Wie das Blatt sich wendet - Mo Yan - E-Book

Wie das Blatt sich wendet E-Book

Mo Yan

4,6

Beschreibung

Das bisher persönlichste Buch des chinesischen Nobelpreisträgers. Mo Yan erzählt von seiner Jugend, den Hindernissen auf seinem beruflichen Weg und vom Leben unter dem kommunistischen Regime. Als Junge ist Mo Yan von der Schule geflogen und auch seinen Traum, LKW-Fahrer zu werden, konnte er nicht realisieren. Also geht er zur Armee, beginnt irgendwann zu schreiben und bekommt schließlich die Möglichkeit zu studieren. Während er ein international angesehener Schriftsteller wird, macht sein Klassenkamerad als Geschäftsmann ein Vermögen. Dessen große Liebe aber geht an den gesellschaftlichen Verhältnissen zugrunde.

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Hanser E-Book

Mo Yan

Wie das Blatt sich wendet

Eine Erzählungaus meinem Leben

Aus dem Chinesischenvon Martina Hasse

Carl Hanser Verlag

Die Originalausgabe erschien 2010

unter dem Titel Change

bei Seagull Books in London.

ISBN 978-3-446-24571-6

© Seagull Books 2010

Published by arrangement with Seagull Books. All rights reserved

Alle Rechte der deutschen Ausgabe

© Carl Hanser Verlag München 2014

Schutzumschlaggestaltung: Peter-Andreas Hassiepen, München, unter Verwendung einer Fotografie © Wolfgang Lagenstein

Satz: Satz für Satz. Barbara Reischmann, Leutkirch

Unser gesamtes lieferbares Programm und viele andere Informationen finden Sie unter www.hanser-literaturverlage.de

Erfahren Sie mehr über uns und unsere Autoren auf www.facebook.com/HanserLiteraturverlage oder folgen Sie uns auf Twitter: www.twitter.com/hanserliteratur

Datenkonvertierung E-Book: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

2005 begleitete mich meine Tochter Xiaoxiao nach Italien in das Städtchen Udine, wo mir der internationale Literaturpreis Nonino verliehen werden sollte. In Udine lernte ich den indischen Verleger Naveen Kishore kennen, der einen Verlag in Kalkutta besitzt. Meine Tochter unterhielt sich mit ihm auf Englisch, ich saß daneben und schaute den beiden zu.

Naveen war ein dunkelhäutiger Mann mittleren Alters mit scharfen Gesichtszügen, der einen stillen, ja einsilbigen Eindruck machte. Er trug eine schwarze Uniform und einen schwarzen Popeline-Trench darüber, dazu hatte er eine schwarze, schwere Kamera bei sich. Die Ärmel seines Trenchs, die Schnürsenkel seiner Halbschuhe sowie die Kanten seiner Kamera waren abgenutzt und verblichen. Ich lud ihn auf eine Schale Nudeln ein; er fotografierte sich mit mir. Wir tauschten damals auch E-Mail- und Korrespondenzadressen, aber dann vergaß ich Naveen Kishore.

Anfang des Jahres erhielt ich plötzlich eine E-Mail von ihm, er hoffe, ich könne seinem Wunsch entsprechen und für seinen Verlag einen Essay schreiben. Das Thema solle sein:

Die großen Veränderungen des chinesischen Kommunismus in den letzten dreißig Jahren.

Ich hatte das Gefühl, einem sich so im Ungefähren verlierenden Thema könnte ich schwerlich gerecht werden. Und ich sagte ihm höflich ab.

Als er mir in einem zweiten Brief wieder zuredete, seinem Wunsch stattzugeben, mochte ich nicht mehr ablehnen. Ich gab mich geschlagen, zumal er mir zugestand, so wie ich wollte und nur das, was ich wollte, zu schreiben. Jeder Grund abzulehnen, hatte sich dadurch erübrigt. Erst als ich den Stift zückte, wusste ich, dass es unmöglich war, nur das, was ich wollte, und nur so, wie ich wollte, zu schreiben.

Und erst als ich den Stift zückte, wusste ich, dass mich das von ihm vorgegebene Thema streng in die Schranken wies.

Er schickte das Foto, das er damals von mir gemacht hatte, in der E-Mail mit. Es war schwarzweiß, wirkte ziemlich cool. Dass er bei dem Bild meines Gesichts Coolness hingekriegt hatte, zeigte, dass Naveen Kishore ein echter Könner in Sachen Fotografie war.

Mo Yan, 2010

1

Das, wovon ich hier eigentlich schreiben möchte, trug sich nach 1979 zu. Jedoch wandern meine Gedanken immer wieder bis zum Herbst 1969 zurück, zu diesem bezaubernd sonnigen Herbstnachmittag mit seinen goldenen Chrysanthemen, mit seinen gen Süden ziehenden Wildgänsen. Was diesen Tag angeht, ist meine Erinnerung mit meiner Person verschmolzen. Ich bin wieder der kleine, einsame Junge, der sich, obwohl er der Schule verwiesen worden war, angelockt durch den Lärm auf dem Schulhof, verschüchtert durch das Schultor stahl und sich nur deshalb den langen, düstren Gang entlangtraute, um auf den von vier Häusermauern umgrenzten Schulhof zu gelangen, weil keiner zuschaute.

Links auf dem Schulhof ragte ein Mast aus Blauholz in die Höhe, an dessen Spitze man mit Draht ein Brett gebunden hatte, an dem eine mit Rostflecken übersäte Eisenglocke baumelte. Rechts auf dem Schulhof befand sich eine aus Backsteinen und Zement gemauerte Tischtennisplatte. Eine Menschenmenge stand um den simplen Tisch herum und schaute zwei Spielern beim Wettkampf zu. Von dort kam der Lärm also!

In der Landschule hatten gerade die Ernteferien begonnen, und die, die die Platte umringten, waren fast alles Lehrer, aber auch ein paar hübsche Mädchen, die die Schule förderte und zu Tischtennissportlerinnen ausbildete, waren darunter. Sie sollten am Nationalfeiertag in die Kreisstadt fahren und an den Wettkämpfen teilnehmen. Deshalb hatten sie keine Ferien bekommen, sondern waren in der Schule geblieben, um zu trainieren.

Bei den Mädchen handelte es sich ausschließlich um die Kinder von Funktionären des Staatsguts. Sie hatten keine Mangelerscheinungen, waren gut entwickelt und besaßen weiße, gepflegte Haut, weil sie aus wirtschaftlich besser gestellten Familien kamen. Deswegen trugen sie auch hübsche, bunte Kleidung.

Man sah auf den ersten Blick, dass es sich bei ihnen um eine andere Klasse von Menschen handelte, nichts hatten sie mit uns ärmlichen Schluckern gemein. Wir schauten zu ihnen auf, aber sie würdigten uns keines Blickes.

Der eine der beiden Spieler war Lehrer Liu, mit vollem Namen hieß er Liu Tianguang und war mein Mathelehrer gewesen. Er war ziemlich kleinwüchsig, besaß aber einen außergewöhnlich großen, breiten Mund. Es hieß, er könne seine zur Faust geballte Hand komplett in seinen Mund stecken. Dieses Kunststück hatte er uns leider nie vorgeführt. Mir ist besonders sein Gähnen, dass er uns, wenn er am Pult saß, regelmäßig sehen ließ, gut im Gedächtnis geblieben. Dann öffnete er seinen Mund zur Gänze; ein wahrhaft beeindruckender Anblick. Man nannte ihn mit Spitznamen Flusspferd. Keiner von uns aber hatte je ein Flusspferd gesehen. Eine Flusskröte dagegen hatte doch auch ein großes Maul, und in beiden Namen kam das Wort Fluss vor, sie klangen ähnlich ... Deswegen wurde aus »Liu Flusspferd« auch gleich »Liu Flusskröte«.

Es war ursprünglich nicht mal meine Idee gewesen, aber bei den Nachforschungen landete man schließlich doch bei mir. Liu Flusskröte, dem Sohn eines Märtyrers und Helden des Volkes, obendrein dem stellvertretenden Leiter des schulischen Revolutionskomitees einen Spitznamen zu verpassen, war ein schwerwiegendes Verbrechen. Ich flog dafür von der Schule. Es musste so kommen.

Von kleinauf war ich nichtswürdig, hatte immer Pech, machte mich mit unüberlegten Kommentaren zum Narren und wurde nicht selten Opfer meiner eigenen Bauernschlauheit.

Wollte ich Naseweis den eigenen Lehrer mit schönen Worten umschmeicheln, verstand er mich falsch und meinte zum Schluss, ich stellte ihm eine Falle.

Meine Mutter ermahnte mich seufzend: »Mein Junge! Wenn ein Unglücksrabe gute Nachrichten überbringt, glaubt sie ihm keiner, und er erntet nur Schimpf und Schande.«

Wohl wahr! Es kam so gut wie nie vor, dass man mit meiner Person positive Vorkommnisse und gute Taten verband. Auch wenn ich sie vollbracht hatte. Viele Leute meinten, ich hätte einen Knochenfortsatz am Hinterhauptbein, was den Charakter eines Verräters vermuten ließ, ich hätte verderbte Gedanken, eine falsche ideologische Einstellung, würde die Schule und die Lehrer hassen. Aber das waren zu hundert Prozent Missverständnisse. Denn eigentlich hing ich an der Schule. Auch mochte ich meinen Lehrer Liu mit dem großen Mund sogar besonders gern, hatte ich doch selbst einen großen Mund.

Ich habe eine Kurzgeschichte mit dem Titel »Großmaul« geschrieben, in der es um einen kleinen Jungen geht, für den ich selbst das Vorbild war.

Ich und mein Lehrer Liu »Großmaul« sind Leidensgenossen. Wir sollten uns wie kluge Leute gegenseitig unter die Arme greifen! Uns gegenseitig stützen!

Jedem hätte ich einen Spitznamen verpasst, aber Lehrer Liu war tabu. Das war sonnenklar! Aber er verstand es nicht. Er packte mich am Haarschopf und zerrte mich ins Sekretariat.

Dann trat er nach mir, so dass ich auf dem Boden landete, während er sagte:

»Du bist wie ein Rabe, der sich darüber lustig macht, dass Sattelschweine schwarze Haut und schwarze Borsten haben! Du bepinkelst dich selber. Schau doch mal in den Spiegel und bewundre deinen kleinen Kirschenmund.«

Ich wollte Lehrer Liu erklären, wie es sich wirklich zugetragen hatte, aber er ließ mich nicht zu Wort kommen. Und so wurde der brave Junge – Mo Großmaul –, der für seinen Lehrer Liu Großmaul eine intime Zuneigung verspürte, der Schule verwiesen.

Meine Nichtswürdigkeit zeigte sich darin, dass ich immer noch weiter die Schule liebte, obschon doch mein Rausschmiss vor aller Augen, vor der gesamten Lehrerschaft und der gesamten Schülerschaft ausgerufen wurde, dass ich immer noch tagtäglich mit meinem kaputten Ranzen nach Gelegenheiten suchte, mich auf das Gelände zu stehlen.

Anfangs kam Lehrer Liu noch selber heraus und verscheuchte mich. Wenn ich trotzdem blieb, packte er mich an den Ohren oder zog mich an den Haaren aus der Schule hinaus. Aber noch bevor er im Lehrerzimmer verschwunden war, hatte ich mich wieder hineingeschlichen. Später ließ er ein paar große kräftige Schüler vor der Schule Wache stehen, damit sie mich vertrieben. Sie drehten mir die Arme um, griffen mich an den Beinen und schleppten mich vor das Schultor, wo sie mich auf die Straße warfen. Aber noch bevor sie sich im Klassenzimmer wieder auf ihren Platz gesetzt hatten, war ich schon auf dem Schulhof. Ich versteckte mich immer in einer Ecke, machte mich so klein wie möglich, um bloß kein Aufsehen zu erregen, sondern mich stattdessen bemitleiden zu lassen.

Auf dem Schulhof konnte ich das frohlockende Lachen der Schüler hören, konnte sie springen und hüpfen sehen. Am liebsten aber schaute ich mir die Ping-Pong-Wettkämpfe an. Ich war völlig hingerissen. Oft stand ich mit tränennassen Augen, die Faust vorm Mund, an den eigenen Fingerknöcheln nagend, dabei.

Zuletzt schickten sie mich nicht mehr weg, sie waren es leid.

Vierzig Jahre sind seit diesem Nachmittag vergangen, an dem ich in der Mauerecke lehnte und meinem Lehrer Liu Flusskröte zuschaute, wie er seinen selbst gebastelten Tischtennisschläger tanzen ließ, der größer als vorgeschrieben war, der aussah wie ein Militärspaten und mit dem er gegen meine ehemalige Klassenkameradin und Tischnachbarin Lu Wenli antrat.

Lu Wenli war eigentlich ein Mädchen mit ebenfalls großem Mund, obschon die Größe ihres Mundes annehmbarer war, nicht zu vergleichen mit Lehrer Lius und mit meinem Großmaul. Lu Wenli konnte auch schon damals, obgleich große Münder noch nicht als schön galten, als eine kleine Schönheit gelten. Obendrein war ihr Vater als Fahrer beim Staatsgut angestellt. Er fuhr einen in der Sowjetunion gebauten GAZ-51, der schnell wie der Blitz war und enormen Eindruck machte.

Lkw-Fahrer war zur damaligen Zeit ein anspruchsvoller und vornehmer Beruf. Als uns unser Klassenlehrer einen Aufsatz mit dem Thema »Was ich einmal werden will« schreiben ließ, schrieb die Hälfte der Jungs über ihren Traumberuf als Lastkraftwagenfahrer.

He Zhiwu, der längste und stämmigste von uns Jungs, mit seinem Gesicht voller Pickel, Barthaaren über der Lippe und von einem Äußeren wie fünfundzwanzig, schrieb, ohne viel nachzudenken: »Ich habe nur einen einzigen Traum! Und das ist: Ich möchte Lu Wenlis Papa sein.«

Lehrer Zhang hatte die Angewohnheit, den schlechtesten und den besten Aufsatz in der Klasse vorlesen zu lassen. Der Name des Verfassers wurde nicht genannt, und am Ende mussten alle raten, wessen Aufsätze es gewesen waren.

Damals war es nicht üblich, chinesische Hochsprache zu sprechen. Wer auf dem Lande nicht Dialekt sprach, wurde ausgelacht. Auch in der Schule war es nicht anders. Unser Lehrer Zhang war der einzige an der Schule, der es wagte, uns auf Hochchinesisch zu unterrichten. Er war Absolvent der ehrwürdigen Lehrerausbildungsstätte Normal University in Jinnan. Anfang zwanzig war er, hatte ein langes, schmales Gesicht und besonders helle Haut, trug sein Haar kurz mit Seitenscheitel und kleidete sich in einen verwaschenen Gabardine-Armeeanzug mit hochgeschlossener Jacke. Am Kragen trug er zwei Heftklammern, über den Ärmeln dunkelblaue Ärmelschoner. Bestimmt hatte er auch mal was anderes an, Kleidung in einer anderen Farbe, anderem Schnitt. Er kann doch unmöglich tagaus, tagein, jahraus, jahrein immer nur den einen Anzug angehabt haben!

In meiner Erinnerung aber ist seine Erscheinung mit seiner verwaschenen Armeekleidung und den Ärmelschützern verknüpft. Die Schonbezüge an seinen Ärmeln und die beiden Heftklammern an seinem Kragen fallen mir immer zuerst ein, danach fällt mir die Hemdjacke ein und dann erst sein Gesicht, Mund, Nase, Augen und Ohren, seine Stimme, sein Gesichtsausdruck. Nur wenn ich mich an diese Reihenfolge halte, kann ich mich an sein Aussehen erinnern, ansonsten hätte ich sein Gesicht längst vergessen. In den Sechzigern war er das, was wir in den Achtzigern einen »Lackaffen« nannten, in den Neunzigern einen »Beau« und was wir heute einen, wie würde man sagen, »Schönling« nennen?

Wahrscheinlich gibt es inzwischen noch modischere Bezeichnungen für gutaussehende junge Männer, ich werde mich bei dem jungen Mädchen unserer Nachbarn erkundigen und die richtige Bezeichnung für so einen Adonis herausfinden.

He Zhiwu sah wesentlich älter aus als mein Lehrer Zhang. Sein Vater hätte er nicht sein können, das wäre übertrieben, aber sein Onkel, der jüngere Bruder sein Vaters ... Keiner hätte das in Zweifel gezogen!

Ich erinnere mich noch genau an den spöttischen Tonfall, mit dem Lehrer Zhang He Zhiwus Aufsatz vorlas: »Ich habe nur einen einzigen Traum! Und das ist: Ich möchte Lu Wenlis Papa sein.«

Einen Augenblick herrschte drückende Stille, dann brüllte die ganze Klasse vor Lachen. He Zhiwus Aufsatz bestand nur aus diesen drei kurzen Sätzen. Der Lehrer hielt die Aufsatzkladde an einer Ecke zwischen zwei Fingern und schüttelte sie, als wolle er Spickzettel herausschütteln: »Das ist genial! Ein Genie war das! Was meint ihr? Ratet mal, welches Genie dieses Werk verfasst hat?«

Keiner erriet es. Wir blickten nach links, wie blickten nach rechts. Danach drehten wir die Köpfe und blickten hinter uns, um dort Ausschau zu halten. Schnell fiel unser Blick auf He Zhiwu.

Er war der größte und stärkste, ärgerte gern seinen Tischnachbarn und war deshalb von Lehrer Zhang in die letzte Reihe an einen Einzeltisch gesetzt worden.

Als ihn die ganze Klasse ins Visier nahm, hatte es den Anschein, als wäre er eine Spur rot geworden.

Aber genau betrachtet war das nicht der Fall.

Er sah peinlich berührt aus, jedenfalls schien es so.

Aber genau betrachtet stimmte das auch wieder nicht.

War da eine Spur Genugtuung? Auf seinem Gesicht erschien ein törichtes Lachen, ein wenig Schadenfreude war dabei, etwas schmierig kam es mir außerdem vor. Seine Oberlippe war kürzer als die Unterlippe. Wenn er lachte, bleckte er die oberen Schneidezähne. Violettes Zahnfleisch und gelbe Zähne und einen Zahnspalt zwischen den zwei mittleren Schneidezähnen. Er besaß die einmalige Begabung, durch diesen Zahnspalt kleine Bläschen zu pusten, Bläschen für Bläschen schwebten sie wie Seifenblasen vor seinem Gesicht. Es war faszinierend.

Er fing also an, Bläschen zu machen. Lehrer Zhang schmetterte ihm seine Kladde wie ein Frisbee hinüber, das Heft fiel jedoch auf halbem Weg der kleinen Du Baohua vor die Nase – sie war eine gute Schülerin, nicht wie He Zhiwu! Sie klaubte die Kladde auf und feuerte sie angewidert nach hinten. Lehrer Zhang fragte: »He Zhiwu, erzähl uns doch bitte, warum du Lu Wenlis Vater sein möchtest.«

Der spuckte weiter Bläschen durch seinen Zahnspalt. »Steh auf, wenn ich mit dir rede!«, schrie Lehrer Zhang ihn an, worauf He Zhiwu sich erhob; mit arroganter Miene, es ließ ihn ja so was von kalt ...

»Heraus mit der Sprache! Warum möchtest du der Vater von Lu Wenli sein?«

Die gesamte Klasse bog sich vor Lachen. Wir lachten, und in das laute Lachen mischte sich das herzzerreißende Weinen der mit mir den Tisch teilenden Lu Wenli, die sich schluchzend flach über den Tisch gelegt hatte.

Noch heute verstehe ich nicht, warum sie zu weinen angefangen hatte.

He Zhiwu beantwortete Lehrer Zhangs Frage immer noch nicht, sein Gesichtsausdruck wurde zusehends arroganter.

Lu Wenlis Weinen hatte diesen doch anfangs so simplen Sachverhalt zu einer komplizierten Angelegenheit gemacht. Außerdem forderte He Zhiwus arrogante Miene Lehrer Zhangs Lehrerwürde heraus.

Ich glaube, wenn Lehrer Zhang geahnt hätte, welches Drama es nach sich ziehen würde, hätte er darauf verzichtet, der Klasse den Aufsatz vorzulesen. Aber ein einmal abgeschossener Pfeil kehrt nicht wieder zurück. Nun hieß es, Augen zu und durch. Er herrschte He Zhiwu an:

»Nun raus! Schwirr ab!«