Die Schlüssel von Táruma - Petra Zeil - E-Book

Die Schlüssel von Táruma E-Book

Petra Zeil

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Beschreibung

»Der Meister braucht dich, Eyuna. In deinem Inneren liegt eine große Kraft verborgen. Die Zeit arbeitet gegen uns, und sie ist gewaltig.« Eyunas friedliches Leben im Tal der Lichter wird durcheinandergewirbelt, als sie von den geheimnisvollen Gnoruniums in den unendlichen Wald geholt wird. Dort wartet Meister Uliel, der ihre Hilfe braucht: Dem prächtigen uralten Reich Cantanien steht der Untergang bevor. Die letzte Hoffnung sind die sagenumwobenen Schlüssel von Táruma. Der Legende nach haben sie die Macht, die Verbündeten von Stern Táruma, deren Freundschaft in Cantanien längst vergessen ist, zu Hilfe zu holen. Eyuna begibt sich auf die Suche nach den Schlüsseln und kommt dabei einer lange verschwiegenen Wahrheit auf die Spur. Vor allem jedoch begegnet sie Runa.

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Seitenzahl: 315

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Petra Zeil, geboren 1980, ist Doktorin der Theologie und hat außerdem Englisch, Französisch, Spanisch und Caritaswissenschaft studiert. Sie schaut sich gerne die Welt an und begeistert sich für Bücher und Sprache (n). Sie liebt es, Tagträume und Gedanken als Geschichten zu Papier zu bringen, und hat eine besondere Vorliebe für Reime.

Für eine ganze Familie voller Freunde: Andreas, Petra, Johanna, Sarah und Jonathan

Mein Leben ist schlicht und frei ist mein Sein, zu lange ist es her.

Doch schwindet das Licht, fällt Runa mir ein und mein Herz wird seltsam schwer.

Inhaltsverzeichnis

Die Tochter des Waldes

Gefährliche Reise

Die Schlüssel von Táruma

Der Weg zur sprechenden Wand

Palques

Drillingsbrüder und falsche Freunde

Rätsel

Loras Geheimnis

Unterwegs nach Aparensien

Toómos Koffer

Runas Schutzvertraute

Getrennte Wege

Kummer und Fieber

Doch aus der Dunkelheit tönte Musik

Die Schlacht beginnt

Der weiße Turm

Freunde und Feinde

Mutter?

Mutter!

1

Die Tochter des Waldes

Das Dorf jenseits des Waldes war das einzige Fleckchen Land auf der Welt, das von Menschen bewohnt wurde. Überhaupt war die Welt sehr klein. Sie endete gleich hinter dem mächtigen Gebirge, welches das Tal, in dem das Dorf lag, von Norden, Süden und Osten her eingrenzte. Nur der Wald, der, durch den Fluss vom Dorf getrennt, den ganzen Westen der Welt erfüllte, der war unendlich. All dies war zumindest die feste Überzeugung der Menschen im Dorf, so hatten ihre Ahnen und Urahnen ihnen den Stern, auf dem sie lebten, beschrieben, und niemand hatte je etwas anderes behauptet. Es war nicht nötig, das Tal zu verlassen und auf Wanderschaft zu gehen, um andere Orte zu erkunden. Die Berge waren leer und einsam und außerdem so hoch, dass es unmöglich schien, ihre Spitze zu erklimmen. Der Wald hingegen war voll von Gefahren, und düstere Gestalten aus der Unterwelt trieben dort ihr Unwesen. So zog man es vor, im sicheren und vertrauten Dorf zu bleiben.

Das Dorf hatte keinen Namen. Da es das einzige Dorf auf der Welt war, brauchte es auch keinen, denn es war ja nicht nötig, es von anderen Dörfern zu unterscheiden. Seine Bewohner nannten es einfach »Das Dorf jenseits des Waldes«.

Die Leute im Tal waren ein friedliches Volk, jeder half dem anderen soweit er konnte. Jeder ging seiner täglichen Arbeit nach, und keiner hatte Böses im Sinn.

Im Dorf jenseits des Waldes glich ein Tag dem anderen. Die meisten der fünfhundertzweiundsiebzig Einwohner kannten sich genau, jeder wusste, was er vom anderen zu erwarten hatte. Neuerungen und Überraschungen gab es kaum. Fließendes Wasser in den Häusern kannte man nicht, man wusch sich im nahen Fluss und trug das Wasser in großen Kübeln nach Hause. Auch Strom und elektrisches Licht waren den Dorfbewohnern unbekannt. Sie erleuchteten ihre Häuser mit Kerzen, die sie nachts auf die Fenstersimse stellten, sodass alle Gässchen schimmerten, und hätte sich zu dieser Zeit jemals ein Fremder dem Dorf genähert, er hätte einen Augenblick lang wie gebannt stehen bleiben und über das zauberhafte Lichtermeer staunen müssen. Aus diesem Grunde nannten die Menschen ihr Tal liebevoll »das Tal der Lichter«.

So weit die Dorfbewohner zurückdenken konnten, war nie etwas Außergewöhnliches geschehen. Nur ein einziges Mal, daran erinnerte sich jeder, der es erlebt hatte, auch wenn kaum noch jemand davon sprach, war etwas Wundersames passiert, etwas, das die Dorfgemeinschaft erschütterte, sie in Aufruhr versetzte.

Es war an einem grauen Tag, in der Morgendämmerung. Der Nebel, der nachts das Dorf umhüllte, als wolle er es für die schauerlichen Waldbewohner unsichtbar machen, hatte sich noch nicht gelichtet, als eine Gestalt aus der Düsternis des Waldes auf tauchte und durch den Fluss watete. Kein Mensch im Dorf jenseits des Waldes hatte es jemals gewagt, den Fluss zu überqueren. Man fürchtete die unheilvolle Stille des Waldes und das, was darin herumlungerte, fernab von der Zivilisation des Dorfes. Das Wesen, das sich dem Dorf näherte, trug hohe Stiefel und einen dunklen Filzhut und war in wallende Umhänge aus schäbigem grauen Stoff gehüllt. Es war die Gestalt eines Mannes. Nur wenige sahen ihn kommen, die meisten schliefen zu so früher Stunde noch selig in ihren warmen Betten. Doch die, die ihn sahen, wussten, wer er war. Sie erahnten selbst durch den Nebel sein schmales, kantiges Gesicht mit den Augen von stechendem Blau, mit der kurzen, buckligen Nase und dem strichartigen Mund, der scheinbar keine Lippen besaß, dem langen weißen Schnurrbart, der bis zu den Ellen hinabfiel, und das spitze Kinn, das ebenso kahl war wie der Schädel, der sich unter dem Hut verbarg. Der Mann hieß Uliel, und die Leute im Dorf hielten ihn für steinalt, dabei hatte er bis zu jener Zeit noch keine fünfzig Winter erlebt. Doch Uliel hatte vieles gesehen in seinem Leben, ihm waren Dinge widerfahren, die sich nicht in Worte kleiden lassen, und er war Kreaturen begegnet, bei deren Anblick jeder andere Mensch vor Schreck und Grauen auf der Stelle tot umgefallen wäre. Seine Erfahrungen hatten ihn geprägt. Uliel war eine rätselhafte Gestalt. Ständig murmelte er unverständliche Worte vor sich hin, auch wenn niemand bei ihm war, und wenn er ging, raschelte und knackte es, dass die Menschen im Tal der Lichter eine Gänsehaut bekamen. Im Dorf war er gefürchtet, schon allein deshalb, weil er nicht mit den anderen Menschen zusammenlebte. Er hauste, so erzählte man sich, im unendlichen Wald wie ein wildes Tier. Ein Magier sei er, ein Hexenmeister. Mit den Feen und Geistern der Unterwelt stehe er im Bunde, so hieß es. Doch er war ein Mensch, oder sah zumindest annähernd so aus, und somit war klar, dass er irgendwann einmal im Dorf jenseits des Waldes gelebt haben musste, auch wenn sich keiner daran erinnerte, denn das Dorf war ja bekanntlich der einzige Ort, an dem es Menschen gab. Und da alle fünfhundertzweiundsiebzig Menschen auf der Welt ein kleines bisschen verwandt waren, musste man wohl oder übel hinnehmen, dass auch Uliel Teil der großen Familie war. Deshalb konnte man ihm nicht verbieten, ins Dorf zu kommen und musste seine seltene Anwesenheit hinnehmen, wenn er auch keineswegs ein gern gesehener Gast war.

An jenem grauen Morgen, der den Dorfbewohnern als wundersam und unheimlich in Erinnerung blieb, kam Uliel also in aller Frühe ins Dorf. Und wie jedes Mal, wenn er sich unter den Menschen blicken ließ, strebte er das kleine Steinhaus mit dem Strohdach an, das sich ganz in der Nähe des Flussufers befand. Er nahm eine seiner großen, knochigen Hände unter dem Gewand hervor und klopfte an die Tür. Das Haus war noch dunkel. Er blieb stehen und wartete einen Augenblick. Nichts rührte sich. Da pochte er noch einmal an, dieses Mal stärker.

»Hedda«, rief er, und seine Stimme klang viel weniger rau und gruselig als man es aufgrund seiner Erscheinung erwartet hätte. »Hedda, wach auf! Ich habe dir etwas mitgebracht.«

Einen Moment später konnte man einen schwachen Schimmer von innen durch das dunkle Fenster fallen sehen. Man hörte Schritte. Die Fußbodenbretter knackten. Dann öffnete sich knarrend die Tür, und im Türrahmen erschien eine sehr kleine Frau in Nachthemd und Wollpantoffeln. Sie hatte sich eine Decke um die Schultern geworfen, und doch zitterte sie vor Kälte. Die Kerze, die sie in der Hand hielt, erleuchtete schwach ihr blasses, rundliches Gesicht, die noch ganz müden Augen, das vom Schlaf zerzauste Haar.

»Uliel«, rief sie und fiel dem Besucher um den Hals. Doch noch bevor er ihr, wie sonst, in einer liebevollen Geste übers Haar streicheln konnte, schreckte sie zurück. »Was führt dich an diesem kalten Morgen bei Dunkelheit und Nebel zu deiner alten Freundin Hedda?«, fragte sie. »Und was trägst du da in deinem Arm?«

»Das hier, meine liebe Hedda«, antwortete Uliel und schlug seinen Umhang zurück.

Hedda stieß einen leisen Schrei des Erstaunens aus. In Uliels Arm lag ein schlafendes Kind, das so klein und zerbrechlich war, dass Hedda ihren Augen kaum trauen konnte.

»Wie alt mag sie sein?«, fragte Uliel.

»Nicht mehr als ein paar Tage.«

Und Uliel erzählte Hedda vom traurigen Schicksal des kleinen Mädchens, von seinem frühen Leid und der langen Reise, die es in seinem jungen Leben unternehmen hatte müssen.

»Ich möchte, dass sie bei dir aufwächst«, sagte er zu Hedda, als er seine Geschichte beendet hatte. »Du bist eine gute Frau, du kannst besser für sie sorgen als ein schräger Alter wie ich.«

Und ohne Widerrede nahm Hedda das kleine Mädchen aus Uliels Arm entgegen. Sie hatte sich ihr Leben lang nichts sehnlicher gewünscht als ein Kind. Sie war einmal verheiratet gewesen, doch ihr Mann war früh gestorben, und sie hatte es vorgezogen, nach seinem Tod allein zu bleiben. Tagein und tagaus hatte sie einsam in ihrem Häuschen gelebt. Sicherlich, so lange die Sonne am Himmel stand und die Gassen voller Leben waren, genoss sie stets gute Gesellschaft. Ihre Hände waren immer dazu bereit, mit anzupacken, wenn es nötig war, ohne dass Hedda jemals eine Gegenleistung forderte. Außerdem war sie gütig und klug. Die Menschen kamen zu ihr, wenn sie Sorgen hatten, und Hedda nahm sich Zeit für sie. Da war es kein Wunder, dass sie überall gern gesehen und beliebt war. Nur wenn es kalt und dunkel wurde, zog sie sich in ihr Häuschen zurück, strickte und nähte und wärmte sich am Licht der Kerzen, die sie an den Fenstern verteilte und die sie erst ausblies, wenn sie sich schlafen legte.

Behutsam wickelte Hedda das Kind in die Decke, die sie um die Schultern getragen hatte, und drückte es an sich, und ihr war, als flüsterte der eisige Wind ihr etwas zu.

»Bei mir sollst du es gut haben«, sagte sie zu dem Mädchen. »Ich nenne dich Eyuna.«

Bereits am frühen Nachmittag wusste jeder im Tal der Lichter, was sich in Heddas Haus in der Morgendämmerung zugetragen hatte, und es wurde darüber spekuliert, woher das kleine Mädchen stammte und wer es wirklich war.

»Sie ist vom Himmel gefallen«, flüsterte die Schäferin der Krämersfrau zu. »Ich habe es gesehen. Alle Sterne des Nachthimmels haben sich für einen Atemzug über Frau Heddas Haus versammelt, und unmittelbar danach schwebte das Mädchen auf die Erde herab. Sie wird das Dorf dem Erdboden gleich machen und an seiner Stelle eine Stadt aus purem Gold auf bauen.«

»Ich habe gehört, sie soll die heimliche Tochter Uliels und Frau Heddas sein«, munkelte ein anderer, und wieder ein anderer weissagte: »Das Kind wird Unglück über unser Tal bringen. Es entstammt der Unterwelt, genauso wie jener, der es über den Fluss getragen hat.«

Die Wahrheit darüber, wie Eyuna ausgerechnet in Uliels Hände gefallen war, wussten nur Hedda und Uliel selbst. Doch wer sie war, das blieb auch ihnen verborgen.

Die Leute im Dorf tratschten und mutmaßten viel über Eyunas Herkunft, doch irgendwann gewöhnten sie sich an die Anwesenheit des Kindes und störten sich nicht einmal mehr an der Tatsache, dass seine Haut einen Ton von hellem Goldbraun annahm, dass ihm glänzend ebenholzfarbenes Haar wuchs, und dass seine Augen tief schwarz glimmerten. Und das, obwohl im Dorf jenseits des Waldes alle Menschen hellhäutig waren und milchig weißes Haar besaßen. Man schätzte Hedda und ihre hilfsbereiten Hände zu sehr, als dass man es sich hätte leisten können, ihre Tochter aus der Dorfgemeinschaft auszuschließen. Und als Tochter hatte Hedda das Mädchen angenommen.

Mit der Zeit geriet die Frage nach Eyunas rätselhafter Herkunft beinahe in Vergessenheit. Das Einzige, was noch daran erinnerte, war ein Name, den man Eyuna gab, und bei dem man sie hin und wieder nannte: Tochter des Waldes.

Hedda und Eyuna führten ein bescheidenes Leben. Hedda besaß nicht viel. Sie bestellte die Felder hinter dem Haus und arbeitete von früh bis spät, um sich und das kleine Mädchen zu versorgen, doch sie zog Eyuna mit all ihrer Liebe auf, gerade so, als hätte sie selbst sie geboren. Wenn sie ins Dorf ging, um den Leuten zu helfen, nahm sie Eyuna stets mit, und als Eyuna groß genug war, half auch sie mit, und bald bestand sie darauf, auch einen Teil der Arbeit ihrer Mutter übernehmen zu dürfen, denn Hedda wurde langsam alt. Ihr Rücken war nicht mehr so stark wie früher und schmerzte, wenn sie sich bückte. Eyuna war ein kräftiges und kluges Mädchen. Schon mit fünf Jahren lernte sie lesen, und wo immer bei den Leuten im Dorf sie ein Buch stehen sah, bat sie, es sich ausleihen zu dürfen, und las es voller Wissbegierde. Es schien, dass sie alles verstand und dass sie sich für alles interessierte, und Hedda wunderte sich. Mit sieben Jahren fiel Eyuna ein Buch über Heilkräuter in die Hände, und fortan entwickelte sie eine erstaunliche Fähigkeit, die Leiden der Menschen mit Hilfe von Pflanzen zu lindern und zu heilen. Man schätzte sie und vertraute ihr jeglichen Kummer an, obgleich sie noch ein Kind war.

Außerdem schien es, als ob Eyunas Leben unter einem besonders guten Stern stünde. Mehr als einmal geriet sie in Gefahr, doch jedes Mal entkam sie ohne Schaden zu nehmen. So war sie einmal beim Spielen in den Fluss gefallen. Hedda hatte die verängstigten Schreie der anderen Kinder bis zu ihrem Haus gehört und war sofort zum Fluss gelaufen. Doch als sie dort angekommen war, hatte sie ihre Tochter am Ufer im Gras liegen und verwundert in den Himmel blicken sehen. Die anderen Kinder standen starr vor Schreck um sie herum und sahen ungläubig auf sie hinab.

»Was ist passiert?«, fragte Hedda atemlos.

»Sie ist geflogen«, antwortete ein Junge.

»Geflogen? Was soll das heißen?«

»Sie ist ausgerutscht und ins Wasser gestürzt, und dann hat sie sich einfach in die Luft erhoben und ist ans Ufer geschwebt.«

»Der Wind, Mami«, sagte Eyuna. »Der Wind hat mich ans Ufer getragen.«

Den Leuten im Dorf gegenüber hatte Hedda den Vorfall verschwiegen.

Ein anderes Mal, als Hedda bei der Feldarbeit ihre Tochter kurz aus den Augen gelassen hatte, hatte sie plötzlich gehört, wie Eyuna nach ihr rief. Als sie herumfuhr, erblickte sie einen riesigen schwarzen Wolf, der wohl aus den Bergen heruntergekommen war und sich knurrend und mit gefletschten Zähnen der kleinen Eyuna näherte. Er schien zum Angriff bereit. Noch viele Jahre später dachte Hedda an den eisigen Schrecken zurück, der ihr bei diesem Anblick in die Brust fuhr. Sie wollte aufschreien, doch ihre Zunge fühlte sich geschwollen und trocken an. Und ohne lange zu überlegen wollte sie sich auf den Wolf stürzen, mit nichts anderem bewaffnet als mit ihrem alten Laubrechen. Doch da jaulte der Wolf mit einem Mal laut auf und zuckte zusammen. Hedda blieb verwundert stehen. Sie hatte das Tier nicht berührt. Im nächsten Moment jaulte der Wolf ein zweites Mal auf, zog den Kopf ein und wich knurrend zurück. Ungläubig blickte Hedda ihm nach. Am Wohnhaus angekommen, drehte der Wolf sich um und rannte davon, gerade so, als ob ihn tausend Teufel verfolgten. Hedda schossen Tränen der Erleichterung in die Augen. Sie schloss Eyuna in die Arme und drückte sie an sich.

Die Menschen im Tal der Lichter lebten im Einklang mit der Natur und den Tieren, solange diese friedlich waren und keinen Schaden anrichteten. Tiere gab es viele im Tal. Nicht nur Kühe, Schafe, Esel, Pferde, Hunde, Katzen, Vögel und Schweine, sondern auch ganz ungewöhnliche Tiere, die man heutzutage kaum noch antrifft, lebten im Dorf, ohne dass sich jemand über ihre Anwesenheit wunderte. Die absonderlichsten von ihnen waren wohl die Gnoruniums, plumpe, kurzbeinige Tierchen, so groß wie junge Feldhasen, wollig wie Lämmer und fast kugelrund. Sie alle besaßen schwarze Knopfaugen, die etwas dümmlich in die Welt glotzten, spitze Schnauzen, die stets auf der Suche nach Essbarem waren, und enorme runde Ohren, die ihnen wie nasse Lappen ins Gesicht hingen. Die Gnoruniums waren gierig, verfressen und zu nichts nutze, fanden die Menschen, aber sie waren gutmütig und taten keiner Fliege etwas zu Leide, deshalb störte sich niemand an ihnen. Außerdem musste man Glück haben, um ein Gnorunium zu Gesicht zu bekommen. Es war nämlich so, dass sie nie an einem Ort verweilten. Sie tauchten ganz unerwartet auf, und ehe man sich versah, waren sie wieder verschwunden. Deshalb wunderte sich Eyuna an jenem Morgen, den sie für einen Morgen wie jeden anderen gehalten hatte, darüber, dass sie urplötzlich von einer ganzen Schar von Gnoruniums umgeben war, als sie mit der Wäsche zum Fluss ging. Nie zuvor in ihrem fünfzehnjährigen Leben hatte sie so viele Gnoruniums auf einem Fleck gesehen, und kein einziges von ihnen machte Anstalten, sofort wieder zu verschwinden.

»Heute muss ein besonderer Tag sein«, sprach Eyuna zu sich selbst, »gleich zwölf Gnoruniums auf einmal.«

Und sie ahnte nicht, wie recht sie hatte. Jener Tag war tatsächlich ein besonderer. Es war nämlich der Tag, der ihrem Leben eine vollkommen andere Richtung geben sollte, der Tag, an dem sie der friedlichen kleinen Welt des Tals der Lichter entrissen und einer fremden Wirklichkeit ausgesetzt werden sollte. Doch noch wusste sie nichts von alledem. Sie saß am Fluss und wusch Wäsche, wie sie es jeden zweiten Tag zu tun pflegte. Die Frühlingssonne fiel durch die Blätter der Bäume und zauberte Schattenspiele auf die Wasseroberfläche. Vögel zwitscherten, und aus einiger Entfernung vernahm Eyuna Geräusche, die aus dem Dorf zu ihr herüber drangen. Sie empfand einen tiefen Frieden. Die Welt schien in Ordnung zu sein.

»Na los, sag du es ihr.«

»Wieso immer ich? Immer soll ich alles Unangenehme tun, und du kassierst hinterher das Lob.«

Eyuna fuhr herum. Wer hatte da gesprochen? Keine Menschenseele war zu sehen.

»Und was sollen wir tun, wenn sie nicht auf uns hört? Sie kennt uns ja gar nicht.«

»Dann ist es deine Schuld. Du hast dem Meister versichert, dass wir alles im Griff haben.«

»Hallo?«, rief Eyuna. »Wer ist da?«

Keiner antwortete.

Sie spürte eine merkwürdige Unruhe in sich aufsteigen. Bildete sie es sich nur ein, oder hörte sie wirklich Stimmen?

»Und wenn einer von den anderen fragt?«

»Sei nicht albern. Wir haben uns bereit erklärt, die Gruppe zu führen und die Aufgabe zu erledigen. Bringen wir es hinter uns, so schwer wird es schon nicht sein.«

Eyuna griff nach dem Wäschekorb. Sie war alarmiert.

»Sie packt zusammen! Jetzt fass dir endlich ein Herz, bevor es zu spät ist!«

Eyuna schrie auf und ließ den Wäschekorb fallen. Sie glaubte, verrückt geworden zu sein, doch dieses Mal hatte sie es genau gesehen. Die Worte waren aus dem Mund eines Gnoruniums gekommen, das wenige Schritte von ihr entfernt im Gras saß und zu ihr auf blickte. Es hatte mit menschlicher Stimme gesprochen.

»Lauf nicht weg«, bat es.

Und selbst wenn sie gewollt hätte, hätte Eyuna nicht fliehen können. Sie war wie gelähmt.

»Du brauchst keine Angst vor uns zu haben«, sprach nun ein zweites, kleineres Gnorunium, und Eyuna zuckte zusammen. »Wir verfügen über keinerlei Reißzähne, und unsere Krallen taugen nicht einmal dazu, den Flöhen in unserem Fell den Garaus zu machen. Hexen können wir, wie du siehst, auch nicht, sonst hätten wir diese Wiese längst mit Kuchen vollgezaubert und müssten kein Gras fressen.«

»Aber wie ist es möglich, dass ihr mit mir redet?«, fragte Eyuna. »Ich dachte immer, ihr Gnoruniums könntet nicht sprechen.«

»So?«, antwortete das kleinere Gnorunium beleidigt. »Und ich dachte immer, ihr Menschen könntet nicht sprechen.«

»Lass den Quatsch«, schaltete sich nun wieder das größere ein und wandte sich dann Eyuna zu: »Tochter des Waldes, wir haben den langen Weg durch den Wald hierher unternommen, um dich zu treffen. Das ferne Land Cantanien befindet sich in bitterer Not. Der Meister hat schon alles für die Abreise vorbereitet, doch allein kann er nicht gehen. Er hat nach dir geschickt. Er braucht deine Hilfe.«

»Aber ich kenne kein Land namens Cantanien«, erwiderte Eyuna, »und ich glaube nicht, dass es einen solchen Ort gibt. Und selbst wenn es ihn gäbe, wüsste ich nicht, wer dieser Meister ist, von dem ihr immerzu sprecht, und warum er ausgerechnet meine Hilfe wünscht. Ich kann nicht einfach mein Dorf verlassen und hinaus ins Ungewisse gehen.«

»Wie kannst du so etwas sagen? Der Meister vertraut auf dich«, rief das kleinere Gnorunium außer sich.

»Sei still«, fuhr das größere Gnorunium das kleinere an. »Eyuna«, sagte es, »schon seit du ein kleines Mädchen warst, hat der Meister uns Gnoruniums immer wieder auf die lange Reise zu dir ins Dorf geschickt, um zu erfahren, zu was für einem Menschen du dich entwickelst. Wir haben dich genau beobachtet und dem Meister von jedem Schritt, jedem Atemzug, den du gemacht hast, berichtet, fünfzehn Jahre lang. Was der Meister von uns über dich erfahren hat, hat ihn sehr glücklich gemacht.

›Ich sehe schon‹, pflegte er zu sagen, ›sie ist ein geistreiches Mädchen, und sie hat ein gutes Herz.‹

Und jetzt, in Zeiten der Not, braucht er jemanden, der so ist wie er, jemanden, der stark, beherzt und aufrichtig ist und ihm hilft. Er braucht dich. In deinem Inneren liegt eine große Kraft verborgen. Etwas Ungewöhnliches, etwas Besonderes umgibt dich. Wir können es fühlen, auch wenn wir nicht wissen, um was für eine Macht es sich handelt. Aber wir müssen uns beeilen. Die Zeit arbeitet gegen uns, und sie ist gewaltig.«

Eyuna rang nach Worten, versuchte, zu erklären, dass es ihr völlig unmöglich war, mit den Gnoruniums in den unendlichen Wald zu gehen und ihr Zuhause zurückzulassen, doch alles, was sie hervorbrachte, waren die Worte: »In Ordnung. Ich folge euch. Aber zuerst muss ich mich von meiner Mutter verabschieden.«

»Dann lauf«, erwiderte das größere Gnorunium, »wir warten hier.«

Und Eyuna rannte zum Haus ihrer Mutter hinüber, rannte, als ginge es nicht nur um das Schicksal des fremden Landes Cantanien, von dem sie nie zuvor gehört hatte und mit dem sie nichts verband, sondern auch um ihr eigenes Leben.

»Mutter«, rief sie, an Heddas Haus angekommen, und stieß die Tür auf. Die Küche war leer. Eyuna lief zum Schlafzimmer, danach hinaus aufs Feld, doch auch dort fand sie Hedda nicht. Sie war wohl fortgegangen, um im Dorf mit anzupacken. Atemlos kehrte Eyuna in die Küche zurück, schrieb auf einen Zettel die Worte: »Sorge dich nicht, liebe Mutter. Ich komme bald wieder. Eyuna«, legte den Zettel auf den Tisch und eilte hinaus, zurück zum Fluss, wo sie von den Gnoruniums bereits ungeduldig erwartet wurde.

»Hier bin ich wieder«, sagte sie. »Lasst uns gehen.«

Und zu ihrem Entsetzen sprang ein Gnorunium nach dem anderen wie auf ein geheimes Kommando in den Fluss, wo es an der Wasseroberfläche schwamm, ohne sich von der Stelle zu rühren. Nur das größere Gnorunium, mit dem Eyuna zuvor gesprochen hatte, blieb zurück.

»Worauf wartest du?«, fragte es. »Du musst den Fluss überqueren.«

»Aber es gibt keine Brücke«, entgegnete Eyuna.

»Natürlich nicht. Wozu hätten die Menschen des Dorfes auch eine Brücke bauen sollen? Keiner von ihnen hat jemals den Fluss überquert. Du musst von Gnorunium zu Gnorunium hüpfen.«

»Das geht doch nicht! Ich werde ihnen weh tun!«

»Unsinn«, schallte es aus dem Wasser aus mehreren Gnoruniummündern, »spring einfach.«

Und Eyuna gehorchte. Vorsichtig setzte sie ihren Fuß auf das erste Gnorunium und bemühte sich, sich so leicht wie möglich zu machen. Das Tier gab unter ihrem Gewicht kaum nach. Doch der Fluss war breit, sodass die elf Gnoruniums weit auseinander schwammen und Eyuna hüpfen musste.

Als sie auf der anderen Seite angekommen war und nichts als der finstere unendliche Wald vor ihr lag, wurde ihr mit einem Mal ganz seltsam ums Herz. Sie drehte sich um und warf einen Blick auf ihr vertrautes Dorf zurück, und etwas tief in ihr schmerzte. Es war die dumpfe Ahnung, dass sie ihr geliebtes Tal der Lichter lange Zeit nicht wiedersehen würde.

2

Gefährliche Reise

»Ich spüre seine Kräfte zunehmen«, sprach die Gestalt, die vor der großen quadratischen Öffnung im Boden kniete und hindurchblickte. Ihr kupferrotes Haar war im Nacken zusammengebunden und reichte bis zum Saum ihres langen Kleides hinab. Der Pavillon war lichtdurchflutet.

»Gut so«, antwortete die Frau, die sie aus einiger Entfernung beobachtete. »Nach so langer Zeit ohne Neuigkeiten von ihm. Wenn er nun nur nicht übermütig wird und alles verrät.«

»Das wird er nicht tun«, sagte die kniende Gestalt und drehte sich zu der Frau um, ohne aufzustehen. Sie war ein Mädchen, fast noch ein Kind. Ihre Haut war weiß wie die vereisten Bäume, die den Pavillon umgaben, ihre Augen so dunkel, dass die Pupillen kaum erkennbar waren. »Ich kenne ihn. Ich weiß, dass er aus der Vergangenheit gelernt hat und jetzt vorsichtiger sein wird.«

Die Frau trat ein paar Schritte auf das Mädchen zu. Durch den Nebel, der durch den Pavillon floss und den gesamten Boden bedeckte, konnte man ihre Füße nicht sehen. Sie warf einen Blick durch die Öffnung im Boden. Was sie sah, schien ihr zu gefallen. »Ich habe die Hoffnung, dass nun doch noch alles gut wird.«

Das Mädchen nickte. »Wie lange habe ich ihn nicht gesehen! All die Jahre habe ich ohne ihn verbringen müssen. Wenn sich die Dinge so entwickeln, wie wir es erhoffen, wird er sich bestimmt auch seinen Fehler von damals verzeihen und zu uns zurückkehren können. Nicht wahr, Meisterin Ebonij?«

Ebonij bückte sich und legte dem Mädchen die Hand auf die Schulter. Sie wusste, dass es nicht gut wäre, zu lügen. »Das wäre schön, Yammí, schön für uns und alle hier. Aber sei auf der Hut davor, dich selbst zu täuschen. Bist du sicher, dass er zurückkommen würde, selbst wenn er könnte, selbst wenn sein Gewissen ihn endlich von der längst verziehenen Schuld freisprechen würde?« Sie schwieg eine Weile, und beide blickten durch die Öffnung im Boden.

Ebonij bemerkte, dass die Hände des Mädchens Yammí vor Kälte gerötet waren. Sie wunderte sich nicht mehr über die Empfindlichkeit des Mädchens, so wie es noch Jahre zuvor jeder getan hatte. Yammí wandte ihren Blick nicht von der Öffnung ab, auch nicht, als Ebonij schließlich weitersprach: »Alles weist darauf hin, dass er dort bleiben würde. Nicht etwa, weil er es für seine Pflicht hielte, sondern weil sein Herz es ihm unmöglich machen würde, zu gehen.«

Yammí zog den langen wallenden Mantel fest um ihren Körper und verbarg die Hände unter dem warmen Stoff. Wann würde sie endlich lernen, die eisige Kälte, vor der man sich in keinem Winkel ihres Sternes verstecken konnte, zu ertragen? Sie sah sich nach ihrer Lehrerin um, die zu einem der vielen scheibenlosen Fenster gegangen war und hinausblickte, ganz sehnsüchtig, ganz erwartungsvoll. Gerade so, als gäbe es dort draußen noch etwas anderes zu sehen als die weite Landschaft aus Nebelschwaden, Licht und Eis.

»Wie weit ist es denn bis zum Haus eures Meisters?«, fragte Eyuna und blickte sich um, als erwartete sie, jeden Moment zwischen den dichten Bäumen hindurch ein Steinhäuschen mit einem Strohdach, wie sie es aus dem Dorf kannte, auftauchen zu sehen.

»Oh, noch sehr weit. Noch bevor wir die Hälfte des Weges hinter uns haben, werden deine Menschenfüße so voller Blasen sein, dass du kaum noch gehen kannst und blutige Spuren hinterlässt«, antwortete das kleinere Gnorunium, und Eyuna hätte schwören können, dass ein schadenfrohes Grinsen über sein spitzschnäuziges Gesicht huschte.

»Du musst entschuldigen«, sagte das größere, das auf der anderen Seite neben Eyuna herging und die Schar triefend nasser Gnoruniums anführte. »Wir hatten in der Hektik gar keine Zeit, uns vorzustellen. Das da« – und mit einer Kopfbewegung wies es auf das freche, kleine Gnorunium – »ist Toz, mein jüngerer Bruder.«

»Angenehm«, sagte Toz.

»Toz und ich haben dem Meister versprochen, dich zu ihm zu führen, und zur Verstärkung hat er diese zehn Gnoruniums mit uns mitgeschickt. Ich stelle sie dir eben vor. Von vorne rechts nach hinten links. Kubu, Hopp, Tori, Pu, Droffi, Jaica, Muni, Ago, Bugo und Soli.«

Eyuna blickte sich nach den Gnoruniums um. Sie folgten ihr, Toz und seinem Bruder wie zehn viel zu klein geratene kurzbeinige Schafe ihrem Hirten, doch mit einem Mal glotzten sie gar nicht mehr dumm in die Welt. Sie hatten wachsame Gesichter und bewegten sich flink und geschickt über den verwilderten Waldboden. Auch wenn ihnen keinerlei Furcht anzumerken war, verhielten sie sich aufmerksam und schienen ständig darauf gefasst zu sein, angegriffen zu werden. Fast alle Gnoruniums hatten ein weiß-braun-golden geflecktes, wuscheliges Fell, nur der Pelz ihres Anführers war kastanienbraun mit einem einzigen weißen Fleck im Nacken, und der kleine Toz hatte ein einheitlich cremefarbenes Fell.

»Und wie heißt du?«, wollte Eyuna vom Anführer wissen.

»Ich bin Keramik«, antwortete dieser stolz.

»Keramik?«, fragte Eyuna ungläubig.

»Ja. Wieso? Gefällt dir mein Name nicht?«

»Doch, doch«, entgegnete Eyuna schnell.

Die Gruppe bewegte sich stundenlang durch den Wald, ohne dass irgendetwas passierte. Außer den Bäumen, die so hoch waren, dass sie fast jegliches Sonnenlicht abhielten, und die zum Teil so dicht beieinander standen, dass Eyuna sich zwischen ihnen hindurchzwängen musste, gab es nichts zu sehen. Eyuna wunderte sich. Man hatte sie doch von frühester Kindheit an vor den Wesen gewarnt, die im unendlichen Wald herumspukten, und nun begegnete ihr kein einziges – keine Hexe, kein Monster, noch nicht einmal ein wildes Tier.

Dann, mit einem Mal, tauchte wie aus dem Nichts ein riesiger See vor ihr und den Gnoruniums auf. Unter den Gnoruniums brach ein alarmiertes Gemurmel aus. Verwirrt blieb Eyuna stehen. Noch nie in ihrem Leben hatte sie etwas so Atemberaubendes gesehen. Das Wasser des Sees war rosa, doch im nächsten Moment färbte es sich zartgrün, und eine Sekunde später glitzerte es zitronengelb. Und jedes Mal, wenn es seine Farbe wechselte, sandte es einen bunten Lichtstrahl zum Himmel, der die Bäume des Waldes zum Strahlen brachte.

»Es ist die irrende Lagune«, sagte Keramik mit ernster Stimme. »Lasst uns verschwinden, bevor sie ihr böses Spiel mit uns spielen kann.«

Doch Eyuna hörte ihn nicht. Sie wollte das bunte Wasser berühren, das wunderschöne bunte Wasser. Sie wollte sich damit waschen, davon trinken, hineintauchen.

»Haltet das Mädchen«, rief eine Stimme, doch Eyuna beachtete sie nicht. Nur noch ein paar Schritte, dann würde sie das Wasser erreicht haben. Nur noch drei Schritte, nur noch zwei, nur noch –«

Etwas biss heftig in ihre Wade und brachte sie zur Besinnung. Erschrocken blickte sie an sich hinunter. Toz hing an ihrem Bein, seine Zähne steckten tief in ihrem Fleisch. Erst als er sicher war, dass sie stehen bleiben würde, ließ er los.

»Du darfst auf keinen Fall das Wasser berühren«, sagte er atemlos. »Das hier ist die irrende Lagune. Sie taucht plötzlich irgendwo im Wald auf, dort, wo sie ein Opfer für ihre finsteren Pläne vermutet. Wenn sie dich erst einmal gefangen hat, gibt sie dich niemals mehr frei.«

»Die wenigsten Kreaturen vermögen, sich ihrer Macht zu entziehen«, fügte Keramik hinzu.

Eyuna wusste nicht, was mit ihr geschehen war. Sie sah auf das farbige Wasser hinab, das gerade von Kirschrot zu Veilchenblau wechselte, doch es hatte für sie seinen Zauber verloren. Sie wich zurück.

»Die irrende Lagune«, wiederholte sie leise.

Was war mit ihr passiert? Wovon war sie besessen gewesen?

Da ertönten auf einmal Stimmen, die so sanft und anmutig klangen, dass Eyuna ganz schwindelig wurde. Sie redeten in einer Sprache, die Eyuna nicht verstand, und doch lauschte sie jedem Wort, hungrig danach, mehr davon zu hören, immer mehr. Plötzlich begann die Wasseroberfläche, sich zu bewegen, und auf einmal schoss eine gewaltige Fontäne empor und riss Hunderte von regenbogenfarbenen Bällen mit sich in die Luft. Eyuna wollte weinen vor Glück. Wie überwältigend war all dies anzusehen, und wie zufrieden fühlte sie sich plötzlich! Die Bälle drehten sich um sich selbst und wirbelten herum. Die Fontäne platschte in den See hinab und verschwand, die Wasseroberfläche glättete sich, nur die Bälle wirbelten weiterhin in der Luft herum. Da erkannte Eyuna, dass es gar keine Bälle waren. Es waren fliegende Fische mit kugelrunden farbigen Körpern. Alle waren makellos und schön und bunt, ihre Schuppen lagen glatt an ihren Körpern an, und die Flügelchen an beiden Seiten waren kurz und durchsichtig. Alle Fische glichen einander haargenau.

»Du brauchst dich nicht länger durch den finsteren, ungemütlichen Wald hindurch zu kämpfen«, sagte einer der Fische, und seine Stimme klang für Eyunas Ohren wie eine Melodie. Und sie verstand ihn, glaubte, er würde in der Sprache der Menschen zu ihr sprechen, dabei bediente er sich der unheilvollen Zunge derer, die der irrenden Lagune verfallen waren. Die Gnoruniums verstanden kein Wort davon.

»Komm zu uns«, forderte ein zweiter fliegender Fisch Eyuna auf. »Hier ist alles ganz einfach, ganz lustig, ganz bequem.«

Um Eyuna herum drehte sich alles. Sie wollte erneut auf das Wasser zulaufen, doch etwas hielt sie zurück. Ihr war, als ob eine unsichtbare Hand sich auf ihre Schulter legte und fest nach ihr griff.

»Der Meister wartet«, sagte sie und merkte nicht, wie seltsam hoch ihre Stimme klang und wie undeutlich sie sprach. »Ich muss nach Cantanien, ich habe es versprochen. Nach Cantanien. Aber wartet auf mich. Auf dem Rückweg komme ich wieder vorbei, und dann bleibe ich bei euch.«

»Unsinn«, sang ein anderer Fisch, »warum willst du so viel Zeit verlieren? Komm jetzt zu uns! Was gehen dich die Sorgen anderer an? Du warst dein Leben lang für andere da, und keiner hat es dir je gedankt. Jetzt musst du an dich selbst denken. Bei uns kannst du es so einfach haben.«

»Hier in der Lagune geht es nur um Spaß«, sagte ein vierter Fisch und kam gefährlich nah ans Ufer geflogen. »Wir alle sind fröhlich, wir alle feiern, vergnügen uns. Komm zu uns, Tochter des Waldes. Alles wird farbig und leicht für dich sein.«

»Ja, ich komme zu euch«, murmelte Eyuna und wollte sich ins Wasser stürzen. Doch im selben Augenblick verspürte sie heftige Bisse in Armen und Beinen, in den Händen, im Nacken und im Rücken. Sie fiel bäuchlings zu Boden. Sie schlug um sich und wälzte sich am Waldboden, doch die Bisse wurden immer nur noch heftiger und schmerzhafter, bis die lieblichen Stimmen verstummt und das sagenhafte Licht der Lagune verlöscht war.

»Seid ihr verrückt geworden?«, rief Eyuna ärgerlich und versuchte mit aller Kraft, den Kiefer eines Gnoruniums, wahrscheinlich den von Hopp, aus ihrer Schulter zu lösen. »Wollt ihr mich auf fressen, ihr gierigen Biester?«

»Quatsch«, entgegnete Keramik und klang mindestens genauso verärgert. »Wir haben dich gewarnt, aber du wolltest nicht hören. Dies war der einzige Weg, dich vor der irrenden Lagune zu schützen. Sie hätte dich ins Verderben gestürzt.«

Eyuna war auf einmal wieder bei klarem Verstand. Die Lagune war verschwunden. Wo noch eben die fliegenden Fische herumgewirbelt waren, erstreckten sich jetzt wieder massive Baumstämme dicht an dicht in den Himmel.

»Was wäre mit mir geschehen, wenn ihr mich nicht zurückgehalten hättet?«, fragte Eyuna und fürchtete sich davor, die Antwort zu erfahren.

»Sie hätten dich in die Lagune gelockt«, rief das Gnorunium Droffi aufgebracht.

»Du wärest zu einem von ihnen geworden«, fügte Ago hinzu.

»Ich hätte mich in einen fliegenden Fisch verwandelt?«, fragte Eyuna ungläubig.

»Natürlich«, rief Pu. »All die Fische, die du gesehen hast, waren einmal gewöhnliche Menschen, Tiere, Gnoruniums oder andere Wesen. Sie sind der irrenden Lagune zum Opfer gefallen, in ihre Fänge geraten, weil sie ihren Versprechungen geglaubt haben und schwach geworden sind. Nun sind sie dazu verdammt, ihr Leben als bunte Fische zu verbringen und andere Wesen in die Falle zu locken.«

»Und glaube nicht, es sei angenehm, ein Knecht der Lagune zu sein«, sagte Keramik. »Die Opfer, die die Lagune sich fängt, fliegen nur für kurze Zeit so unbeschwert über der Wasseroberfläche herum. Schon bald brechen ihre Flügel, die viel zu kurz und zu schwach sind für ihre schweren Körper. Dann fallen sie in die Lagune hinab, sinken tief, dorthin, wo das Wasser trüb und kalt ist. Farbig ist es nämlich nur an der Oberfläche. Dort unten treiben die Fische herum und können nur noch träumen von all den großartigen Dingen, die ihnen versprochen worden sind.«

»Wie furchtbar«, murmelte Eyuna. Sie spürte, dass es ihre Pflicht wäre, sich bei den Gnoruniums dafür zu bedanken, dass sie sie vor der Lagune bewahrt hatten, doch sie konnte nicht. Sie schämte sich zutiefst. Wie hatte sie nur so schwach werden können? Beinahe wäre sie gleich an der ersten Gefahr, in die sie im Wald geraten war, zugrunde gegangen.

»Lasst uns weiterziehen«, sagte Keramik. »Wir haben noch einen langen Weg vor uns.«

Maurin stand am Fenster des runden Saales und blickte auf sein Land hinab. Die aufgehende Morgensonne tauchte die prächtigen weißen Häuser Cantaniens in ein rötliches Licht. Die Menschen schliefen noch. Sie schienen sich in Sicherheit zu fühlen, gerade so, als sei Cantanien noch immer das unverwundbare Reich, das es ein Jahrtausend lang gewesen war. Kaum jemand wusste, was tatsächlich vor sich ging, kaum jemand ahnte, wie hoch das Wasser hinter den goldenen Hügeln stand.

Maurin lehnte den Kopf an die Fensterscheibe und schloss die Augen. Wie sollte er die Gefahr abwenden? Was konnte er tun, um sein Land zu retten? Wo sollte ausgerechnet er, ein Junge, der noch kaum etwas wusste von der Welt, nach der Lösung suchen, wenn selbst der Rat der Gelehrten, der in all den Jahrzehnten seinem Vater zur Seite gestanden hatte, ratlos war? Er konnte nicht verstehen, warum sein Vater so plötzlich seine große Gabe verloren hatte. Das ganze Volk und auch Maurin selbst hatten sich immer auf seinen Vater, auf den großen Weisen, verlassen, auf ihn vertraut, als könnte nichts ihn erschüttern, und nun wurden auf einmal alle Hoffnungen ausgerechnet in ihn, Maurin, gesetzt. Warum nicht in Kejnan, seinen älteren Bruder? Kejnan war schon immer der Furchtlose gewesen. Er war großgewachsen und kräftig und vermochte, sich Gehör zu verschaffen und sich durchzusetzen. Niemand legte sich mit ihm an. Und er war klug, war er doch schon im Alter von zwölf Jahren in den Rat der Gelehrten, wo er seither unverzichtbar geworden war, aufgenommen worden. Er selbst, Maurin, war klein und schmal und von sanftem Gemüt. Er empfand sich selbst weder als besonders stark noch als besonders schlau, und doch war er von Geburt an dazu bestimmt, eines Tages seinem Vater im Amt zu folgen, den weißen Turm von Álbamun innezuhaben, Cantanien zu schützen, vom Volk verehrt zu werden. Dieser Tag war nun also gekommen.

Maurin öffnete die Augen, als erwachte er aus einem Traum, und sah noch einmal hinunter auf die friedlich schlafende Stadt. Cantanien war ein edles, blühendes Land, doch es würde untergehen.