Die Schnapsstadt - Mo Yan - E-Book

Die Schnapsstadt E-Book

Mo Yan

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Beschreibung

In China brodelt die Gerüchteküche: In einer entlegenen Provinz sollen dekadente Parteikader, skrupellose Parvenüs, die nach der Wirtschaftswende zu Reichtum gekommen sind, kleine Kinder nach allen Regeln der Kochkunst zubereiten lassen. Sonderermittler Ding Gou'er wird nach Jiuguo, in die sogenannte »Schnapsstadt«, entsandt, um der Fama dieser »Fleischkinder« auf den Grund zu gehen. Doch kaum hat Ding den Fall aufgegriffen, sieht er sich konfrontiert mit einer wahnhaften Welt, die von Aberglaube und Korruption, von Anmaßung und Gier beherrscht wird. Die Schnapsstadt ist eine virtuose Groteske, eine politische Allegorie, die das neue China der toten Ideale und seine gesellschaftliche Wirklichkeit kühn gegen den Strich bürstet.

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Seitenzahl: 706

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Über dieses Buch

Ein Ermittler wird in die »Schnapsstadt« entsandt, um einem Gerücht auf den Grund zu gehen: Dekadente Parteikader sollen dort kleine Kinder nach allen Regeln der Kochkunst zubereiten lassen. Doch Ding sieht sich konfrontiert mit einer Welt, die von Anmaßung und Gier beherrscht wird.

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Mo Yan (was so viel heißt wie »keine Sprache«) ist das Pseudonym von Guan Moye (*1956). Spätestens seit der Verfilmung seines Romans Das rote Kornfeld gilt er als einer der wichtigsten Autoren der chinesischen Gegenwartsliteratur. 2012 wurde er mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet.

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Peter Weber-Schäfer war von 1968 bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2000 Professor für Politik Ostasiens an der Ruhr-Universität Bochum. Zudem ist er Übersetzer belletristischer Literatur aus dem Chinesischen, dem Japanischen und dem Englischen.

Zur Webseite von Peter Weber-Schäfer.

Dieses Buch gibt es in folgenden Ausgaben: Taschenbuch, E-Book (EPUB) – Ihre Ausgabe, E-Book (Apple-Geräte), E-Book (Kindle)

Mehr Informationen, Pressestimmen und Dokumente finden Sie auch im Anhang.

Mo Yan

Die Schnapsstadt

Roman

Aus dem Chinesischen von Peter Weber-Schäfer

E-Book-Ausgabe

Unionsverlag

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Impressum

Die Originalausgabe erschien 1992 unter dem Titel Jiuguo bei Hungfan, Taibei.

Originaltitel: Jiuguo (1992)

© by Mo Yan 1992

Übernahme der Übersetzung mit freundlicher Genehmigung des Rowohlt Verlags, Reinbek.

© by Unionsverlag, Zürich 2022

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Martina Heuer

ISBN 978-3-293-30555-7

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Version vom 07.06.2022, 08:38h

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Inhaltsverzeichnis

Cover

Über dieses Buch

Titelseite

Impressum

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Inhaltsverzeichnis

DIE SCHNAPSSTADT

ERSTES KAPITELI – Sonderermittler Ding Gou’er von der Oberstaatsanwaltschaft kletterte in …II – Verehrter Meister Mo YanIII – Herr Doktorand der AlkoholkundeIV – AlkoholZWEITES KAPITELI – Der Bergwerksdirektor und der Parteisekretär hatten sich vor …II – Verehrter Meister Mo YanIII – Herr Doktorand der AlkoholkundeIV – FleischkindDRITTES KAPITELI – Der goldbraun gebratene kleine Junge saß mit gekreuzten …II – Verehrter Meister Mo YanIII – WunderkindIV – Herr Doktorand im Fach Alkoholkunde, Yidou, mein BruderVIERTES KAPITELI – Ermittler Ding Gou’er schlug die Augen auf …II – Verehrter Meister Mo YanIII – Yidou, mein BruderIV – EselsgasseV – Verehrter Meister Mo YanFÜNFTES KAPITELI – Ding Gou’er schlang seine langen Arme um die …II – Verehrter Meister Mo YanIII – Yidou, mein BruderIV – Yichi, der HeldSECHSTES KAPITELI – Ding Gou’er spürte, wie sich die vergoldeten Tore …II – Verehrter Meister Mo YanIII – KochstundeSIEBTES KAPITELI – Das Geständnis der Lastwagenfahrerin traf den Ermittler wie …II – Yidou, mein BruderIII – Verehrter Meister, lieber Mo YanIV – SchwalbenjagdACHTES KAPITELI – Yidou, mein BruderII – Verehrter Meister, lieber Mo YanIII – AffenschnapsIV – Als der Schuss den dunkelhäutigen Zwerg traf …NEUNTES KAPITELI – Verehrter Meister, lieber Mo YanII – Die SchnapsstadtIII – Yidou, mein BruderIV – …Kotz! Würg! Ekelschock! Wenn Ding Gou’er an Jin …ZEHNTES KAPITELI – Yidou, mein BruderII – Der Schriftsteller Mo Yan, ein rundlicher Mann mittleren …III – Mo Yan und Li Yidou gehen die Eselsgasse …IV – Zum Mittagessen trifft man sich in Yichis TaverneV – …Mo Yan Herr Mo was ist mit Ihnen …

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Über Mo Yan

Über Peter Weber-Schäfer

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»In Zeiten der Wirrnis und Korruption, meine Freunde, darf man die eigenen Brüder nicht verurteilen.«

(Aus den unveröffentlichten Aufzeichnungen des Ermittlers Ding Gou’er)

ERSTES KAPITEL

I

Sonderermittler Ding Gou’er von der Oberstaatsanwaltschaft kletterte in den Lastwagen vom Typ Befreiung und machte sich auf den Weg zur Zeche Luoshan, um die Untersuchung des Falls aufzunehmen. Die Gedanken, die er sich auf der Fahrt machte, ließen seinen Kopf anschwellen, und die braune Schirmmütze Größe 58, die ihm sonst gut passte, wurde ihm zu eng. Er nahm die Mütze ab, betrachtete sinnend die feuchten Tropfen auf dem Schweißband und roch ihren säuerlichen Geruch. Er fühlte sich nicht wohl. Der Geruch war ihm nicht vertraut. Leicht angeekelt griff er sich an die Kehle.

Der Wagen wurde langsamer. Die Schlaglöcher wurden immer bedrohlicher, und die Federung protestierte mit Quietschen und Knarren. Immer wieder schlug er sich den Kopf am Dach des Fahrerhauses an. Die Fahrerin fluchte über den Straßenzustand und beschimpfte die Fußgänger. Der Schwall von obszönen Ausdrücken, der sich pausenlos aus dem Mund einer jungen, einigermaßen gut aussehenden Frau ergoss, verlieh der Szene einen Hauch des Grotesken. Der Ermittler konnte es sich nicht verkneifen, die Fahrerin verstohlen von der Seite her zu beobachten. Das rosa Unterhemd, das aus dem Kragen ihres blauen Drillichhemds hervorsah, schützte den hellen Nacken vor der Sonne. Ihre dunklen Augen schimmerten wie Smaragde. Das Haar war extrem kurz geschnitten, sehr dick, sehr schwarz und sehr glänzend. Ihre Hände, die in weißen Handschuhen steckten, umklammerten das Lenkrad, während der Wagen zwischen den Schlaglöchern hin und her schlingerte. Neigte der Wagen sich nach links, verzog sich ihr Mund zur linken Seite; neigte er sich nach rechts, verzog sich ihr Mund zur rechten Seite. Und während ihr Mund sich nach links und rechts verzog, lief ihr der Schweiß von der Stirn über die Stupsnase. Die schmale Stirn und das feste Kinn verrieten ihm, dass sie verheiratet oder geschieden war: eine Frau, der der Sex nicht fremd war, eine Frau, die er gern näher kennen gelernt hätte. Für einen erfahrenen achtundvierzigjährigen Ermittler waren derartige Gefühle reichlich lächerlich. Er schüttelte den geschwollenen Kopf.

Der Straßenzustand wurde immer schlimmer, und der Laster wurde immer langsamer. Bald kroch er nur noch voran wie eine Raupe und kam schließlich am Ende einer Kolonne zum Stehen. Die Fahrerin nahm den Fuß vom Gas, drehte den Zündschlüssel herum, zog die Handschuhe aus und versetzte dem Lenkrad einen Schlag. Dem Ermittler warf sie einen unfreundlichen Blick zu.

»Nur gut, dass ich kein Balg im Bauch habe«, sagte sie.

Er erstarrte einen Augenblick. Dann sagte er lächelnd:

»Wenn da etwas gewesen wäre, hättest du es längst losgeschüttelt.«

»Das wäre mir nie passiert«, sagte sie sehr ernst, »nicht für zweitausend Eier.«

Mit dieser Äußerung warf sie ihm einen Blick zu, den man nur als herausfordernd bezeichnen konnte. Anscheinend erwartete sie eine Antwort. Ding Gou’er war der kurze und nicht gerade gepflegte Wortwechsel peinlich. Er fühlte sich wie eine Kartoffel, die in ihr Körbchen gerollt war. Wenn sich hinter ihren zweideutigen und anzüglichen Bemerkungen die verbotenen Geheimnisse der Sexualität offenbarten, schrumpfte die Entfernung zwischen ihm und ihr fast auf null. Ärger und Unsicherheit machten sich in seinem Herzen breit. Er sah sie aufmerksam an. Wieder verzog sie den Mund, und er war peinlich berührt. Jetzt ahnte er, dass sie eine zurückhaltende, schwer fassbare, törichte und seichte Frau war. Jedenfalls niemand, vor dem er seine Zunge hüten musste.

»Warst du schon einmal schwanger?«, fragte er abrupt.

Damit hatte er endgültig den Rahmen unverbindlicher Konversation überschritten. Seine Frage hing in der Luft wie halbgare Speisen. Doch sie würgte die Peinlichkeit mutig herunter und antwortete ungeniert:

»Ich habe da ein Problem: alkalischer Boden.«

Auch wenn sein Auftrag noch so wichtig ist, würde kein wahrer Sonderermittler sich wegen seiner Arbeit eine Frau entgehen lassen; im Gegenteil: Frauen sind ein Teil des Auftrags. Ein Spruch, der sich unter seinen Kollegen großer Beliebtheit erfreute, kam ihm plötzlich in den Sinn. Lüsterne Gedanken nagten wie Insekten an seinem Herzen. Ding Gou’er zog einen Flachmann aus der Tasche, zog den Plastikstöpsel heraus und ließ erst einen kräftigen Schluck die eigene Kehle herunterrinnen, um dann der Lastwagenfahrerin die Flasche anzubieten.

»Ich bin Agronom und Spezialist für Bodenveredlung.«

Die Lastwagenfahrerin schlug mit der flachen Hand auf die Hupe, aber die gab nur ein schwächliches Blöken von sich. Der Fahrer des Schwertransporters Marke Gelber Fluss vor ihnen sprang aus dem Fahrerhaus, trat an den Straßenrand und warf ihr einen wütenden Blick zu. Ding Gou’er konnte spüren, wie die Wut in den Augen des Mannes durch die Spiegelglasbrille hindurch brannte. Die Lastwagenfahrerin riss ihm die Flasche aus der Hand, roch am Flaschenhals, als wolle sie die Qualität des Inhalts überprüfen, und ließ den Schnaps bis zum letzten Tropfen durch die Gurgel rinnen. Ding Gou’er wollte ihr ein Kompliment über ihre Trinkfestigkeit machen, aber dann überlegte er es sich anders. Einer Frau, die aus einer Stadt namens Jiuguo, »Schnapsstadt«, stammte, etwas über ihre Trinkfestigkeit zu erzählen, klang ein bisschen blöde. Also schluckte er die Worte hinunter. Er wischte sich den Mund ab, starrte gebannt auf ihre kräftigen feuchten Lippen und sagte ohne jede Rücksicht auf Anstand und Sitte:

»Ich will dich küssen.«

Das Gesicht der Lastwagenfahrerin wurde dunkelrot. Mit schriller, blecherner Stimme brüllte sie ihn an:

»Du kannst mich, verdammt nochmal, küssen!«

Die unverblümte Antwort verschlug dem Ermittler die Sprache. Der Fahrer des Schwertransporters war wieder in seinen Gelben Fluss eingestiegen. Eine lange gewundene Reihe von Fahrzeugen streckte sich vor ihnen hin. Ein bunt geschmückter Lastwagen und ein Eselskarren hatten sich hinter sie eingeordnet. Die breite Stirn des Esels war mit einer roten Quaste geschmückt. Niedrige verwachsene Bäume, von Unkraut überwucherte Gräben und gelegentlich ein paar wilde Blumen säumten den Weg. Schwarze Staubflecken verunstalteten die Blätter und Kräuter. Jenseits der Straßengräben lagen herbstlich dürre Felder. Die verdorrten gelben und grauen Stoppeln wiegten sich im Wind. Sie wirkten weder fröhlich noch betrübt. Es war später Vormittag. Ein Berg von Abraum ragte vor ihnen in den Himmel und spuckte Wolken von gelbem Rauch aus. Eine Förderhaspel am Eingang zur Zeche drehte sich langsam. Sie war nur halb zu sehen. Der Gelbe Fluss versperrte den Blick auf die untere Hälfte. Die Lastwagenfahrerin schrie Ding Gou’er immer wieder den gleichen Satz zu, den Satz, der ihn so erschreckt hatte, aber sie rührte sich nicht von ihrem Platz. Also griff Ding Gou’er über den Sitz und berührte ihre Brust mit der Fingerspitze. Ohne jede Vorwarnung warf sie sich über ihn, umschloss sein Kinn mit einer eiskalten Handfläche und presste ihren Mund auf den seinen. Ihre Lippen fühlten sich kalt und klebrig an, nicht so elastisch wie erwartet, irgendwie seltsam, wie Wattebäusche. Das war enttäuschend. Seine Begierde starb plötzlich. Er stieß sie von sich, aber sie sprang ihn unverzagt wie ein Kampfhahn erneut kräftig an. Sie erwischte ihn in einem unbewachten Moment, und er konnte sich nicht wehren. Er war gezwungen, sie zu behandeln, wie er einen Verbrecher behandelt hätte. Er musste versuchen, sie zur Vernunft zu bringen.

Sie saßen im Fahrerhaus und schnappten beide nach Luft. Der Ermittler presste die Arme der Frau gegen die Sitzlehne, um jeden Widerstand von ihrer Seite zu verhindern. Sie versuchte immer wieder, sich an ihn zu drängen. Ihr Körper wand sich wie eine Spiralfeder. Ihr Rücken spannte sich wie eine Blattfeder. Vor Anstrengung grunzte sie wie ein Ochse, wenn man ihn an den Hörnern packt. Sie sah so niedlich aus, dass Ding Gou’er sich das Lachen nicht verkneifen konnte.

»Worüber lachst du?«, fragte sie.

Ding Gou’er ließ ihre Hände los und zog eine Visitenkarte aus der Tasche.

»Ich muss mich auf den Weg machen, junge Dame. Wenn du Sehnsucht nach mir hast, kannst du mich dort finden. Aber nichts verraten!«

Die Frau sah ihn mit prüfendem Blick an, studierte erst seine Karte und dann sein Gesicht mit der angespannten Aufmerksamkeit eines Grenzpolizisten, der den Pass eines Touristen kontrolliert.

Ding Gou’er schnippte mit den Fingern gegen die Nase der Lastwagenfahrerin. Dann klemmte er seine Aktentasche unter den Arm und öffnete die Beifahrertür. »Bis demnächst, Mädchen«, sagte er, »und vergiss nicht, dass ich den richtigen Dünger für alkalischen Boden habe.« Er war schon halb aus der Tür, als sie ihn am Ärmel festhielt.

Der schüchterne und zugleich neugierige Blick in ihren Augen überzeugte ihn jetzt davon, dass sie wahrscheinlich noch recht jung, unverheiratet und unverdorben war. Sie war liebenswert und bemitleidenswert in einem. Er strich ihr über den Handrücken und sagte mit echtem Mitgefühl: »Mädchen, du kannst Onkel zu mir sagen.«

»Du bist ein Lügner«, sagte sie. »Du hast mir erzählt, du arbeitest bei der Fahrzeugkontrolle.«

Er lachte. »Na und?«

»Du bist ein Agent.«

»Kann schon sein.«

»Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich dich nicht mitgenommen.«

Ding Gou’er zog ein Päckchen Zigaretten aus der Tasche und warf es ihr in den Schoß. »Schon gut. Bloß keine Aufregung!«

Sie warf seine Schnapsflasche in den Straßengraben. »Kein normaler Mensch trinkt aus so einem winzigen Ding.«

Ding Gou’er sprang aus dem Wagen, knallte die Tür zu und machte sich auf den Weg. Er hörte, wie die Lastwagenfahrerin hinter ihm herrief:

»He, Agent! Weißt du, warum die Straße hier so beschissen ist?«

Ding Gou’er drehte sich um und sah, wie sie sich aus dem Fahrerfenster hängte. Er lächelte, aber er antwortete ihr nicht.

Das Gesicht der Lastwagenfahrerin blieb einen Augenblick lang wie die Schaumkrone auf einem Bierglas im Gedächtnis des Ermittlers hängen. Dann löste es sich vom Rand her auf, um schließlich ganz zu verschwinden Der schmale Schotterweg drehte und wand sich wie der Verdauungskanal eines Menschen. Lastwagen, Traktoren, Pferdegespanne, Ochsenwagen, Fahrzeuge jeder Art und Größe verstopften ihn wie eine Marschsäule von Fabeltieren, jedes an den Schwanz seines Vordermannes gefesselt und alle eng aneinander gepresst. Ein paar hatten den Motor abgestellt, andere ließen ihn im Leerlauf röhren. Blassblauer Qualm strömte aus den Auspuffrohren der Lastwagen. Der Geruch von Benzinrückständen und Dieselöl verband sich mit dem Gestank des Atems von Ochsen, Pferden und Eseln zu einer erstickenden Dunstwolke. Gelegentlich musste der Ermittler sich seinen Weg eng an den Fahrzeugen entlang bahnen Zwischendurch musste er sich an den niedrigen verwachsenen Bäumen am Straßenrand vorbeidrängen. Fast alle Fahrer saßen in ihren Fahrerhäusern und tranken. Gab es da nicht ein Gesetz gegen Alkohol am Steuer? Aber diese Fahrer tranken, also konnte es das Gesetz nicht geben, zumindest galt es wohl hier nicht. Als er das nächste Mal aufblickte, war die Förderhaspel, die am Zechentor gen Himmel ragte, schon zu zwei Dritteln sichtbar.

Ein graues Stahlkabel lief quietschend über die Förderhaspel. Im Sonnenschein glänzte das Eisengestell dunkelrot. Entweder war es rot lackiert, oder es war einfach rostig. Eine schmutzige Farbe, ein ganz verdammt schmutziges dunkles Rot. Die gewaltige Seiltrommel war schwarz; das Stahlkabel, das über sie lief, strahlte ein gedämpftes und dennoch erschreckendes Glitzern aus. Seine Augen nahmen die Farben und das strahlende Licht auf, das Quietschen der Trommel, das Stöhnen des Kabels und der dumpfe Klang unterirdischer Detonationen liefen Sturm gegen seine Ohren.

Den ovalen Platz vor dem Zechentor säumten in Pagodenform geschnittene Krüppelkiefern. Die Lastwagen, die auf ihre Ladung warteten, standen dicht gedrängt. Ein schlammbedeckter Esel hatte sein Maul in die Nadeln einer Kiefer gesteckt. Entweder wollte er einen kleinen Happen zu sich nehmen, oder seine Lippen juckten, und er wollte sich kratzen. Eine Gruppe von schmutzigen, rußbedeckten Männern mit zerfledderten Kleidern, um den Kopf gebundenen Schweißtüchern und Hanfstricken anstelle von Gürteln saßen dicht gedrängt in einem Pferdewagen. Das Pferd fraß aus seinem Futtersack, die Männer tranken aus einer großen purpurfarbenen Flasche, die sie mit Genuss von Mund zu Mund gehen ließen. Ding Gou’er war kein großer Trinker, aber er trank gern, und er konnte anständigen Schnaps von billigem Fusel unterscheiden. Der stechende Geruch, der in der Luft lag, verriet, dass die purpurfarbene Flasche billigen Schnaps enthielt, und als er die Männer ansah, die ihn tranken, schloss er, dass es sich um Bauern aus dem Umland von Jiuguo handeln musste.

Er stand neben dem Pferd, als ihm einer der Bauern mit rauer Stimme zurief: »Genosse, wie spät ist es auf deiner Armbanduhr?«

Ding hob den Arm, warf einen Blick auf die Uhr und verriet dem Typ die Zeit. Der Bauer hatte blutunterlaufene Augen und wirkte bösartig und gefährlich. Dings Herz setzte für einen Schlag aus. Er beschleunigte seinen Schritt.

Von hinten hörte er den Bauern fluchen: »Sag den Armleuchtern am Tor, sie sollen endlich aufmachen.«

Irgendetwas an der verärgerten und unfreundlichen Aufforderung des jungen Bauern war Ding Gou’er unangenehm, auch wenn er zugeben musste, dass es sich nicht um ein unbilliges Ansinnen handelte. Es war schon Viertel nach zehn, und das eiserne Tor war noch immer mit einem dicken schwarzen gusseisernen Schloss abgesperrt, das aussah wie eine Schildkrötenschale. Fünf an das Tor geschweißte runde Stahlplatten verkündeten in verblichenem Rot: »Sicherheit über alles! Ehre dem Ersten Mai!« Im strahlend hellen Licht des Frühherbstes glänzte alles wie neu. Eine mannshohe graue Ziegelwand folgte den Biegungen und Windungen des Bodens und verlieh ihnen die Eleganz eines ausgestreckten Drachen. Ein kleines Nebentor war verriegelt, aber nicht verschlossen. Ein brauner Wolfshund lag träge ausgestreckt auf dem Boden. Um seinen Kopf kreiste eine Libelle.

Als Ding Gou’er an dem kleinen Tor rüttelte, sprang der Hund auf. Seine feuchte, verschwitzte Nase hielt nur einen Zentimeter vor dem Handrücken des Ermittlers inne. Vielleicht hatte sie den Handrücken sogar berührt, denn er spürte etwas Kühles wie einen roten Tintenfisch oder eine Lycheenuss. Aufgeregt bellend rannte der Hund davon und suchte Schutz unter einem Indigostrauch im Schatten des Torhauses. Einmal dort angelangt, bellte er immer verzweifelter.

Der Ermittler schob den Riegel zurück, öffnete das Tor und blieb einen Augenblick an das kalte Metall gelehnt stehen. Er warf dem Hund einen verblüfften Blick zu. Dann sah er auf seine knochige Hand mit den dunklen hervorstehenden Adern herab, deren Blut inzwischen leicht mit Alkohol verdünnt war. Keine sprühenden Funken, kein elektrischer Schlag, warum bist du weggerannt, als ich dich berührt habe?

Eine Schüssel siedend heißes Waschwasser ergoss sich wie ein bunter Schleier über seinen Kopf. Ein vielfarbiger Wasserfall, ein Regenbogen mit verwaschenen Farben, Seifenschaum und Sonnenschein, Hoffnung und Erwartung. Eine Minute nachdem das Wasser an seinem Körper herabgelaufen war, fühlte er sich kühl und erfrischt. Gut zwei Minuten später fingen seine Augen an zu brennen, und ein salziger und zugleich süßlicher Geschmack wie von Ruß und Schmutz breitete sich in seinem Mund aus. Vorläufig gab der Sonderermittler jeden Gedanken an das Mädchen im Fahrerhaus auf. Vergiss die Lippen wie Wattebäusche! Später sollten sich allerdings alle seine Muskeln einzeln verspannen, wenn er an die Frau dachte, die seine Visitenkarte in der Hand hielt, als betrachte sie eine Berglandschaft im dichten Nebel. Blöde Schlampe!

»Bist du lebensmüde, du Arschloch?« Fluchend und stampfend stand der Pförtner mit der Waschschüssel in der Hand vor ihm. Ding Gou’er bekam schnell mit, dass die Flüche ihm galten. Er schüttelte das Wasser aus den Haaren, wischte sich den Nacken ab, spuckte aus, blinzelte ein paar Mal und versuchte, sich auf das Gesicht des Pförtners zu konzentrieren. Er sah ein Paar kohlschwarze, stumpfe, düstere Augen verschiedener Größe, eine geschwollene Nase so rot wie Hagebutten und unregelmäßige Zähne hinter dunkel verfärbten Lippen. Heiße Blitze zuckten durch alle Windungen seines Gehirns. Flammen der Wut flackerten auf, als habe jemand tief in seinem Innern ein Streichholz angezündet. Weiß glühende Kohle brannte in seinem Gehirn wie Asche im Backofen, wie Blitzschläge. Sein Schädel wurde durchsichtig. Die Brandung entschlossenen Muts schlug ans Ufer seiner Brust.

Die struppigen, schwarzen Haare des Pförtners sträubten sich wie ein Hundefell. Zweifellos hatte ihn der Anblick des Ermittlers zu Tode erschreckt. Ding Gou’er konnte sehen, wie die Nasenhaare des Mannes sich wie der Schwanz einer Schwalbe aufrichteten. Wahrscheinlich lebte in seinem Kopf eine bösartige schwarze Schwalbe, hatte dort ihr Nest gebaut, ihre Eier gelegt und ihre Jungen großgezogen. Er zielte auf die Schwalbe und drückte ab … drückte ab … drückte ab …

Peng … peng … peng!

Drei Pistolenschüsse zerrissen die Stille vor dem Tor der Zeche Luoshan, bliesen dem zottligen braunen Hund das Lebenslicht aus und ließen die Bauern aufhorchen. Die Lastwagenfahrer sprangen aus ihren Fahrerhäusern, Kiefernnadeln stachen dem Esel in die Lippen. Ein Augenblick unentschiedenen Zauderns, dann stürzten alle herbei. Um zehn Uhr dreißig vormittags ging der Pförtner der Zeche Luoshan zu Boden, noch bevor die Schüsse verklungen waren. Zuckend lag er auf der Erde und hielt sich den Kopf.

Die kreideweiße Pistole in der Hand und ein Lächeln auf den Lippen, stand Ding Gou’er aufrecht wie eine Krüppelkiefer da. Grüne Rauchschwaden wehten aus dem Pistolenlauf, stiegen über seinem Kopf auf und verwehten im Morgenwind.

Verblüfft drängten sich die Leute vor dem Drahtzaun. Die Zeit schien stillzustehen. Dann rief jemand mit schriller Stimme:

»Hilfe! Mord! … Der alte Lü, der Pförtner, ist erschossen worden!«

Ding Gou’er. Krüppelkiefer. Dunkelgrün.

»Der alte Köter war ein übler Typ.«

»Du kannst ja versuchen, ihn an die Feinschmeckerabteilung der Akademie für Kochkunst zu verkaufen.«

»Der alte Hund ist zu zäh.«

»Die Feinschmeckerabteilung nimmt nur zarte kleine Jungen, keine abgestandene Ware wie ihn.«

»Dann bringt ihn in den Zoo und füttert die Wölfe mit ihm.«

Ding Gou’er warf die Pistole in die Luft und ließ sie wie einen silbernen Spiegel im Sonnenlicht tanzen. Er fing sie wieder auf und zeigte sie den Leuten, die sich am Tor drängelten. Es war eine exquisite kleine Waffe mit der eleganten Linienführung eines erstklassigen Revolvers. Er lachte.

»Regt euch nicht auf, Freunde! Es ist bloß eine Spielzeugpistole.«

Er legte den Sicherungshebel um, und der Lauf öffnete sich. Er zog eine dunkelrote Plastikscheibe heraus und zeigte sie allen. In jedem Loch der Plastikscheibe lag eine kleine Papierzündkapsel. »Wenn man auf den Abzug drückt«, sagte er lächelnd, »dreht sich die Scheibe, der Hammer schlägt auf die Zündkapsel auf, und peng! Es ist ein Spielzeug. Man kann es als Theaterrequisite verwenden. Man kann es in jedem Warenhaus kaufen.« Er setzte die Scheibe wieder ein, ließ den Lauf einschnappen und zog den Abzug durch.

Peng!

»So geht das«, rief er im Tonfall eines Straßenverkäufers. »Wenn ihr mir nicht glaubt, seht her!« Er zielte mit der Pistole auf den eigenen Jackenärmel und drückte ab.

Peng!

»Das ist der Verräter Wang Lianju«, rief ein Fahrer, der die revolutionäre Oper Die rote Laterne gesehen hatte.

»Es ist keine echte Pistole.« Ding Gou’er hob den Arm und zeigte sie ihnen. »Seht her! Wäre sie echt, hätte mein Arm jetzt ein Loch. Oder etwa nicht?« Auf seinem Jackenärmel war ein runder Brandfleck zu sehen, von dem sich der stechende Geruch von Schießpulver in die helle Luft erhob.

Ding Gou’er steckte die Pistole wieder in die Tasche, ging auf den Pförtner zu, der immer noch auf dem Boden lang, und versetzte ihm einen Tritt.

»Steh auf, du alter Schwindler«, sagte er. »Du kannst aufhören, uns etwas vorzuspielen.«

Der Pförtner stand auf. Er hielt sich immer noch mit beiden

Händen den Kopf. Sein Gesicht war so fahl wie ein weiß glasierter Neujahrskuchen.

»Ich wollte dich nur erschrecken«, sagte Ding Gou’er. »Ich hätte nie eine richtige Kugel an dich verschwendet. Du kannst aufhören, dich hinter deinem Hund zu verstecken. Es ist nach zehn Uhr. Du hättest das Tor schon lange aufmachen sollen.«

Der Pförtner ließ die Hände sinken und blickte sie nachdenklich an. Er wusste nicht, was er glauben sollte, strich sich noch einmal über den Kopf und betrachtete wieder seine Hände: kein Blut. Wie ein Mann, der soeben dem sicheren Tod entronnen ist, atmete er hörbar auf und fragte immer noch verwirrt:

»Du da, was willst du?«

Mit verschlagenem Lachen sagte Ding Gou’er:

»Ich bin der neue Bergwerksdirektor. Die Stadtverwaltung hat mich hergeschickt.«

Der Pförtner lief zum Torhaus und kam mit einem glänzenden gelben Schlüssel wieder, mit dem er das Tor schnell und geräuschvoll öffnete. Die Menge machte sich wieder auf den Weg zu ihren Fahrzeugen, und in Sekundenschnelle dröhnte der Platz vom Geräusch frisch angelassener Motoren.

Eine Flutwelle eng aneinander gedrängter Lastwagen und Ochsenkarren strömte langsam, aber unaufhaltsam auf das Tor zu, das jetzt offen stand, und quälte sich hindurch. Der Ermittler sprang beiseite. Beim Anblick dieser abscheulichen Raupe, die mit ihren zahllosen sich windenden und schiebenden Segmenten an ihm vorüberzog, überfiel ihn eine merkwürdige, gewaltige Wut. Der Wut folgten Krämpfe am Darmausgang. Gereizte Blutgefäße begannen schmerzhaft zu pochen, und er wusste, dass es seine Hämorrhoiden waren, die sich wieder einmal meldeten. Aber diesmal würde er die Ermittlung mit oder ohne Hämorrhoiden durchführen, genau wie damals in der guten alten Zeit. Der Gedanke dämpfte seine Wut und milderte sie ein wenig. Dem Unvermeidbaren kannst du nicht entgehen. Weder den Wirren der Massen noch deinen Hämorrhoiden. Nur der heilige Schlüssel zur Lösung ist ewig. Aber was war diesmal der Schlüssel?

Das Gesicht des Pförtners verzog sich zu einem törichten gezwungenen Lächeln. Er verbeugte sich und scharrte mit den Füßen. »Möchte unser neuer Chef mir vielleicht in den Empfangsraum folgen?«

Er war bereit, mit der Strömung zu schwimmen. So verbrachte er sein Leben. Ding Gou’er folgte dem Mann ins Torhaus.

Es war ein großer, geräumiger Raum, in dem unter einer schwarzen Bettdecke ein Bett stand. Daneben ein paar Thermosflaschen. Ein Kohlehaufen, die einzelnen Stücke so groß wie Hundeköpfe. An der Wand eine Neujahrsrolle: Ein rosiger, nackter, lachender Knabe hielt den Pfirsich des langen Lebens in den Händen. Sein süßer kleiner Pimmel stand wie die goldglänzende Puppe einer Seidenraupe in die Luft. Das Bild war unglaublich lebensecht. Ding Gou’ers Herzschlag setzte einen Moment aus, seine Hämorrhoiden brannten wie Feuer.

Im Ofen loderte das Feuer. Im Zimmer war es unerträglich heiß und stickig. Die untere Hälfte des Ofenrohrs und die Ofenplatte glühten rot vor Hitze. Heiße Luft wirbelte durch den Raum und ließ die Spinnweben in den Ecken tanzen. Plötzlich juckte es ihn am ganzen Körper. Seine Nase tat entsetzlich weh.

Der Pförtner beobachtete seine Miene mit serviler Aufmerksamkeit.

»Ist Ihnen kalt, Herr Direktor?«

»Eiskalt«, antwortete er wütend.

»Kein Problem, kein Problem, ich muss nur ein bisschen Kohle nachlegen …« Ängstlich murmelnd zog der Pförtner ein scharfes Beil mit einem dattelroten Stiel unter dem Bett hervor. Die Hand des Ermittlers sprang unwillkürlich an seine Hüfte, als er dem Mann zusah, wie er zum Kohleneimer hinüberwankte, sich niederkauerte und ein kopfkissengroßes Stück glänzend schwarze Kohle herausnahm. Er hielt die Kohle mit einer Hand fest, mit der anderen hob er das Beil über den Kopf, und knack – splitterte die Kohle in zwei annähernd gleich große Stücke, die glänzten wie Quecksilber. Knack, knack, knack, knack, knack. Die Stücke wurden immer kleiner. Der Pförtner schichtete sie zu einem kleinen Haufen auf. Er öffnete die Ofentür, und weiß lodernde Flammen zischten ihm entgegen. Der Ermittler war von Kopf bis Fuß schweißgebadet, aber der Pförtner warf immer mehr Kohle nach. Dabei entschuldigte er sich ständig: »Gleich wird es warm. Unsere Kohle hier ist zu weich, brennt zu schnell, ständig muss man nachlegen.«

Ding Gou’er knöpfte den Hemdkragen auf und wischte sich mit der Mütze den Schweiß von der Stirn. »Warum ist der Ofen im September an?«

»Es ist kalt, Herr Direktor, kalt …« Der Pförtner zitterte vor Kälte. »Kalt … massenweise Kohle … ein ganzer Berg von Kohle …«

Der Pförtner hatte ein eingetrocknetes Gesicht wie ein verbrannter Hefekloß. Ding Gou’er beschloss, dass er dem Mann genug Angst eingejagt hatte, und gestand, dass er nicht der neue Direktor war und dass der Mann das Zimmer so viel heizen konnte, wie er wollte, weil Ding Gou’er anderes zu tun hatte. Der Knabe an der Wand lachte ihn unglaublich lebensecht an. Er kniff die Augen zusammen, um den süßen kleinen Jungen besser zu sehen. Der Pförtner griff zum Beil und sagte: »Du hast dich als Bergwerksdirektor ausgegeben und mich mit der Waffe in der Hand angegriffen. Komm mit. Ich bringe dich zur Sicherheitsabteilung.«

Lächelnd antwortete Ding Gou’er: »Was hättest du getan, wenn ich wirklich der neue Direktor gewesen wäre?« Der Pförtner schob das Beil wieder unter das Bett und zog eine Schnapsflasche hervor. Er zog den Korken mit den Zähnen, nahm einen kräftigen Schluck und gab die Flasche an Ding Gou’er weiter. In der Flüssigkeit schwammen ein Stück gelber Ginseng und sieben schwarze Skorpione mit ausgestreckten Krallen. Er schüttelte die Flasche, und die Skorpione schwammen in der ginsenggetränkten Flüssigkeit umher. Ein seltsamer Duft stieg aus der Flasche auf. Ding Gou’er fuhr mit den Lippen über den Flaschenrand und gab sie dem Pförtner zurück.

Der sah ihn misstrauisch an.

»Willst du nichts?«

»Ich bin kein großer Trinker«, sagte Ding Gou’er.

»Du bist wohl nicht von hier?«, fragte der Pförtner.

»Sag mal, Alter, das ist aber ein richtig fetter hellhäutiger Knabe.«

Er beobachtete den Gesichtsausdruck des Pförtners. Der sah abgrundtief betrübt aus. Er nahm noch einen kräftigen Schluck und murmelte leise: »Was macht es schon aus, wenn ich ein bisschen Kohle verheize? Eine ganze Tonne von dem Zeug kostet keine …«

Inzwischen war es Ding Gou’er so heiß geworden, dass er es nicht mehr aushalten konnte. Auch wenn es ihm schwer fiel, die Augen von dem Knaben zu lassen, öffnete er die Tür und trat hinaus in den tröstlichen kühlen Sonnenschein.

Sonderermittler Ding Gou’er, Jahrgang 1941, war seit 1965 verheiratet und führte eine ganz normale Ehe. Mann und Frau verstanden sich gut und hatten ein Kind gezeugt, einen süßen kleinen Jungen. Ding Gou’er hatte eine Freundin, die manchmal reizend war und manchmal eine richtige Pest. Manchmal war sie wie die Sonne, manchmal wie der Mond. Manchmal war sie eine verführerische Katze, manchmal ein tollwütiger Hund. Die Idee, sich von seiner Frau scheiden zu lassen, lockte ihn, aber nicht so sehr, dass er es wirklich getan hätte. Mit seiner Freundin zu leben war ein verführerischer Gedanke, aber nicht verführerisch genug, um es wirklich zu tun. Jedes Mal wenn er sich krank fühlte, hatte er Krebsphantasien. Wenn er nur daran dachte, verfiel er in Furcht und Schrecken. Er liebte das Leben bis zum Wahnsinn, aber er war seiner müde. Es fiel ihm schwer, Entscheidungen zu treffen. Oft setzte er die Mündung seiner Pistole an die Schläfe, aber dann senkte er die Waffe wieder. Manchmal spielte er das gleiche Spiel auch vor seiner Brust dicht am Herzen. Eines und nur eines bereitete ihm mit Sicherheit und jederzeit uneingeschränkte Freude: in einem Kriminalfall zu ermitteln und ihn zu lösen. Er war ein erfahrener Ermittler, einer der besten, und genoss einen guten Ruf bei höheren Kadern. Er war 1 Meter 75 groß, hager, dunkel und schielte ein wenig. Er war ein starker Raucher und trank gern, aber er wurde zu schnell betrunken. Er hatte unregelmäßige Zähne und besaß Nahkampferfahrung. Seine Zielsicherheit war wechselnd. Wenn er in guter Stimmung war, war er ein ausgezeichneter Schütze. Wenn nicht, konnte er eine Kuh nicht auf drei Meter Entfernung treffen. Er war in Maßen abergläubisch, glaubte an den Zufall, und das Glück schien ihm gewogen.

Der Leitende Oberstaatsanwalt bot ihm eine Zigarette der Marke Zhonghua an und nahm sich selbst eine. Er zog sein Feuerzeug heraus, gab dem Oberstaatsanwalt Feuer und zündete dann die eigene Zigarette an. Der Rauch in seinem Mund schmeckte nach Butterbonbons, süß und köstlich. Ding Gou’er fiel auf, wie ungeschickt der Oberstaatsanwalt wirkte, wenn er rauchte. Der öffnete eine Schublade, zog einen Brief heraus, warf einen Blick darauf und übergab ihn dem Ermittler.

Ding Gou’er überflog den hastig hingekritzelten Brief eines Denunzianten. Der anonyme Verfasser hatte seinen Brief mit »Stimme des Volkes« unterzeichnet. Eine offensichtliche Fälschung. Zuerst schockierte ihn der Inhalt; dann kamen ihm Zweifel. Er überflog den Brief noch einmal und konzentrierte sich diesmal auf die Randbemerkungen in der kalligraphischen Schrift eines höheren Beamten, den er gut kannte.

Er richtete den Blick auf die Augen des Oberstaatsanwalts, der eine Jasminstaude in einem Blumentopf auf dem Fensterbrett ansah. Die zierlichen weißen Blüten verströmten ihren süßen Duft. »Halten Sie das für glaubwürdig?«, fragte er. »Meinen Sie, die haben wirklich die Unverschämtheit, Kinder zu schmoren und zu essen?«

Der Oberstaatsanwalt schenkte ihm ein zweideutiges Lächeln. »Sekretär Wang hat Sie ausgewählt, um das herauszufinden.«

Aufregung breitete sich in seinem Herzen aus, aber er sagte nur: »Das wäre normalerweise kein Fall für die Staatsanwaltschaft. Was ist mit dem Ministerium für öffentliche Sicherheit los? Schlafen die?«

»Was kann ich dafür, dass der berühmte Ding Gou’er auf meiner Gehaltsliste steht?«

Peinlich berührt fragte Ding Gou’er: »Wann soll ich mich auf den Weg machen?«

»Wann Sie wollen«, antwortete der Leitende Oberstaatsanwalt. »Sind Sie eigentlich schon geschieden? Es ist sowieso nur eine Formalität. Ich brauche wohl nicht zu betonen, dass wir alle hoffen, dass kein wahres Wort an der Beschuldigung ist. Aber Sie dürfen zu niemand davon sprechen. Setzen Sie bei Ihrem Auftrag alle notwendigen Mittel ein, soweit das im Rahmen der Gesetze möglich ist.«

»Kann ich gehen?« Ding Gou’er stand auf, um sich zu verabschieden.

Der Leitende Oberstaatsanwalt erhob sich ebenfalls und ließ eine unangebrochene Stange Zhonghua-Zigaretten über den Tisch gleiten.

Ding Gou’er nahm die Zigaretten, verließ das Büro des Leitenden Oberstaatsanwalts, nahm den Fahrstuhl ins Erdgeschoss und verließ das Gebäude. Als Erstes wollte er in die Grundschule gehen, um nach seinem Sohn zu sehen. Dazu musste er die weithin berühmte Allee des Sieges überqueren. Der endlose Strom von Automobilen schien nicht abzureißen. Also wartete er. Auf der anderen Straßenseite stellte sich eine Gruppe von Kindergartenkindern vor dem Fußgängerübergang auf. Mit ihren sonnenbeglänzten Gesichtern sahen sie aus wie ein Beet voll Sonnenblumen. Etwas zog ihn zu ihnen hin. Fahrräder huschten vorbei wie sich schlängelnde Aale. Die Gesichter der Radfahrer waren nur als weiße Schatten zu sehen. Die Kinder trugen bunte Sonntagskleider. Ihre Gesichter waren rund und zart, und in den Augen stand ein Lächeln. Sie hielten sich an einem dicken roten Seil fest wie Fische an der Angel oder Obst auf einem Spieß. Die Abgaswolken, die sich um sie sammelten, glitzerten im Sonnenlicht wie Holzkohle und füllten die Luft mit ihrem Geruch. Die Kinder sahen aus wie ein marinierter und gewürzter Lammspieß. Die Kinder sind die Zukunft der Nation, ihre Blüten, ihr Schatz. Wer würde es wagen, sie zu überfahren? Die Autos hielten an. Was hätten sie schon sonst tun sollen? Motoren heulten auf, Fehlzündungen knatterten, während die Kinder die Straße überquerten. Kopf und Schwanz der Schlange bildeten zwei Frauen in weißen Uniformen. Sie hatten Vollmondgesichter, scharlachrote Lippen und scharfe weiße Zähne. Man hätte sie für Zwillinge halten können. Sie zogen das Seil straff und sorgten energisch für Ordnung.

»Haltet euch am Seil fest! Nicht loslassen!«

Ding Gou’er stand unter einem Baum mit gelben Blättern am Straßenrand. Die Kinder hatten die Straße überquert und seine Seite erreicht. Schon rasten wieder Wogen von Autos vorbei. Die Kinderschlange begann sich zu winden und zu biegen. Die Kleinen zwitscherten wie eine Schar Spatzen. Rote Bänder, um ihre Handgelenke geschlungen, waren an dem roten Seil befestigt. Sie standen nicht mehr gerade in einer Reihe, aber sie waren immer noch fest an das Seil gebunden, und die Frauen mussten nur energisch ziehen, um wieder eine gerade Reihe zu schaffen. Ihre Rufe »Haltet euch am Seil fest! Nicht loslassen!« machten ihn wütend. Was für eine Scheiße! Wie sollten sie denn loslassen, wenn sie festgebunden waren?

An den Baum gelehnt fragte er kühl eine der Frauen: »Warum bindet ihr sie fest?«

Sie warf ihm einen eisigen Blick zu.

»Vollidiot!«, sagte sie.

Die Kinder schauten ihn an.

»Voll – i – diot«, skandierten sie im Chor.

Sie artikulierten Silbe für Silbe so sorgfältig, dass er sich nicht darüber klar werden konnte, ob das Ganze spontan oder sorgfältig einstudiert war. Ihre dünnen, hellen Stimmchen erhoben sich wie aufflatternde Vögel. Idiotisch lächelnd nickte er der Frau am anderen Ende der Schlange entschuldigend zu. Sie würdigte ihn keines Blicks. Er folgte der Kinderschar mit den Augen, bis sie in einer Nebenstraße zwischen zwei hohen roten Mauern verschwand.

Es war ein harter Kampf, aber schließlich schaffte er es, die andere Straßenseite zu erreichen. Dort sprach ihn ein Straßenhändler aus Xinjiang, der gegrillte Lammspieße verkaufte, im schweren Akzent seiner Heimat an. Das Angebot reizte ihn nicht, aber ein Mädchen mit langem Hals blieb stehen und kaufte zehn Stück. Rot geschminkte Lippen wie heiße Chilischoten. Sie tauchte die Spießchen mit dem fettig brutzelnden Fleisch in die Pfefferdose und sperrte, um ihren Lippenstift zu schonen, beim Essen den Mund so weit auf, dass man die Zähne sah. Mit brennender Kehle wandte er sich ab und ging weiter.

Ein wenig später stand er vor der Grundschule, rauchte eine Zigarette und wartete auf seinen Sohn. Der rannte mit dem Ranzen auf dem Rücken aus dem Tor, ohne seinen Vater zu bemerken. Er hatte blaue Tintenflecken im Gesicht, das Kennzeichen des künftigen Gelehrten. Er rief seinen Sohn beim Namen. Der Junge begleitete ihn widerwillig. Er erzählte ihm, dass er beruflich nach Jiuguo musste.

»Na und?«

Ding Gou’er fragte seinen Sohn, was »Na und?« heißen

solle.

»Na und heißt na und. Was soll ich denn sagen?«

»Na und? Schon richtig. Na und?«, wiederholte er den

Kommentar seines Sohnes.

Ding Gou’er betrat das Büro der Sicherheitsabteilung des Parteikomitees der Zeche, wo ihn ein junger Mann mit Stoppelfrisur begrüßte, einen mannshohen Aktenschrank öffnete, ein Schälchen mit Schnaps füllte und es ihm anbot. Auch dieser Raum war mit einem großen Ofen ausgerüstet und überheizt, wenn auch nicht ganz so schlimm wie das Torhaus. Ding Gou’er bat um Eis. Der junge Mann forderte ihn auf, den Schnaps zu probieren.

»Trinken Sie erst mal. Das wird Sie aufwärmen.«

Seine ernsthafte Miene machte es Ding Gou’er unmöglich abzulehnen, also nahm er die Schale an und trank einen Schluck.

Das Büro war durch millimetergenau eingepasste Türen und Fensterrahmen hermetisch von der Umwelt abgeschlossen. Wieder juckte es Ding Gou’er am ganzen Körper, und eine Schweißspur lief über sein Gesicht. Er hörte den Mann mit der Stoppelfrisur beruhigend sagen:

»Kein Grund zur Panik. Wenn Sie sich beruhigen, wird es Ihnen kühler werden.«

Ein Summen füllte Ding Gou’ers Ohren. Bienen und Honig, dachte er, und mit Honig glasierte Kinder. Die Fensterscheiben schienen zu vibrieren. Sein Auftrag war zu wichtig, als dass er ihn durch mangelnde Vorsicht gefährden durfte. Draußen vor dem Fenster, zwischen Himmel und Erde, bewegten sich lautlos große Baufahrzeuge. Er fühlte sich wie ein Goldfisch im Aquarium. Die Schwertransporter waren gelb gestrichen. Eine betäubende Farbe, eine berauschende Farbe. Er bemühte sich, dem Klang der Motoren zu lauschen, aber es gelang ihm nicht.

Ding Gou’er hörte sich selbst sagen:

»Ich möchte den Zechendirektor und den Parteisekretär sprechen.«

Stoppelkopf sagte:

»Trinken Sie aus, trinken Sie aus!«

Von Stoppelkopfs Begeisterung mitgerissen, lehnte sich Ding Gou’er zurück und trank sein Schälchen leer. Kaum hatte er es abgestellt, als Stoppelkopf es schon wieder füllte.

Er sagte: »Danke, für mich nichts mehr. Bringen Sie mich zum Zechendirektor und zum Parteisekretär!«

»Warum die Eile, Chef?«, antwortete Stoppelkopf. »Trinken Sie. Dann machen wir uns auf den Weg. Es wäre pflichtvergessen von mir, Sie so gehen zu lassen. Auf einem Bein kann man nicht stehen. Kommen Sie schon, trinken Sie!«

Beim Anblick der vollen Schale wurde es Ding Gou’er beinah schlecht. Aber er hatte eine Aufgabe zu erledigen, also nahm er sie und trank sie aus.

Er stellte sie ab, und schon hatte Stoppelkopf wieder eingeschenkt.

»Das ist eine eiserne Regel bei uns auf der Zeche. Aller guten Dinge sind drei.«

»Ich bin kein großer Trinker«, wehrte Ding Gou’er ab. Stoppelkopf griff mit beiden Händen nach der Schale und hielt sie Ding Gou’er an die Lippen.

»Bitte, bitte«, sagte er mit tränenumflorter Stimme. »Trinken Sie. Sie wollen mich doch nicht unglücklich machen?«

Ding Gou’er entdeckte so viel echtes Gefühl in seinem Gesicht, dass ihm fast das Herz stehen blieb. Gerührt griff er zu und kippte den Schnaps die Kehle herunter.

»Vielen Dank, vielen Dank«, sagte Stoppelkopf hingebungsvoll. »Wie wäre es mit den nächsten drei?«

Ding Gou’er legte die Hand über die Schale.

»Keinen Tropfen mehr für mich«, sagte er. »Das wars. Bringen Sie mich jetzt bitte zu Ihren Vorgesetzten!«

Stoppelkopf sah auf seine Armbanduhr.

»Es ist ein bisschen früh, um sie zu besuchen«, sagte er.

Ding Gou’er zog seinen Ausweis heraus. »Ich bin in einer wichtigen Mission hier«, sagte er ärgerlich. »Versuchen Sie nicht, mich aufzuhalten!«

Der Mann mit der Stoppelfrisur zögerte einen Moment. Dann sagte er:

»Gehen wir!«

Ding Gou’er folgte ihm aus dem Büro der Sicherheitsabteilung. An den Türen zu beiden Seiten des langen Flurs hingen hölzerne Namensschilder. »Ich nehme an, die Büros des Zechendirektors und des Parteisekretärs sind nicht in diesem Gebäude.«

»Kommen Sie nur mit«, sagte Stoppelkopf. »Sie haben drei Schalen Schnaps mit mir getrunken. Also brauchen Sie keine Angst haben, dass ich Sie in die Irre führe. Hätten wir nicht zusammen getrunken, hätte ich Sie einfach zum Büro des Parteisekretärs gebracht und Sie seiner Vorzimmerdame überlassen.«

Als sie das Gebäude verließen, sah er sein Gesicht, das sich verschwommen in der Glastür spiegelte. Das eingefallene, fremde Antlitz, das ihm entgegensah, erschreckte ihn. Die Türangeln quietschten, als die Tür sich öffnete und dann so schnell wieder schloss, dass sie ihn im Rücken traf. Er stolperte voran. Stoppelkopf streckte eine Hand aus, um ihn aufzufangen. Die Sonnenstrahlen waren Schwindel erregend hell. Seine Knie wurden weich, seine Hämorrhoiden pochten, seine Ohren summten.

Er fragte Stoppelkopf: »Bin ich betrunken?«

»Sie sind nicht betrunken, Chef. Wie könnte eine überragende Persönlichkeit wie Sie sich betrinken? Hierzulande betrinkt sich nur der Abschaum der Gesellschaft, Analphabeten, ungebildetes Pack. Intellektuelle, die den Schnee des Frühlings kennen, betrinken sich nicht. Sie sind ein Intellektueller, also können Sie nicht betrunken sein.«

Die unangreifbare Logik des Arguments überzeugte Ding Gou’er. Er folgte dem Mann über eine Lichtung, die von frisch geschlagenem Holz übersät war. Die stärksten Stämme waren ein paar Meter dick, die dünnsten vielleicht fünf Zentimeter. Kiefer, Birke, Eiche und ein paar Holzarten, die er nicht kannte. Bei seinen geringen Botanikkenntnissen war er erstaunt, dass er so viele erkannt hatte. Das verrottete, verwitterte Holz roch nach Alkohol. Zwischen den Stämmen hatte sich Unkraut ausgebreitet, das schon wieder verwelkte. Eine weiße Motte schwebte träge durch die Luft. Am Himmel schwirrten schwarze Schwalben, die ein wenig angetrunken wirkten. Er versuchte, einen alten Eichenbalken mit den Armen zu umspannen, aber er war zu dick. Als er mit der Faust gegen die dunkelroten Jahresringe stieß, rann schwerer Saft über seine Hand. Er seufzte.

»Was für ein großartiger Baum das einmal war!«

»Letztes Jahr hat ein privatwirtschaftlich arbeitender Weinproduzent dreitausend dafür geboten«, erzählte Stoppelkopf, »aber wir haben nicht verkauft.«

»Was wollte er damit?«

»Weinfässer«, sagte Stoppelkopf. »Für erstklassigen Wein braucht man Eichenholz.«

»Ihr hättet das Holz verkaufen sollen. Es ist bei weitem keine dreitausend wert.«

»Wir haben nichts für die Privaten übrig. Wir würden den Baumstamm lieber verfaulen lassen, als die Privatwirtschaft zu unterstützen.«

Ding Gou’er bewunderte innerlich die sture Loyalität, mit der die Zeche Luoshan am System des Volkseigentums festhielt. Ein paar Hunde jagten einander um die Stämme herum. Sie stolperten und rutschten, als seien sie ein wenig verrückt oder betrunken. Der größte sah dem Hund des Pförtners ähnlich, aber nicht allzu ähnlich. Sie sprangen um einen Holzstapel, dann um den nächsten, als wollten sie den Urwald erobern. Im Schatten der großen umgestürzten Eiche wucherten frische Pilze. Abgefallenes Eichenlaub und abgeschälte Rinde verströmten den betörenden Duft von frischem Harz. Auf einem der Stämme, einem gesprenkelten alten Riesen, wuchsen Hunderte von Früchten, die aussahen wie Säuglinge: rosafarben mit gut ausgebildeten Gesichtszügen und heller, ein wenig faltiger Haut. Erstaunlicherweise waren es alles Jungen mit süßen roten Pimmelchen so groß wie Erdnüsse. Ding Gou’er schüttelte sich die Spinnweben aus den Kopf. Geheimnisvolle, geisterhafte, teuflische Schatten flackerten in seinem Schädel auf und drohten ihn zu sprengen. Er machte sich Vorwürfe, weil er so viel Zeit an einem Ort verbrachte, an dem er überhaupt nichts zu suchen hatte. Aber dann überlegte er es sich anders. Ich bin noch nicht einmal vierundzwanzig Stunden mit dem Fall beschäftigt, dachte er, und schon habe ich einen Weg durch den Irrgarten gefunden. Verdammt tüchtig von mir. Beruhigt folgte er wieder dem jungen Mann mit der Stoppelfrisur. Mal sehen, wohin er mich bringen will.

Neben einem Stapel Birkenholz stand ein Wald von Sonnenblumen. Sie blickten zur Sonne auf und bildeten einen goldenen Fleck über dem weichen dunkelgrauen Boden. Er atmete den einmaligen süßen und berauschenden Duft der Birke ein, und sein Herz sehnte sich nach den Hügeln im Herbst. Die schneeweiße Birkenrinde klammerte sich, immer noch feucht, immer noch frisch, ans Leben. Wo die Rinde geplatzt war, konnte man frisches Holz erkennen, als wolle der Baumstamm beweisen, dass er immer noch wuchs. Eine hellblaue Grille kauerte auf der Birkenrinde, als wolle sie sagen: »Wage nur, mich zu fangen!« Der junge Mann mit dem Stoppelhaar sagte mit unverhohlener Erregung:

»Sehen Sie die Reihe von roten Backsteingebäuden hinter dem Sonnenblumenwald? Dort werden Sie unseren Zechendirektor und unseren Parteisekretär finden.«

Anscheinend gab es etwa ein Dutzend derartiger Backsteingebäude mit roten Dachziegeln unter dem Grün und Gold eines Waldes von dickstämmigen, breitblättrigen Sonnenblumen, die der reiche Sumpfboden ernährte. Unter den hellen Strahlen der Sonne strahlte das Gelb besonders hell. Als Ding Gou’er die bezaubernde Landschaft betrachtete, überfiel ein nahezu rauschartiger Schwindel seinen ganzen Körper, sanft, träge, schwer. Er löste sich aus seinem Schwindel, aber inzwischen hatte sich Stoppelkopf in Luft aufgelöst. Er sprang auf einen Stapel von Birkenholz, um einen besseren Überblick zu gewinnen, und fühlte sich plötzlich wie ein Seemann auf stürmischer See. Der Holzstapel war ein Schiff auf einem unruhigen Meer. In weiter Ferne qualmte die Abraumhalde immer noch, auch wenn der Rauch viel von der Feuchtigkeit abgegeben hatte, die er im Morgengrauen mit sich getragen hatte. Wellen von schwarzen Gestalten schwärmten über die offen liegenden Kohleberge, unter denen die Transportfahrzeuge um die besten Positionen kämpften. Menschliche Stimmen und tierische Schreie waren so schwach zu vernehmen, dass er glaubte, irgendetwas stimme mit seinem Gehör nicht. Eine durchsichtige Wand trennte ihn von der materiellen Welt. Die aprikosenfarbenen Schwerlaster streckten mit quälend langsamen, aber unglaublich exakten Bewegungen die langen Gliedmaßen ihrer Krane in die Öffnung der Kohlengrube. Plötzlich wurde ihm schwindlig. Er neigte sich vornüber und legte sich auf einen der Birkenstämme. Stoppelkopf hatte sich tatsächlich in Luft aufgelöst. Ding Gou’er ließ sich von dem Holzstapel herabgleiten und schritt auf den Sonnenblumenwald zu.

Er konnte nicht anders: Er musste über sein Verhalten in der letzten Zeit nachdenken. Ein von den höheren Führern des Staates hoch geschätzter Sonderermittler kauerte auf einem Stapel von Birkenholz wie ein junger Hund, der Angst vor dem Wasser hat, und ist nicht mehr in der Lage, seine Umgebung wahrzunehmen. Sein Fehlverhalten drohte zu einem bestimmenden Faktor der Ermittlungen in einem Fall zu werden, der sich zu einem internationalen Skandal ausweiten konnte, falls sich die Anschuldigungen als wahr erwiesen. Ein Fall, der so spektakulär war, dass niemand ihn ernst genommen hätte, wenn man einen Film daraus gemacht hätte. Wahrscheinlich war er ein klein wenig betrunken, aber das änderte nichts an der Tatsache, dass der junge Mann mit der Stoppelfrisur hinterhältig und nicht ganz normal war, einwandfrei nicht normal. Die Phantasie des Ermittlers schwang sich in die Lüfte; Windböen trugen Flügel und Federn vor sich her. Wahrscheinlich war der junge Mann mit der Stoppelfrisur Mitglied einer Bande, die kleine Kinder fraß, und war schon dabei, seine Flucht vorzubereiten, als er ihn in diesen Irrgarten von Baumstämmen gelockt hatte. Der Weg, den er einschlug, war voll Fallen und Gefahren. Aber die Verbrecher hatten Ding Gou’ers Intelligenz unterschätzt.

Der Ermittler klammerte sich an seine Aktentasche. In ihr lag, schwer und stahlglänzend, seine Pistole, eine automatische Neunundsechziger aus chinesischer Produktion. Mit der Pistole in der Hand war er kühn, war er mutig. Er warf einen letzten bedauernden Blick auf die Birken- und Eichenstämme, seine bunten Genossen, die Baumstämme. Der Querschnitt der Jahresringe ließ sie zu Zielscheiben werden, und seine Phantasien von einem Treffer genau ins Schwarze hielten an, während seine Beine ihn auf den Sonnenblumenwald zutrugen.

Dass ein ruhiger, abgeschiedener Ort wie dieser mitten in der brodelnden Geschäftigkeit der Zeche existieren konnte, war ein Beweis für die Macht des menschlichen Willens. Die Sonnenblumen wandten ihm ihre lächelnden Gesichter zu und begrüßten ihn. Aber er ahnte Heuchelei und Verrat hinter ihrem smaragdgrünen und blassgelben Lächeln. Im Tanzen und Rauschen der breiten Blätter im Wind hörte er ein leises, kaltes Lachen. Er griff in die Aktentasche und berührte seine kalte, harte Gefährtin. Entschlossen und mit erhobenem Haupt schritt er auf die roten Gebäude zu. Sein Blick war starr auf die roten Gebäude gerichtet, aber er spürte die greifbare Gefahr, die von den Sonnenblumen rings um ihn ausging. Die Gefahr ging von ihrer Kälte und den weißen Samenkapseln aus.

Ding Gou’er öffnete die Tür und betrat den Raum. Es war ein langer Weg gewesen, auf dem er viel erfahren hatte, aber jetzt befand er sich endlich in der Anwesenheit des Zechendirektors und des Parteisekretärs. Die beiden Funktionäre waren etwa fünfzig Jahre alt und hatten runde, aufgeblähte Gesichter wie frisch gebackenes Fladenbrot. Ihre Haut war rötlich braun und erinnerte an die Farbe von hundertjährigen Eiern. Beide hatten einen Wohlstandsbauch. Sie trugen graue Uniformen mit rasiermesserscharfen Falten. Ihr Lächeln war freundlich und großmütig, wie dies bei Menschen von hohem Rang häufig der Fall ist. Und sie hätten Zwillinge sein können. Sie ergriffen Ding Gou’ers Hand und schüttelten sie kräftig. Sie hatten Übung im Händeschütteln: nicht zu locker, nicht zu energisch, nicht zu weich, nicht zu hart. Ding Gou’er fühlte die Wärme, die mit jedem Händeschütteln in seinen Körper strömte, als hätten sich seine Hände um leckere, weiche Süßkartoffeln direkt aus dem Backofen geschlossen. Seine Aktentasche fiel zu Boden. Drinnen löste sich ein Schuss.

Peng!

Aus der Aktentasche drang Rauch. Ein Wandziegel löste sich in Krümel auf. Ding Gou’ers Schreck manifestierte sich in verkrampften Hämorrhoiden. Er sah, dass die Kugel ein gläsernes Mosaikbild an der Wand zertrümmert hatte. Das Gemälde stellte Nacha, den Enkel des Himmelskönigs Pishamon, dar, wie er über dem Weltmeer tobt. Der Künstler hatte ihn als einen nackten, molligen, zarten kleinen Jungen dargestellt. Der unbeabsichtigte Schuss des Ermittlers hatte Nachas kleines Pimmelchen getroffen.

»Ein echter Meisterschuss!«

»Der Vogel, der sich zeigt, wird abgeschossen.«

Ding Gou’er hätte vor Scham in den Boden versinken können. Er hob seine Aktentasche hoch, zog die Pistole heraus und legte den Sicherungshebel um.

»Ich hätte schwören können, dass die Waffe gesichert war«, sagte er.

»Selbst ein Rennpferd stolpert manchmal.«

»Pistolen gehen nun einmal los.«

Die großzügigen Worte und Trostsprüche des Zechendirektors und des Parteisekretärs machten das Ganze nur noch peinlicher. Die Zuversicht, mit der er durch den Sonnenblumenwald geschritten war, löste sich auf wie Wolken und Nebel. Mit einer tiefen Verbeugung suchte er nach seinem Ausweis und dem Empfehlungsschreiben.

»Sie müssen Genosse Ding Gou’er sein.«

»Wir freuen uns, dass Sie unsere Arbeit bewerten wollen.«

Ding Gou’er war so peinlich berührt, dass er nicht einmal zu fragen wagte, woher sie wussten, dass er kommen würde. Verlegen rieb er sich die Nase.

»Genosse Direktor«, sagte er, »und Genosse Sekretär, ich komme auf Befehl eines gewissen Genossen von hohem Rang, um Gerüchte zu untersuchen, dass in Ihrer hoch geschätzten Zeche Kinder geschmort und gegessen werden. Der Fall hat weit reichende Konsequenzen und unterliegt strikter Geheimhaltung.«

Der Zechendirektor und der Parteisekretär wechselten lange und viel sagende Blicke – mindestens zehn Sekunden lang –, klatschten dann in die Hände und brachen in brüllendes Gelächter aus.

Ding Gou’er runzelte die Stirn und sagte vorwurfsvoll:

»Ich muss Sie darum bitten, die Angelegenheit ernst zu nehmen. Der Stellvertretende Abteilungsleiter in der Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit im Parteikomitee von Jiuguo, Jin Gangzuan, stammt aus Ihrer Zeche. Und er ist einer der Hauptverdächtigen.«

Einer von beiden, er wusste nicht, ob es der Zechendirektor war oder der Parteisekretär, sagte:

»Richtig. Abteilungsleiter Jin war früher Lehrer an der zecheneigenen Grundschule. Aber er ist ein hoch begabter und prinzipientreuer Genosse. Ein Mann, wie man ihn nicht oft findet.«

»Können Sie mir Näheres sagen?«

»Wir können uns beim Essen darüber unterhalten und einen Schluck dabei trinken.«

Bevor er den Mund öffnen konnte, um sich zu wehren, hatte man ihn schon in den Speisesaal gezerrt.

II

Verehrter Meister Mo Yan!

Ich hoffe, es geht Ihnen gut.

Ich bin Doktorand im Fach Alkoholkunde an der Brauereihochschule der Schnapsstadt Jiuguo. Mein Name ist Li Yidou, »Li Eine-Kanne«, aber natürlich ist das ein Pseudonym. Sie werden Verständnis dafür haben, dass ich meinen wahren Namen nicht nenne. Sie als weltberühmter Schriftsteller (das ist nicht geschmeichelt) werden leicht verstehen, warum ich dieses Pseudonym gewählt habe. Mein Körper mag sich in Jiuguo befinden, aber mein Herz tummelt sich im Meer der Literatur. Deshalb kritisiert mich mein Doktorvater ständig, jener Professor Yuan Shuangyu, der zugleich der Vater meiner Ehefrau, der Ehemann meiner Schwiegermutter, also mein Schwiegervater ist – man könnte ihn auch als »den Herrn im Haus« oder einfach als »den Mann« bezeichnen –, und wirft mir vor, ich vernachlässige meine wahre Karriere. Er hat sogar schon versucht, seine Tochter dazu zu bringen, sich von mir scheiden zu lassen. Aber ich lasse mich nicht abschrecken. Um der Literatur willen würde ich frohen Herzens einen Berg von Messerspitzen erklimmen oder mich in ein Meer von Flammen stürzen. »Um deinetwillen würd ich tausend Qualen leiden, und schlotternd hängen die Kleider am hageren Körper mir.« Ich gebe ihm immer die gleiche Antwort: »Was genau heißt das, seine wahre Karriere vernachlässigen? Tolstoi war Soldat, Gorki Bäcker und Tellerwäscher, Guo Moruo Medizinstudent und Wang Meng Stellvertretender Parteisekretär der Abteilung Peking der Jugendliga für ein Neues Demokratisches China. Sie alle haben ihren Beruf aufgegeben und sind Schriftsteller geworden, oder etwa nicht?« Wenn mein Schwiegervater versucht, meine Argumente zu widerlegen, starre ich ihn nur an wie der berühmte Exzentriker Ruan Ji. Schade, dass ich nicht über die magischen Kräfte meines berühmten Vorbilds verfüge und den weiß glühenden Zorn in meinen schwarzen Augen nicht gänzlich verbergen kann. Ein großer Schriftsteller wie Lu Xun hat das ja wohl auch nicht gekonnt. Aber das wissen Sie ja alles, was soll ich groß versuchen, Eindruck zu schinden? Das wäre, als wolle man den Drei-Zeichen-Klassiker vor der Haustür des Konfuzius rezitieren oder seine Fechtkünste vor dem Krieger Guan Yu produzieren oder Abteilungsleiter Jin Gangzuan, dem Diamantbohrer, beibringen, was Saufen ist. Aber ich schweife ab.

Verehrter Meister Mo Yan, ich habe alles, was Sie geschrieben haben, mit großem Genuss gelesen und verneige mich respektvoll vor Ihnen. Eine meiner Seelen verlässt die irdische Welt, die andere geht ins Nirwana ein. Ihre Arbeiten haben den gleichen Rang wie Guo Moruos Phönix und Nirwana und Gorkis Meine Universitäten. Was ich am meisten an Ihnen bewundere, ist ein Geist wie der des Weingottes, der so viel trinken kann, wie er will, und dennoch nie betrunken ist. Ich habe einen Ihrer Aufsätze gelesen, in dem Sie behaupten: »Schnaps ist Literatur«, und »Menschen, die nichts von Schnaps verstehen, sollten auch nicht über Literatur reden«. Diese erfrischenden Worte haben meinen Kopf mit der geklärten Butter großer Weisheit erfüllt und alle Hindernisse auf dem Weg zur Erkenntnis ausgeräumt. Das Sprichwort sagt: »Öffne die Schleusen deiner Kehle und gieße einen Eimer Maotai hinab.« Es kann kaum hundert Menschen auf der Welt geben, die mehr von Schnaps verstehen als ich. Die Geschichte des Alkohols, die Alkoholdestillation, die Klassifikation der unterschiedlichen Typen von Alkohol, die Chemie des Alkohols und die physikalischen Eigenschaften des Alkohols, das alles sind Dinge, die ich im Schlaf beherrsche. Und gerade deshalb bin ich so fasziniert von Literatur und glaube, dass ich imstande bin, gute Literatur zu schreiben. Ihr Urteil könnte für mich das beruhigende Schälchen Schnaps sein, das dem tragischen Helden Li Yuhe unmittelbar vor seiner Verhaftung von seiner Tante Li kredenzt wurde. Verehrter Meister, lieber Mo Yan, jetzt wissen Sie, warum ich Ihnen diesen Brief schreibe. Bitte, nehmen Sie die Ehrfurchtsbezeugungen Ihres Schülers und Bewunderers entgegen!

Kürzlich habe ich die Verfilmung Ihres Romans Das rote Kornfeld gesehen. Sie haben selbst am Drehbuch mitgearbeitet. Ich war so aufgeregt, dass ich in jener Nacht kaum schlafen konnte. Ich war so glücklich für Sie, Meister, und so stolz! Mo Yan, Sie sind der Stolz der Schnapsstadt Jiuguo. Ich werde die Dienste von Angehörigen aller Gesellschaftsschichten und Klassen in Anspruch nehmen, um Sie aus der Gemeinde Nordost-Gaomi herauszureißen und in unsere Stadt Jiuguo zu verpflanzen. Sie werden von mir hören.

Dieser erste Brief sollte nicht zu lang werden. Ich lege eine Erzählung bei, um deren Beurteilung ich bitte. Ich habe sie wie ein Besessener in der Nacht geschrieben, nachdem ich Ihren Film Das rote Kornfeld gesehen habe. Zuvor habe ich mich lange im Bett gewälzt und gewunden und schließlich die ganze Nacht hindurch getrunken. Wenn Sie sie für viel versprechend halten, wäre ich dankbar, wenn Sie sie irgendwo zur Veröffentlichung empfehlen könnten. Ich grüße Sie mit gewaltigem Respekt und wünsche Ihnen weiterhin viel Erfolg.

Ihr Schüler

Li Yidou

PS: Falls Sie Schnaps brauchen, lassen Sie es mich wissen. Ich werde mich sofort darum kümmern.

III

Herr Doktorand der Alkoholkunde!

Wie geht es Ihnen?

Ihr Brief und die Erzählung Alkohol sind wohlbehalten angekommen.

Ich bin nur ein einfacher Mensch mit lückenhafter Schulbildung, und deshalb hege ich große Bewunderung für Studenten. Und dann erst ein Doktorand!

So wie die Zeiten nun einmal sind, muss man, um fair zu sein, sagen, dass der Beruf des Schriftstellers keine weise Wahl ist, und diejenigen unter uns, für die es schon zu spät ist, ein anderes Gewerbe zu ergreifen, können nur über den Mangel an Talent und Fähigkeiten seufzen, der ihnen nichts als die Literatur gelassen hat. Ein Schriftsteller namens Li Qi hat einen Roman mit dem Titel Behandelt mich nicht wie einen wilden Hund geschrieben. Es geht um eine Jugendbande in einer Kleinstadt, die keine Gelegenheit zum Betrügen oder Prügeln oder Stehlen oder Rauben findet. Also sagt einer von ihnen: Warum werden wir nicht einfach Schriftsteller? Auf die Konsequenzen einer solchen Äußerung möchte ich lieber nicht im Einzelnen eingehen. Wenn es Sie interessiert, können Sie sicher ein Exemplar des Buchs finden.

Sie sind Doktorand der Alkoholkunde. Darum beneide ich Sie mehr, als gut für mich ist. Wenn ich Doktorand der Alkoholkunde wäre, würde ich meine Zeit wahrscheinlich nicht darauf verschwenden, Romane zu verfassen. In China, einem Land, das nach Alkohol duftet, kann es da ein Unternehmen mit besseren Zukunftsaussichten und dem Versprechen größeren Erfolgs geben als das Studium des Alkohols? Früher hieß es: »In den Büchern liegen goldene Paläste, in den Büchern liegen Säcke voll Korn, in den Büchern liegen schöne Frauen.« Aber die ältere Weisheitsliteratur hatte ihre Schwächen, und »Alkohol« wäre heute in diesem Zusammenhang angemessener als »Bücher«. Denken Sie nur an Abteilungsleiter Jin Gangzuan, den man den Diamantbohrer nennt, Jin Gangzuan, den Mann mit dem unermesslichen Durst, den Mann, der in Jiuguo allgemeine und unauslöschliche Bewunderung genießt. Wo wollen Sie einen Schriftsteller finden, dessen Name auch nur in einem Atemzug mit dem seinen genannt würde? Und deshalb, mein jüngerer Bruder (die Anrede Meister verdiene ich nicht), rate ich Ihnen, auf Ihren Schwiegervater zu hören und nicht den falschen Pfad einzuschlagen.