Die schöne Tote - Christi Daugherty - E-Book

Die schöne Tote E-Book

Christi Daugherty

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Beschreibung

Harper McClain arbeitet als Polizeireporterin bei den Savannah Daily News. Als mitten in der Nacht eine junge Frau im Herzen der Stadt erschossen wird, lässt ihr der Fall keine Ruhe. Harper kannte das Opfer: Naomi Scott war jung und bildhschön, eine Jurastudentin, die die Welt verändern wollte, beliebt und engagiert. Die Polizei hat schnell einen Verdächtigen: Naomis Freund, ebenfalls Jurastudent, dessen Schuld für alle erwiesen zu sein scheint. Kurz darauf meldet sich Naomis Vater bei Harper – und er behauptet zu wissen, wer seine Tochter ermordet hat: Der Sohn eines Staatsanwalts, dessen Familie unantastbar scheint, über Geld und Einfluss verfügt. Einfluss auch auf die Zeitung, für die Harper arbeitet.

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Christi Daugherty

Die schöne Tote

Thriller

Aus dem Englischen von Inka Marter

Über dieses Buch

Wenn es Nacht wird in Savannah.

 

Harper McClain arbeitet als Polizeireporterin bei den Savannah Daily News. Als mitten in der Nacht eine junge Frau im Herzen der Stadt erschossen wird, lässt ihr der Fall keine Ruhe. Harper kannte das Opfer: Naomi Scott war jung und bildschön, eine Jurastudentin, die die Welt verändern wollte, beliebt und engagiert.

Die Polizei hat schnell einen Verdächtigen: Naomis Freund, ebenfalls Jurastudent, dessen Schuld für alle erwiesen zu sein scheint. Kurz darauf meldet sich Naomis Vater bei Harper – und er behauptet zu wissen, wer seine Tochter ermordet hat: Der Sohn eines Staatsanwalts, dessen Familie unantastbar scheint, über Geld und Einfluss verfügt. Einfluss auch auf die Zeitung, für die Harper arbeitet.

 

«Ich bin begeistert – vom großartigen üppigen Südstaaten-Setting bis hin zur entschlossenen, verletzlichen Harper und ihrer unnachgiebigen Suche nach der Wahrheit.» (Ruth Ware, Bestsellerautorin von «Woman in Cabin 10»)

Vita

Christi Daugherty arbeitete jahrelang als Gerichtsreporterin für die New York Times und die Nachrichtenagentur Reuters, u.a. in Savannah und New Orleans. Für ihre investigativen Reportagen erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen. Als Jugendbuchautorin wurde sie mit der Bestsellerreihe «Night School» bekannt, die in 24 Ländern erscheint. Mit «Echo Killer», ihrem ersten Thriller für Erwachsene, kehrte sie zu ihren Wurzeln zurück, «Die schöne Tote» ist der zweite Band in der Reihe um Polizeireporterin Harper McClain. Die Autorin lebt mit ihrem Mann, einem Filmproduzenten, in Südengland.

Für alle Frauen, über deren Ermordung erst auf Seite sechs berichtet wird

Kapitel 1

«Die schwarze Acht in die Ecke.»

Harper McClain beugte sich über den Billardtisch und blickte über das grüne Tuch. Der Queue in ihrer Hand war glatt und kühl. Sie hatte vier von Bonnies superstarken Margaritas gehabt, aber ihre Hand war ruhig.

Es gab einen flüchtigen Moment zwischen zu viel und zu wenig Alkohol, in dem ihr Billardspiel die Perfektion erreichte. Dieser Moment war jetzt gekommen.

Langsam atmete sie aus und machte den Stoß. Die weiße Kugel rollte vollkommen gerade und traf die Acht, die sich in die richtige Richtung in Bewegung setzte. Es hatte nie ein Zweifel bestanden: Die Kugel berührte leicht das polierte Holz der Bande und plumpste wie ein Stein ins Loch.

«Yeah.» Harper hob die Faust. «Drei hintereinander.»

Aber die Weiße rollte noch.

Harper ließ die Hand sinken und lehnte sich an den Tisch.

«Nein, nein, nein», flehte sie.

Bestürzt sah sie zu, wie die abgestoßene weiße Kugel der schwarzen Acht wie ein treuer Hund hinterherlief.

«Komm her, weiße Kugel», lockte Bonnie auf der anderen Seite des Tisches. «Mami braucht ein neues Paar Schuhe.»

Als die Weiße am Loch ankam, zitterte sie kurz, als würde sie es sich noch anders überlegen, dann verschwand sie mit einem entschlossenen Klonk im Inneren des Tisches, und das Spiel war verloren.

«Endlich.» Bonnie hob den Queue über den Kopf. «Der Sieg ist mein.»

Harper starrte sie wütend an. «Hast du den ganzen Abend darauf gewartet, das zu sagen?»

«Oh ja.» Bonnie zeigte keine Reue.

Es war sehr spät. Bis auf die beiden war die Bücherei leer. Naomi, die zusammen mit Bonnie die Spätschicht gehabt hatte, war vor einer Stunde nach Hause gegangen.

Alle Lichter brannten in der weitläufigen Bar, erhellten die abgegriffenen Bücher in den Regalen, die noch aus der Zeit stammten, als der Ort wirklich eine Bücherei gewesen war. Es passten locker sechzig Leute in den Laden, aber es war auch gemütlich, wenn nur sie beide da waren – eigentlich sogar richtig kuschelig mit Tom Waits, der aus der Jukebox über gescheiterte Liebe grummelte.

Trotz der späten Stunde hatte Harper es nicht eilig zu gehen. Sie hatte es nicht weit zu Fuß, aber zu Hause warteten nur eine Katze, eine Flasche Whiskey und ein Haufen mieser Erinnerungen. Und mit denen hatte sie in letzter Zeit genügend Zeit verbracht.

«Revanche?» Sie sah Bonnie hoffnungsvoll an. «Die Siegerin kriegt alles?»

Bonnie lehnte ihren Queue an ein Schild, auf dem «Bücher+Bier=LEBEN» stand, und ging um den Tisch herum. Die blauen Strähnen in ihrem langen blonden Haar fingen das Licht ein.

«Die Verliererin zahlt», sagte sie und streckte die Hand aus: «Außerdem hab ich grad kein Kleingeld.»

«Ich dachte, Barkeeperinnen haben immer Kleingeld», klagte Harper und holte die letzten Münzen aus ihrer Hosentasche.

«Barkeeperinnen sind klug und packen ihr Geld weg, bevor sie anfangen, mit dir Billard zu spielen», gab Bonnie zurück.

Die Jukebox war gerade zwischen zwei Songs, und als Harpers Handy in der Stille klingelte, fuhren beide bei dem schrillen Geräusch zusammen.

Harper nahm das Telefon von dem Tischchen neben sich und blickte auf das Display.

«Moment», sagte sie. «Es ist Miles.»

Miles Jackson war Fotograf bei der Savannah Daily News. Er würde um diese Uhrzeit nicht ohne guten Grund anrufen.

«Was gibt’s?», fragte Harper zur Begrüßung.

«Komm in die Innenstadt. Wir haben einen Mord in der River Street», verkündete er.

«Du machst Witze.» Harper legte den Queue auf den Billardtisch. «Bist du schon am Tatort?»

«Ich parke grade. Sieht aus, als wären sämtliche Cops der Stadt hier.»

Miles telefonierte über die Freisprechanlage. Im Hintergrund hörte sie das Dröhnen seines Autos und das beharrliche Knistern des Polizeiscanners. Der Klang elektrisierte Harper.

«Schon unterwegs.» Sie legte auf, ohne sich zu verabschieden.

Bonnie sah sie fragend an.

«Ich muss los», sagte Harper und nahm ihre Tasche. «In der River Street ist jemand ermordet worden.»

Bonnies Kinnlade klappte herunter. «River Street? Heilige Scheiße.»

«Kann man wohl sagen.» Harper zog ihr Notizbuch und den Polizeiscanner aus der Tasche und ging Richtung Tür. In Gedanken überschlug sie, wie lange sie brauchen würde. «Wenn es ein Tourist ist, wird die Bürgermeisterin total durchdrehen.»

Die River Street war das Epizentrum des Touristenviertels – und der sicherste Ort in der Stadt. Bis jetzt.

Bonnie rannte ihr hinterher.

«Gib mir eine Sekunde, um abzuschließen», sagte sie. «Ich komme mit.»

Harper drehte sich zu ihr um. «Du willst zu einem Tatort mitkommen?»

Die Musik hatte wieder eingesetzt.

«Du hattest vier Margaritas», erinnerte Bonnie sie. «Starke Margaritas. Du kannst nicht mehr fahren. Ich hab nur zwei Bier getrunken.»

Rasch öffnete sie eine verborgene Klappe hinter der Bar und betätigte ein paar Schalter. Zuerst verstummte die Musik, eine Sekunde später gingen eine nach der anderen die Lampen aus, bis nur noch das «EXIT»-Schild rot leuchtete.

Bonnie schnappte sich ihre Schlüssel. Die Absätze ihrer Cowboystiefel klapperten über den Betonboden, und der kurze Rock schwang ihr um die Oberschenkel, als sie zu Harper lief. Und die war noch nicht davon überzeugt, dass das eine gute Idee war.

«Du weißt, dass es an Tatorten Tote gibt?»

Bonnie zuckte mit den Achseln und schloss die Eingangstür auf. Die dampfende Nachtluft des Südens strömte herein.

«Ich bin erwachsen. Ich krieg das schon hin.»

Sie warf ihr über die Schulter einen Blick zu, bei dem Harper, schon als sie beide sechs Jahre alt gewesen waren, gewusst hatte, dass Widerspruch zwecklos war.

«Los geht’s.»

 

Die River Street war eine schmale Kopfsteinpflasterstraße mit alten Lagerhäusern und den Kais, an denen früher Großsegler mit Ziel Europa angelegt hatten. Sie lag direkt am breiten, dunklen Savannah River.

Es war die meistfotografierte Straße der Stadt, und in ein paar Stunden würde sie von Arbeitern, Touristen und Reisebussen überlaufen sein, aber jetzt war sie praktisch leer.

Die meisten Bars schlossen um zwei Uhr, und wegen der Hitzewelle hatten sich alle, die um diese Zeit sonst noch am Fluss herumsaßen, auf die Suche nach einer Klimaanlage gemacht.

Bonny lenkte ihren rosa Pick-up – «Mavis» stand in Knallgelb auf der Heckklappe – auf einen Parkplatz und machte den Motor aus.

Das blinkende Blaulicht war nicht weit entfernt am Ufer zu sehen, und bei dem Anblick schlug Harpers Herz schneller. Es war fast drei Uhr früh. Um diese Zeit hatte bei den lokalen TV-Sendern vielleicht niemand Bereitschaftsdienst. Das konnte ihre Exklusivstory werden.

«Gehen wir», sagte sie zu Bonnie, stieß die Tür auf und sprang aus dem Wagen.

Als sie auf dem Pflaster aufkam, pochte warnend die alte Wunde in ihrer Schulter. Sie zuckte zusammen und legte die Hand auf die Narbe.

Es war über ein Jahr vergangen, seit sie angeschossen worden war. Die Verletzung tat fast nicht mehr weh. Eigentlich machte sie sich nur bemerkbar, wenn das Wetter umschlug.

«Sie werden ein wandelndes Barometer sein», hatte der Chirurg bei einer der Nachuntersuchungen fröhlich gemeint. «Sie werden immer wissen, wenn es regnen wird.»

«Nicht unbedingt die Superkraft, auf die ich gehofft hatte», hatte sie geantwortet.

Insgeheim war sie froh, dass sie den Schmerz noch spürte. Die Verletzung – sie hatte sie erlitten, als sie ihren Mentor, den ehemaligen Chief Detective Robert Smith, als Mörder entlarvt hatte – diente ihr als Warnung, nicht jedem zu trauen.

Bonnie bemerkte ihr schmerzverzogenes Gesicht gar nicht. Sie sah zu den Polizeiwagen ein Stück weiter unten. «Verdammt. Das ist wirklich mittendrin. Das Spanky’s ist nur ein paar Blocks weiter.»

Harper war das auch aufgefallen. Spanky’s Bar war ein beliebter Touristenladen. Wäre der Mord ein paar Stunden früher passiert, wären Hunderte Personen involviert worden. Sie musste da sofort hin.

«Los, komm.»

Halb im Laufschritt eilten sie eine steile Kopfsteinpflastergasse zum Fluss hinunter. Es hatte geregnet, und Harper rutschte fast aus auf den glitschigen Steinen.

Eine Minute später standen sie am Ufer.

Es war dunkler hier unten. Die Brise, die vom Fluss kam, riss eine kühle Schneise in die feuchte Luft.

Eigentlich mied Harper die River Street. Es gab hier vor allem Touristenfallen, und ihr fiel kein einziges interessantes Verbrechen ein, das hier passiert wäre. Bis jetzt.

Die Cops hatten Absperrband zwischen Laternenpfählen aufgespannt und die schmale Straße blockiert. Blinkendes Blaulicht erhellte die munteren Fähnchen und die heruntergelassenen Rollläden der Kneipen.

Harper sah sich aufmerksam um. Die Straße stand voller Polizeifahrzeuge, aber sie sah keinen einzigen Wagen mit dem Logo eines lokalen Fernsehsenders.

Zum Glück lauscht Miles die ganze Nacht seinem Scanner.

Etwa dreißig Meter hinter der Absperrung hatte sich eine Gruppe aus uniformierten Cops und Detectives in Zivil versammelt. Alle sahen nach unten auf etwas, das Harper von hier aus nicht sehen konnte.

«Da ist Miles.» Bonnie zeigte auf die andere Straßenseite.

Der Fotograf stand allein am Absperrband. Als er Bonnies Stimme hörte, sah er auf und winkte sie herüber.

Er sah wie immer elegant aus in leichten Stoffhosen und Oberhemd. Fast als hätte er darauf gewartet, dass dieses Verbrechen passierte.

«Sieh an, sieh an!», sagte er, als sie näher kamen. «Heute zwei zum Preis von einer? Leider hab ich meinen Gutschein nicht dabei.»

«Hi, Miles.» Bonnie strahlte ihn an. «So was aber auch, dich zufällig an einem Tatort zu treffen.»

«Die Nacht ist voller Überraschungen», stimmte er zu.

«Was haben wir verpasst?» Harper deutete auf die Gruppe von Polizisten. «Kennen wir die Identität des pfers? Ist es ein Tourist?»

«Keiner sagt etwas», meinte er. «Als ich kam, war schon abgesperrt. Und über Funk wird so wenig darüber geredet, ich hätte es fast überhört. Ich habe nur irgendwelches Getratsche über den Gerichtsmediziner gehört und daraus geschlossen, dass irgendwas los ist, sonst wäre ich noch zu Hause.»

«Hast du Baxter schon angerufen?», fragte sie.

Er schüttelte den Kopf. «Dafür haben wir nicht genug.»

Bonnie hörte schweigend zu. Sie zog die schmalen Augenbrauen zusammen, als sie die Polizisten beobachtete. Sie leuchteten mit Taschenlampen auf etwas, das auf dem Kopfsteinpflaster lag.

In den acht Jahren, seit Harper bei der Zeitung arbeitete, war dies das erste Mal, dass Bonnie an einen Tatort mitgekommen war. Es kam ihr komisch vor. Das war nicht Bonnies Welt. Sie war eine Künstlerin, die nachts in einer Bar jobbte, um ihre Farben bezahlen zu können. Mit Mord hatte sie nichts zu tun.

Mord war Harpers Sache.

Harper war Polizeireporterin, seit sie mit zwanzig ein Praktikum bei der Savannah Daily News gemacht und kurz darauf das Studium abgebrochen hatte. Seither verbrachte sie ihre Nächte damit, über die schlimmsten Verbrechen der Stadt zu berichten. Bei einem Mord drehte sich ihr nicht mehr wie zu Anfang der Magen um. Wenn sie jetzt eine Leiche sah, sah sie nur die Worte, die sie brauchte, um sie zu beschreiben.

Es kam Bewegung in die Polizisten. Harper kniff die Augen zusammen und entdeckte eine kleine Frau in einem dunklen Anzug, die in die Hocke ging.

«Daltrey leitet die Ermittlung?» Sie sah zu Miles.

«Sieht so aus.» Er hob die Kamera, machte ein Bild und betrachtete es auf dem Display.

Das war nicht total dramatisch. Daltrey war von den Detectives nicht gerade die, mit der man am leichtesten zusammenarbeiten konnte, aber sie war auch nicht die Schlimmste.

Und eigentlich war es mit keinem mehr leicht.

Ein Rumpeln unterbrach die Stille, und sie drehten sich um und sahen den weißen Van mit der Aufschrift «Kriminaltechnik» an die Absperrung heranfahren. Die Reifen holperten über die Pflastersteine.

Das kalte, helle Scheinwerferlicht des Wagens fiel auf die Ermittler und beleuchtete die Szene wie einen Filmset.

Sie sahen die Leiche alle im gleichen Moment. Die junge Frau lag auf dem Rücken auf dem unebenen Pflaster. Sie trug ein dunkles T-Shirt und einen knielangen Rock.

Von ihrer Position aus konnte Harper das Gesicht nicht sehen, aber eines war sicher: Das hier war kein Gangverbrechen.

Miles hob die Kamera und schoss schnell hintereinander ein paar Fotos.

Harper stellte sich auf die Zehenspitzen, um besser sehen zu können. Irgendwie kam ihr die Frau bekannt vor.

Bonnie stieß einen gedämpften Laut des Entsetzens aus. «Sieh nicht zu der Leiche», sagte Harper. Aber Bonnie sah nicht weg. Stattdessen lehnte sie sich gegen das Absperrband.

Einer der Uniformierten strahlte sie missbilligend mit seiner Taschenlampe an.

«Hey, Sie – treten Sie zurück.»

Harper drehte sich zu ihr um und wollte sie schon fragen, was das bitte sollte. Sie konnte es wirklich nicht gebrauchen, dass Bonnie den Cops auf die Nerven ging. Es lief sowieso schon schlecht genug.

Aber die Worte erstarben auf ihren Lippen.

Aus Bonnies Gesicht war jede Farbe gewichen.

«O mein Gott, Harper», sagte sie und starrte die Leiche an. «Ich glaube, das ist Naomi.»

Kapitel 2

Harper wollte ihr gerade sagen, dass sie sich irrte – sie musste sich irren, es ergab keinen Sinn, und sie konnten die Leiche von hier aus gar nicht richtig sehen –, aber der Uniformierte war schneller.

«Haben Sie gerade gesagt, dass Sie das Opfer kennen?» Er hob die Taschenlampe und leuchtete Bonnie ins Gesicht. Ihre Pupillen schrumpften in dem grellen Licht zu Stecknadelköpfen.

«Ich glaube … vielleicht.» Ihre Stimme war unsicher. «Ihr T-Shirt – sieht es aus wie meins?»

Der Cop richtete die Taschenlampe auf ihr schwarzes T-Shirt, auf dem «Die BÜCHEREI: From Beer to Eternity» stand.

Er war jung. Die jungen Typen kriegten immer die Spätschicht. Und er hatte noch nicht gelernt, seine Gedanken zu verbergen. Harper sah die Antwort in seinem Gesicht.

Mit zusammengekniffenen Augen blickte sie zu der Leiche.

War das wirklich Naomi? Aber das konnte nicht sein, oder?

Naomi arbeitete erst seit ein paar Monaten in der Bar, aber Harper wusste genug über sie, um zu wissen, dass sie ein unwahrscheinliches Opfer war. Sie las viel, war schüchtern und trug anders als Bonnie keine kurzen Röcke. Inmitten der vielen Kunststudenten mit den bunt gefärbten Haaren und den ungewöhnlichen Klamotten, die die Bar frequentierten, wirkte sie eher bieder. Deshalb stach sie heraus. Deshalb, und weil sie fantastisch aussah – hohe Wangenknochen, Mandelaugen, eine perfekte Figur.

Naomi schien es nicht darauf anzulegen, aber sie fiel einfach jedem auf.

Wer hatte eine solche Frau getötet?

«Bleiben Sie hier stehen», befahl der Cop und leuchtete sie alle drei mit der Taschenlampe an. «Keiner bewegt sich.»

Dann drehte er sich um und lief zu den Detectives.

Einen Moment später löste eine Frau sich aus der Gruppe am Fuß der Treppe und kam mit dem Uniformierten auf sie zu.

Detective Julie Daltrey war schwarz, etwa vierzig und knapp über einen Meter sechzig groß. Sie trug einen schlichten, marineblauen Hosenanzug und eine weiße Bluse. Ihr Haar war kurz und glatt ohne Schnickschnack. Sie duckte sich mit der Leichtigkeit einer Athletin unter dem Absperrband durch.

«Wer von Ihnen glaubt, das Opfer zu kennen?»

Daltreys Ton war klar und dienstlich. Sie blickte Harper ins Gesicht, ohne auch nur ansatzweise zu zeigen, dass sie sich seit Jahren kannten. Dass sie an Tatorten wie diesem Witze gemacht und geplaudert hatten.

Zögernd hob Bonnie die Hand. «Ich.»

Harper sah, wie Daltrey Bonnies blau gesträhnten Pferdeschwanz, den Minirock und das schwarze T-Shirt von der Arbeit registrierte.

«Ihr Name, bitte?»

«Bonnie Larson», sagte sie nach einer winzigen Pause.

Daltrey schrieb das in einen kleinen Notizblock.

«Und wer, glauben Sie, ist es?» Daltrey deutete mit dem Notizblock auf die Leiche am Boden.

Bonnie schluckte. Sie schlang sich die Arme um den Körper.

«Ich … ich dachte … ich meine, ich denke, es ist Naomi.» Ihre Stimme senkte sich zu einem Flüstern. «Naomi Scott.»

Daltrey war schon sehr lange Polizistin. Ihre Miene verriet nichts, als sie noch etwas aufschrieb und dann wieder Bonnie ansah.

«Was können Sie mir über Naomi Scott sagen?»

Bonnie blinzelte. «Ich weiß nicht …»

«Alles, was Sie wissen», ermutigte Daltrey sie. «Wer sie ist, wo sie arbeitet, wie alt sie ist.»

«Sie arbeitet mit mir in der Bar Die Bücherei», sagte Bonnie unsicher. «Wir stehen hinter der Theke. Tagsüber studiert sie. Jura.»

Daltrey machte Notizen.

«Bitte», sagte Bonnie, und ihre Stimme wankte. «Sagen Sie mir, dass sie es nicht ist.»

Die Kriminalpolizistin zögerte, als würde sie überlegen, was sie sagen sollte. Aber dann überbrachte sie die Neuigkeit schnell und ohne Beschönigung.

«Es tut mir leid. Die Papiere, die wir beim Opfer gefunden haben, deuten leider darauf hin, dass es sich um Naomi Scott handelt.»

«O mein Gott.» Bonnie wankte nach hinten, als träfe sie die Nachricht wie ein Schlag. Ihre blauen Augen füllten sich mit Tränen.

«Sie kann nicht tot sein», flehte sie und blickte von Detective Daltrey zu Harper. «Sie war vorhin noch bei der Arbeit. Es ging ihr gut. Sie ist erst vierundzwanzig. Was ist passiert?»

Daltrey warf Harper einen Blick zu.

«Das ist nicht für die Öffentlichkeit bestimmt, verstanden?»

Harper nickte, obwohl sie jedes Wort, das gesagt wurde, innerlich notierte.

Daltrey wandte sich wieder an Bonnie.

«Sie wurde erschossen.» Ihr Tonfall war fast sanft. «Wissen Sie irgendetwas über sie, das erklären könnte, wer das getan hat? Hat sie erwähnt, dass sie vor jemandem Angst hatte? Hatte sie irgendwelche Probleme? Drogen?»

Bonnie war jetzt wie betäubt, in einer Art Schock.

Sie schüttelte den Kopf. «Ich weiß es nicht. Ich glaube nicht.»

Tränen liefen ihr über die Wangen. «Ich muss es ihrem Dad sagen.»

«Darum kümmern wir uns», sagte Daltrey schnell.

Dann wandte sie sich wieder an Harper. «Kannten Sie das Opfer ebenfalls?»

«Nicht gut. Ich habe sie heute in der Bar gesehen. Ihre Schicht war vor etwa einer Stunde vorbei. Sie hat gesagt, dass sie nach Hause wollte.»

«Wohnt sie in der River Street?», fragte Daltrey.

Harper schüttelte den Kopf. «Ich glaube nicht.»

Die Polizistin klappte ihr Notizbuch zu und sah auf die Uhr. «Okay. Sie müssen beide mit aufs Revier kommen und eine Aussage machen.»

Harper stöhnte.

«Können wir nicht später vorbeikommen?», fragte sie. «Ich muss zuerst meine Story schreiben. Und ich kann Ihnen sowieso nicht viel sagen …»

«Ihre Story ist mir scheißegal», unterbrach Daltrey sie. «Das ist ein Mord, McClain. Entweder Sie begeben sich sofort freiwillig aufs Revier, oder ich lasse Sie von jemandem dort hinbegleiten. Habe ich mich klar ausgedrückt?»

Es war sinnlos, zu diskutieren.

«Wir fahren direkt hin», stimmte Harper düster zu.

«Ich treffe Sie dort», sagte Daltrey.

Sie duckte sich wieder unter dem Absperrband durch und ging zur Leiche zurück.

Als sie weg war, drehte Harper sich zu Miles um.

«Hast du alles gehört?»

Er nickte und sah sie besorgt an. «Soll ich Baxter anrufen?»

Harper atmete langsam aus. Sie war wirklich nicht scharf darauf, dass Miles die Redakteurin aus dem Bett holte, um ihr mitzuteilen, dass Harper nicht bei dem Schauplatz des Mordes mitten im Touristengebiet war, weil sie dummerweise noch vor einer Stunde mit dem Opfer gesprochen hatte.

Aber genau das musste er tun.

«Ja.» Sie rieb sich die Stirn. Der Tequila, den sie getrunken hatte, verwandelte sich in einen hübschen, kleinen Kopfschmerz.

«Es wird ihr nicht gefallen», warnte er sie. «Sie wird ziemlich angepisst sein, wenn sie erfährt, dass du nicht hier bist.»

Aber Harper führte Bonnie schon weg. Sie rief ihm die Antwort über die Schulter zu.

«Erzähl mir was Neues.»

 

Als sie zehn Minuten später die Lobby der Polizei von Savannah betraten, blies die Klimaanlage eine arktische Brise über Harpers Haut, und ihr lief ein Schauder über den Rücken.

Dwayne Josephs, der während der Nachtschicht die Rezeption besetzte, blickte von Bonnie zu Harper und wieder zurück.

«Stimmt etwas nicht, Harper?» Als er Bonnies rotes Gesicht und ihre geschwollenen Augen bemerkte, stand er auf. «Ist Bonnie verletzt?»

Harper kannte Dwayne, seit sie zwölf war. Er war einer der Cops gewesen, die sie unter ihre Fittiche genommen hatten, nachdem ihre Mutter ermordet worden war. Und im Augenblick gehörte er zu den wenigen, die sie noch als ihre Freunde betrachtete.

Alle anderen hatten sich von ihr abgewendet. Ihrer Meinung nach hatte sie die Polizei verraten, indem sie Smiths Tat aufgedeckt hatte.

Ein gutes Jahr hatte man ihr den Rücken zugekehrt und mit den Achseln gezuckt. Wenn sie anrief, wurde sofort wieder aufgelegt. Und ständig wurde sie wegen kleinerer Verkehrsdelikte herausgewunken, die sie noch nicht einmal begangen hatte.

Sie war jedes Mal dankbar, wenn Dwayne sie freundlich grüßte.

«Sie ist nicht verletzt», versicherte Harper ihm. «Hast du gehört, was in der River Street passiert ist?»

«Dass jemand erschossen wurde?»

Harper nickte. «Bonnie kannte das Opfer. Daltrey hat uns gebeten, eine Aussage zu machen.»

Sein Ausdruck wurde düster. «Das tut mir wirklich leid.»

Während Harper Bonnie zu einem der harten Plastikstühle führte, verschwand Dwayne hinter dem Empfangstresen und tauchte kurze Zeit später mit einem Pappbecher wieder auf.

«Trink einen Schluck Wasser», sagte er zu Bonnie. «Das wird dir guttun.»

Benommen nahm sie den Becher. «Danke, Dwayne.»

«Detective Daltrey kommt sicher gleich», sagte er und drückte ihren Arm.

Damit lag er allerdings falsch. Harper und Bonnie warteten über eine halbe Stunde in der eiskalten Lobby.

Ab und zu unterbrach das Brummen von Harpers Handy die Stille, wenn Miles ihr kryptische Nachrichten vom Tatort schickte.

Polizeiquelle sagt, Handtasche nicht angerührt, aber Handy weg.

Harper runzelte die Stirn, als sie das las. Naomi war doch wohl nicht wegen eines Handys ermordet worden. Sie tippte rasch eine Antwort:

Was ist mit Börse/Geld?

Sie blickte auf das Telefon und wartete ungeduldig auf die Antwort. Es machte sie wahnsinnig, nicht mit ihm da draußen zu sein. Sie könnte so vieles tun, anstatt hier herumzusitzen.

Als das Telefon wieder brummte, kam nicht die Antwort, die sie erwartet hatte.

Hab Baxter erzählt, du kanntest das Opfer – sie ist begeistert. Will dich um neun in der Zeitung sehen.

Harper schob das Telefon energischer in die Tasche, als nötig gewesen wäre.

Vor dem Gebäude hielt ein Polizeiwagen, und sie verdrehte den Hals, um zu sehen, ob es Daltrey war. Stattdessen stiegen zwei Uniformierte aus und brachten einen Verdächtigen in Handschellen zur erkennungsdienstlichen Behandlung.

Als Daltrey endlich durch die kugelsichere Glastür kam, schliefen sie schon halb. Bonnie hatte es sich auf dem Plastikstuhl so bequem wie möglich gemacht, ihr Kopf lag an Harpers Schulter.

Es war fast vier Uhr morgens. Die Nacht fühlte sich endlos an.

«Tut mir leid, dass Sie warten mussten», sagte die Polizistin knapp. «Kommen Sie.»

Sie standen langsam auf, die Muskeln schmerzten von den harten Sitzen.

Bonnies Augen waren geschwollen, ihre Haut fleckig vom Weinen. Mit dem blauen Haar und den Cowboystiefeln war sie in dieser Behördenwelt so fehl am Platz, dass es Harper in der Seele weh tat.

Dwayne drückte auf den Knopf hinter dem Tresen, und die Sicherheitstür öffnete sich mit einem schrillen Ton.

Der lange Flur im hinteren Bereich war von Büros gesäumt. Hier wurde die wirkliche Arbeit der Polizeibehörde erledigt. Tagsüber wimmelte es nur so von Detectives, Uniformierten und Notrufdisponentinnen. Um diese Zeit war es dunkel und still.

«Hier entlang.»

Daltreys Stimme hallte, als sie sie nach rechts führte. Sie gingen an mehreren Türen vorbei, bevor sie zum richtigen Raum kamen.

Sie öffnete die Tür, schaltete das Licht ein und stellte ihre Tasche neben einen metallenen Klappstuhl auf den Boden.

«Setzen Sie sich», sagte sie mit einem knappen Lächeln.

Der Raum war klein und fensterlos und enthielt nur einen zerschrammten Holztisch und vier Stühle. An einer Wand glänzte kalt ein schmaler Spiegel.

Daltrey wartete, bis sie gegenüber von ihr Platz genommen hatten. In dem grellen Neonlicht sah Harper, dass die Nacht auch an ihr nicht spurlos vorübergegangen war. Sie hatte Ringe unter den Augen, und ihre Haut glänzte durch die feuchte Luft.

«Es wird nicht lange dauern», sagte sie und holte einen Notizblock und einen Kuli aus ihrer Handtasche. «Ich möchte, dass Sie mir beide in eigenen Worten von heute Nacht erzählen. Was für einen Eindruck hat das Opfer auf Sie gemacht?»

Harper würde nicht viel zu sagen haben. Sie wusste nur, dass Naomi vor drei Stunden noch gelebt hatte. Sie war konzentriert, ihr herzförmiges Gesicht ernst gewesen, als sie den Tresen der Bücherei mit schnellen und wütenden Bewegungen abgewischt hatte. Sie hatte Harper kaum eines Blickes gewürdigt, als die sich hingesetzt hatte, und Harper hatte auch nicht auf sie geachtet. Sie hatte sich auf ihre eigenen Probleme konzentriert. Und auf den Margarita on the rocks, den Bonnie vor sie gestellt hatte.

Daltrey wandte sich Bonnie zu. «Sie zuerst, Miss Larson. Wenn ich es richtig verstanden habe, kannten Sie sie besser.»

Bonnie blickte sie unsicher an.

«Ich weiß nicht, was ich sagen soll …»

«Alles, was Sie gesehen haben, könnte uns helfen», drängte Daltrey. «Fangen Sie einfach an. Wie wirkte sie heute? Glücklich? Unglücklich? Ängstlich? Ist während ihrer Schicht etwas Ungewöhnliches passiert?»

Bonnie verknotete die Finger auf dem Tisch und dachte darüber nach.

«Also», sagte sie vorsichtig, «die meiste Zeit wirkte sie okay. Ich meine normal.»

Daltrey legte den Kopf schief.

«Was meinen Sie mit ‹die meiste Zeit›?»

«Sie hat kurz vor eins einen Anruf auf dem Handy bekommen», erklärte Bonnie. «Danach war sie … ich weiß nicht. Vielleicht besorgt? Aufgewühlt. Sie hat gefragt, ob sie früher gehen kann. Es war nicht viel los, also hab ich gesagt, es sei in Ordnung. Sie hat schnell Ordnung gemacht und ist, gleich nachdem Harper kam, gegangen.»

Daltrey machte sich rasch ein paar Notizen. «Sie hat nicht gesagt, warum?»

Bonnie schüttelte den Kopf. «Ich dachte, es wäre etwas mit ihrem Freund oder ihrem Vater.» Sie hielt inne. «Sie und ihr Dad stehen sich wirklich nahe. Manchmal holt er sie nach der Arbeit ab.»

Daltreys Blick wurde aufmerksam. «Kennen Sie den Namen ihres Vaters?»

«Jerrod Scott.»

«Hat er sie heute abgeholt?»

«Ich weiß es nicht», gab Bonnie zu. «Da habe ich die Bar schon allein gemacht. Wenn, dann ist er nicht reingekommen.»

«Sie meinten, sie wirkte besorgt», sagte Daltrey. «Warum haben Sie das gedacht?»

Bonnie überlegte.

«Früher am Abend hat sie Witze gemacht, sie war locker. Aber nach dem Anruf … Es ist schwer zu sagen. Sie wirkte angespannt. Abgelenkt. Als hätte sie eine schlechte Nachricht bekommen.»

Unerwartet füllten sich ihre Augen mit Tränen. «Wenn ich gewusst hätte, dass sie Probleme hat, hätte ich etwas unternommen. Ich hätte versucht, ihr zu helfen.»

Daltrey machte sich Notizen, während Bonnie sich zusammenriss.

Sie hatte eine gute Technik, dachte Harper anerkennend. Knapp, aber nicht gefühllos.

Sobald Bonnie sich erholt hatte, fuhr Daltrey mit der Befragung fort.

«Es tut mir leid, dass ich so viele Fragen stelle. Ich weiß, es war eine lange Nacht. Aber ich bin wirklich dankbar für Ihre Hilfe, Miss Larson.»

Bonnie nickte zitternd.

«Also.» Daltrey blickte in ihre Notizen. «Sie haben einen Freund erwähnt. Haben Sie ihn heute gesehen?»

Bonnie schüttelte den Kopf. «Ich denke nicht, dass er in der Bar war. Wenn er sie abgeholt hat, ist er normalerweise für einen Drink reingekommen und hat gewartet, bis sie fertig war.» Sie machte eine Pause. «Und ich glaube, sie haben eine Beziehungspause eingelegt.»

Harper sah das Interesse in Daltreys Augen aufflackern.

«Wie heißt der Freund?»

«Wilson», sagte Bonnie. «Wilson Shepherd.»

Im Glauben zu helfen nannte sie bereitwillig den Namen. Harper hatte das Gefühl, sie wäre nicht so eifrig gewesen, wenn sie gewusst hätte, warum Detective Daltrey ihn wissen wollte.

Daltrey bat sie, ihn zu buchstabieren. Danach fragte sie: «Erinnern Sie mich noch einmal – um wie viel Uhr ist Naomi heute Nacht gegangen?»

«Gegen halb zwei», sagte Bonnie. «Die genaue Zeit weiß ich nicht …»

«Ich kann das beantworten», unterbrach Harper.

Daltrey warf ihr einen stahlharten Blick zu.

«Ach ja?», fragte sie. «Und wie kommt das?»

«Ich hab zufällig auf die Uhr hinter der Theke gesehen, als sie gegangen ist», sagte Harper. «Es war halb zwei, und ich dachte noch, dass es früh war. Normalerweise macht Bonnie nicht alleine zu.»

«Wir sollen eigentlich zu zweit in der Bar sein», erklärte Bonnie, bevor Daltrey nachhaken konnte. «Aus Sicherheitsgründen. Aber da Harper da war, dachte ich, es ist in Ordnung.»

Nachdem Daltrey das notiert hatte, sagte sie: «Wenn Sie recht haben, hat sie die Bar in der College Row um halb zwei verlassen und ist dreißig Minuten später in der River Street erschossen worden. Hat eine von Ihnen irgendeine Ahnung, was sie dort gemacht hat?»

Bonnie schüttelte stumm den Kopf, und ihr stiegen wieder Tränen in die Augen.

«Ich weiß es auch nicht», sagte Harper.

«Vielleicht wollte sie ihren Freund treffen», schlug Daltrey vor.

«Ihr Freund wohnt in Garden City.» Bonnie wischte sich eine Träne ab. «Naomi wohnt in der 32nd Street. Das ist beides total weit weg von der Innenstadt.»

Daltreys Telefon summte. Sie blickte auf das Display.

«In Ordnung. Das war’s erst mal.» Sie schob abrupt den Stuhl zurück und stand auf. «Hinterlassen Sie Ihre Telefonnummern bei Dwayne, er gibt Ihnen meine. Geben Sie mir Bescheid, wenn Ihnen noch etwas einfällt. Ich melde mich, wenn ich Fragen habe.»

Sie zeigte ihnen den Weg zur Lobby. Bonnie ging benommen den Flur entlang, aber Harper ließ sich zurückfallen und wartete auf Daltrey, die noch das Licht im Verhörraum ausmachte.

«Ist Naomi ausgeraubt worden? Wenn nicht, was ist mit ihrem Telefon passiert? Wir wissen, dass sie es dabeihatte, bevor sie die Bar verlassen hat.»

Daltrey betrachtete sie kühl. «Keine Ahnung, was Sie wollen, McClain. Denunzianten gebe ich keine Infos.»

Harper wich zurück.

Egal wie oft es passierte, sie gewöhnte sich nie daran. Die Detectives, die sie zu Partys eingeladen, mit ihr ein Bier getrunken und ihr die Fotos ihrer Kinder gezeigt hatten, behandelten sie jetzt wie eine Verbrecherin.

«Ich versuche nur zu helfen», sagte sie steif und ging.

Sie wartete nicht ab, ob Daltrey noch etwas erwiderte. Zurzeit kam von allen immer nur dasselbe.

Verräterin.

Kapitel 3

Keine fünf Stunden später kam Harper mit einem großen schwarzen Kaffee in der Hand ins Büro der Zeitung und blinzelte in das Sonnenlicht, das durch die hohen Fenster fiel.

Nachdem sie das Polizeigebäude verlassen hatten, hatte sie in Bonnies irrsinnig pinkem Gästezimmer ein bisschen geschlafen. Sie war früh aufgestanden, um vor der Arbeit noch zu Hause zu duschen und sich umzuziehen, und fühlte sich, als hätte sie kein Auge zugetan.

Die Redaktion war laut und voll, zwölf Autoren und Redakteure tippten und redeten gleichzeitig.

Das weitläufige, hundert Jahre alte Gebäude mit den labyrinthischen Gängen und den engen Treppenhäusern war ursprünglich als Pension errichtet worden, aber trotz der angeschlagenen Kanten hatte es etwas unbestreitbar Prächtiges. Das traf vor allem auf den Redaktionsraum zu mit seinen massiven weißen Säulen und den hohen Fenstern, die über den Fluss blickten.

Die Schreibtische der Reporter standen in Reihen, gut zu überblicken von den drei Schreibtischen der Redakteure am anderen Ende des Raums und dem dahinter liegenden Glaskasten, in dem Chefredakteur Paul Dells sein Büro hatte.

Harpers Schreibtisch stand mittig in der Reihe direkt vor den Fenstern. Sie hatte diesen erstklassigen Platz seit der letzten Entlassungswelle vor zwei Jahren, als man vielen der älteren Reporter gekündigt hatte und die Redaktion halb leer zurückgeblieben war.

Als sie den Kaffee auf ihren Schreibtisch stellte, drehte sich DJ Gonzales in seinem Stuhl zu ihr herum. Sein lockiges dunkles Haar war noch zerzauster als sonst.

«Was machst du so früh hier?», fragte er vorwurfsvoll. «Ich dachte, du würdest bei Tageslicht in Flammen aufgehen.»

«Ich bin kein Vampir, DJ», sagte sie und ließ sich auf ihren Stuhl fallen. «Ich arbeite nur in der Nachtschicht. Wir haben dieses Gespräch schon einmal geführt.»

Sie schaltete den Computer so automatisch an, dass sie sich zwei Sekunden später nicht mehr daran erinnerte, und nahm einen Schluck Kaffee.

«Gott, bin ich müde», sagte sie und rieb sich die Augen.

DJ rollte näher heran. «Warst du wegen diesem Mord wach, über den alle reden?»

Harper nickte.

Er gab sich keine Mühe, seinen Neid zu verbergen. DJs Ressort war Bildung. Er fand Harpers Job unendlich glamourös.

«Klingt nach ’ner fetten Sache. War schon den ganzen Morgen überall im Fernsehen. Du wirst morgen die Titelseite bekommen.» Er klang sehnsüchtig. «Ich kann nicht glauben, dass man mitten auf der River Street eine Frau um die Ecke gebracht hat.»

«Ich kann nicht glauben, dass es immer noch Leute gibt, die ‹um die Ecke gebracht› sagen», gab sie zurück.

«Sagt man das nicht mehr?» DJ klang überrascht. «Ich dachte, es wäre der letzte Schrei.»

«Harper.»

Beim Klang von Emma Baxters scharfer Stimme rollte DJseinen Stuhl mit absoluter Präzision vor seinen Schreibtisch zurück und duckte sich hinter seinen Monitor wie hinter einen Schild.

Die Redakteurin lief mit ausgreifenden Schritten durch den Raum, das stumpf geschnittene dunkle Haar schwang knapp über den Schultern ihres marineblauen Blazers hin und her. Dells war direkt hinter ihr.

«Mist», flüsterte Harper.

Der Chefredakteur mischte sich normalerweise nicht in die Verbrechenssparte ein. Aber diese Story war anscheinend groß genug, um seine Aufmerksamkeit zu erregen.

«Was haben Sie über die River Street?», fragte Baxter, als sie sich Harpers Schreibtisch näherte. «Warum sagt Miles, dass Sie das Opfer kannten?»

Aus den Augenwinkeln sah Harper, wie DJ abrupt den Kopf hob.

«Ich kenne sie nicht wirklich. Ich war nur zufällig in der Bar, in der sie gestern Nacht gearbeitet hat», erklärte Harper und blickte zu Dells.

«Großartig», sagte Baxter mürrisch. «Schreiben Sie einen emotionsgeladenen Bericht in der ersten Person – ‹Dem Tod so nah›. Wir drucken es neben dem Hauptartikel über den Mord.»

Dells trat vor, wie immer makellos gekleidet in einem dunkelblauen Anzug, mit hellblauem Seidenschlips und einem weißen Hemd. Sein Outfit sah aus, als hätte es mehr gekostet als Harpers Auto. Sein dunkles Haar war perfekt frisiert.

«Was wissen wir bis jetzt?», fragte er. «Die Fernsehsender haben nicht viel.»

«Die Tote heißt Naomi Scott, Jurastudentin im zweiten Jahr.» Harper klappte ihr Notizbuch auf. «Schien ein ganz normales Mädchen gewesen zu sein. Hat um halb zwei die Arbeit verlassen und ist an zwei Schussverletzungen gestorben. Das Portemonnaie hatte sie noch bei sich, aber das Handy war weg. Die Cops sagen nicht, ob es ein Raubüberfall war. Niemand weiß, was sie am Fluss wollte.»

«Kennen wir ihre Familie?», fragte Dells. «Sind sie von hier?»

«Ich glaube schon», sagte Harper. «Der Vater heißt Jerrod Scott. Ich versuche gleich, ihn ausfindig zu machen.»

Baxter blickte auf das halbleere Notizbuch. «Ist das alles, was Sie haben?»

«Kommen Sie.» Harpers Stimme klang defensiv. «Ich war die halbe Nacht bei der Polizei.»

«Wir reservieren den größten Teil der Titelseite für die Story», sagte Dells. «Die Fernsehsender werden sich darüber hermachen.»

«Ich mache ein paar Anrufe», sagte Harper.

«Gut.» Baxter klang barsch. «Ich will alles über diese Frau wissen. Wenn sie so perfekt war, warum ist sie dann um zwei Uhr morgens tot auf der Straße geendet? Rufen Sie im Büro der Bürgermeisterin an. Fragen Sie, was sie unternehmen wird, wenn mitten im verdammten Touristenviertel Leute erschossen werden.»

Dells ging wieder in sein Büro. Baxter drehte sich so ruckartig um, dass ihr der Blazer von einer Schulter rutschte.

Sie folgte ihm und ließ ihre letzten Worte wie eine Streubombe hinter sich fallen. «Machen Sie schnell. Wir brauchen etwas für die Webseite. Jetzt.»

Als sie weg waren, schwang DJ sich zu ihr herum. Seine braunen Augen waren groß hinter der fleckigen Nickelbrille.

«Mann. Du hast bei ihr in der Bar was getrunken, und dann ist sie umgebracht worden?»

Harper nickte.

Er sah beeindruckt aus. «Sag mal, bist du je auf den Gedanken gekommen, dass du vielleicht verflucht bist?»

Harper warf ihm einen vernichtenden Blick zu und loggte sich in ihren Computer ein.

«Ich habe zu tun, DJ.»

«Denk mal drüber nach», sagte er und drehte sich wieder an seinen eigenen Schreibtisch.

Es war nur ein blöder Witz, aber als Harper die Storys über den Mord auf den Webseiten der Lokalsender überflog, musste sie trotzdem darüber nachdenken. Schließlich war Naomi nicht das erste Mordopfer in ihrem Leben.

Das erste war ihre Mutter gewesen.

Harper hatte ihre Leiche in der Küche gefunden, als sie erst zwölf gewesen war. Dieser noch immer nicht aufgeklärte Mord hatte eine Kette von Ereignissen in Gang gesetzt, die zu einer engen Beziehung mit der Polizei geführt hatte. Und dazu, dass sie mit gerade mal zwanzig Jahren Reporterin geworden war.

Er hatte ebenfalls zu den Vorfällen des letzten Jahres geführt, als Lieutenant Smith für einen Mord verurteilt worden war, der den an ihrer Mutter in allen Aspekten nachgeahmt hatte.

Die damalige Story – und die Tatsache, dass sie darin vorkam, weil Smith auf sie geschossen hatte – hatte Harper eine gewisse Bekanntheit verschafft. Und ihr Job bei der Zeitung war selbst in diesen finanziell wackeligen Zeiten gesichert.

Aber Baxter war nicht der Typ, der sich nur auf die Vergangenheit verließ. Sie brauchte einen nie abreißenden Strom von packenden Storys, um die Titelseite zu füllen. Und Harper lieferte. Selbst ohne die Kooperation der Polizei. Sie hatte ihre Methoden und kannte das System besser als irgendjemand sonst.

Solange sie Schlagzeilen lieferte, war ihr Job sicher. Das hoffte sie jedenfalls.

Harper wählte die Nummer des Büros der Bürgermeisterin. Es klingelte fünf Mal, bevor eine Mitarbeiterin abnahm.

«Danke, dass Sie das Büro von Bürgermeisterin Cantrelle angerufen haben. Was kann ich für Sie tun?»

«Hier ist Harper McClain von der Daily News. Ich würde der Bürgermeisterin gern ein paar Fragen zu dem Mord gestern Nacht in der River Street stellen.»

«Sie ist in einer Sitzung.» Der Tonfall der Assistentin ließ erkennen, dass sie nicht die Erste war, die anrief. «Ich richte ihr aus, dass sie Sie zurückrufen soll.»

«Am besten schnell, wir stehen etwas unter Druck.»

«Wie gesagt», die Mitarbeiterin klang ungerührt, «sie ist in einer Sitzung.»

Während Harper auf den Rückruf der Bürgermeisterin wartete, gab sie «Naomi Scott» in die Suchmaschine ein.

Eine Flut falscher Ergebnisse füllte den Monitor. Am häufigsten war eine Bloggerin mit 40.000 Followern auf Twitter und eine Rechtsanwältin aus Chicago.

Erst als sie «Savannah» zur Suche hinzufügte, fand sie, wonach sie suchte.

Es war das soziale Netzwerk für Studierende des Savannah State College. Das Bild auf Naomis Seite war atemberaubend. Ihr schulterlanges schwarzes Haar hing offen in Wellen herab. Die makellose Haut, die hohen Wangenknochen und die großen zimtfarbenen Augen verliehen ihr eine ätherische Schönheit.

Harper blickte das vertraute Gesicht einen Augenblick lang an.

«Wo bist du da nur hineingeraten?», murmelte sie.

In dem kurzen Text unter dem Bild stand: «Jung, unabhängig und ehrgeizig. Bereit, die Welt zu verändern.»

Als Studienschwerpunkt war Strafrecht angegeben. Die einzige weitere Information war eine Telefonnummer und eine studentische E-Mail-Adresse.

Harper nahm ihr Handy, damit das Festnetz nicht besetzt war, falls die Bürgermeisterin zurückrief, und wählte Naomis Nummer. Der Anruf landete direkt auf der Mailbox.

«Hi, hier ist Naomi. Hinterlassen Sie eine Nachricht.»

Es war unheimlich, die Stimme der Toten zu hören.

Harper legte auf und wählte gleich danach eine andere Nummer, die sie auswendig wusste. Während es tutete, betrachtete sie das Bild der vor Leben strotzenden jungen Frau mit dem herausfordernden Blick.

Das Klingeln brach abrupt ab. «Polizei Savannah, Pressestelle.»

Die Stimme war männlich und atemlos, als wäre er ans Telefon gegangen, obwohl er gerade herumrannte und nach einem Feuerlöscher suchte. Im Hintergrund hörte sie andere sprechen und tippen – die Geräusche eines beschäftigten Büros.

«Hier spricht Harper McClain», sagte sie. «Ich brauche Informationen über den Mord an Naomi Scott gestern Nacht.»

«Sie und alle anderen», sagte er. «Was wollen Sie wissen?»

«Grundlegende Informationen. Gibt es schon Verdächtige?»

«Dazu kann ich Ihnen nichts sagen.»

«Suchen Sie nach dem Freund?» Sie kannte die Antwort schon, hatte aber den Verdacht, er würde das nicht offiziell bestätigen.

Er lachte schnaubend. «Wollen Sie mich verarschen? Oder haben Sie auch richtige Fragen?»

Harper versuchte einen anderen Ansatz. «Können Sie bestätigen, dass das Portemonnaie in ihrer Tasche gefunden wurde?»

Sie hörte ihn tippen.

«Das ist richtig.»

«War Geld im Portemonnaie?», fragte sie und klemmte sich das Telefon mit der Schulter fest, als sie sich Notizen machte.

«Ja.»

Dann war es kein Raubüberfall. Miles’ Quelle hatte recht gehabt.

«Aber ihr Telefon wird vermisst?», drängte sie.

«Das steht hier so», sagte er und fügte hinzu: «Wir wissen noch nicht, ob sie es verloren oder zu Hause vergessen hat oder ob sie deswegen erschossen wurde.»

Harper wusste, dass es nicht bei ihr zu Hause lag. Bonnie hatte gesehen, wie Naomi, weniger als eine Stunde bevor sie gegangen war, einen Anruf bekommen hatte.

«Gibt es Zeugen?»

Es gab eine Pause, und sie hörte die Tastatur seines Computers.

«Negativ», sagte er nach einer Sekunde. «Es haben sich keine Zeugen gemeldet. Die Leiche ist von zwei Personen gefunden worden, die nach einer Party im Hyatt-Hotel nach Hause wollten.»

«Können Sie mir die Namen geben?», fragte sie.

«Aber sicher doch.» Sein Tonfall war ironisch. «Und hätten Sie gern Parfüm zum Geburtstag oder doch lieber Blumen?»

«Bitte», bettelte Harper. «Nur einen Namen.»

Er gab einen entnervten Laut von sich. «Sie wissen, dass ich Ihnen das nicht sagen kann, McClain.»

Sie hörte ein anderes Telefon klingeln.

«Ist das alles?» Seine Stimme klang ungeduldig. «Ich bin heute ziemlich gefragt.»

«Ich denke schon …»

Bevor sie den Satz beendet hatte, war die Leitung tot.

Nun, wenigstens hatte sie dank Bonnie den Namen des Vaters. Und seine Telefonnummer hatte sie im Internet gefunden.

Sie wählte und wartete. Nach acht Mal Klingeln legte sie auf.

Wenn sie die Familie nicht erreichen konnte, musste sie jemand anders auftreiben. Aber für die Webseite hatte sie jetzt genug. Rasch tippte sie einen knappen Bericht.

Mord in der River StreetVon Harper McClain

In den frühen Morgenstunden wurde die Stadt von der Nachricht über einen Mord im Herzen des Touristenviertels erschüttert.

Das Opfer ist Naomi Scott, 24, Jurastudentin, die in der Bücherei – einer Bar in der College Row – als Tresenkraft arbeitete. Der Polizei zufolge wurde in der Nacht von Dienstag auf Mittwoch um etwa zwei Uhr zwei Mal auf sie geschossen.

Bisher wurde kein Tatmotiv festgestellt, allerdings ist ein Raub unwahrscheinlich. Bei Verfassen dieses Berichts waren die Detectives noch dabei, den Hergang des Verbrechens zu untersuchen.

Die Leiche wurde wenige Minuten nach der Tat von zwei Passanten entdeckt. Die Polizei sagt, es hätten sich keine Zeugen des Verbrechens gemeldet.

Bürgermeisterin Melinda Cantrelle hat bisher nicht auf unsere Anrufe reagiert.

Gerade hatte sie den Bericht an Baxter geschickt, als das Telefon klingelte.

«McClain», sagte sie und warf den leeren Kaffeebecher in den Papierkorb.

«Hören Sie, Harper, mein Büro wird um halb elf eine Stellungnahme vxferöffentlichen. Wagen Sie bloß nicht zu schreiben, dass ich nicht antworte oder versuche, mich um diesen Mordfall zu drücken.»

Bürgermeisterin Melinda Cantrelle hatte eine unverwechselbare Stimme – voll und wohlklingend, wie fürs Fernsehen gemacht. In der Tat hatte sie ihre Karriere vor zwanzig Jahren als Nachrichtensprecherin eines Lokalsenders begonnen. Diese Erfahrung hatte ihr ein perfektes, telegenes Lächeln eingebracht und verlieh ihr meistens eine kultivierte Ruhe. Aber heute sprach sie schnell und abgehackt.

Harper schickte blitzschnell eine Nachricht an Baxter: «Halten Sie den Text zurück, Bürgermeisterin am Telefon», dann lehnte sie sich zurück und legte sich den Notizblock aufs Knie.

«Natürlich nicht, Bürgermeisterin Cantrelle», sagte sie freundlich. «Aber der erste Bericht wird jede Minute auf die Webseite hochgeladen, und unsere Leser sollen auch nicht denken, dass ich nicht versucht hätte, Sie anzurufen.»

«Ach, kommen Sie, Harper …» Die Bürgermeisterin klang nicht glücklich.

«Können Sie mir nicht etwas Kleines geben?», drängte Harper. «Was bedeutet dieser Mord für den Tourismus? Werden Sie mehr Polizisten in der Innenstadt abstellen? Das würde schon genügen, um das ‹Kein Kommentar› aus meinem Bericht zu löschen.»

Es folgte eine lange Pause, in der die Bürgermeisterin sich, wie Harper annahm, bemühte, ihre Wut zu unterdrücken. Sie hatte das Amt vor einem Jahr übernommen, und Harper mochte sie beinahe. Sie hatte eine unverblümte Herangehensweise, die zumindest den Eindruck von Ehrlichkeit erweckte. Mit fünfundvierzig war sie jünger als die grauhaarigen Männer, die sonst Bürgermeister wurden, und sie war immer noch neu genug in dem Job, um bei Gelegenheiten wie dieser das Telefon selbst in die Hand zu nehmen.

«Die Polizei hat mich informiert, dass sie nach einem Verdächtigen suchen», sagte die Bürgermeisterin glatt. «Wir halten es für einen familiären Vorfall. Es steht mir nicht zu, bei noch laufenden Ermittlungen mehr dazu zu sagen, aber wir werden der Sache auf den Grund gehen, das verspreche ich Ihnen. Die Sicherheit der Bürger und Besucher der Stadt hat für mich oberste Priorität.»

Harper schrieb mit, der Stift glitt über die Seite.

«Ein familiärer Vorfall?», fragte sie und sah nicht von ihrem Notizbuch auf. «Sie wollen doch nicht andeuten, dass ihr Vater etwas damit zu tun hat?»

«Das ist nicht für die Öffentlichkeit bestimmt.» Die Bürgermeisterin senkte die Stimme. «Aber mir wurde gesagt, die Kriminalpolizei sucht nach ihrem Freund. Sie glauben, es war etwas Persönliches.»

Jemand sprach im Hintergrund, und der Ton wurde gedämpft. Als Cantrelle wieder dran war, klang sie eilig.

«Hören Sie, ich muss leider auflegen. In einer Stunde geben wir eine ausführliche Stellungnahme heraus. Cathy wird sie Ihnen mailen. Rufen Sie sie an, wenn Sie noch etwas brauchen.»

Nachdem sie aufgelegt hatte, las Harper sich ihre Notizen durch.

Genau wie sie es gestern Nacht bei der Befragung angenommen hatte, glaubte die Polizei, dass es der Freund war. Sie blätterte in dem Notizblock nach seinem Namen: Wilson Shepherd.

Das war keine Überraschung. Die meisten ermordeten Frauen werden von jemandem umgebracht, der ihnen nahesteht – Ehemann, Geliebter, Freund. Nur eine von zehn wird von einem Unbekannten getötet.

Harper hatte schon oft gedacht, dass Frauen sich vor den falschen Dingen fürchteten. Sie haben Angst vor dem Teenager im Hoodie an der Tankstelle, vor dem Fremden, der ihnen spätnachts auf der Straße entgegenkommt.

Dabei sollten sie sich vor ihren Ehemännern fürchten.

Man musste es einfach ganz nüchtern betrachten: Wenn eine Frau ermordet wird, dann ist es im Normalfall jemand, den sie liebt.

Das war nicht gut. Über häusliche Gewalt wurde in der Zeitung kaum berichtet.

«Das ist keine Nachricht», hatte Baxter mehr als einmal gesagt. «Niemand will so was lesen.»

Und sie hatte nicht unrecht.

Ein wahlloser Mord war für jeden eine Bedrohung. Dabei ging es um die Gesetzlosigkeit auf den Straßen. Aber wenn eine Frau von ihrem Exfreund erschossen wurde? Tja. Sie hätte sich eben einen besseren aussuchen sollen. Wenn Naomi Scott von Wilson Shepherd umgebracht worden war, würde die Story schon in wenigen Tagen auf Seite sechs landen.

Harper versuchte, sich zu erinnern, ob sie Naomis Freund einmal gesehen hatte. Ihr Gedächtnis rief ein Bild von einem ernsten, pausbäckigen und ordentlich gekleideten Typ auf, der ruhig am Tresen saß. Mehr wusste sie nicht über ihn.

Letzte Nacht hatte sie Bonnie nach ihm gefragt, bevor sie sich hingelegt hatten. Sie hatte nur erzählt, dass er und Naomi sich an der Uni kennengelernt hatten. Aber Bonnie war so fertig gewesen, dass Harper sie nicht hatte drängen wollen. Wahrscheinlich schlief sie noch. Später würde sie sehen, ob sie sich an mehr erinnerte.

Fürs Erste suchte sie den Namen in der Datenbank der Zeitung und fand nichts.

Sie blickte auf den Monitor und trommelte mit den Fingern auf den Schreibtisch. Sie hatte alles getan, was sie vom Büro aus tun konnte. Es war Zeit, raus auf die Straße zu gehen.

Nachdem sie ihren Bericht rasch um die Stellungnahme der Bürgermeisterin ergänzt und der Redakteurin geschickt hatte, nahm sie ihren Funkscanner und stand auf.

DJ sah sie fragend an.

«Ich bin weg», sagte sie und schob sich einen neuen Notizblock in die Tasche. «Wenn Baxter fragt, sag ihr, ich suche einen Mörder.»

Kapitel 4

Die Sonne glühte, als sie aus der Redaktion kam. Es war so feucht, dass ein weißer Nebel in der Luft hing und der goldenen Kuppel der City Hall in der Ferne einen merkwürdigen elektrischen Schimmer verlieh.

Der August war immer brutal, aber dieses Jahr kam es ihr noch schlimmer vor als sonst. Seit zwei Wochen hatten sie jeden Tag siebenunddreißig Grad. Die Hitze war unbarmherzig.

Harper strich sich das rote Haar zurück und drehte es im Nacken zu einem Knoten. Sie betrachtete den Verkehr, der sich in der Bay Street staute. Eigentlich hatte sie ins Auto steigen und direkt in die Bücherei fahren wollen, um mehr über Naomi und Wilson Shepherd herauszufinden, aber im Moment würde sie für die Strecke eine halbe Stunde brauchen.

Stattdessen lief sie zum Tatort hinunter.

Schwitzend schlängelte sie sich durch den stehenden Verkehr, atmete den bitteren Duft von Abgasen und überhitztem Asphalt ein. Auch wenn die Bürgermeisterin sich Sorgen machte – bei den Besuchern der Stadt war der Mord noch nicht angekommen. Touristen in bunten T-Shirts, Shorts und Baseballmützen liefen mit Reiseführern unter dem Arm herum.

Harper ging eine Kopfsteinpflastergasse Richtung River Street hinunter, und ihr fiel auf, wie dreist der Mörder gewesen war. Hier waren überall Leute. Spazierten, bummelten, fuhren vorbei. Ein Streifenwagen der Polizei Savannah steckte in drei Metern Entfernung im Verkehr fest.

Selbst um zwei Uhr morgens konnte es in dieser Gegend nicht leer gewesen sein. Das Hyatt war in der Nähe, mit Ausblick auf den Fluss. Auf allen Seiten war sie von Hotels, Restaurants und Wohngebäuden umgeben.

Ständig war jemand in der Nähe.

Die meisten Morde fanden im Dunkeln statt – schändliche Taten, verborgen vor neugierigen Augen.

Das hier war kein normaler Mord. Der gewählte Ort machte ihn zu einer Art öffentlicher Hinrichtung.

Unten am Fluss kühlte die Brise ihre Haut. Die Abgase verflogen, wurden durch den Geruch des schlammigen Wassers und den Duft von karamellisiertem Zucker aus den Süßwarenläden ersetzt.

Am Ufer war schon jetzt viel los. Kinder rannten über die Riverfront Plaza, ohne zu ahnen, was hier vor ein paar Stunden passiert war. In der Ferne lag ein rot-weiß gestrichener Raddampfer im Wasser und wartete auf Passagiere. Ein Straßenmusiker, der sich mit einem zerbeulten Zylinder vor der Sonne schützte, klimperte auf dem Banjo eine Version von «Summertime».

Das war der Grund, weshalb die Bürgermeisterin in Panik geriet. Deshalb waren Harper und Baxter heute sieben Stunden früher zur Arbeit gekommen.

Naomi Scotts Tod bedrohte das alles.

Savannah lebte von den Touristen. Ein Mord auf dieser Straße wäre Gift fürs Geschäft.

Harper beschleunigte ihren Schritt und suchte nach dem Tatort. Es war schwierig, die dunkle Straße von gestern Nacht mit dieser hellen, belebten Szene in Einklang zu bringen. Sie brauchte ein paar Minuten, bis sie fand, was sie suchte: die zerschlissenen Reste des weißen Absperrbands, das an einem Laternenpfahl hing.

Danach war der Tatort leicht zu finden. Am Straßenrand lagen benutzte Latexhandschuhe neben anderen medizinischen Abfällen. Sie mussten beim hastigen Aufräumen im Dunkeln übersehen worden sein.

Die Pflastersteine waren feucht. Jemand hatte sie abgespritzt, um die Hinweise wegzuwaschen. Aber Blut bleibt an allem kleben, was es berührt. Die dunkleren Steine zeigten deutlich, wo die Leiche gelegen hatte.

Sie ging einmal um die Stelle herum, nahm die Touristen gar nicht wahr, die sie anrempelten.

Es ergab keinen Sinn. Warum war Naomi mitten in der Nacht von der Bücherei hierhergekommen? Hatte sie sich, wie die Polizei vermutete, mit ihrem Freund treffen wollen, der sie hier erschossen hatte? Aber warum ausgerechnet hier?

Es war ein hirnrissiger Ort für einen Mord.

 

Eine halbe Stunde später parkte Harper den Camaro auf einem schattigen Plätzchen am anderen Ende der Innenstadt.

Die College Row, nicht weit vom Savannah College of Art and Design entfernt, war tagsüber ruhig und schmuddelig. Überall lagen leere Bierdosen und Zigarettenstummel verstreut. Die kurze Gasse diente dem alleinigen Zweck, zwei Bars und einen kleinen Klamottenladen zu beherbergen, der für seine skurrilen T-Shirts bekannt war.

Die Lichter in der Bücherei waren aus, als sie näher kam. Das Schild – ein offenes Buch, auf dem ein Martini-Glas stand – war ebenfalls nicht beleuchtet.

Harper versuchte die Tür, aber es war abgeschlossen.

«Hallo?», rief sie und klopfte. «Ist jemand da?»

Keine Antwort. Sie klopfte wieder und hob die Stimme.

«Hallo?»

Diesmal regte sich drinnen etwas. Sie hörte Schritte, die sich durch den Raum bewegten. Eine Minute später öffnete die Tür sich einen Spalt, und ein zerfurchtes, verlebtes Gesicht blickte hindurch.

Fast hätte Harper den stets gutgelaunten Besitzer der Bar, Jim «Fitz» Fitzgerald, gar nicht erkannt. Eigentlich war er immer schick angezogen, mit einem Hang zu Tweedjacketts, Manschetten und weißen Hemden. Heute trug er ein Flanellhemd und eine zerknitterte Hose, sein volles, grau meliertes Haar wellte sich ungezähmt.

«Wir haben geschlossen», sagte er und wollte die Tür direkt wieder zumachen.

Harper veränderte schnell ihre Position und stellte sich so hin, dass es unhöflich – wenn nicht sogar unmöglich – gewesen wäre, sie einfach auszusperren.

«Hi, Fitz», sagte sie. «Ich weiß nicht, ob Sie sich an mich erinnern, aber ich bin eine Freundin von Bonnie. Harper McClain, von der Zeitung.»

Zuerst reagierte er nicht, aber dann sah sie das Wiedererkennen in seinem Gesicht aufsteigen.

«Sie sind die Polizeireporterin», sagte er. «Die angeschossen wurde.»

Selbst von hier aus roch sie den medizinischen Geruch von Wodka in seinem Atem.

«Genau», sagte sie. «Ich will Sie in so einem Augenblick eigentlich nicht stören, aber ich muss Ihnen ein paar Fragen über Naomi stellen.»

«Gott, ich weiß nicht.» Er sah sie aus glasigen Augen an. «Würde das gedruckt werden?»

«Ich muss mit jemandem reden, der sie kannte, der mir sagen kann, wie sie war», sagte sie und wich seiner Frage aus. «Ich habe sie nur ein paar Mal gesehen, aber ich weiß, dass sie ein kluger und freundlicher Mensch war. Jemand muss mir mehr von ihr erzählen, damit die Leute, die sie nicht kannten, das erfahren.»

Er sah sie aus rot geränderten Augen an. «Ich weiß nicht, ob ihre Familie wollen würde, dass ich über sie rede.»

«Sie würden ihnen einen Gefallen tun», sagte sie. Und das war immerhin die Wahrheit. «Ihre Familie weiß, wie großartig Naomi war, aber jetzt mit mir zu reden ist schwer für sie.»

Er zögerte und lehnte sich schwer an den Türrahmen. Eine Hand hatte er immer noch so gegen die Tür gelegt, dass er sie sofort schließen konnte.

«Ich würde Ihre Hilfe wirklich zu schätzen wissen.» Harper hielt seinem Blick stand.

Endlich trat er einen Schritt zurück.

«Kommen Sie am besten rein. Wir lassen die ganze kalte Luft raus.»

Harper folgte ihm in die Bar und schloss hinter sich die Tür.

Drinnen war es dämmrig und kühl. Es roch schwach nach Desinfektionsmitteln und Bier.

Fitz schlurfte zur Bar und setzte sich wankend auf einen Barhocker. Vor ihm stand ein hohes Glas mit Eis und einer klaren Flüssigkeit.

Harper nahm neben ihm Platz.

«Ich begreife es einfach nicht.» Er drehte sich zu ihr um, seine Miene war gequält unter dem wirren Haar. «Gestern war sie noch hier.» Er zeigte auf den leeren Raum hinter dem Tresen. «Es ging ihr gut. Und jetzt soll sie tot sein.»

Das Eis klirrte, als er das Glas hob und einen großen zitternden Schluck nahm.

Es war halb elf Uhr morgens. Er war jetzt schon betrunken, und Harper hatte keine Vorstellung, wie es ihm in ein paar Stunden gehen würde.

Sie musste schnell mit ihm reden, bevor er umkippte.

«Was können Sie mir über Naomi sagen?», fragte sie. «Wie war sie wirklich?»

«Alle, die sie kannten, werden Ihnen sagen, dass sie ein tolles Mädchen war.» Er starrte in sein Glas. «Und es stimmt. Sie hat hart gearbeitet. War wahnsinnig klug. Hat immer gelächelt. Manche Leute sind nur gekommen, um sie lächeln zu sehen, ehrlich. Und sie war verdammt ehrgeizig. Ich dachte, sie würde eines Tages Präsidentin werden.» Hilflos sah er Harper an. «Wer würde ihr so etwas antun? Können Sie mir wenigstens das sagen?»

Er schien wirklich untröstlich.