Die Schrift an der Wand - Gunnar Staalesen - E-Book

Die Schrift an der Wand E-Book

Gunnar Staalesen

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Beschreibung

Dieser Titel gehört zu einer Romanreihe, auf der die bekannte Krimifernsehserie ›Der Wolf‹ um den Privatdetektiv Varg Veum basiert. Die Erstausstrahlung der beiden Staffeln erfolgte in Deutschland 2008 bei Das Erste und 2013/2014 beim ZDF. Privatdetektiv Varg Veum aus Bergen erhält den Auftrag, ein verschwundenes Mädchen wiederzufinden. Kurz darauf wird ihm eine Todesanzeige zugeschickt: seine eigene. Wenn er glaubt, was da steht, hat er noch genau eine Woche zu leben. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Seitenzahl: 423

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Gunnar Staalesen

Die Schrift an der Wand

Krimi

Aus dem Norwegischen von Kerstin Hartmann

FISCHER E-Books

Inhalt

Wenn ich ihn schon [...]12345678910111213141516171819202122232425262728293031323334353637383940414243444546474849505152

Wenn ich ihn schon anrufe,

und er mir antwortet,

so glaube ich doch nicht,

daß er meine Stimme höre.

Hiob 9, 16

1

Als der Richter H. C. Brandt im Alter von sechzig Jahren eines Freitags nachmittags tot in einem der besseren Hotels der Stadt aufgefunden wurde, nur mit einer Garnitur äußerst delikater Damenunterwäsche bekleidet, dauerte es nicht besonders lange, bis es in der Gerüchteküche zu brodeln begann.

An den Pressestammtischen von Wesselstuen ertönte jedesmal brüllendes Gelächter, wenn ein neues Detail auf den Tisch kam, und die meisten davon wurden mit der blühendsten Phantasie ausgemalt. Auch ich bekam ein paar Tage später, bei einem ruhigen Mittagsbier mit Frikadelle in Børsen von meinem alten Klassenkameraden, dem Journalisten Paul Finckel, eine Handvoll Spekulationen serviert.

Daß man den Richter in Damenunterwäsche gefunden hatte, war an und für sich schon aufsehenerregend. Die Mutmaßungen über die Farbe der Kleidungsstücke waren zahlreich. Sowohl rosa als auch rot wurden häufig genannt. Nicht wenige bestanden hartnäckig auf lindgrün. Die meisten einigten sich schließlich darauf, daß sie schwarz gewesen sein mußten.

Die Frage, mit wem er in dem Hotelzimmer zusammengewesen war, gab Anlaß zu den wildesten Spekulationen. Denn kein Mensch glaubte, daß er dort allein gewesen war.

Eine Fraktion war davon überzeugt, daß es ein Mann gewesen sein müßte, da der Richter selbst Damenunterwäsche getragen hätte. Aber da niemand den Namen des Richters jemals in Verbindung mit den homosexuellen Kreisen der Stadt gehört hatte und der Mann zudem verheiratet und auch Großvater war, hätte man ihn folglich als verkappten Schwulen entlarvt. Und wer konnte dafür garantieren, daß der mögliche Partner nicht derselben Kategorie angehörte? Wäre dies der Fall, so hatte man an den Pressestammtischen zwar viele gute Tips, aber keine handfesten Beweise dafür, um wen es sich handeln könnte.

Einige behaupteten mit großem Nachdruck, der Richter habe seit Jahren eine Affäre mit einer seiner Mitarbeiterinnen gehabt, und ein Raunen ging durch die Versammlung, die einen Skandal witterte, als der Name genannt wurde.

An den Tischen, an denen nur männliche Journalisten saßen, fielen einige Frauennamen aus ihrer eigenen Berufsgruppe, darunter der einer sehr bekannten Reporterin einer Osloer Zeitung sowie ein nicht ganz so bekannter Name aus der Nachrichtenredaktion des Norwegischen Fernsehens.

Andere hatten für die ganze Affäre nur ein Achselzucken übrig und meinten, der Richter sei schlicht und ergreifend mit einer Nutte zusammen gewesen, und ob diese nun männlich oder weiblich gewesen sei – so what? – und bestellten einen neuen Halben.

Über die Todesursache wurde nicht weiter spekuliert.

Die meisten waren wohl der Überzeugung, daß es irgend etwas mit dem Herzen gewesen sei.

2

Sie saß in meinem Wartezimmer, als ich von der Beerdigung zurückkam.

Es war an einem dieser Februartage, von denen es viel zu viele gibt, obwohl es der kürzeste Monat im Jahr ist. Der Februar fällt irgendwie aus dem Jahr heraus. Die Steuererklärung ist abgegeben, die Touristensaison hat noch nicht begonnen, es steht nichts auf dem Plan. Ein feuchter Frost trampelte mit so schweren Gummistiefeln über Bergen, daß man es unter dem Tiefdruck kaum schaffte, aufrecht zu gehen. Graubrauner Eismatsch lag in den Rinnsteinen, und die Berge um die Stadt herum waren durch einen Nebeldunst, der so halsstarrig war, daß er sich nicht einmal nach einer offiziellen Sturmwarnung hob, kaum zu erkennen. Wie die Goldknöpfe an der Weste eines verschollenen Seemanns konnte man die Lichter der Fløyenbahn den Berghang hinauf schimmern sehen, und die Straßenbeleuchtung war selbst am Tag nicht abgeschaltet.

Auch die Beerdigung war keine besondere Show gewesen. Niemand hatte auf dem Sarg von Lasse Wiik getanzt, auch wenn ich mir in den finstersten Stunden eines früheren Daseins durchaus so etwas erträumt hätte. Aber es waren etwas zu viele Jahre vergangen, seit Beate und ich uns getrennt hatten, als daß der Tod ihres neuen Mannes jetzt einen tiefer greifenden Eindruck auf mich gemacht hätte. So neu war er denn doch nicht. Sie waren seit 1975 verheiratet gewesen, und sie hatte es mit ihm deutlich länger ausgehalten als mit mir.

Nach der Beisetzung stand ich ganz hinten in der Kondolenzschlange. Als ich sie formell umarmt und ein Bedauern gemurmelt hatte, standen wir einen Augenblick da, und unsere Blicke glitten auf dem Gesicht des anderen aus. »Das ging schnell«, sagte ich. »Er war fast ein Jahr krank«, sagte sie.

Ihr Gesicht war dasselbe, aber vielleicht ein wenig spitzer um die Kinnpartie als früher, wie bei einer Karikatur. »Was hast du jetzt vor?« fragte ich. Ihr Blick glitt an mir vorbei, zum Store Lungegårdsvann hinunter und an der ungepflegten Zahnreihe von Hochhäusern in Nedre Nygård entlang. Das große Autobahnkreuz, 1989 fertiggestellt, erinnerte an ein Instrument, das ein Zahnarzt dort vergessen hatte. »Tja, ich weiß nicht – vielleicht gehe ich wieder nach Hause zurück.« »Nach Hause? Du meinst nach Stavanger?« »Ja –«

Ich schlenderte zu Thomas und Mari hinüber, die am Rande einer Gruppe von Leuten standen, die ich nicht kannte. »Wann fahrt ihr zurück?« fragte ich. »Wir nehmen heute abend den Nachtzug. Ich habe morgen ein Seminar, an dem ich teilnehmen muß«, sagte Thomas. »Habt ihr Zeit, kurz vorbeizukommen, bevor ihr fahrt?« Sein Blick wanderte zu seiner Freundin hinunter. »Doch, das wäre nett.« »Und was macht ihr jetzt?« »Ich denke, es gibt ein kleines Treffen zu Hause, für die nächsten Angehörigen …«

Februar ist ein spärlicher Monat, lichtarm und lustleer. Lasse Wiik hatte den rechten Ausgangshafen gewählt. Der Winter lag noch immer wie eine Haut über dem Fjord. Der Frühling war nur eine ferne Androhung von Leben, an der er als Herzpatient sowieso nicht mehr richtig teilhaben konnte. Einen Augenblick lang beneidete ich ihn fast.

Dann hatte ich mich brav von dem schwarzgekleideten Trupp verabschiedet und war zum Mølledalsvei hinuntergewandert, wo das Auto auf mich wartete, genauso kalt und frostig wie der Februar. Ich fuhr in die Stadt, parkte gleich bei meiner Wohnung um die Ecke und ging zu Fuß zum Büro hinunter. Wenn ich das Auto brauchte, wäre ich in nur zehn Minuten wieder oben, und so wie sich der Verkehr in der Stadt die letzten Jahre entwickelt hatte, war es auf jeden Fall der geeignetste Ausgangspunkt für eine Autofahrt.

Unterwegs kaufte ich ein paar Zeitungen, die ich vor Schreck fast fallen ließ, als ich in meinem Wartezimmer jemanden sitzen sah. Meistens wurde ich angerufen, und die die kamen, während ich nicht da war, riskierten es selten, zu warten. Also mußte es sich wohl um etwas Dringendes handeln.

Sie legte die Wochenzeitschrift von 1974 schnell weg und stand auf, als ich hereinkam. Mit einem Blick auf den Lesestoff fiel mir auf, daß ich mir überlegen sollte, damit einmal zum nächsten Antiquariat zu gehen. Zumindest würde der Ertrag vielleicht den Kauf von einigen Exemplaren aus den 90er Jahren ermöglichen.

»Ja bitte? Ich bin Veum«, stellte ich mich vor. »Warten Sie auf mich?«

»Ja, ich hatte gehofft, daß Sie kommen würden.« Sie sah mich forschend, aber mit deutlicher Distanz im Blick an. »Ich bin – Frau Skagestøl.«

Wir gaben einander die Hand, ich schloß die Tür zu meinem Büro auf und ließ sie eintreten. Ihr Parfüm erinnerte mich unwillkürlich an Zitronen. Sie hatte einen Duft von herbstlicher Atmosphäre gewählt: eine Landschaft in der Ferne, bei klarem Wetter, in der man aber nie spazierengehen würde.

Im Büro sah sie sich rasch um. Ich wies auf den Klientensessel und fragte, ob ich Wasser für eine Tasse Kaffee aufsetzen solle.

»Nein danke, das ist nicht – notwendig.«

Ich ging um den Schreibtisch herum, setzte mich, öffnete die oberste Schublade und holte einen Notizblock und etwas zu schreiben heraus. Ein oder zwei Sekunden lang saßen wir nur da und betrachteten einander wie zwei politische Kontrahenten in einem Rededuell im Fernsehen, eine halbe Minute vor Beginn der Sendung.

Sie war Anfang Vierzig, hellblond und trug eine halblange Sportjacke in Braun und Beige, frisch gewaschene helle Jeans und halbhohe, schwarze Stiefeletten. Über der Schulter trug sie eine braune Handtasche. Ihr Gesicht war markant, mit gewölbten, hellen Augenbrauen, hohen Wangenknochen und einem Mund, der nicht mehr so leicht lächelte, wie er es wohl früher einmal getan hatte, wenn man die Lachfältchen um ihre Augen berücksichtigte. Sie war dezent geschminkt und trug eine einfache Goldkette um den dünnen Hals.

Sie flocht die Finger ineinander und streckte die Arme mit offenen Handflächen aus. Ein deutliches Zeichen dafür, daß sie keine Lust hatte, anzufangen.

Ich schob den Notizblock zur Seite und beugte mich ein klein wenig vor, um mehr Vertraulichkeit zu schaffen. »Ich habe den … Wie war gleich der Vorname?«

»Sidsel. Mit d.«

»Und womit meinen Sie, kann ich Ihnen helfen?«

Wieder schien sie mich mit großem Abstand zu betrachten. »Ich … Ich hätte nie gedacht, daß ich jemals in die Lage kommen würde – zu jemandem wie Ihnen zu gehen.«

»Sprechen Sie es ruhig aus. Einem Privatdetektiv.« Ich legte die Hand auf die linke Brust und lehnte mich mit einem kleinen Lächeln zurück. »Aber im Grunde meines Herzens bin ich Sozialpädagoge.«

»Ach? Waren Sie das früher?«

Ich nickte.

»Ich habe meinem Mann nicht gesagt, daß ich … Außerdem … Wir leben getrennt.«

»Ach ja?«

»Ich glaube, er würde es nicht … Sie kennen vielleicht den Namen. Holger Skagestøl.«

»Der Journalist?«

»Ja, er ist jetzt in – der Redaktionsleitung.«

»Ah, ja. Doch, ich kenne den Namen, ich weiß, wer er ist, aber ich bin ihm, glaube ich, nie begegnet.«

»Nein, das …« Sie öffnete die Handtasche und griff nach etwas, sah sich dann aber zuerst mit einem fragenden Blick um. »Darf ich rauchen?«

Ich öffnete die zweite Schublade von oben und holte einen kleinen Keramikaschenbecher heraus, den Thomas einmal in der Schule getöpfert hatte. »Selbstverständlich.«

»Sie rauchen selbst nicht?«

»Nein, ich halte mich an die anderen Laster.«

Sie lächelte blaß, steckte die Zigarette in den Mund und gab sich selbst Feuer. »Ich rauche auch nicht viel. Aber …«

»… Sie sind nicht hergekommen, um mir das anzuvertrauen?«

Sie sah mich verblüfft an. »Nein.«

Ich warf ihr einen aufmunternden Blick zu.

»Wir haben drei Kinder. Torild ist sechzehn, Vibeke fünfzehn und Stian zehn.«

»Mmh? Geht es vielleicht um eines von ihnen?«

»Ja. Um Torild. Mit d.«

»Eine Familientradition?«

Sie zeigte nicht einmal die Spur eines Lächeln. »Ja, das könnte man – so sagen.«

»Und was ist nun mit ihr?«

Sie sog hektisch an der Zigarette und blies den Rauch aus, als habe sie vor, den Raum einzuräuchern. »Sie ist verschwunden. Sie ist seit – fast einer Woche nicht zu Hause gewesen!«

»So?«

Jetzt, da die Katze endlich aus dem Sack war, schien sich auch ihre Zunge zu lösen. »Ich hab schon gemerkt, nachdem wir, ja, nach der Trennung, daß sie nicht so, daß es ihr nicht gutging, sozusagen, aber es war ja nie, doch, es kam vor, daß sie etwas spät nach Hause kam, aber ich bin immer aufgeblieben und habe gewartet, bis sie kam, aber letzten Donnerstag, ja, da bin ich überhaupt nicht ins Bett gekommen, denn sie kam nicht!«

»Aha! Und wo war sie?«

»Na ja, ich dachte ja, aber sie war auch nicht in der Schule gewesen, es stellte sich heraus, daß sie – in letzter Zeit oft nicht dagewesen war, ohne daß ich davon wußte. Ich … Ich dachte natürlich, sie sei bei einer ihrer Freundinnen, also telefonierte ich herum, aber da war sie auch nicht, bei keiner von ihnen, und dann dachte ich, na ja, sie käme wohl nach Hause, wenn sie Hunger bekäme, aber dann wurde es Abend, und Nacht, und sie kam einfach nicht wieder.«

»Was haben Sie dann getan?«

»Also an dem Freitag sollte sie sowieso nicht in die Schule. Da war Planungstag. Aber dann rief ich Holger an.«

»Und der – was hat der gesagt?«

»Er fing natürlich an, mir die gleichen Fragen zu stellen, ob ich den und den angerufen hätte, und warum ich ihm nicht gesagt hätte, daß sie völlig außer sich gewesen sei, und ob ein Freund im Spiel sein könnte …«

»Könnte er das?«

»Ein Freund?« Sie sah aus, als wisse sie kaum, was das war. »Jedenfalls kein fester. Nicht daß ich wüßte. Aber jetzt begreife ich ja, daß … aber ich muß mich ja auch um die anderen kümmern, und das ist nicht so einfach, mitten in dieser Geschichte mit Holger und allem, es war nicht meine Schuld, daß es schiefgegangen ist!«

»Nein, das höre ich.«

»Oh? Was meinen Sie damit?«

»Na ja, ich … Aber ein Freund ist also nicht im Spiel?«

»Nicht soweit ich weiß.«

»Haben Sie ihre Freundinnen auch danach gefragt? Die wissen oft mehr als …«

»Jedenfalls hat keine etwas gesagt!«

»Hat sie sonst irgendwas mit … ich meine … Drogen, Alkohol, Polizei – zu tun gehabt?«

»Nein, sie …« Ihr Blick wich einen Augenblick zur Seite. »Es kam natürlich vor, ein paar Mal, daß sie nach Hause kam und nach Bier roch, und rauchen tut sie schon lange.« Sie sah mit Widerwillen auf ihre Zigarette, die schon beträchtlich geschrumpft war.

»Aber ich kann nicht sagen – nicht – sie war nie, ich meine, betrunken …«

»Das hört sich nicht ganz ungewöhnlich an – nein – leider. Sie ist – sechzehn, sagten Sie?«

»Ja, im Januar geworden.«

»Dann geht sie also in die Neunte?«

»Ja. In Nattland. Wir wohnen im Furudal, auf der Seite zum Natlandfjell hin.«

»Aha.« Ich hatte begonnen, mir Notizen zu machen.

Sie sah mich an, während ich schrieb. »Die Klassenlehrerin heißt Sandal. Helene Sandal.«

»Das hab ich. Besonders enge Freundinnen?«

»Das muß … Åsa sein.«

»Mmh?«

Sie sah auf meinen Block. »Åsa Furubø. Sie und … ihre Eltern, das waren gute Freunde von – Holger und mir, bevor … Aber eigentlich waren Holger und Trond befreundet, ursprünglich, und nachdem – aber ich habe Randi in der Stadt getroffen, mit ihr Kaffee getrunken, also, wir reden schon miteinander.«

»Und wo wohnen sie?«

»Unten in … Birkelundsbakken. Nicht weit von der Stabkirche, ich meine, wo die Stabkirche, bevor sie abbrannte …«

»Aber Sie haben mit ihr gesprochen? Mit Åsa?«

»Sie war die erste, die ich angerufen habe.«

»Und sie konnte Ihnen auch nichts sagen?«

»Nein, Torild war nicht bei ihr.«

»Aber … Donnerstag, Freitag … Das ist jetzt fast eine Woche her.«

»Ja, ich … Zuerst dachte ich, das Wochenende, sie kommt sicher am Wochenende zurück, aber dann, dann dachte ich, na ja, Montag fängt ja die Schule wieder an, und dann …«

»Aber ehrlich gesagt, ein Mädchen, das noch nie vorher in dieser Weise weggeblieben ist – oder ist sie das?«

»Torild? Weggeblieben? Nein, nicht – so.«

»Nicht – so?«

»Nein, sie – sie ist nur ein paar Mal spät nach Hause gekommen.«

»Wie spät?«

»So – morgens, aber das war nach Feten, und ich, ja, beim ersten Mal bekam sie Hausarrest, aber dann, beim nächsten Mal – man kann seine Kinder ja schließlich auch nicht einsperren, oder?«

»Nein, wohl kaum. Wo war sie dann gewesen, haben Sie darüber gesprochen?«

»Nein. Das heißt, doch, in der Diskothek und so, unten in der Stadt, und ab und zu auf privaten Feten.«

»Jetzt neulich – oder früher?«

»Na ja … Im letzten Jahr jedenfalls.«

»Auch als sie noch fünfzehn war, mit anderen Worten?«

»Ja!« Einen Moment lang funkelte es in ihren Augen. »Holger war ja selten vor Mitternacht zu Hause, jedenfalls, nachdem er Verantwortlicher geworden war, wie es so schön heißt. Aber mit wem er das war, das wissen die Götter, und ich, ich hatte an die beiden anderen zu denken, an Vibeke, die ein völlig anderer Typ ist, viel häuslicher sozusagen, und Stian, ja, er ist ja noch so klein, man will schließlich das Beste für seine Kinder, oder?«

»Natürlich wollen wir das.«

»Haben Sie …?«

»Einen Sohn. Aber er ist jetzt erwachsen.«

»Und das geht gut?«

»Es geht gut. Er studiert in Oslo.«

»Glauben Sie, daß Sie sie finden können?«

»Tja, ich … Aber eine Frage noch. Sie haben doch die Polizei eingeschaltet?«

»Ja, wir … Das heißt, ich bekam … Holger rief aus der Redaktion an, jeden Tag, um zu hören, ob es etwas Neues gäbe, wissen Sie, so wie das halt immer ist.«

»Ja, ich verstehe, aber – keine amtliche Vermißtenmeldung also?«

»Nein, Holger meinte, so wie die Lage war, würde sie sicher wieder auftauchen.«

»Und Sie haben nicht mit ihnen gesprochen?«

»Mit der Polizei? – Nein.«

»Aber wenn Ihr Mann nicht will, daß die Polizei eingeschaltet wird, wie glauben Sie, wird er wohl reagieren, wenn er erfährt, daß ich …«

»Aber Sie brauchen doch nicht mit ihm zu sprechen, oder?«

»Vielleicht nicht sofort, aber … Ich kann nicht dafür garantieren.«

»Wenn Sie sie nur finden, dann … Zwischen Holger und mir ist es – sowieso … Es spielt keine Rolle.«

»Ich werde mein Bestes tun, selbstverständlich. Ich habe schließlich eine gewisse Erfahrung, gerade mit solchen Fällen.«

Sie öffnete ihre Handtasche wieder. »Wieviel wird es …«

»Der Preis? Das … Aber Sie haben nichts von sich erzählt. Arbeiten Sie eigentlich?«

»Nein, im Moment nicht. Aber ich bin Vorschulpädagogin, und deshalb … ich meine, ich sollte mich auskennen.«

»Mit Kindern, meinen Sie?«

»Mhm.« Sie nickte.

»Aber das tut man trotzdem nie. Kinder sind wie Erwachsene, nur noch ein bißchen unberechenbarer.«

Sie zog ein Scheckheft hervor. »Was soll ich eintragen?«

»Wenn es ein paar Tage dauert, dann werden es schnell fünf-, sechstausend.« Ich sah, wie sich ihre Augen einen Deut weiteten. »Aber andererseits … Schreiben Sie zweitausend, als Vorschuß. Mit etwas Glück könnte es reichen.«

Sie schrieb, riß den Scheck ab und schob ihn mir über den Tisch zu, zusammen mit ihrer Scheckkarte. Ich betrachtete das Bild. Sie hatte damals längere Haare, und die Wangen waren noch nicht so markant. Aber ich sagte nichts.

Ich gab ihr die Karte zurück. »Sie haben nicht vielleicht ein Bild von ihr dabei?«

»Doch, natürlich, ich habe eins mitgenommen …« Sie zog eine aus einer Zeitschrift herausgerissene Seite hervor und gab sie mir mit leicht entschuldigendem Blick. »Stian hat es eingeschickt.«

Ich betrachtete die Seite. Sie zeigte eine dieser Gratulationsspalten, die sich die meisten Lokalzeitungen in den letzten Jahren zugelegt hatten, bei denen man ein Foto von der Person einsendet, der man herzlichen Glückwunsch sagen will, mit Vorliebe in Reimen, neben denen selbst die Geringsten unter den Gelegenheitspoeten als literarische Genies erschienen.

Der Text war vergleichsweise nüchtern:

Unsere große Schwester wird 16! Herzlichen Glückwunsch, TORILD, von den Kleinen, Vibeke und Stian.

Das Bild zeigte ein ernstes junges Mädchen, das feierlich in den Spiegel eines Paßbildautomaten blickt.

»Das ist das neueste, das wir haben«, sagte Sidsel Skagestøl mit Bedauern in der Stimme.

»Die Haarfarbe?«

»Blond. Aber dunkler als ich.«

»Und wie sieht sie sonst aus?«

»Sie ist ziemlich zierlich, aber …« Sie errötete leicht. »Mit weiblichen Formen.«

Nachdem sie gegangen war, blieb ich eine Weile sitzen und betrachtete das kleine Zeitungsbild. Hier war nichts von weiblichen Formen zu sehen, aber der Blick war recht selbstbewußt, so als solle nur ja niemand daherkommen und ihr erzählen, wie die Pyramiden gebaut wurden, wer Vasco da Gama war oder wie die Formel von Ferrosilit lautete.

Ich sah aus dem Fenster. Es hatte schon zu dämmern begonnen. Mir kam der Gedanke, daß es gefährlich war im Februar allein draußen zu sein, besonders, wenn man gerade erst sechzehn war und ja niemand kommen sollte und einem was erzählen.

Als ich eben zur Tür hinaus wollte, klingelte das Telefon.

Ich ging zum Schreibtisch zurück, hob den Hörer ans Ohr und sagte: »Ja, hallo.«

Niemand antwortete.

»Hallo? Hier ist Veum.«

Noch immer keine Antwort. Aber schwach, fast wie ein Hintergrundgeräusch, hörte ich … Was war das? Eine Art synthetischer Orgelmusik?

»Hallo?« wiederholte ich irritiert.

Und die Melodie … kam mir irgendwie bekannt vor …

Es war »Oh, verlaß mich nicht«. Wie zu einer Beerdigung.

»Hallo?« sagte ich, etwas zaghafter diesmal, denn der Anruf konnte ja direkt aus einer Kapelle kommen. »Ist da jemand?«

Aber noch immer antwortete niemand. Dann wurde die Verbindung unterbrochen.

3

Familie Furubø wohnte in einer Doppelhaushälfte an dem Ende von Birkelundsbakken, wo es unmöglich ist, jemals den richtigen Gang einzulegen, wenn man bergauf fährt. Die Frau, die die Haustür unten öffnete, war von der patenten Sorte, ungefähr einsachtzig groß und mit dunklem, kurzem Haar. Sie hatte ein rundes Gesicht, braune Augen und einen besorgten Zug um den Mund.

»Ja? Wir brauchen nichts, wenn –«

»Frau Furubø?«

Sie nickte. Sie trug einen braunen Rock, eine hellgrüne Bluse und eine rotbraune, lockere Lederweste. Hinter ihr sah ich in einen Flur mit gelbgestrichenen Wänden.

»Ich heiße Veum und bin Privatdetektiv. Ich habe den Auftrag von Sidsel Skagestøl, ihre Tochter Torild zu finden, und in dem Zusammenhang würde ich gerne ein paar Worte mit – Åsa sprechen.«

»Aber, hat sich die Sache immer noch nicht aufgeklärt? Sidsel hat ja angerufen … Das war doch …«

»Letzten Donnerstag, denke ich.«

»Ja.« Sie warf mir einen mißtrauischen Blick zu. »Können Sie sich ausweisen?«

Ich gab ihr den Führerschein. Sie drehte und wendete ihn, als wäre er ein falscher Geldschein. »Hier steht nichts von – Detektiv.«

»Nein. Aber ich kann Ihnen sagen, wo Sie anrufen können, zwecks Referenzen.«

Sie gab mir den Führerschein zurück. »Nein, es ist sicher in Ordnung. Aber Åsa ist nicht zu Hause.«

Ich sah auf die Uhr. Es war zwanzig nach vier. »Aber … Ist sie denn noch in der Schule?«

»Nein. Trond, mein Mann, hat sie nach der Schule abgeholt. Sie – hatten noch etwas zusammen zu erledigen.«

»Und wann erwarten Sie sie zurück?«

»Tja, ich …«

Die Antwort blieb ihr erspart. Ein weißer Mercedes bog in die Auffahrt ein und parkte am Rand des kleinen Rasens. Der Motor wurde abgestellt, und ein junges Mädchen öffnete die Beifahrertür und stieg aus. Hinter dem Steuer erkannte ich undeutlich ein mageres Gesicht unter einem silbergrauen, aber jungenhaften Haarschopf.

Das Mädchen war ausgesprochen hübsch, mit dunklem, glattem Haar und natürlich roten Lippen. Sie war zierlich und trug Jeans und eine äußerst exklusive rotbraune Lederjacke. Über der Schulter hing ein hellbrauner Schulranzen, und ihre Füße steckten in weißen Basketballschuhen. Aber sie bewegte sich nicht wie eine Sportlerin, eher wie eine erschöpfte Bürokraft. Die blauen Augen nahmen meine Anwesenheit wahr, aber nichts deutete darauf hin, daß sie sich fragte, wer ich sei.

»Aber …« hörte ich Randi Furubø direkt hinter mir murmeln.

Die andere Autotür schlug zu. Ein hagerer, drahtiger Mann kam auf uns zu. Er trug graue Hosen, einen farbenfrohen Wollpullover und eine beige Windjacke. Die Jugendlichkeit des Gesichts wurde noch durch die allzu früh ergrauten Haare betont; als habe er einmal im Leben eine schockartige Trauer erlitten. Der Blick, mit dem er mich ansah, war deutlich fragender als der des jungen Mädchens.

»Da kommen sie«, sagte Randi Furubø.

Das Mädchen ging geradewegs an uns vorbei in den Flur, ohne etwas anderes zu sagen als ein knappes »Hallo« zur Mutter, die ihr mit einem unbestimmbaren Gesichtsausdruck hinterhersah und mir dann einen resignierten Blick zuwarf, der eine Art von Entschuldigung beinhaltete: Teenager …

Der Mann blieb vor mir stehen.

Sie sagte: »Trond, das hier ist Veum, er ist eine Art Detektiv, und –«

Er wurde dunkelrot im Gesicht. »Was?! Aber wir kommen doch gerade von da unten! Es ist alles in Ordnung. Bereinigt und beglichen.«

»Jetzt komme ich nicht ganz mit«, begann ich.

»Wir haben die Lederjacke zurückgegeben, und ich habe ihr selbst eine neue gekauft!«

»Ja, das hab ich gesehen«, sagte Randi Furubø.

»Die Besitzerin des Ladens war mehr als zufrieden mit dem Resultat. Unter diesen Umständen gebe es keinen Grund, die Polizei zu benachrichtigen, sagte sie.«

»Aber er ist nicht deshalb hier, Trond!«

»Nicht?«

»Nein. Es geht um Torild! Sie ist immer noch verschwunden …«

»Ach?« Er beruhigte sich sichtlich wieder.

»Verstehen Sie, Veum«, sagte sie, »das hier war etwas ganz anderes; sicher nur ein Mißver …«

»Ja, es gibt keinen Grund, ins Detail zu gehen«, fiel ihr Furubø ins Wort, »wenn es gar nicht um die Geschichte geht.«

Er wandte sich wieder an mich. »Aber Sidsel hat doch schon mit Åsa gesprochen. Ich bezweifle, daß wir da noch weiterhelfen können.«

»Aber Ihre Tochter und Torild – sie waren doch Busenfreundinnen, oder nicht?«

»Busenfr … – Sie sind seit der ersten Klasse zusammen zur Schule gegangen, und ihre Eltern waren gute Freunde von uns, jahrelang, der Vater und ich sind Kollegen, aber danach sollten Sie lieber –« Er brach ab.

»Genau das habe ich vor.«

Er sah wieder seine Frau an.

»Wir müssen doch helfen, Trond! Die arme Sidsel, sie muß ganz verzweifelt sein. Und ich habe nicht einmal …«

»Ja ja …« Er wandte sich zu mir. »Aber nicht ohne daß wir dabei sind.«

»Wie Sie meinen.«

Ich sah sicher nicht besonders begeistert aus, denn er fügte rasch hinzu: »Sie haben die Wahl. Entweder reden Sie mit ihr in unserem Beisein, oder Sie reden überhaupt nicht mit ihr!«

»Okay, okay, ich danke für das Angebot.« Ich sah fragend zur Tür. »Dann können wir vielleicht …«

»Ja.«

Randi Furubø hielt die Tür auf, und er ging vor mir hinein.

»Hol du sie. Wir reden hier unten mit ihm.«

Er wies mich zu einer Tür rechts. Ich kam in ein kleines Fernsehzimmer mit einer zerschlissenen Ledergarnitur, Familienfotos an den Wänden, einem Bücherregal mit einer eher zufälligen Auswahl an Büchern und einem kleinen Kamin, neben dem ein Korb mit Holz stand und ein Stapel Zeitungen lag. Die Luft war stickig und kühl, und es roch leicht nach Kalkputz.

Nachdem er seine Jacke im Flur aufgehängt hatte, kam Furubø mir nach.

Ich drehte mich zu ihm um. »Heißt das, Sie sind auch Journalist?«

»Nein, ich habe mit der graphischen Gestaltung zu tun. Das heißt, ich gehöre zu denen, die der Zeitung Form geben.«

»Ich verstehe. Also Sie machen aus Konflikten Kriege und aus Kollisionen Katastrophen, jedenfalls, was die typographische Gestaltung angeht, meine ich?«

Er sah aus, als habe er den Spruch schon mehr als tausendmal gehört. »Falsch«, sagte er scharf. Er erinnerte mich stark an einen Fußballtrainer, der nach einem verlorenen Meisterschaftsspiel die Presse in der Umkleidekabine empfängt. »Diese Entscheidungen werden ein paar Stufen höher in der Rangordnung getroffen.«

»Von Leuten wie Holger Skagestøl vielleicht?«

»Zum Beispiel.«

Von der Tür ertönte ein Räuspern, und Randi Furubø schob ihre Tochter vor sich her in den Raum. »Hier sind wir. Und das ist der Mann, der mit dir reden will, Åsa.«

Sie entwand sich unwillig der Berührung der Mutter, ohne etwas zu sagen.

Ich lächelte und streckte meine Hand aus. »Hallo, Åsa. Varg heiße ich. Varg Veum.«

Trond Furubø schnaubte leise.

Sie gab mir brav und wohlerzogen die Hand, aber mit beinah gänzlich kraftlosem Griff. »Hallo.«

Sie stand hilflos vor mir. Die Lederjacke hatte sie abgelegt, und die weiße Hemdbluse verhüllte so gut sie konnte die Formen ihrer jungen Brüste.

Ich trat einen kleinen Schritt zur Seite und sah auf die Ledergarnitur, aber niemand machte den Vorschlag, daß wir uns setzen sollten.

Furubø sah auf die Uhr, und seine Frau sagte: »Ja, das Essen ist fertig.«

»Es wird nicht lange dauern. Du weißt, worum es geht, Åsa?«

Sie nickte.

»Deine Freundin Torild. Sie ist seit letzten Donnerstag nicht mehr nach Hause gekommen. Hast du eine Ahnung, wo sie sein könnte?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein.«

»Überhaupt keine?«

Sie schüttelte wieder den Kopf, aber diesmal ohne etwas zu sagen.

»Sie hat nicht vielleicht einen Freund, von dem ihre Eltern nichts wissen sollen?«

Sie sah zu Boden. »Nein.«

»Sicher?«

Sie hob den Blick kurz. »Jedenfalls hat sie mir nichts davon erzählt.«

»Bist du ganz sicher?«

»Hören Sie mal, Veum«, fiel Furubø ein, »wenn wir alle Fragen mindestens zweimal stellen, dann wird das hier eine endlose Angelegenheit.«

»Vielleicht sollten Sie einfach raufgehen und anfangen, wenn es so eilig ist? Mit dem Essen, meine ich.«

Seine Gesichtsfarbe wurde wieder dunkler. »Ich habe es draußen gesagt, Veum. Sie haben die Wahl zwischen zwei Möglichkeiten!«

»Ich hab es warm gestellt«, sagte seine Frau beruhigend.

Er starrte sie irritiert, aber wortlos an.

»Es ist okay, Åsa, ich glaube dir. – Aber sag mal … Bist du in letzter Zeit viel mit Torild zusammen gewesen?«

Sie sah zur Seite. »Nicht mehr als sonst.«

»Und was heißt das?«

»Ähm … Ein paar Abende in der Woche.«

»Und was macht ihr dann?«

»Ähm … Sitzen zu Hause und reden. Gehen in die Stadt und ins Kino. Und so.«

»Und so? Und was noch?«

»Ähm … Hamburger essen gehen, und so. Wenn wir Geld haben.« Ein flacher Blick zum Vater. »Rumlaufen und gucken, in Boutiquen, Plattenläden und so.«

»Unten in der Stadt.«

»Ja. Hier oben ist ja nichts los.«

»Und seid ihr dann nur zu zweit?«

»Nein, es sind fast immer noch mehr dabei.«

»Und wer?«

»Ähm, so’n paar, die wir halt kennen, Mädchen aus der Klasse, oder auch welche, die wir von früher kennen, von den Pfadfindern und so.«

»Bist du Pfadfinderin?«

»Jetzt nicht mehr.«

»Ich auch nicht.«

Sie sah mich desinteressiert an.

»Und seid ihr nur Mädchen?«

»Nein. Manchmal treffen wir auch ein paar Jungs.«

»Die aus eurer Klasse?«

»Nein, die … Die sind doch nur blöd!«

»Also welche, die älter sind?«

»Ja.«

»Aber ihr kennt sie?«

»Man lernt sich halt kennen.«

»So gut, daß man weiß, wie sie heißen?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Ein paar schon.«

»Und wo sie wohnen?«

Darauf kaute sie ein wenig herum. »Kann sein.«

Die Mutter bewegte sich unruhig. Der Vater betrachtete mich mit zusammengepreßten Lippen. Aber keiner von beiden sagte etwas zu diesem Zeitpunkt.

»Ist Torild mit einem von diesen älteren Jungs – enger zusammen gewesen?«

Sie sah leer vor sich hin. »Hab ich nichts von gemerkt.«

»Aber es könnte so gewesen sein?«

Wieder zuckte sie mit den Schultern. »Na ja … Vielleicht.«

»Aus welchen Kreisen kamen denn diese Jungs?«

»Kreisen?«

»Ja, ich meine, gingen sie zur Schule, oder?«

»Ein paar gingen aufs Domgymnasium!« sagte sie schnell.

»Und die anderen?«

»Ein paar gehen zur Berufsschule. Und ein paar gehen eben nirgends hin.«

»Arbeitslos?«

»Weiß nicht. Hab sie nicht gefragt. Sind wir jetzt fertig?«

»Ich denke, ja«, sagte der Vater. »Es sieht nicht so aus, als kämen wir viel weiter.«

Ich sah Åsa an. »Und dir fällt überhaupt nichts ein, das uns helfen könnte, Torild zu finden, glaubst du?«

Sie schüttelte stumm den Kopf.

»Hat sie mal davon geredet, irgendwohin zu fahren? Oslo, Kopenhagen?«

»Nee! Wo sollte sie denn das Geld herkriegen?«

»Na ja … Trampen … Es kostet nicht so viel …«

»Wir haben Åsa streng verboten zu trampen!« sagte die Mutter scharf.

»Jedenfalls hat sie nie so was gesagt!« platzte Åsa dazwischen.

»Tja, dann …« Ich schrieb meinen Namen und Telefonnummer auf einen Zettel meines Notizblocks, riß ihn heraus und gab ihn ihr. »Wenn dir was einfallen sollte, dann melde dich bitte bei mir. Falls du nicht gleich mit ihrer Mutter sprichst.«

Sie nahm den Zettel und steckte ihn unbesehen ein.

Als sie zur Tür ging, sagte ich: »Tschüs!«

»Tschüs«, murmelte sie leise und ließ die Tür hinter sich offenstehen.

Randi Furubø machte ein paar zögernde Handbewegungen, verzog etwas unsicher den Mundwinkel, sah zur Decke und sagte: »Ja, ich … Das Essen.«

Wir nickten uns zum Abschied kurz zu.

Trond Furubø begleitete mich zur Tür. Bevor ich hinaustrat, drehte ich mich noch einmal zu ihm um. »Vielleicht wäre es eine gute Idee, wenn Sie und Ihre Frau selbst mit Åsa über die Geschichte reden würdet. Vielleicht ist sie bei Ihnen offener.«

Er antwortete nicht.

»In dem Fall wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie sich bei mir melden würden.«

Er nickte kurz, aber abweisend.

»Die Sache mit der Lederjacke …«

»Ich sagte, das geht Sie nichts an, Veum!«

»Aber es –«

»Auf Wiedersehen!«

Einen Augenblick lang standen wir da und starrten einander an. Aber er kniff die Lippen zusammen, und mir war klar, daß ich handgreiflich werden müßte, um jetzt mehr aus ihm herauszubekommen.

Sobald ich aus der Tür war, wurde sie hinter mir so heftig zugeschlagen, daß ich den Luftzug im Nacken spürte.

Bevor ich wieder nach Hause fuhr, machte ich einen Schlenker über Sædalsveien zum Furudal hinauf.

Ich mußte ein wenig suchen, bis ich die richtige Adresse fand. Dazu gehörte ein großes Einfamilienhaus aus gebeiztem Holz, das sehr aufrecht am Rande eines ziemlich steilen Naturareals stand, mit einer Seitenterrasse, die an einem späten Winternachmittag nicht besonders sonnig war, aber von Mai bis September zweifellos eine günstige Lage hatte.

Der Eingang lag auf der Rückseite, und Sisdel Skagestøl mußte mich vom Fenster aus gesehen haben, denn sie öffnete, noch bevor ich klingeln konnte. »Ja? Haben Sie schon etwas herausgefunden?«

»Nein, tut mir leid. Aber ich habe mit Åsa geredet, und ich habe nur noch ein paar Fragen.«

»Ja?« Sie schob die Tür hinter sich halb zu. »Vibeke und Stian sind zu Hause. Macht es etwas, wenn wir hier draußen bleiben?«

»Nein, nein … In erster Linie wollte ich Sie fragen, ob Sie mir noch weitere Namen von engen Freundinnen von Torild nennen können.«

»Weitere? Mmh, ich weiß nicht … Da sind schon ein paar, aber ich glaube keine, die … enger war.«

»Ihnen fällt kein Name ein?«

»Ich kann Ihnen eine Liste geben, natürlich, aber dann muß ich mich schon hinsetzen und etwas nachdenken. Reicht es, wenn Sie sie morgen bekommen?«

Ich nickte. »Das zweite war … Eine etwas heikle Frage vielleicht. Aber … Ihnen ist nicht aufgefallen, daß Torild in der letzten Zeit mit besonders teuren Klamotten nach Hause gekommen ist?«

»Mit besonders teuren Klamotten! Sie meinen doch nicht etwa, daß –?«

»Es ist nur eine Frage.«

Sie sah mich ein wenig verwundert an. »Aber ich denke jedenfalls, daß ich Ihnen darauf eine ziemlich klare Antwort geben kann. Nein, das ist mir ganz und gar nicht aufgefallen. Und es wäre mir aufgefallen! Alle Kleiderkäufe werden von mir getätigt, oder von uns gemeinsam, wenn es nicht nur eine Jeans oder so was ist, das sie selbst aussuchen kann. Aber sonst … Nein, nichts.«

»Das ist gut.«

»Aber warum fragen Sie so was?«

»Na ja, ich hatte nur den Eindruck, daß es da einen … Vorfall gegeben hätte … Zwischen Åsa und ihren Eltern.«

»Åsa? Darauf wäre ich nie gekommen.«

»Nein. Tja, das war schon alles. Wenn Ihnen nicht noch etwas einfällt?«

»Nein, leider.«

»Ich wollte sowieso morgen in der Schule vorbeischauen. Kann ich dann gleich hier vorbeikommen, wegen der Liste?«

»Ich werde da sein. Wann ungefähr?«

»Irgendwann zwischen zehn und zwölf?«

»Ist gut.« Sie blieb stehen, die eine Hand an der Türklinke. Mit der anderen berührte sie meine Schulter. »Ich hoffe, Sie finden sie!«

»Ich auch.«

Sie öffnete die Tür hinter sich. Dann schenkte sie mir ein blasses Lächeln und verschwand wieder im Haus.

Ich ging den Weg zurück zum Auto und fuhr nach Hause.

 

Gegen halb neun rief Thomas an und fragte, ob er und Mari auf dem Weg zum Bahnhof vorbeikommen könnten.

Wir hatten also nicht mehr als eine knappe Stunde, kaum genug für eine gemeinsame Tasse Tee und eine halbe Flasche Bier. Wir erwähnten weder die Beerdigung noch Stavanger mit einem Wort. Ich wußte nicht, wieviel Beate ihnen von ihren Plänen erzählt hatte.

Danach begleitete ich sie hinunter und blieb am Bahnsteig stehen, und wir unterhielten uns, bis der Zug abfuhr. Als sich der rotbraune Schlafwagen in Bewegung setzte und langsam an mir vorbeiglitt, beugten sie sich zum Fenster hinaus und winkten.

Beim Verlassen des Bahnhofs kam ich an ein paar Teenagermädels vorbei, die alle mit einer Colaflasche in der Hand und einer Zigarette im Mundwinkel die Wartehalle durchquerten. Die Art, wie sie gingen, zeigte, daß zumindeset ein paar von ihnen die Cola mit etwas weitaus Stärkerem gemischt hatten.

Kinder kommen und gehen. Ehe du dich versiehst, sind sie erwachsen und verschwinden. Einige nehmen den Zug nach Oslo, andere nur den Bus in die Stadt. Aber die Richtung ist dieselbe. Sie wollen weg, weg, während die Eltern dastehen und sich fragen, was eigentlich vor sich geht. Oder sich an so einen wie mich wenden, um nach den Gründen zu suchen.

4

Am folgenden Tag lag bitterer Frost in der Luft, der einen kalt und mit feuchten Pranken begrüßte.

Das Auto hatte kaum Zeit gehabt, richtig warm zu laufen, als ich schon vor der Nattland Schule parkte und ausstieg. Das flache Schulgebäude lag am Rande des engen Tals, das Sædal mit Sandalsbotn verbindet, und der Februar hatte seine Runen in Schwarz-Weiß in den steilen Hang auf der gegenüberliegenden Seite geritzt. Die Straßen trugen Namen wie Marsveg und Merkurveg, als erwarteten sie jederzeit Besuch von anderen Orten unseres Sonnensystems und als hätten sie alles getan, damit die Gäste sich wie zu Hause fühlten.

Es war Pause, und auf dem Schulhof konnte man leicht zwischen den Grundschulkindern und denen, die in der Mittelstufe waren, unterscheiden. Die Kleineren waren mit Spielen beschäftigt, die anderen zogen suchend ihre Kreise, die Mädchen Arm in Arm, die Jungs mit den Händen so tief es ging in den Hosentaschen.

Ich ging zum Lehrerzimmer und fragte nach Helene Sandal.

Eine brünette Frau in den Dreißigern mit leicht von Akne verfärbter Haut, ovaler Goldbrille, rotem Pullover und blauen Jeans kam an die Tür.

Ich stellte mich vor und sagte ihr, worum es ging.

Sie nickte ernst. »Kommen Sie herein.« Sie sah durch die offene Tür in ein kleines Büro. »Wir können hier reingehen.«

Die Büroeinrichtung bestand aus einem Schreibtisch, zwei Stühlen und einem Telefon. Auf einer Seite des Schreibtisches lag ein Berg von ungefähr dreißig Arbeitsheften, die darauf warteten, korrigiert zu werden.

»Torilds Mutter hat mich engagiert«, erklärte ich.

»Ich verstehe.«

»Ich war ursprünglich beim Jugendamt, deshalb hab ich … schon öfter mit ähnlichen Fällen zu tun gehabt.«

Sie sah auf die Uhr. »Wie kann ich helfen?«

»In erster Linie wüßte ich gerne Ihre Meinung über Torild, als Schülerin und als … Mensch.«

Sie preßte die Lippen zusammen, um zu zeigen, daß sie nachdachte. »Tja. Sie hat sich verändert.«

»Wie langen kennen Sie sie schon?«

»Seit der Siebten. Fast drei Jahre.«

»Und …«

»Das ist natürlich eine wichtige Phase im Leben eines jungen Menschen. Das wissen Sie genausogut wie ich. Aber …« Sie betrachtete mich zögernd. »Ich weiß nicht, ob Frau Skagestøl Sie über die familiäre Situation informiert hat.«

»Doch. Die ist mir bekannt. Hat man Torild etwas angemerkt?«

»Das ist etwas schwer zu sagen. Ich hatte eigentlich das Gefühl, daß sie schon vorher am Schwimmen war.«

»Und was meinen Sie mit am Schwimmen?«

»Tja, ich … Als ich sie in der Siebten bekam, war sie eine ganz normale Schülerin, fachlich gesehen besser als der Durchschnitt, gar kein Zweifel, nett und freundlich und … wie gesagt, ganz normal. In der achten Klasse … Das ist eine etwas schwierige Klassenstufe. Wer die Neigung hat, der Schule überdrüssig zu werden, wird es häufig in dieser Klasse. Die Grundschuljahre sind endgültig vorbei. Die Lehrer stellen strengere Anforderungen. Aber gleichzeitig wirkt der Weg bis zum Ende der 10. noch sehr weit. Ich will nicht sagen, daß Torild zu denen gehörte, die die Schule satt hatten. Sie machte ihre Aufgaben pflichtbewußt, jedenfalls die schriftlichen. Mit den mündlichen war sie manchmal ein wenig lasch. Aber besorgniserregender war der Eindruck, daß sie – wie soll ich sagen – sich ausklinkte? Sie war in den Stunden unaufmerksam, und sie … Oft konnte ich an ihrem Blick sehen, daß sie völlig abwesend war.« Sie sah aus dem Fenster. »Sie saß nur da und schaute raus.«

Ich folgte ihrem Blick. Auf den Bäumen des Tals bis hinunter nach Sandalen lag eine weiße Rauhreifdecke. Das gesamte Bild hatte etwas Unveränderliches, als sei die Zeit freiwillig stehengeblieben, und als habe eine Phase des ewigen Frostes begonnen. »Sie sind doch sicher im Bilde … Hatten Sie den Eindruck, daß Drogen mit im Spiel waren?«

Sie nickte schwach. »Ich würde es nicht ausschließen.«

»Haben Sie die Eltern davon unterrichtet?«

»Ja. Ich hatte ein Gespräch mit der Mutter.«

»Mit dem Vater nicht?«

»Nein. Es war ihm nicht möglich, zu kommen.«

»Gab es danach eine Veränderung?«

»Eine Weile wurde es vielleicht besser. Sie schien sich zusammenzureißen. Aber dann … dann fing es wieder an.«

»Und Sie haben die Eltern noch mal darauf angesprochen?«

»Ja, aber … Diesmal nur telefonisch. Es sind uns trotz allem Grenzen gesetzt, wieweit man sich um jeden einzelnen Schüler kümmern kann. Es gibt andere, die zum Beispiel fachlich viel größere Probleme haben. Und noch andere kommen aus instabilen Familienverhältnissen. Wir haben Einwandererkinder und einen Integrationsfall mit einer Körperbehinderung. Kurz gesagt –«

Eine Schulglocke läutete. Sie stand auf. »Ich muß gehen. War sonst noch etwas?«

»Ja, selbstverständlich. Können Sie mir noch ein paar Minuten schenken?«

»Na ja, okay.« Sie blieb stehen, wie um zu unterstreichen, daß es nicht viele werden durften.

»Ich möchte nur wissen … Hatte sie enge Freundinnen, vielleicht welche, die sie beeinflußt haben? Haben Sie noch bei anderen ähnliche Anzeichen festgestellt?«

Ihr Gesicht verspannte sich ein wenig. »Ich kann mich nicht genauso frei über andere äußern, ohne die Erlaubnis der Eltern.«

»Ich habe schon mit Åsa Furubø gesprochen. Sie waren viel zusammen, wie mir scheint.«

»Ja, das stimmt wohl.«

»Gab es andere?«

»Astrid vielleicht. Nikolaisen.«

»Wie ist sie?«

»Wie gesagt, ich kann nicht … Aber«, sie tippte mit dem Zeigefinger auf ihre Armbanduhr, »ich muß gehen.«

»Gibt es eine Möglichkeit, Astrid und Åsa hierher zu schicken? Damit ich mit ihnen sprechen kann?«

»Åsa vielleicht. Astrid fehlt heute.«

»Ach ja? Wie lange fehlt sie denn schon?«

»Seit gestern. Diese Woche«, sagte sie trocken.

»Torild war ja auch nicht in der Schule an dem Tag, als sie verschwand. Kam das häufiger vor?«

»Ziemlich oft. Aber sie hatte hinterher immer Entschuldigungen dabei.« Mit einem bitteren Lächeln fügte sie hinzu: »Aber nach dem, was ich jetzt gehört habe, waren sie vermutlich gefälscht.«

»Ich verstehe. Ist es in Ordnung, wenn ich dieses Büro benutze?«

Sie sah sich um. »Wenn niemand sonst hier rein will, dann – Ich denke, ja. Wenn Sie warten, dann schicke ich Ihnen Åsa her.« Mit einem kurzen Nicken verließ sie mich.

Ich stellte mich in die Türöffnung und wartete. Das Lehrerzimmer war so gut wie leer. In einer Sofaecke saß ein verhältnismäßig junger Mann in kariertem Flanellhemd und brauner Cordhose und las Zeitung. Auf den Tischen lagen eine Handvoll Zeitschriften und ein paar Tageszeitungen. Die Tische waren mit kleinen Kreuzstichläufern und einem nicht brennenden Teelicht in der Mitte dekoriert, und an einer Kante stand eine in Eile zurückgelassene Kaffeetasse. Vermutlich die von Helene Sandal.

Der Mann mit der christlichen Tageszeitung sah verstohlen in meine Richtung, als überlegte er, ob ich ein getarnter Verhütungsmittel-Vertreter sei, der sich mit den Taschen voller Gratisproben auf das Schulgrundstück geschlichen hatte, um ungehindert eine Kampagne gegen die jungen, schutzlosen Seelen zu starten.

Es klopfte, die Tür zum Korridor ging auf, und mit neugierigem Gesichtsausdruck kam Åsa herein. Als sie mich erkannte, konnte sie ihre Enttäuschung nicht verbergen.

»Hallo, Åsa!« sagte ich gekünstelt locker als der Sozialarbeiter, der ich nun einmal war.

Sie sah zu dem Lehrer in der Ecke, als hoffte sie, er könnte sie aus der unangenehmen Situation retten.

»Ich dachte … Es gibt vielleicht ein paar Dinge, über die du leichter reden kannst, wenn deine Eltern nicht dabei sind.«

»Oh?«

»Komm hier herein, dann setzen wir uns …«

»Kann ich mich nicht weigern?«

Ich wartete ein wenig mit der Antwort. »Welchen Grund solltest du dafür haben?«

Sie sah weg. »Na ja, ich …«

»Hast du etwa was zu verbergen?«

»Was sollte das sein?«

»Keine Ahnung. Gäbe es sonst einen Grund, nicht auf meine Fragen zu antworten?«

Sie ließ sich auf den Stuhl fallen und blieb in einer lässigen, halb abgewandten Stellung sitzen, die ihrem Rücken auf die Dauer sicher kaum gutgetan hätte.

»Ich denke an – wonach ich dich gestern gefragt habe. Mit mir kannst du ganz offen sprechen, Åsa. Ich werde deinen Eltern kein Wort erzählen. Alles, was ich brauche, sind ein paar Informationen, die mir dabei helfen können, herauszufinden, wo Torild abgeblieben ist.«

Sie sah mich feindselig an. »Na gut!«

»Also … Wann hast du sie zuletzt gesehen?«

Sie war überrumpelt. »Wann ich sie zuletzt gesehen habe? Das war an dem Tag, als wir … Sie …«

»Ja?«

»Am Tag bevor sie verschwand.«

»Mittwoch letzter Woche?«

»Ja, dann war es wohl Mittwoch!«

»Wo hast du sie gesehen?«

»Wo? Was meinen Sie?«

»Na, dann laß es mich anders ausdrücken. Was habt ihr gemacht?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Wir sind in die Stadt gefahren. Rumgelaufen, wie immer.«

»Ja, erinnerst du dich, wo ihr wart?«

»Äh, nee … wir sind einfach nur so rumgelaufen.«

»Ihr wart nicht im Kino?«

»Nein.«

»Irgendwo ’ne Cola trinken?«

»Nein, ich glaub nicht.«

»Wenn ihr ’ne Cola getrunken hättet, wo könnte das dann gewesen sein?«

»Ähm … Burger King … Oder ’ne andere Snackbar.«

»Aber das weißt du also nicht mehr?«

»Nein.«

»Wart ihr zu zweit oder waren noch andere dabei?«

»Noch andere.«

»Und wer?«

»Äh …«

»War Astrid dabei?«

»Astrid Nikolaisen?«

»Ja?«

»Vielleicht.«

»Wart ihr oft mit ihr zusammen?«

»Oft zusammen? Warum wollen Sie das wissen? Hat Helene was gesagt?«

»Was sollte sie gesagt haben?«

»Na ja …«

»Weißt du, warum Astrid heute nicht in der Schule ist?«

Sie grinste plötzlich. »Es ist nicht das erste Mal.«

»Wie – nicht das erste Mal?«

»Sie kommt in die Schule, wenn sie Bock hat.«

»Aha. Ich verstehe.«

»Nee, tun Sie nicht!«

»Ach nein? Und was verstehe ich deiner Meinung nach nicht?«

Sie sah mich trotzig an, ohne zu antworten.

»Seid ihr zusammen nach Hause gefahren? Du und Torild, meine ich.«

»Nein, wir – Ich bin früher zurückgefahren.«

»Solltest du zu einer bestimmten Zeit zu Hause sein?«

»Ja. Halb elf.«

»Und was hat sie dann gemacht?«

»Das weiß … Ich kann mich nicht erinnern.«

»Nein?«

»Nein!«

»Und du bist sicher, daß das am Mittwoch war, und nicht am Donnerstag?«

»Ja, ich glaube schon«, sagte sie und blickte zur Seite.

Ich fing an einem anderen Ende an. »Das mit dieser Lederjacke, die dein Vater –«

»Ja, was soll damit sein?«

»Hattest du die … gestohlen?«

Ihr Blick flackerte, und sie bewegte stumm die Lippen, als übte sie im stillen an einer Antwort, bevor sie sie herausließ. Schließlich sagte sie nur: »Ja.«

»Habt ihr das öfter gemacht?«

»Nein! Jedenfalls nicht so teure Sachen.«

»Nur so’n bißchen Kleinkramklauerei?«

»Tun das nicht alle?«

»Tun sie das?«

»Meine Güte, sind Sie blöd! Wenn Sie hören würden –«

»Was passierte zu Hause?«

»Na ja … Ich war so dumm, sie mit nach Hause zu nehmen. Ich hätte sie ja …«

»… zurücklassen können?«

»Ja!«

»Und wo?«

Sie antwortete nicht.

»Okay. Deine Eltern haben es also gemerkt. Und dann?«

Sie zögerte. »Mein Vater … Er wurde wütend. Sagte, ich sollte sie zurückgeben, daß wir runter in den Laden gehen müßten und erzählen, was ich gemacht hatte, und dann … Na ja, das haben wir dann auch gemacht.«

»Welcher Laden war das?«

»Die Lederboutique.«

»Und dann kaufte er dir eine neue?«

Sie nickte. »Mmh.«

»Als eine Art Belohnung?«

»Ja, stellen Sie sich vor! Eine Belohnung dafür, daß ich freiwillig mitgekommen war, daß ich es zugegeben hatte, und weil er … Irgendwie hat er wohl kapiert, daß ich eine brauchte!«

»Eine neue Lederjacke?«

»Ja!«

»Ich verstehe …«

»Das …!« Aber diesmal unterbrach sie sich selbst. »Sind wir jetzt fertig?«

»Nicht ganz.«

Ich hielt inne, und sie sah mich ungeduldig an. »Ich muß zurück in den Unterricht!«

Ich lächelte leicht, als sei es das erste Mal, daß ich eine Schülerin der Mittelstufe so etwas sagen hörte. »Es war doch Donnerstag, stimmt’s? Als du sie das letzte Mal gesehen hast?«

Sie wurde rot. »Na ja, kann schon sein!« Sie stand auf und ging zur Tür. Ohne sich umzusehen, fügte sie hinzu: »Wenn Sie es sagen!«

Sie versuchte, die Tür mit Schwung hinter sich zuzuknallen, aber die war nicht dafür konstruiert. Sie glitt nur einfach mit einem leisen Seufzer ins Schloß, wie hinter einem resignierten Klassenlehrer.

5

Sidsel Skagestøl öffnete die Tür hastig, als glaubte sie, es wäre Torild, die an der Tür geklingelt hätte.

Als sie sah, wer es war, trat sie zur Seite. »Kommen Sie herein.« Sie sah mich fragend an. »Haben Sie etwas …?«

»Nein, leider. Noch nichts Konkretes. Ich …«

»O Gott! Ich habe solche Angst, Veum. Wo kann sie denn sein?«

»Das müssen wir versuchen, herauszufinden.«

»Ja … natürlich. Entschuldigen Sie.«

»Ich verstehe Sie doch.«

Sie trug Jeans und eine weiße Hemdbluse, von der ich unter dem blauen Wollpullover nur den Kragen und die Manschetten sah. Ihr Haar war locker und luftig, als hätte sie es gerade gewaschen und gefönt, und sie bewegte sich mit einer jungmädchenhaften Anmut durch den Raum, einer Mischung aus Schüchternheit und Sinnlichkeit.

Sie wies mit der Hand zur Garderobe. »Sie können da ablegen.«

Ich tat, was sie mir sagte, folgte ihr durch den Flur, an der Küche vorbei, die nach hinten hinaus lag, und gelangte in ein großes, offenes Wohnzimmer, das ebenso großzügig möbliert war wie der Ausstellungsraum eines Möbelgeschäfts. Eine pflaumenfarbene Ledergarnitur füllte den Raum vor den großen Fensterfronten nach Süden und Osten, während eine Eßecke in dunkelbrauner Eiche den Schwerpunkt am anderen Ende des Raumes, direkt vor der Küchentür bildete. Mitten im Raum standen ein weiteres Ecksofa und drei Sessel in Dunkelgrün bei einem flachen, schwarzen Couchtisch. Es sagt etwas über die Größe des Raumes, daß er trotzdem nicht überfüllt wirkte. Es gab reichlich freie Fläche, wo sich die Kinder tummeln konnten, wenn man sie ließ.

Aus einem Radio, zentral plaziert in einem großen, dunklen Wandregal, strömten vormittagsfrische Klänge in den Raum. Sie hatte auf dem dunklen Couchtisch für zwei gedeckt. »Ich habe ein paar Brötchen geschmiert und Wasser aufgesetzt. Jetzt muß nur noch der Kaffee durchlaufen, dann – Wenn Sie möchten?«

»Danke, gern.«

»Da liegen Zeitungen …« Sie zeigte auf die zwei Bergenser Zeitungen, die zusammengefaltet neben dem weißen Kaffeeservice lagen, als sei sie eine Sekretärin, die für ihren Chef einen Lunch zubereitet hatte.

Ich blätterte ein wenig in einer Zeitung, während sie in der Küche war und den Kaffee kochte. In Møhlenpris hatte es eine Drogenrazzia gegeben, und zwei Fünfzehnjährige hatten am Tag davor gegen 15.30 Uhr eine Post in Åssane überfallen. Die Razzia endete damit, daß zehn Personen verhaftet wurden, weil sie im Besitz unterschiedlicher Mengen von Drogen waren, hauptsächlich Haschisch und Tabletten. Die beiden Fünfzehnjährigen wurden eineinhalb Stunden später festgenommen, nachdem sie gerade mal achtzig Kronen für Hamburger und Cola an einem Kiosk ausgegeben hatten. Im letzten Jahr waren in Bergen zwei neue Fälle von Aids registriert worden, beide aus dem Drogenmilieu, und die Gesundheitsbehörde warnte, daß es für Heterosexuelle keinen Grund gäbe, sich sicherer zu fühlen als für Homosexuelle.

Da waren die Comics schon lustiger.

Sidsel Skagestøl kam mit einer weißen Thermoskanne in der einen und einem Teller mit aufgeschnittenen Brötchen in der anderen Hand zurück. Sie stellte den Teller ab und schenkte uns beiden Kaffee ein, nachdem ich die Frage, ob ich etwas hinein haben wolle, mit Nein beantwortet hatte.

Einen Augenblick saßen wir stumm da.

Dann nickte sie zum Teller. »Bitte schön.«

»Danke.« Ich nahm ein Brötchen mit Ziegenkäse und roter Beete. »Sie haben offensichtlich noch nichts von ihr gehört?«

»Nein, hab ich nicht … Und Sie? Haben Sie mit jemandem gesprochen?«

Ich nickte. »Mit Åsa und ihren Eltern und mit Helene Sandal.«

»Und … konnten sie Ihnen irgendwas sagen?«

»Vorläufig habe ich mehr Fragen als Antworten.«

»Wie zum Beispiel –«

»Diese Liste, von der wir beim letzten Mal sprachen, von ihren Freundinnen. Haben Sie die fertig?«