins aus dem Jahr 10.000 vor Christus gäbe, kann so ruinenhaft wirken wie diese funkelnagelneuen Brickhäuschen. Noyon mit der neuen grossartigen alten Kathedrale sieht aus wie am Tag nach Erschaffung der Welt, aber Gott hat hier schlecht gearbeitet. In Beauvais ist man froh, aus dem Krieg draussen zu sein, und schämt sich, dass man nicht gleich dort geblieben ist. In Verdun gibt es ein Ehrenbuch für alle französischen Soldaten, die während des Krieges in Verdun waren. An französischen Toten, die man wiedererkennen konnte, stehen namentlich in diesem Buch bis jetzt: 93.000. Auf den Strassen spielen winzige schöne und hässliche Kinder, die Männer legen sich zu ihren Weibern, die Weiber gebären, morgen früh ist der Krieg wieder da