Die Schlinge - Lilja Sigurðardóttir - E-Book
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Die Schlinge E-Book

Lilja Sigurdardóttir

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Beschreibung

Die junge Mutter Sonja glaubt, dass sie endlich dem Netz entkommen ist, in das sie von skrupellosen Drogenbaronen gelockt wurde. Im fernen Florida ist sie mit ihrem kleinen Sohn Tómas untergetaucht. Doch das Glück währt nur kurz: In einem unachtsamen Moment verschwindet Tómas. Sonja ist sich sicher, dass ihr Ex-Mann dahintersteckt, und macht sich verzweifelt auf den Weg nach Reykjavík, zurück in die Welt der Kriminalität. Sie schwört sich: Diesmal wird sie nicht nur alles tun, um ihren Sohn zurückzubekommen, sondern sich auch an denen rächen, die ihr das Leben zur Hölle machen. Diesmal ist sie zu allem bereit. Auf die Unterstützung ihrer Freundin Agla, die selbst in kriminelle Machenschaften verstrickt ist, wagt sie nicht zu hoffen. Doch auch Bragi, ihr unerwarteter Komplize vom Flughafenzoll, ist hochnervös und beginnt, daran zu zweifeln, ob seine Allianz mit Sonja eine gute Idee war. Die Nerven liegen blank, und es scheint unmöglich, dass das Trio diesmal ungestraft davonkommt … Lilja Sigurðardóttir legt mit ›Die Schlinge‹ nach ›Das Netz‹ den zweiten Teil ihrer von Presse wie Publikum gefeierten Spannungstrilogie aus Island vor.

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Seitenzahl: 433

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Die junge Mutter Sonja glaubt, dass sie endlich dem Netz entkommen ist, in das sie von skrupellosen Drogenbaronen gelockt wurde. Im fernen Florida ist sie mit ihrem kleinen Sohn Tómas untergetaucht. Doch das Glück währt nur kurz: In einem unachtsamen Moment verschwindet Tómas. Sonja ist sich sicher, dass ihr Ex-Mann dahintersteckt, und macht sich verzweifelt auf den Weg nach Reykjavík, zurück in die Welt der Kriminalität. Sie schwört sich: Diesmal wird sie nicht nur alles tun, um ihren Sohn zurückzubekommen, sondern sich auch an denen rächen, die ihr das Leben zur Hölle machen. Diesmal ist sie zu allem bereit.

Auf die Unterstützung ihrer Freundin Agla, die selbst in kriminelle Machenschaften verstrickt ist, wagt sie nicht zu hoffen. Doch auch Bragi, ihr unerwarteter Komplize vom Flughafenzoll, ist hochnervös und beginnt, daran zu zweifeln, ob seine Allianz mit Sonja eine gute Idee war. Die Nerven liegen blank, und es scheint unmöglich, dass das Trio diesmal ungestraft davonkommt …

Lilja Sigurðardóttir legt mit ›Die Schlinge‹ nach ›Das Netz‹ den zweiten Teil ihrer von Presse wie Publikum gefeierten Spannungstrilogie aus Island vor.

© Gunnlöð

Lilja Sigurðardóttir wurde 1972 in der isländischen Kleinstadt Akranes geboren und wuchs in Mexiko, Spanien und Island auf. Bereits mehrfach ausgezeichnet für ihre Theaterstücke, wurde sie mit ihrer Reykjavík-Trilogie, die in zahlreiche Sprachen übersetzt wurde, auch einem internationalen Publikum bekannt.

LiljaSigurðardóttir

DIESCHLINGE

EIN REYKJAVÍK-KRIMI

Aus dem Isländischenvon Tina Flecken

Die Übersetzung wurde finanziell unterstützt vom

Die Arbeit der Übersetzerin am vorliegenden Text wurde außerdem vom Deutschen Übersetzerfonds gefördert.

eBook 2020

DuMont Buchverlag, Köln

Alle Rechte vorbehalten

© Copyright Lilja Sigurðardóttir 2016

Die isländische Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel ›Netið‹ bei Forlagið, Reykjavík.

This translation published by arrangement with Forlagið, Reykjavík and Arrowsmith Agency, Hamburg.

© 2020 für die deutsche Ausgabe: DuMont Buchverlag, Köln

Übersetzung: Tina Flecken

Redaktion: Friederike Arnold

Umschlaggestaltung: Lübbeke Naumann Thoben, Köln

Umschlagabbildung: © DEEPOL by plainpicture/Oscar Bjarnason

Satz: Fagott, Ffm

eBook-Konvertierung: CPI books GmbH, Leck

ISBN eBook 978-3-8321-7021-9

www.dumont-buchverlag.de

APRIL 2011

1

Zitternd schreckte Sonja aus einem tiefen Traum hoch. Sie setzte sich auf. Das Thermometer an der Klimaanlage zeigte dreißig Grad. Sie hatte sich zur Mittagszeit kurz hinlegen wollen und war tief und fest eingeschlafen, während Tómas Duncan im Wohnwagen nebenan besuchte, einen Jungen im selben Alter. Die Sonne hatte den kleinen Raum aufgeheizt, und dann war mit Getöse die Klimaanlage angesprungen und hatte eiskalte Luft in den Wagen geblasen. Sie hatte von Treibeis geträumt, das unterhalb des Caravanplatzes an den Strand gespült wurde, und obwohl Treibeis am Strand von Florida völlig absurd war, hatte sich der Traum so realistisch angefühlt, dass Sonja erst nach einer Weile das Bild von den riesigen Eisschollen aus dem Kopf kriegte, die sich laut knirschend auf den Sand schoben. Die Eiseskälte, die sie im Traum gespürt hatte, kam zwar von der Klimaanlage, aber sie wurde das mulmige Gefühl nicht los. Es war kein gutes Zeichen, von Treibeis zu träumen.

Sonja schwang die Beine aus dem Bett und stieß sich den großen Zeh an einem lockeren Bodenbrett. Dieser Wohnwagen nervte sie langsam tierisch. Aber egal, es war ohnehin Zeit, zu gehen. Sie waren seit drei Wochen hier, gefährlich lang. Morgen würde sie unauffällig packen und sich am Abend mit Tómas aus dem Staub machen. In der Schrottkiste, die sie unter der Hand gekauft hatte, und ohne sich von den Nachbarn zu verabschieden. Im Schutz der Nacht. Sie hatte für einen ganzen Monat im Voraus gezahlt, daher würde der Eigentümer des Caravanplatzes keinen Verlust machen. Sie würden nach Norden fahren, nach Georgia, und sich eine neue Bleibe suchen, wo sie sich für eine oder zwei Wochen einmieten konnten, und dann weiterfahren und auch am nächsten Ort nur kurz bleiben, wieder aufbrechen, bevor sie richtig angekommen waren. Bevor sie Spuren hinterließen. Bevor Adam sie finden konnte. Adam, Tómas’ Vater. Adam, ihr Ex. Adam, der Drogendealer. Adam, der Sklavenhalter. Irgendwann, wenn sie weit genug gereist waren, sich ihre Spur verloren hatte und Sonja sich sicher fühlte, würden sie sich irgendwo niederlassen. An einem ruhigen Ort, vielleicht in den USA, vielleicht anderswo. Egal wo, solange sie dort in der Masse untertauchen konnten und sie nicht ständig auf der Hut sein musste.

Sonja warf einen Blick in die Mikrowelle. Das war ihr inzwischen zur Gewohnheit geworden. Solange die Plastikdose mit dem Geldbündel an ihrem Platz war, gab ihr das ein Gefühl von Sicherheit. Die weiße Box mit dem blauen Deckel, in der die Dollars und Euros lagen, die sie gespart hatte, als sie in Adams Falle saß, mehr als ein Jahr. Sie hatte sich eine Walmart-Geldkarte besorgt und ausreichend Guthaben für die nächsten Monate daraufgeladen, aber trotzdem empfand sie die Scheine in der Dose als Absicherung in diesem neuen Leben, in dem sie niemandem vertrauen konnte. Eine normale Kreditkarte war ihr zu riskant, weil dann Adam womöglich ihre Spur nachvollziehen konnte.

Es versetzte ihr einen Stich ins Herz, als sie an Agla dachte. Allein beim Gedanken an den Duft ihrer Haare und ihre warme Haut unter der Bettdecke kriegte sie einen Kloß im Hals. Je länger der Abschied zurücklag, desto größer wurde die Versuchung, sie anzurufen. Doch Island gehörte der Vergangenheit an. Das hier war ihr neues Leben, und sie hatte sich von Anfang an darauf eingestellt, dass es zunächst einsam sein würde. Und die Einsamkeit fiel nicht so ins Gewicht. An erster Stelle stand ihre Sicherheit. Tómas’ Sicherheit. Wenn sie Kontakt zu Agla aufnahm, würde Adam definitiv Wind davon kriegen und sie sofort aufspüren.

Sonja öffnete die Wohnwagentür und setzte sich auf die Treppe. Die Luft draußen war noch heißer als drinnen. In der Nachmittagssonne warfen die Bäume lange Schatten auf den erdigen Platz in der Mitte der Wohnwagensiedlung. Sonja atmete tief ein und versuchte, das beklemmende Gefühl abzuschütteln. Der alte, zahnlose Mann von gegenüber stand an seinem Grill und verpestete die Luft mit dickem schwarzen Qualm. Duncans Mutter saß nebenan auf einem Campingstuhl und hörte Radio. Bald würden Motorenlärm und Gehupe vom Highway die Ruhe zerreißen, wenn sich die arbeitende Bevölkerung auf den Heimweg machte.

Duncan sprang aus dem Wohnwagen. Er dribbelte wie immer mit seinem Basketball. Sonja musste schmunzeln. Er lief total krumm, aber das sagte nichts über seine Zielsicherheit beim Korbwurf aus. Er war ein unglaublich geschickter Spieler und hatte Tómas schon nach wenigen Tagen mit dem Basketballfieber angesteckt. Tómas!

»Duncan! Wo ist Tómas?«, rief sie dem Jungen zu, der in die Luft sprang, sich drehte und den Ball in den Korb warf. Der Korb war an einer großen Palme befestigt.

»Wo ist Tómas?«, fragte Sonja erneut.

»Keine Ahnung«, sagte Duncan schulterzuckend und dribbelte weiter. »Der ist vorhin runter zum Strand gegangen. Es haben Männer nach ihm gesucht.«

»Männer? Was für Männer?« Mit einem Satz sprang Sonja auf den Jungen zu, dem der Basketball aus den Händen rutschte.

»Na, Männer halt«, sagte Duncan. »Irgendwelche Typen.«

»Bitte, Duncan, sag mir, wohin sie gegangen sind!« Duncan zeigte auf das Waldstück, das den Caravanplatz vom Strand trennte.

»Was ist denn los?«, rief Duncans Mutter von ihrem Campingstuhl, doch Sonja nahm sich nicht die Zeit, ihr zu antworten. Panisch rannte sie in Richtung Strand. Die Traumbilder vom Treibeis schossen ihr durch den Kopf, sie hörte das Krachen der Schollen, als die Wellen sie an Land trieben. Wieder spürte sie die durchdringende Kälte der weißen Eisbrocken, als würde der Traum in diesem Moment Realität. Sie verfluchte sich, weil sie letztes Wochenende nicht das Gewehr gekauft hatte, das sie auf dem Flohmarkt entdeckt hatte. Wenn ein Isländer von Treibeis träumte, verhieß das nichts Gutes. Treibeis bedeutete ein hartes Frühjahr. Und mit dem Treibeis kamen Eisbären.

2

Tómas hüpfte von Stein zu Stein. Sie waren halb in der Erde vergraben, am Waldrand bei dem Pfad, der einen kleinen Hang hinauf zur Düne oberhalb des Strands führte. Er war barfuß, hatte die Sandalen bei Duncan vergessen, aber das war okay. Der Sand war weich, und er würde die Sandalen einfach auf dem Rückweg holen, bevor Mama bemerkte, dass er sie ausgezogen hatte. Er wollte nur ein paar Muscheln sammeln, am besten schwarze, die waren am seltensten und auch am schönsten. Die meisten Muscheln an diesem Strand waren gelb, braun und rostrot, aber manchmal fand man auch schwarze, und genau die brauchte er jetzt für sein Bastelprojekt. Mama hatte die Idee gehabt. So etwas hatte sie als Kind auch mal gebastelt, und Tómas wusste schon jetzt, dass das Zigarrenkästchen richtig schön aussehen würde. Das Kästchen hatte ihm der alte Mann von gegenüber geschenkt. Tómas wollte seine Fußballbilder darin aufbewahren, und Mama hatte vorgeschlagen, es mit Muscheln zu verzieren. Drei Abende hintereinander hatte Tómas schon mit der fummeligen Arbeit zugebracht und ein Muster aus Muscheln daraufgeklebt, und jetzt fehlte nur noch eine Reihe schwarzer Muscheln, um das Werk zu vollenden. Das würde definitiv die coolste Fußballbilderschachtel der Welt.

Doch gerade war Flut und der Strand so schmal, dass man kaum Muscheln fand. Er musste wiederkommen, wenn das Wasser zurückgegangen war. Tómas bohrte die Zehen in den Sand und beobachtete den Eingang zu einem Ameisenbau. Er interessierte sich sehr für Ameisen, denn die gab es in Island nicht. Von dem Bau war nicht viel mehr zu sehen als ein Loch im Boden, und Dutzende von Ameisen krabbelten geordnet in perfekten Reihen raus und rein. Die Tierchen waren so konzentriert bei der Sache, dass sie sicher an irgendetwas Bedeutendem arbeiteten. An einem Ameisenbastelprojekt. Er nahm ein Stöckchen und stocherte in dem Loch herum, in der Hoffnung, bis zum Bau vorzudringen, doch der lag tiefer als gedacht. Die Ameisen reagierten verwirrt, krabbelten im ersten Moment hektisch in alle Richtungen davon, doch dann beruhigten sie sich sofort wieder und machten sich eifrig daran, den Eingang zu reparieren.

»Tómas!«

Er blickte auf, sah zu dem anderen Pfad am Parkplatz, von wo der Ruf gekommen war. Dort standen zwei Männer und winkten ihm freudig zu. Was wollten sie wohl von ihm? Zögernd ging er auf sie zu und blieb ein gutes Stück entfernt stehen. Sie sahen nach Mexikanern aus, und vor denen musste man sich in Acht nehmen, hatte Duncan gesagt. Warum, wusste Tómas nicht, denn in Island gab es keine Mexikaner, daher hatte ihm niemand erklärt, warum die gefährlich sein konnten.

»What?«, rief er den freundlich lächelnden Männern zu. Sie sahen nicht gerade gefährlich aus. Der eine setzte sich auf einen großen Stein, und der andere ging zu einem Auto.

»Willst du einen Welpen kaufen?«, fragte der Mann, der auf dem Stein saß. Also waren es Händler. Hier gab es viele Händler, viele davon Mexikaner, die alles Mögliche verkauften.

»Ich habe schon einen Hund«, antwortete Tómas, doch seine Neugier war geweckt.

»Und wo ist dein Hund?«, fragte der Mann mit hochgezogenen Brauen. Tómas schüttelte den Kopf.

»Der ist zu Hause in Island«, antwortete er. »Aber trotzdem reicht ein Hund. Mama würde mir keinen zweiten erlauben. Wir machen hier nur lange Urlaub.« Das war zumindest das, was er sagen wollte. Sein Englisch war inzwischen ziemlich gut, aber manchmal verwendete er falsche Wörter, und dann lachte Duncan sich kaputt. Aber dieser Mann lachte nicht.

»Tja«, sagte er nur und seufzte. »Ich weiß nicht, was ich mit dem armen Kerlchen in meinem Auto machen soll. Vielleicht muss ich ihn ertränken.«

»Nein!«, schrie Tómas und kam näher.

»Was soll ich denn mit ihm machen?«, fragte der Mann. »Kennst du vielleicht jemanden, der ihn haben will?«

»Ist er groß?«, fragte Tómas.

»Nein, ganz klein. Gerade erst geboren.«

Es zerriss Tómas das Herz. Vielleicht konnte er den Kleinen doch mitnehmen und ihn ein paar Tage behalten, bis sie ein neues Zuhause für ihn finden würden. Mama wäre bestimmt nicht böse, wenn er einen kleinen, frisch geborenen Welpen mitbrachte, den er vorm Ertränken gerettet hatte.

»Willst du ihn mal sehen?«, fragte der Mann und stand auf.

»Ich habe ihn hier im Auto.« Der Mann ging los, und Tómas folgte ihm über die Düne auf den Parkplatz, obwohl sich in ihm ein schlechtes Gewissen gegenüber Bangsi regte, seinem Hund, der zu Hause in Island wartete und den er ewig nicht gesehen hatte. Der andere Mann saß auf dem Fahrersitz und rauchte. Dass er den kleinen Hund so zuqualmte, machte Tómas wütend. Wo doch alle wussten, wie ungesund Rauchen war. Doch als der andere Mann die hintere Tür öffnete, kam ihm plötzlich ein ganz anderer Gedanke, und er erstarrte.

»Du hast Tómas gerufen«, sagte er und blickte den Mann an. »Woher weißt du, wie ich heiße?«

3

Agla wachte mit so heftigen Schmerzen im Brustraum auf, dass sie glaubte, es sei ein Herzinfarkt. Sie wälzte sich auf den Bauch, holte mit großer Mühe Luft und merkte, dass sie mitten im Wohnzimmer auf dem Boden lag. Neben ihr eine umgekippte Flasche Rum und darunter ein dunkler Fleck auf dem türkischen Seidenteppich. Das tiefe Atmen linderte den Schmerz nicht, sondern schickte ihn wie eine Welle durch ihren Körper. Das war kein Herzinfarkt; das war Trauer. Sie hatte von Sonja geträumt. Agla stemmte sich auf alle viere, kroch zum Sofa und wuchtete sich hoch. War es wirklich endgültig vorbei? War Sonja tatsächlich komplett von der Erdoberfläche verschwunden? Würde sie nie wieder ihren nackten Körper berühren, sie nie wieder an sich drücken, nie wieder das Leben in ihren Augen aufflackern sehen, wenn sie lächelte?

Agla schaute sich um. Die Vorhänge waren zugezogen, und es war schummrig, obwohl es laut Uhr schon nach Mittag war. An den gestrigen Abend hatte sie kaum noch eine Erinnerung, außer dass sie lange mit dem Auto vor Sonjas Haus gestanden hatte, um sich ihr näher zu fühlen, doch der Rest des Abends versank komplett im Nebel. Ihr Blick blieb an einem Kokstütchen auf dem Couchtisch hängen. Daneben zwei fertige Lines und einiges mehr über die Glasplatte verteilt. Am besten schnupfte sie schnell die beiden Lines, sprang unter die Dusche, machte sich zurecht und unternahm etwas Aufbauendes. Nach zwei Lines hätte sie den Mut dazu. Würde vor Selbstbewusstsein strotzen, gut drauf und optimistisch sein, es vielleicht sogar schaffen, mit ihrem Verteidiger zu reden. Oder sie würde einkaufen gehen und etwas Richtiges essen. Das war das Tolle an Kokain: Es veränderte nicht nur das Befinden, sondern auch die Einstellung gegenüber allem. Schenkte einem den Glauben, dass alles gut werden konnte. Sie beugte sich vor, nahm das Röhrchen, das sie aus einem Fünftausender gerollt hatte, und zog die erste Line.

Hitze schoss durch ihre Adern, und gleichzeitig machte sich Enttäuschung in ihr breit. Die Schmerzen verschwanden nicht, sondern verstärkten sich noch durch den beschleunigten Herzschlag, und auf einmal fühlte sie sich, als säße sie schon jetzt in der Gefängniszelle, eingesperrt, allein. Ihr brach der Schweiß aus. Es hatte keinen Zweck, mit dem Anwalt zu reden, neue Ideen halfen jetzt auch nicht mehr weiter. Dafür war es zu spät. Ihr Herzschlag war kurz davor, den Brustkorb zu sprengen, und ihr war nach Schreien zumute. Nach Heulen und Brüllen und blinder Zerstörung. Doch ehe sie irgendetwas davon in die Tat umsetzen konnte, überkam sie lähmende Schwäche, und sie konnte sich nicht mehr bewegen. Dann wurde ihr übel, und sie zitterte vor Kälte, obwohl sie schweißgebadet war. Dieses verfluchte Kokain machte alles nur noch schlimmer; sie hatte es in letzter Zeit wohl etwas übertrieben.

Plötzlich meinte Agla, sich von ihrem Körper zu lösen und unter die Wohnzimmerdecke zu schweben. Sie blickte auf sich selbst hinab, in Unterhemd und löchriger Strumpfhose, die Wangen mit Wimperntusche verschmiert und die Haare wie ein zerrupfter Heuhaufen auf dem Kopf. Es war so absurd, dass dieses Trauerbild da auf dem Sofa sie selbst sein sollte, und einen kurzen Moment lang kam es ihr so vor, als blickte sie aus der Vergangenheit auf sich hinab, als zuversichtliche junge Frau, die in die Zukunft sieht und sich erstaunt und erschrocken fragt, was passiert ist.

Als Agla wieder auf dem Boden der Tatsachen landete, gewann der Schmerz die Oberhand, und sie bekam Panik. Es war wirklich vorbei. Sie kam wegen Marktmanipulation ins Gefängnis, und Sonja war verschwunden. Vielleicht würden sie sich nie wiedersehen. Sie hatte das Einzige verloren, das ihr das Leben seit dem Bankencrash erträglich gemacht hatte. Und obwohl sie schon beim ersten Kuss gewusst hatte, dass diese süße, stürmische Leidenschaft nur vorübergehend sein würde, war das Ende noch schmerzhafter, als sie es sich je vorgestellt hätte. Ihr Herz schwoll bis an den Brustkorb, und als ihr die ersten Tränen über die Wangen liefen, spürte sie, wie es zerbrach.

4

Der Strand wirkte plötzlich unendlich lang, und der Sand war so weich, dass Sonja bei jedem Schritt einsank. Immer wenn sie sich mit dem Fuß abstieß, spürte sie schmerzlich, dass sie nicht so schnell vorankam, wie sie wollte. Wie in diesem wiederkehrenden Albtraum, in dem sie rannte und rannte, aber nie von der Stelle kam.

Der Strand war menschenleer, zumindest der Abschnitt zwischen den Felsen, aber auf dem Parkplatz an dem anderen Pfad stand ein Auto. Obwohl hinter der Düne nur das Autodach herausragte, wusste Sonja instinktiv, dass Tómas dort war. Sie beschleunigte mit aller Kraft und lief weiter, und als sie endlich den Pfad erreichte, der über die Düne zum Parkplatz führte, brannte ihre Lunge vor Anstrengung. Sie strauchelte, doch anstatt langsamer zu werden, stützte sie sich mit den Händen ab und krabbelte auf allen vieren den Pfad hinauf. Oben angelangt, rappelte sie sich wieder hoch und humpelte keuchend zu dem Wagen. Als sie näher kam, ging die Tür auf, und ein Mann stieg aus.

»Ist mein Sohn hier?«, rief sie und sah auf einmal Tómas im Auto sitzen.

Kurz entschlossen stürzte sie sich auf den Mann. Sie wusste, dass sie nicht die geringste Chance gegen diesen großen, bulligen Kerl hatte, aber sie musste es versuchen. Jeder Nerv in ihrem zierlichen Körper verlangte danach. Sie prallte mit voller Wucht gegen ihn, rammte ihn mit der Schulter und brachte ihn für einen Moment aus dem Gleichgewicht. Er schwankte, stolperte nach hinten, fing sich dann wieder und bekam sie an den Handgelenken zu fassen. Geschickt drehte er sie herum, sodass es aussah wie ein grotesker Tanz. Doch dieser Tanz auf dem Parkplatz in Florida war todernst, und Sonja wusste, dass die ganze Sache mit ihrer Vergangenheit in Island zu tun hatte.

Der Mann, der wie ein Mexikaner aussah, band ihr mit Klebeband die Hände auf dem Rücken zusammen, drückte ihren Kopf nach unten wie ein Polizist und schob sie in den Wagen. Sonja leistete Widerstand, obwohl sie eigentlich ins Auto wollte, zu Tómas – sie musste zu ihm. Sie sank auf die Rückbank neben den weinenden Jungen, dem man auch die Hände auf dem Rücken gefesselt und den Mund zugeklebt hatte. Sonja konnte sehen, wie seine Lippen das Wort Mama formten.

Mama, sagten seine Lippen durch das Klebeband, und Tränen strömten ihm übers Gesicht.

Sonja beugte sich zu ihm, schmiegte ihren Kopf an seinen und flüsterte: »Schon gut, schon gut, ich bin bei dir, mein Schatz. Mama ist bei dir.«

Sie hätte ihn so gern in den Arm genommen, aber das musste reichen, ihr Kopf an seinem, für einen kurzen Moment, dann langte der Mann ins Auto und zerrte sie zurück. Er riss ein Stück Klebeband von der Rolle und wollte ihr den Mund zukleben.

»Please, don’t …«, konnte sie noch sagen, bevor das graue Isolierband ihren Mund verschloss und sie sich ganz darauf konzentrieren musste, durch die Nase zu atmen.

5

Die beiden Männer vorne im Wagen redeten Spanisch miteinander, deshalb konnte Sonja ihrem Gespräch nicht folgen. Sie wirkten ziemlich relaxed, was wohl ein gutes Zeichen war, zogen keine große Show ab, sondern wirkten eher wie auf einer Botenfahrt. Der Fahrer bog links ab, hielt vor der Einfahrt des Caravanplatzes, und der Beifahrer sprang aus dem Wagen. Sonja reckte den Hals und sah, wie er geradewegs auf ihren Wohnwagen zulief, hineinschlüpfte und die Tür hinter sich zuzog. Was machte er da? Suchte er nach Geld? Oder war er hinter etwas anderem her? Und woher wusste er, welcher Wohnwagen ihnen gehörte? Bei der Vorstellung, dass diese Männer Tómas und sie schon eine Weile beobachtet haben mussten, lief Sonja ein kalter Schauer über den Rücken.

Sie nuschelte in das Klebeband, um den Fahrer aufmerksam zu machen. Vielleicht würde er es ja abmachen. Sie könnte den Männern von dem Geld in der Mikrowelle erzählen, wenn sie Tómas und sie im Gegenzug dafür laufen ließen. Doch der Fahrer drehte sich nur kurz um und zischte, sie solle still sein. Tómas’ Augen weiteten sich vor Panik, und wieder flossen Tränen über seine Wangen, und Sonja verhielt sich lieber ruhig.

Kurz darauf sprang der zweite Mann aus dem Wohnwagen und hechtete zurück zum Auto, wobei er sich etwas in die Tasche stopfte. In der anderen Hand hatte er eine weiße Dose mit einem blauen Deckel. Die Geldbox. Die Mikrowelle war vielleicht doch kein so geniales Versteck gewesen, wie Sonja gedacht hatte.

»Vamonos!«, rief der Mann, als er in den Wagen stieg, und der Fahrer wendete mit quietschenden Reifen und brauste los in Richtung Highway.

Sonja lehnte sich zur Seite und schmiegte ihre Wange an Tómas’ Kopf. Ihr Sohn zitterte vor Angst. Sie hätte ihn so gern an sich gedrückt und ihm etwas Tröstendes zugeflüstert, doch das Einzige, was sie tun konnte, war, nah an ihn heranzurücken und ihm durch die Wärme ihres Körpers etwas Sicherheit zu vermitteln. So wie damals, als er noch ein Baby war. Da hatte er am liebsten auf ihrem Bauch geschlafen, wo er ihre Wärme spüren und ihren Herzschlag hören konnte.

Sonja konzentrierte sich auf ihre Atmung, inhalierte tief durch die Nase, zählte bis vier und atmete dann langsam wieder aus, um sich zu entspannen. Es würde Tómas nicht helfen, wenn sie in Panik geriet und ihre Kräfte vergeudete, indem sie um sich schlug. Sie musste sich seinetwegen beherrschen. Die ganze Aktion war schon erschreckend genug, da brauchte er nicht auch noch mitzubekommen, wie sehr sie mit ihrer Angst kämpfte.

An der nächsten Kreuzung nahmen sie den Highway Richtung Süden. Anhand der Schilder versuchte Sonja herauszufinden, wohin sie fuhren. Das war alles total irreal, und wenn ihre abgeschnürten Handgelenke nicht so wehgetan hätten, hätte sie geglaubt, es wäre ein Traum, einfach nur ein weiterer hässlicher Albtraum.

Die Männer auf den Vordersitzen schwiegen, der Wagen raste über den Highway, vorbei an endlosen Wäldern, die die monotone Landschaft wie eine dicke Kleidungsschicht bedeckten. Im Vergleich dazu wirkte Island regelrecht nackt, ohne Bäume, all seine Geheimnisse preisgebend. Das Einzige, was sich veränderte, waren die Schilder. Sonja las sie, ohne ihre Wange von Tómas’ Kopf zu lösen. Seiner Atmung nach zu schließen, hatte er sich ein wenig beruhigt.

Als Sonja ein Schild zum Orlando International Airport sah, fing ihr Herz an zu hämmern. Wenn sie zum Flughafen fuhren, wollte man sie loswerden, und wohin würde man sie schicken, wenn nicht nach Island? Beklommen beobachtete sie, wie in immer kürzer werdenden Abständen die Flughafenschilder vorbeiglitten. Als das Auto beim letzten Schild vom Highway abfuhr, seufzte sie und spürte eine Woge der Enttäuschung, vermischt mit Erleichterung.

Die schlimmsten Vorstellungen, die sie sich während dieser bizarren Fahrt ausgemalt hatte – geisteskranke Serienmörder, Organhandel, Entführung –, verblassten, je näher sie dem Flughafen kamen, und die Realität wurde greifbarer. Ihre alte, jämmerliche Realität. Als der Wagen ins Flughafenparkhaus fuhr und die Tür aufgerissen wurde, bestätigte sich ihre Vermutung.

6

Als Agla kurz vor Mitternacht endlich wieder zu sich kam, war ihr Gesicht vom Heulen ganz verquollen. Sie hatte seit Jahren nicht mehr so viel geheult. Eigentlich konnte sie sich überhaupt nicht daran erinnern, wann sie das letzte Mal geweint hatte. Eine seltsame Mischung aus Frust und den Nachwirkungen des Koks hatte sie den ganzen Nachmittag benebelt. Sie war wie ein Gespenst durch die Wohnung gelaufen und hatte sich immer wieder aufs Bett geschmissen und in ihr Kissen geschluchzt. Jetzt, nachdem sie ein Bad genommen hatte, fühlte sie sich besser, und ihr Kopf wurde allmählich klarer. Sie legte etwas Puder auf, bürstete sich die Haare, zog eine Hose und ein T-Shirt an und schlüpfte barfuß in ihre Schuhe.

Die Abendluft war klirrend kalt, und der trockene frostige Wind brannte auf ihrer frisch gebadeten Haut. Sie wickelte den Mantel fester um sich. Zum Glück war es nur ein kurzer Spaziergang bis zu dem Hotel. Eine anständige Mahlzeit würde ihr guttun.

»Die Küche hat schon geschlossen«, sagte der junge Mann an der Rezeption abweisend. Agla hatte ihn bei einem Computerspiel gestört, das jetzt vor ihm auf dem Bildschirm eingefroren war.

»Haben Sie keinen Room Service?«, fragte sie. »Kann ich mir nicht beim Room Service was bestellen und hier essen?« Sie zeigte auf die Sofaecke in der Lobby, doch der junge Mann schüttelte den Kopf.

»Der Room Service ist ausschließlich für unsere Gäste, die hier ein Zimmer haben«, entgegnete er und fügte grinsend hinzu: »Deshalb heißt es ja auch Zimmerservice.«

»Dann geben Sie mir ein Zimmer«, sagte Agla und holte ihr Portemonnaie aus der Tasche.

»Wie bitte?«

»Geben Sie mir ein Zimmer!«, wiederholte sie, nahm ihre Kreditkarte aus dem Portemonnaie und warf sie auf den Tresen. »Wenn man eins braucht, um hier was zu essen zu kriegen.« Der junge Mann nahm die Karte mit skeptischer Miene in die Hand.

»Sind Sie sicher? Sie wollen ein Zimmer mieten, um sich beim Room Service was zu essen zu bestellen?«

»Ja, genau«, antwortete Agla. »Nach dem Einchecken können Sie gleich meine Bestellung aufnehmen. Ich nehme das Steak, medium rare, dazu Fritten und ein Bier.«

Kaum hatte Agla das Zimmer betreten, kam auch schon das Essen. Zufrieden setzte sie sich an den Tisch und schnupperte genüsslich, als der Kellner den Deckel vom Tablett hob. Das Steak war well done, aber sie hatte keine Lust, sich zu beschweren, denn sie war zu hungrig. Damit das durchgebratene Fleisch besser schmeckte, schnitt sie es in kleine Stücke und tunkte sie in die Cocktailsoße. Dann griff sie nach der Fernbedienung und schaltete den Fernseher ein – nicht weil sie sich etwas Bestimmtes anschauen wollte, sondern um das Zimmer wenigstens zu nutzen, wenn sie es schon für diese mittelprächtige Mahlzeit gebucht hatte.

Als Agla mit dem Aufzug wieder nach unten fuhr, fischte sie einen Fünftausend-Kronen-Schein aus dem Portemonnaie und klatschte ihn an der Rezeption auf den Tresen.

»War gut, danke.«

Der junge Mann löste sich von seinem Computer, stand auf und glotzte ihr hinterher, als sie das Hotel verließ. Agla war sich sicher, dass er dabei ziemlich dämlich aus der Wäsche guckte. Es wäre ein Leichtes für ihn gewesen, eine Ausnahme zu machen, sie beim Room Service etwas bestellen und in der Sofaecke essen zu lassen, aber das hätte ihn wohl zu sehr beim Zocken gestört. Und jetzt war ihm das peinlich. Agla war es nicht gewohnt, sich von irgendwelchen Bürschchen durch spießige Regeln einschränken zu lassen.

Als sie zurück nach Hause kam, fühlte sie sich wiederhergestellt. Nachdem sie tief Luft geholt und die nötige Energie gesammelt hatte, setzte sie sich mit dem Laptop an den Küchentisch und loggte sich auf der AGK-Cayman-Übersichtsseite ein. Ihr Anwalt Elvar hatte ihr versichert, dass die Staatsanwaltschaft ihr Telefon und ihren Computer nach dem Abschluss der Ermittlungen nicht mehr überwachen würde, sodass sie im Grunde schon seit einigen Wochen unbehelligt war, aber sie hatte einfach keine Kraft gehabt. Jetzt war es an der Zeit, sich um das Geld auf den Cayman Islands zu kümmern, sonst verlor es nur an Wert. Und die Kohle sollte nicht weiter schrumpfen, auch wenn es bei der momentanen Wirtschaftslage nicht ganz leicht war, andere Lösungen zu finden. Zurzeit grenzte es an ein Wunder, wenn man Geld einfach ruhen ließ und dabei nichts verlor. Zumal es dann keinesfalls reichen würde. Sie musste in die Gänge kommen und einen Weg finden, es zu vermehren. Doch ihr Selbstbewusstsein hatte angesichts des ganzen Prozedere bei der Staatsanwaltschaft ziemlich gelitten. Allerdings war die Sache besser ausgegangen, als man hätte erwarten können. Sie musste zwar ins Gefängnis – Elvar rechnete mit über einem Jahr Haft –, dazu die Prozesskosten und der ganze Ärger, aber die Staatsanwaltschaft hatte nur an der Oberfläche gekratzt. Die dachten, sie hätten ins Schwarze getroffen, dabei waren sie zu blöd gewesen, die richtigen Fragen zu stellen.

Aglas Gesicht verfinsterte sich, als sie die Aufstellung überflog. Wenn AGK-Cayman schon so beschissen aussah, dann musste es bei den anderen Fonds ähnlich sein. Sie fühlte sich, als würde sie ein ausgebranntes Gebäude betreten. Nichts als Ruinen, verkohlter Ramsch, der monatelang rumgelegen hatte, und Agla hatte nicht den Hauch einer Idee, wie sie den Wert dieser Fonds ankurbeln konnte. Das würde ein zäher Kampf werden. Inzwischen bereute sie es, dass sie so spät am Abend noch einen Blick darauf geworfen hatte. Jetzt konnte sie garantiert nicht schlafen. Sie klappte den Laptop zu, und als sie aufstand, merkte sie es sofort. Nicht weil sie ein Geräusch gehört oder aus dem Augenwinkel etwas wahrgenommen hatte. Sie spürte es einfach, ihre Hautzellen schienen es zu registrieren: Sie war nicht allein in der Wohnung.

7

Adam hielt Sonja die Wagentür auf, als wäre sie ein Filmstar, der zur Premiere kommt. Ein Lächeln umspielte seine Lippen, verschwand aber prompt, als er sah, dass Tómas ebenfalls gefesselt war und Klebeband auf dem Mund hatte.

»You didn’t have to tie the boy up!«, herrschte er die Mexikaner an, die sofort hastig erklärten, der Junge habe um sich geschlagen wie ein wildes Tier, das sei unumgänglich gewesen. Als Adam begann, das Klebeband von Tómas’ Mund zu knibbeln, stieß der Fahrer seine Hand weg und zog es mit einem Ruck ab. Tómas schrie auf vor Schmerz. Adam warf dem Mann einen wütenden Blick zu, aber der lachte nur, als fände er das witzig. Dann nahm er sein Taschenmesser, hockte sich hinter den Jungen und schnitt das Klebeband an seinen Handgelenken durch. Tómas heulte noch immer, und sobald seine Hände frei waren, warf er sich in die Arme seines Vaters und klammerte sich an ihn.

Als Nächstes befreite der Fahrer Sonja und wollte ihr mit dem Klebeband auf dem Mund helfen, aber sie wich zurück und machte es selbst ab. Es fühlte sich an, als wäre das Klebeband mit ihrem Gesicht verschmolzen. Ganz kurz schoss ihr durch den Kopf, sie könnte einfach wegrennen, aus dem Parkhaus fliehen und jemanden bitten, sie zur Polizei zu bringen, und dort eine Anzeige wegen Entführung stellen. Doch diese Idee war absurd. Adam würde das Land schnell wieder verlassen, und offiziell besaß er immer noch das Sorgerecht für ihren Sohn. Sie war diejenige, die im Unrecht war. Im Grunde war sie die Entführerin. Während sie sich mit dem Klebeband abmühte, holte der Mexikaner, der auf dem Beifahrersitz gesessen hatte, zwei kleine blaue Hefte aus der Tasche und gab sie Adam. Ihre Reisepässe aus dem Wohnwagen. Die Geldbox war wohl nur eine Extraeinnahme. Als Adam sich mit Handschlag von den Männern verabschiedete und ihnen Grüße an Mr.José ausrichtete, begriff Sonja endlich. Sie hatte Mr.José vor ein paar Monaten in London kennengelernt, und diese Begegnung wollte sie lieber vergessen. Soweit sie wusste, arbeitete Adam für ihn. Natürlich reichte Josés Einfluss bis in die USA, er hatte garantiert auf der ganzen Welt seine Leute am Start.

Als die Mexikaner wegfuhren, seufzte Adam lächelnd.

»Sonja, Sonja, Sonja«, sagte er und schüttelte den Kopf. »Wie kann man sich nur so dumm anstellen?«

Er strich Tómas über den Kopf, und der Junge blickte ihn verwirrt an. Allmählich schien es ihm zu dämmern. Sonja konnte sehen, wie es in seinem Kopf arbeitete, während er versuchte, das Chaos zu entwirren.

»Du hast zwei Optionen«, sagte Adam. »Entweder du kommst mit Tómas und mir zurück nach Island und machst da weiter, wo du aufgehört hast, oder du verabschiedest dich jetzt von uns. Für immer.«

8

Agla schlich auf Zehenspitzen zur Wohnzimmertür. Da sie wegen des grellen Lichts in der Küche in dem dunklen Raum nichts erkennen konnte, blieb sie an der Türschwelle stehen und tastete nach dem Lichtschalter. Sie meinte, jemanden atmen zu hören, redete sich aber ein, das sei nur Einbildung, ihre Nerven seien angespannt von zu viel Alkohol und Kokain in der letzten Zeit. Dennoch traute sie sich nicht, einfach ins Wohnzimmer zu marschieren. Alle ihre Sinne schrien sie an, dass dort jemand in der Dunkelheit lauerte. Jemand, der auf sie wartete.

Doch als sie den Lichtschalter betätigte, wurde der Raum nicht hell erleuchtet, sondern war in einen trüben gelblichen Schimmer getaucht. Der Dimmer war runtergedreht. Trotz des trüben Lichts erkannte sie ihn. Ingimar. Er saß in dem Sessel gegenüber der Tür, total relaxed, die Beine weit gespreizt und die Arme lässig auf den Sessellehnen. Agla schoss eine Salve von Schimpfwörtern durch den Kopf, und sie musste sich beherrschen, nicht laut loszufluchen. Irgendein Einbrecher wäre ihr lieber gewesen als ausgerechnet Ingimar.

»Guten Abend, Agla«, sagte er reglos, ohne sie aus den Augen zu lassen. Agla ließ sich seufzend aufs Sofa fallen. Kein Wunder. Sie hätte sich denken können, dass er bei ihr auf der Matte stehen würde, sobald die Ermittlungen abgeschlossen waren. Um sie an die Schulden zu erinnern. Die hohen Schulden.

»Wie bist du reingekommen?«, fragte sie, setzte sich auf dem Sofa zurecht und zog ein Kissen unter dem Hintern hervor, wobei sie gegen eine leere Bierflasche auf dem Couchtisch stieß, die polternd auf den Boden fiel. Nicht gerade ihr seriösester Auftritt, aber das spielte keine Rolle. Viel wichtiger war es, ihm in die Augen zu schauen und seinem Blick standzuhalten. Ihm nicht auszuweichen und ihn die Angst nicht spüren zu lassen, die sein Besuch in ihr ausgelöst hatte.

»Ich habe da so meine Methoden. Wenn ich anklopfe wie jeder andere, neigen die Leute dazu, mir nicht aufzumachen. Wir wissen doch beide, warum ich hier bin«, antwortete er, und Agla nickte. Das war ihr vollkommen klar. Aber sie hatte gedacht, er würde über Jóhann Kontakt aufnehmen. Dass Ingimar persönlich erschienen war, überrumpelte sie völlig.

»Echt gutes Timing«, entgegnete sie. »Ich war gerade dabei, die Lage zu checken.«

Ingimar lächelte. Ein wohlwollendes Lächeln, aber es verschwand genauso schnell, wie es gekommen war. Sein Gesicht wurde wieder ernst, und wenn er nicht lächelte, sah er alles andere als wohlwollend aus.

»Ich gehe davon aus, dass die Lage schlecht ist«, sagte er, und Agla bejahte.

»Es sind schwierige Zeiten«, erklärte sie. »Das weiß ja jeder. Da muss man Geduld haben.«

»Ach ja, Geduld …« Ingimar lächelte wieder. »Und was ist, wenn man keine Geduld hat?«

Agla rutschte nervös auf dem Sofa herum. Verschiedene Szenarien schwirrten ihr durch den Kopf, sie malte sich die schlimmste Möglichkeit aus und suchte verzweifelt nach einer Strategie.

»Sollten wir nicht sagen, in der momentanen Situation ist man gezwungen, Geduld an den Tag zu legen?«, entgegnete sie, und Ingimar zuckte die Achseln.

»Das könnte man sagen«, erwiderte er. Dann räusperte er sich, beugte sich vor und fixierte sie. »Auch wenn du gute Miene machst, Agla, weißt du genauso gut wie ich, dass ihr drei die Schulden nicht tilgen könnt, selbst wenn ihr alles verkauft, was ihr habt. Die Aktien, die CDOs – alles, was ihr habt, ist Schrott, stimmt’s?« Er nickte, als würde er seine Frage selbst beantworten.

Es brachte nichts, mit ihm zu diskutieren. Natürlich schätzte er die Lage richtig ein. Ingimar war kein Idiot. Im Gegenteil – Agla kannte niemanden, der weiter davon entfernt war, ein Idiot zu sein.

»Du bist zwar clever«, fuhr er fort, »aber es wäre ein Wunder, wenn du mit diesen Anlagen Profit machen würdest.«

Agla antwortete nicht. Das stimmte natürlich. Sie wusste es, und jetzt war ihr klar, dass er es auch wusste.

»Du hast die Staatsanwaltschaft nicht mehr im Nacken«, sagte er und blickte Agla eindringlich an. »Ich habe einen Vorschlag, wie ihr die Schulden verringern oder loswerden könnt.«

Agla stand auf, ging in die Küche und holte zwei Flaschen Bier aus dem Kühlschrank. Sie öffnete sie in aller Ruhe, schlenderte zurück ins Wohnzimmer, gab Ingimar eine Flasche und setzte sich wieder aufs Sofa.

»Schieß los!«, sagte sie.

9

Sonja hatte erst wieder mit Adam gesprochen, nachdem sie in Washington zwischengelandet waren. Sie waren schweigend durch den Flughafen und an Bord der isländischen Maschine gegangen, hatten noch nicht einmal miteinander geredet, als sie in einem Geschäft Turnschuhe und Socken für Tómas gekauft hatten. Adam hatte ab und zu etwas zu dem Jungen gesagt, der allmählich zu begreifen schien, dass sein Vater für die morgendlichen schrecklichen Ereignisse verantwortlich war. Er war Sonja nicht von der Seite gewichen, hatte ihre Hand nicht losgelassen und sich jedes Mal weggedreht, wenn Adam ihm über den Kopf zu streichen oder ihn anzusprechen versuchte. Als sie ihre Sitzplätze eingenommen hatten, musste Tómas aufs Klo, quetschte sich an seiner Mutter vorbei, die in der Mitte saß, und wartete, bis sein Vater von seinem Platz am Gang aufgestanden war.

»Beeil dich, Kumpel«, sagte Adam zu ihm, und im selben Moment drehte Tómas sich um und trat seinem Vater gegen das Schienbein.

»Ich hasse dich!«, schrie er. Seine schrille Stimme hallte durch die Maschine, und die anderen Passagiere, die damit beschäftigt waren, sich und ihr Gepäck unterzubringen, wurden schlagartig still. Tómas rannte durch den Mittelgang nach vorne und verschwand in der Toilette. Sonja betrachtete Adams Gesicht, als er seinem Sohn hinterherschaute. Für einen Moment sah er tief gekränkt aus, dann bückte er sich, rieb sich das Schienbein und setzte sich wieder auf seinen Platz neben Sonja. Er tippte auf dem Bordbildschirm herum, als wäre überhaupt nichts geschehen, und Sonja fragte sich, wie er so hart hatte werden können.

Früher, vor gar nicht allzu langer Zeit, waren sie ein junges Paar mit einem kleinen Baby gewesen, Adam hatte gerade seinen neuen Job in der Bank angetreten, und Sonja hatte sich um den Haushalt gekümmert, gesunde Mahlzeiten für die Familie gekocht und raffinierte Gerichte, wenn Adam seine Kollegen nach Hause eingeladen hatte. Sie hatten so viel gelacht – miteinander und mit Tómas, der jeden Tag niedlicher wurde. Sie hatten ihr Haus in Akranes eingerichtet, das sie kurz vor Tómas’ Geburt gekauft hatten, als die Immobilienpreise so günstig waren, dass sie sich ein großes Einfamilienhaus leisten konnten. Rückblickend fiel es Sonja schwer, festzumachen, wann die Dinge begonnen hatten, sich zu verändern. Es musste ein paar Jahre vor dem Finanzcrash gewesen sein, nachdem Adam ins Management aufgestiegen war, aber sie war sich nicht sicher, ob es nur an der Bank gelegen hatte.

Adam war immer ein fröhlicher Typ gewesen, der mit seinen Lachsalven alle anstecken konnte. Er hatte die Angewohnheit gehabt, Sonja fest in die Arme zu schließen und ihr einen Kuss auf den Kopf zu drücken, wie einem Kind, sodass sie sich geborgen gefühlt hatte. Jetzt hingegen war er verhärtet, und die Aggressivität, die schon immer in ihm gebrodelt hatte, entlud sich bei dem geringsten Anlass. Es war, als wäre seine äußere Schale dicker geworden, wie erkaltete Lava über einem lodernden Vulkankrater. Von seiner früheren Zärtlichkeit und Lebensfreude war nichts mehr übrig. Und dazu hatte sie wohl auch ihren Teil beigetragen.

»Wie hast du uns gefunden?«, fragte sie, und Adam drehte sich zu ihr und grinste.

»Bangsi«, antwortete er. »Tómas hat mir über den Facebook-Account eures Nachbarjungen eine Nachricht geschickt und gefragt, wie es dem Hund geht.«

Sonja seufzte. Logisch, dass es nicht gereicht hatte, Tómas zu verbieten, ins Internet zu gehen. Er hatte es einfach bei Duncan im Wohnwagen nebenan gemacht. Sie hätte ihm besser nie beigebracht, wie man mit Facebook umgeht, aber als er bei Adam gewohnt und sie ihn schmerzlich vermisst hatte, waren seine falsch geschriebenen Ein-Satz-Nachrichten einfach zu entzückend gewesen. Und sie hätten früher wegziehen sollen. Sie hätte begreifen müssen, dass Tómas Kontakt zu seinem Vater aufnehmen würde, und sie hätte aufmerksamer sein müssen, als er abends geweint hatte, weil er seinen Hund vermisste. Ihr war einfach nicht klar gewesen, wie sehr er an dem Tier hing, er hatte den Hund ja erst vor Kurzem bekommen.

»Was erwartet mich jetzt?«, flüsterte sie.

»Nächste Woche Amsterdam. Und übernächste Woche London.«

»Zwei Wochen hintereinander?« Sonja überlegte fieberhaft. Das bedeutete eine extrem kurze Vorbereitungszeit. Früher hatte sie nie mehr als zwei Touren im Monat gemacht.

»Das ist kein Problem für dich. Du hast doch deinen Freund beim Zoll.« Adam riss das Plastiktütchen mit den Kopfhörern auf, stopfte sie sich in die Ohren und beendete das Gespräch demonstrativ.

Als Tómas zurückkam, stand Adam auf, ließ ihn durch, und der Junge kletterte über Sonja hinweg zurück auf seinen Fensterplatz. Sonja winkte der Stewardess und fragte nach Kopfhörern für ihren Sohn und eine Decke für sich. Die Klimaanlage im Flugzeug war für jemanden, der Shorts trug, viel zu kalt eingestellt.

10

Agla kam es so vor, als wäre sie gerade erst eingeschlafen, als das Handy klingelte. Warum hatte sie nicht daran gedacht, es auszuschalten? Fluchend schaute sie auf die Uhr. Kurz vor sechs. Ingimar war gegen zwei gegangen, und danach hatte sie ewig wach gelegen und über seinen Vorschlag nachgegrübelt, ohne zu einem Ergebnis zu kommen. Auf dem Display erschien eine unbekannte Nummer. Bestimmt wieder einer dieser Reporter. Für einen Augenblick dachte sie, es könnte Sonja sein, doch diese Hoffnung erlosch sofort wieder. Sonja meldete sich schon lange nicht mehr bei ihr, zudem würde sie niemals so früh morgens anrufen, außer in einem Notfall. Abrupt setzte Agla sich im Bett auf, ihr Herz hämmerte. Vielleicht war es Sonja, und ihr war etwas zugestoßen.

»Hallo?«, rief sie ins Telefon.

»Agla …« Es war Sonjas Stimme, aber sie klang dünn und zittrig, als würde sie jeden Moment in Tränen ausbrechen.

»Sonja! Bist du das?« Keine Antwort, aber Agla hörte Hintergrundgeräusche, Stimmengewirr und ein Echo wie von einem Gong. »Sonja, Liebling, was ist los? Stimmt was nicht?«

Sie sprang auf und hastete zum Fenster, wo der Empfang besser war, damit dieser erste Kontakt zu Sonja seit ewiger Zeit nicht abriss.

»Nein, alles okay.« Sie hörte, wie Sonja sich räusperte und schniefte. »Ich dachte, du könntest mich vielleicht vom Flughafen abholen … da ist was schiefgegangen mit meiner Mitfahrgelegenheit, und mein Gepäck ist verschwunden … ich hab kein Geld für den Bus, und der Busfahrer will mich nicht umsonst mitfahren lassen …«

Agla fiel ihr ins Wort.

»Ich komme, Sonja. In einer halben Stunde. Warte auf mich, ich bin gleich da.« Sie brauchte keine weiteren Erklärungen – es genügte ihr völlig, wenn Sonja sie bat, zu kommen.

Das Wasser war noch kalt, als Agla sich unter die Dusche stellte, aber das war ihr egal, sie wollte sich nur kurz abduschen. Beim Abtrocknen fühlte sie sich so hellwach wie schon lange nicht mehr. Vor dem Crash war sie manchmal so in den Tag gestartet, mit dem Schock einer eiskalten Dusche. Damals war sie noch um sechs Uhr aufgestanden, damit sie ihr Arbeitspensum schaffte und die Lage peilen konnte, bevor die Bank öffnete. Damals hatte es ihr noch Spaß gemacht, morgens aufzustehen. Agla wühlte in der Schublade nach frischer Unterwäsche, aber da sie sie schon lange nicht mehr faltete, herrschte ein heilloses Durcheinander. Schließlich fand sie einen Slip und einen BH in ungefähr derselben Farbe, und um ein paar Minuten einzusparen, entschied sie sich für Socken anstatt für eine Strumpfhose. Dann öffnete sie den Kleiderschrank, doch die Auswahl war dürftig. Der Stapel mit Klamotten, die in die Reinigung mussten, war ziemlich groß geworden, und weil Agla zu träge gewesen war, sie wegzubringen, hingen jetzt nur noch ein paar Kostüme und Jacketts im Schrank. Ohne groß nachzudenken, schnappte sie sich einen Hosenanzug von Chanel und eine cremefarbene Seidenbluse – vielleicht ein bisschen overdressed, um frühmorgens jemanden am Flughafen abzuholen, aber Agla wollte nicht ungepflegt aussehen, wenn sie sich nach so langer Zeit wiedertrafen.

Exakt achtzehn Minuten nach Sonjas Anruf stieg Agla in ihren Wagen. Sie hatte ihr Kosmetiktäschchen in der Handtasche und wollte die roten Ampelphasen nutzen, um sich zu schminken. Ihre Haare waren einigermaßen akzeptabel, und das Parfüm, das sie aufgelegt hatte, war Sonjas Lieblingsduft. Da um diese Uhrzeit noch kaum jemand unterwegs war, kam sie schnell durch die Kreisverkehre in Hafnarfjörður, und als die Ampel am Sportplatz auf Rot schaltete, legte sie Make-up auf und puderte sich das Gesicht. Nachdem sie den Stadtverkehr hinter sich gelassen hatte und an der Aluminiumfabrik vorbeigefahren war, trat sie das Gaspedal durch und wurde in den Sitz gedrückt, so als würde der Wagen gleich abheben. Der Lexus war reaktionsschnell, die Straße war trocken, und es gab trotz frostiger Temperaturen kein Glatteis. Agla wäre im Handumdrehen da. Sie beschleunigte auf hundertdreißig Stundenkilometer und schaltete den Tempomat ein, damit sie den Fuß vom Gas nehmen und das Lenkrad mit den Knien fixieren konnte, während sie sich die Wimpern tuschte. Das musste reichen, auch wenn etwas Lidschatten und Kajal besser gewesen wären, aber sie wollte so schnell wie möglich bei Sonja sein. Um ihr zu zeigen, dass sie für sie da war, dass sie sich auf sie verlassen konnte.

Als Agla sich dem Flughafen näherte, bekam sie ein mulmiges Gefühl. Was sollte sie zu Sonja sagen? Wie sollte sie sich ihr gegenüber verhalten? Ihr letztes Treffen war nicht gut verlaufen. Sonja hatte mit ihr Schluss gemacht, und jetzt rief sie auf einmal schluchzend an und bat sie um Hilfe. Was hatte das zu bedeuten? Wollte sie sie wirklich sehen? Oder hatte sie sonst niemanden, den sie fragen konnte? An der Schranke zum Flughafenparkplatz zückte Agla ihren Lippenstift, und beim Schminken merkte sie, dass ihre Hände zitterten. Kaum war sie auf den Parkplatz gefahren, sah sie Sonja auch schon bibbernd vor dem Terminal stehen. In Shorts.

11

Noch bevor Agla den Wagen vor dem Terminal zum Stehen gebracht hatte, riss Sonja die Tür auf und stieg ein.

»Danke, dass du mich abholst«, sagte sie und knallte die Beifahrertür zu. Das klang ziemlich knapp und barsch angesichts ihres tränenerstickten Anrufs am frühen Morgen und ihres Aufzugs, in kurzen Hosen und Trägerhemdchen bei Temperaturen unter null.

»Hast du etwa so draußen gewartet?«, fragte Agla erstaunt. Das war eigentlich nicht das Erste, was sie hatte sagen wollen, aber es platzte einfach aus ihr heraus.

»Nein, ich hab mir ausgerechnet, wie lange du brauchst, und in der Toilette gewartet, damit die Leute mich nicht anstarren. Du hast gesagt, eine halbe Stunde, also bin ich von einer Dreiviertelstunde ausgegangen.«

»Und du hattest keine Jacke oder so …«, setzte Agla an, doch Sonja schaute starr geradeaus, mit einer Härte im Blick, die Agla noch nie an ihr wahrgenommen hatte. »Wo ist Tómas?«

»Bei seinem Vater«, murmelte Sonja und kauerte sich auf dem Beifahrersitz zusammen. Ihr Mund stand offen, und sie zitterte am ganzen Körper, gab aber keinen Laut von sich.

»Sonja, Liebling«, sagte Agla sanft und zog sie an sich. Sonja leistete keinen Widerstand, legte den Kopf an ihre Brust und stieß ein schwaches, heiseres Jammern aus. »Was ist passiert, mein Liebling?«, flüsterte Agla in ihr zerzaustes Haar und schloss sie in die Arme. Sie war total durchgefroren. »Was ist passiert?« Eine Weile lag Sonja schluchzend in Aglas Armen, doch dann löste sie sich von ihr und setzte sich wieder auf.

»Bitte fahr los«, sagte sie und rieb sich das Gesicht.

»Was …?« Agla wollte protestieren, doch Sonja fiel ihr ins Wort.

»Fahr!«

Agla schaltete auf Drive und fuhr langsam los, damit rechnend, dass Sonja erneut zusammenbrechen würde, bereit, sie in den Arm zu nehmen. Halb hoffte sie, dass es passieren würde, damit sie Sonja trösten konnte. Doch Sonja saß reglos auf dem Beifahrersitz und starrte geradeaus, wieder mit dieser seltsamen Härte im Blick.

Als sie auf die Reykjanesbraut bogen und Richtung Reykjavík fuhren, schwiegen sie immer noch. Sonja hatte das Gebläse hochgedreht und die Sitzheizung angestellt, die Augen stur in die Ferne gerichtet.

»Ich möchte dich um etwas bitten«, durchbrach sie schließlich die Stille.

»Was auch immer du willst«, entgegnete Agla, erleichtert, dass Sonja überhaupt etwas sagte.

»Bitte stell mir keine Fragen. Frag mich nicht, was passiert ist oder warum ich so plötzlich in Island auftauche, in diesen Klamotten. Bitte frag mich einfach nicht.«

»Okay«, sagte Agla. »Ich frage dich nicht.«

Sie lächelte Sonja an und blickte dann wieder auf die Straße, während sie sich etwas zusammenfantasierte. Bestimmt wollte Sonja ihr nichts erklären, weil sie eine Beziehung mit einer anderen Frau gehabt hatte, die mit ihr Schluss gemacht hatte, und deshalb war Sonja irgendwie bei Eiseskälte in Shorts vor dem Flughafen in Keflavík gelandet. So was in der Art. Agla spürte, wie ihr die Galle hochkam bei der Vorstellung von Sonja mit einer anderen, und sie biss sich auf die Zunge, um sie nicht mit Fragen und Vorwürfen zu überschütten. Sonja hatte sie gebeten, keine Fragen zu stellen, und wenn sie wieder bei ihr landen wollte, hielt sie sich besser daran.

Als sie merkte, wie Sonja neben ihr zitterte, drehte Agla die Heizung noch höher.

»Ist dir immer noch kalt?«, fragte sie und legte die Hand auf Sonjas nackten Oberschenkel, als wollte sie ihre Temperatur fühlen. Zu ihrer Überraschung legte Sonja ihre Hand auf Aglas und hielt sie fest. Sonjas Haut war kühl, und ihre Handfläche fühlte sich eiskalt an, doch nach und nach spürte Agla, wie der Oberschenkel wärmer wurde, und die Funken, diese elektrischen Funken, die immer sprühten, wenn sie sich berührten, begannen zu knistern und schickten kleine Blitze in ihr Herz. Sie drosselte die Geschwindigkeit auf achtzig und schaltete den Tempomat ein. Sie würde ganz langsam in die Stadt fahren.

12

»Das will ich meinen!«, sagte die Nachbarin und musterte Sonja von oben bis unten. »Diese Fluggesellschaften verlieren ständig Koffer.« Sie kramte in der Schublade ihrer Kommode und zog einen Schlüsselbund heraus. »Und Sie mussten in diesen Klamotten in die Stadt fahren, Sie Ärmste? Und das bei dem Kälteeinbruch …«

»Ich hatte eine Mitfahrgelegenheit«, antwortete Sonja, »in einem gut geheizten Auto.«

»Gott sei Dank!«, sagte die Nachbarin und gab ihr die Schlüssel, langsam und zögerlich, als wollte sie den Moment in die Länge ziehen. Genau wie Agla vorhin im Auto. Sie hatte versucht, Sonja aufzuhalten, auf Erklärungen gehofft. Sonja ergriff den Schlüsselbund mit einem knappen Lächeln und drehte sich auf dem Absatz um. Sie spürte den Blick der Nachbarin im Rücken und konnte die drängenden Fragen, die ihr auf der Zunge lagen, regelrecht hören. Das mit dem verschwundenen Koffer war offenbar keine überzeugende Erklärung für ihr Auftauchen gewesen, so plötzlich und ziemlich spärlich bekleidet.

Ihre Sorgen über den Eindruck, den sie bei der Nachbarin hinterlassen hatte, verpufften jedoch schnell, als sie ihre Wohnungstür öffnete und ihr der Gestank entgegenschlug. Sie war vor zwei Monaten überstürzt abgereist und hatte weder vorher geputzt noch den Müll rausgebracht. Mit angehaltenem Atem hastete sie durch die Wohnung und riss die Balkontür auf. Dann schnappte sie nach Luft, eilte in die Küche, holte die volle Mülltüte unter der Spüle heraus und band sie hastig zu, ohne über die dicke Schimmelschicht nachzudenken, die sich oben in der Tüte gebildet hatte. Wenn man in Urlaub fuhr, wirklich in Urlaub fuhr, dann dachte man an solche Dinge. Dann stellte man sich vor, wie man zurück nach Hause kam. Aber Sonja hatte nicht damit gerechnet, zurückzukommen. Das war Plan C oder sogar Plan D gewesen. Und eigentlich war Plan D gar kein Plan, sondern eine schmähliche Niederlage, eine Bruchlandung in ihre alte Realität, ohne Rücklagen und mit verschimmeltem Abfall.

In der Krimskrams-Schublade in der Küche fand Sonja eine Packung Räucherstäbchen, zündete sofort eins an und nahm es mit ins Bad. Dort drehte sie das heiße Wasser auf und ließ ein Bad einlaufen. Das Räucherstäbchen überdeckte den Gestank in der Wohnung, kam jedoch nicht gegen den Schwefelgeruch des Heißwassers an, das direkt aus den heißen Quellen ins Reykjavíker Wassernetz eingespeist wurde. Aber das machte nichts. Sonja wusste, dass sie es nach einer Weile nicht mehr riechen würde, daran gewöhnte man sich immer schnell.

Nachdem sie in das heiße Badewasser eingetaucht war, ließ sie ihren Tränen endlich freien Lauf. Bilder von Tómas’ Gesicht, als ihm klar wurde, dass er mit zu seinem Vater sollte, von Adams gehässigem Grinsen, als er ihr sagte, sie solle selbst sehen, wie sie in die Stadt käme, und ihre ganze Verzweiflung stürmten unerbittlich auf sie ein. Sie stand wieder bei null, wieder ganz am Anfang, in einer schlechteren Position als vorher. Adam würde sich weigern, ihr Tómas zu überlassen. Sie konnte froh sein, wenn sie ihn überhaupt sehen durfte. Ein Leben ohne Tómas wäre unerträglich leer.

Und nächste Woche sollte sie auch noch nach Amsterdam fliegen und eine große Lieferung abholen. So würde es wohl in den nächsten Wochen und Monaten laufen, genau wie in den Monaten vor ihrer Flucht.