Die Schuld - Samuel W. Gailey - E-Book

Die Schuld E-Book

Samuel W. Gailey

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  • Herausgeber: Polar Verlag
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2024
Beschreibung

Seit dem tragischen Unfall, der ihre Kindheit brutal beendete, wird Alice O'Farrell von ihrer Vergangenheit heimgesucht. Im Jahr 2005 musste sie auf ihren vierjährigen Bruder Jason im Haus ihrer Eltern aufpassen. Er bemalte ihr Schlafzimmer mit Fingernagellack und sie schrie ihn an, sodass er sich verzog. Während sie die Spuren zu beseitigen versuchte, machte er sich auf den Weg in den Keller und schafft es, sich im Trockner einzuschließen, wo er starb. Von Schuldgefühlen geplagt, rannte Alice von zu Hause weg. Sie lebte auf der Straße unterm Radar, ertränkte ihre Schuld in Alkohol und zog häufig weiter, um nicht gefunden zu werden. Sechs Jahre später ist sie Alkoholikerin und arbeitet als Barkeeperin in einem heruntergekommenen Striplokal in Harrisburg. Als sie nach einer betrunkenen Nacht neben der Leiche ihres Chefs aufwacht, findet sie eine Tasche mit Drogen und 91.000 Dollar in bar. Das Geld könnte einen Ausweg sein. Es folgt eine gnadenlose Hetzjagd, angeführt von Sinclair, einem mächtigen Drogenhändler, der unerbittlich und brutal ist. Doch Alice klammert sich an die Hoffnung, dass sie ihr Leben ändern kann. Dass die Dinge besser werden. Dass sie sich eines Tages mit ihren Eltern versöhnen und sie ihr vergeben werden.

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Samuel W. Gailey

Die Schuld

Aus dem Amerikanischen von Andrea Stumpf

Herausgegeben von Wolfgang Franßen

Polar Verlag

Originaltitel: The Guilt We Carry

Copyright: © 2019 by Samuel W. Gailey

The Guilt We Carry originally published in the United States of Americaby Oceanview Publishing

Deutsche Erstausgabe, 1. Auflage 2024

Aus dem Amerikanischen von Andrea Stumpf

Mit einem Nachwort von Carsten Germis

© 2024 Polar Verlag e.K., Stuttgart

www.polar-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) oder unter Verwendung elektronischer Systeme ohne schriftliche Genehmigung des Verlags verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Redaktion: Gabriele Wehrbeck

Korrektorat: Andreas März

Umschlaggestaltung: Robert Neth, Britta Kuhlmann

Coverfoto: © Cavan / Adobe Stock

Autorenfoto: © Amanda Demme

Satz/Layout: Martina Stolzmann

Gesetzt aus Adobe Garamond PostScript, InDesign

ISBN: 978-3-948392-96-3

eISBN: 978-3-948392-97-0

Für meine beiden Mädchen Ayn und Gray

Inhalt

Kapitel 1: Mai 2005

Kapitel 2: September 2005

Kapitel 3: Februar 2011

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7: Oktober 2005

Kapitel 8: Februar 2011

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11: November 2005

Kapitel 12: Februar 2011

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15: November 2005

Kapitel 16: Februar 2011

Kapitel 17

Kapitel 18: November 2005

Kapitel 19: Februar 2011

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23: November 2005

Kapitel 24: Februar 2011

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29: Dezember 2005

Kapitel 30: Februar 2011

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Danksagung

Im Geschirr der Schuld: Ein Nachwort von Carsten Germis

Sinclair hatte sie gefragt, wie das Geräusch geklungen hatte, aber sie hatte nicht darauf geantwortet.

Niemand – weder ihre Eltern noch ihre Therapeutin, nicht einmal die Polizei – hatte ihr jemals diese Frage gestellt.

Und wenn sie es getan hätten? Was hätte sie geantwortet?

Das Echo würde Alice für den Rest ihres Lebens verfolgen. An sich war an dem Geräusch nichts Ungewöhnliches – es war kein grauenerregender Schrei, kein verzweifeltes Weinen und auch nicht das Sirenengeheul eines vorbeifahrenden Rettungswagens, nein, nichts dergleichen. Vielmehr war es ein sich stetig wiederholendes Rumpeln von tief unten, etwas scheinbar Harmloses wie das Trommeln des Regens in jener Nacht, das Brummen einer Klimaanlage oder das Summen von Reifen auf Asphalt. Dieses spezifische Geräusch wäre für viele nichts weiter als ein Hintergrundrauschen, eine kurze Irritation für andere, aber Alice würde das Rumpeln und die fürchterliche Spur, die es in ihrem Gedächtnis hinterlassen hatte, niemals wieder loswerden …

Kapitel 1

Mai 2005

Es war seltsam, wie anders Geräusche unter Wasser klangen. Alles klang gedämpft, verzerrt, weit entfernt. Unter Wasser empfand Alice eine tiefe Ruhe und Klarheit, spürte sie sich. Wenn sie von Wasser umgeben war, versank alles andere in Bedeutungslosigkeit. In der Schwerelosigkeit war sie befreit – von Familie, Freunden, Schule, Jungs –, ihre Fesseln lösten sich auf wie Luftbläschen, die an der Oberfläche zerplatzten. Hier fühlte Alice sich zu Hause – ein winziger Ausschnitt des Universums, der ihr gehörte, ihr allein, und es gab keinen Ort, an dem sie lieber gewesen wäre.

Alice drehte den Kopf nach rechts, pumpte Luft in ihre Lunge und tauchte das Gesicht wieder in das warme kristallblaue Nass. Hinter ihr hörte sie zwanzig Beine und zwanzig sehnige Arme durch das Wasser schneiden. Ein rhythmisches Schlagen, Peitschen, Klatschen. Es kam näher. Ihre schärfste Konkurrentin war vielleicht zwei, drei Längen hinter ihr. Der Lärm trieb Alice an, schneller zu werden, die Meute auf Abstand zu halten.

Sie konzentrierte sich auf jeden Zug, wendete gerade genug Kraft auf, um ihre Geschwindigkeit beizubehalten, aber auf keinen Fall zu viel, um nicht die geringen ihr noch verbliebenen Reserven aufzubrauchen. Bald, sehr bald, würde sie sie ohnehin mobilisieren müssen.

Wieder drehte Alice den Kopf. Atmete ein. Jetzt musste sie die letzte Stufe zünden. Schneller, schneller, schneller, jagte es ihr durch den Kopf. Ihr Körper reagierte, die Beine schlugen schneller, die Arme schoben mit mehr Kraft. Wasser perlte von ihrer blassen, sommersprossigen Haut. Der Schwimmanzug, eine zweite Haut, spannte sich um ihre athletische Figur – der perfekte Körper einer fünfzehnjährigen Schwimmerin. Ihre dunkelbraunen Haare steckten unter einer Latex-Badekappe, eine verspiegelte Schwimmbrille verbarg ihre grünen Augen und tauchte alles über ihr, unter ihr, um sie herum in Bernsteingelb.

Alice machte sich bereit zur letzten Wende, tauchte unter die Chloroberfläche, zog die Knie eng an die Brust und stieß sich kraftvoll von der Betonwand ab. Sie glitt durchs Wasser und kam nach oben, um wieder Luft zu holen. Für die letzte Bahn schloss sie wie immer die Augen, auf ihre Instinkte vertrauend, vor allem aber auf ihre Ohren. Rechts und links von ihr hörte sie gedämpft die anderen durchs Wasser pflügen. Die Schwimmerin auf der fünften Bahn war zwei Längen hinter ihr. Die auf der dritten Bahn vier Längen. Die anderen mussten erst noch die Wende machen.

Schneller.

Ihr Herz trommelte in der Brust. Ihre Lunge brannte. Arm- und Beinmuskeln zogen sich zusammen und wurden hart, bis an die Grenze zum Krampf.

Alice ließ einen Schleier über den Schmerz fallen, trieb sich noch unerbittlicher an. Sie wollte gewinnen, wollte noch ein paar wertvolle Sekundenbruchteile gutmachen. Der Sieg reichte ihr nicht – es ging darum, ihre persönliche Bestzeit zu unterbieten.

Die Augen fest geschlossen, schwamm sie in völliger Dunkelheit und war schon fast am Ziel, ohne im Tempo nachzulassen. Alice kannte die genaue Zahl an Schwimmzügen, die sie noch bis zum Anschlagen brauchte.

Noch nicht, noch nicht.

Die von Bahn fünf holte auf. Eine Länge noch. Alice drehte ein letztes Mal zum Luftholen den Kopf, die Augen zusammengekniffen. Sie hörte die begeisterten Anfeuerungsrufe vom Beckenrand, spürte das donnernde Klatschen und das Trampeln auf der Fiberglastribüne im Wasser. Alles schraubte sich einem rasenden Höhepunkt entgegen – die Schläge, das angestrengte Stöhnen, das verzweifelte Luftholen der anderen Schwimmerinnen.

Bahn fünf kam näher. Eine halbe Länge.

Angst zu verlieren durchzuckte Alice.

Schneller.

Sie aktivierte das letzte Quäntchen Kraft. Arme und Beine holten zum letzten Zug aus.

Schneller.

Im allerletzten Moment streckte sie den Arm weit aus, bis ihre Fingerspitzen die raue Betonwand antippten. Dann brach sie durch die Wasseroberfläche, streckte die Hände hoch zum Beckenrand, zog sich heran, ließ den Kopf in den Nacken fallen und rang nach Luft, als wäre es das letzte Mal.

Von allen Seiten waren Schreie und schrille Pfiffe zu hören, sie hallten von den Wänden und der aufgewühlten Wasseroberfläche wider. Alice musste nicht auf die Anzeige sehen, um zu wissen, dass sie ihre Bestzeit unterboten hatte.

Ein Lächeln breitete sich über ihrem Gesicht aus. Sie hielt die Augen geschlossen, um den Jubel zu genießen und den flüchtigen Moment des Triumphs.

Kapitel 2

September 2005

Zwischendurch glaubte sie, dass ihre Eltern gar nicht mehr gehen würden. Ständig fiel Alice’ Mutter noch etwas ein, was sie tun musste – sie spülte das Geschirr, ging die Post durch, wechselte zweimal den Mantel. Alles, um den Aufbruch hinauszuzögern.

Ich krieg das hin, sagte Alice mehr als einmal zu ihrer Mutter.

Das Taxi draußen hupte – zum vierten Mal.

»Jetzt geht endlich«, drängte Alice.

Ihre Mutter biss sich auf die Unterlippe und sah zur Tür. »Bist du sicher, dass du das schaffst?«

»Mom. Also echt.«

Endlich, endlich schlüpfte ihre Mutter in den dritten Mantel und nahm Schirm und Handtasche. Ihr Vater schob sie zur Tür und wechselte einen stummen Blick mit Alice. Es war erst das zweite Mal, dass die beiden Alice mit ihrem vierjährigen Bruder Jason allein ließen.

Sie stand am Fenster und sah zu, wie das Taxi mit ihren Eltern aus der Einfahrt stieß und die Straße hinunter verschwand. Sie seufzte.

Endlich.

Ihre Eltern wollten ihren zwanzigsten Hochzeitstag feiern. Mit dem Taxi fuhren sie, damit sie sich nach dem Abendessen noch ein paar Drinks in einer Bluesbar genehmigen konnten – derselben Bluesbar am Strand von Wilmington, in der sie sich vor einundzwanzig Jahren kennengelernt hatten.

Vor ein paar Monaten hatte Alice ihre Eltern angebettelt, keinen Babysitter für sie und ihren Bruder mehr zu engagieren. Sie war fünfzehn – viel zu alt für einen Babysitter. Keine ihrer Freundinnen hatte noch einen, und sie zogen sie schon auf und nannten sie Little Alice. Schließlich schaffte sie es, ihre Eltern davon zu überzeugen, dass sie erwachsen genug war, um ein paar Stunden auf sich und Jason aufzupassen. Außerdem könnten sie ihr die Hälfte dessen geben, was sie einem Babysitter zahlten – das zusätzliche Taschengeld konnte sie gut gebrauchen. So hatten alle etwas davon.

Am ersten Abend, an dem ihre Eltern ausgegangen waren, hatte Alice bewiesen, dass sie sich auf sie verlassen konnten. Allerdings hatte ihre Mutter sie ein halbes Dutzend Mal auf dem Handy angerufen, um sich nach allem Möglichen zu erkundigen: Ist die Haustür abgeschlossen? Jason soll keine Filme ansehen, die ihm Angst machen. Sorg dafür, dass er sein Abendessen isst. Denk daran, dass er heute Abend gebadet werden muss. Worauf Alice antwortete: Ja. Okay. Jason hat Käsenudeln gekriegt. Ich stecke ihn nicht in die Wanne, ein warmer Waschlappen reicht. Alice schaffte es sogar, ihn um halb acht mit seinem Lieblingsbuch, König Pups, ins Bett zu locken. Als ihre Eltern nach Hause kamen, lag Jason brav im Bett, und Alice machte Hausaufgaben. Ihre Eltern waren beeindruckt und gaben ihr sogar zehn Dollar mehr als ausgemacht. Sieg auf ganzer Linie.

Alice hatte erfolgreich ihren Einstand als Babysitterin gegeben. Was sollte da dieses Mal schiefgehen?

Sie öffnete den Kühlschrank und goss sich die erste Cola des Abends ein.

• • •

Bereits nach einer Stunde sehnte Alice die Rückkunft ihrer Eltern herbei. In Minute zwanzig hatte Jason ihren Nagellack entdeckt und beschlossen, die Tapete in ihrem Zimmer mit quietschroten Punkten zu verzieren. Ihre Eltern würden es einen Jason Pollock nennen. Egal ob mit Kreide oder Kuli, ob auf Wände oder Küchenschränke gekritzelt, aus irgendeinem Grund fanden ihre Eltern Jasons Machwerke grundsätzlich entzückend oder beeindruckend. Schau dir mal Jasons Meisterwerk an, rief ihre Mom, stemmte die Hände in die Hüften und schüttelte lächelnd den Kopf, als wären die Schmierereien das Tollste überhaupt. Wenn er groß ist, wird er Künstler. Maler. Irgendetwas Kreatives. Wetten?

Jason verteilte den Nagellack nicht nur über ihre Wände, er schaffte es auch, ihn auf ihren Flokati zu kleckern und auf ihre neue Tagesdecke – besser gesagt ihre brandneue Tagesdecke, die sie gerade erst zum Geburtstag bekommen hatte. Eigentlich durfte Jason Alice’ Zimmer gar nicht betreten, weil er immer alles durcheinanderbrachte und ihre Sachen verstreute. Seine letzte Großtat hatte ihm ein endgültiges Betretungsverbot eingebracht. Aber von wegen. Ihr Psychologielehrer hätte es als Freud’sche Meisterleistung bezeichnet, dass Jason ihre Schwimmmedaillen zusammengesucht und eine nach der anderen im Klo runtergespült hatte.

Als sie jetzt in ihr Zimmer kam und Jason dabei erwischte, wie er ihre Tapete bemalte, flippte sie aus. Sie schrie ihn an. Schüttelte ihn. Nannte ihn eine blöde Nervensäge und sagte noch andere Sachen, die sie gleich darauf bereute. Jason sah mit seinen großen grünen Augen zu ihr hoch. Einen Moment lang dachte sie, er würde anfangen zu heulen, aber dann verzog sich sein winziges Gesicht trotzig. Er funkelte sie an, streckte ihr die Zunge raus, ließ das Nagellackfläschchen fallen und stapfte aus dem Zimmer.

Trotz alldem, trotz seiner Wutanfälle, seines ständigen Einforderns von Aufmerksamkeit, seiner überall herumliegenden Superheldenfiguren und der Verantwortung für den kleinen Bruder, die ihr qua Alter automatisch zufiel, liebte Alice Jason. Sie brachte ihm Schwimmen bei, und auch Jason bewegte sich im Wasser wie ein Fisch. Klar, es lagen elf Jahre zwischen ihnen, und sie hatten wenig Gemeinsamkeiten, aber seine Energie war ansteckend. Und auch wenn sie es nur ungern zugab, Jason sorgte dafür, dass das Leben zu Hause nicht eintönig wurde, und ließ alles ein wenig unvorhersehbarer werden, was nicht unbedingt das Schlechteste war.

Der Spiritus brannte an ihren Händen, dabei hatte sie erst die Hälfte der Schmierereien von den Wänden entfernt, als sie ein Klopfen hörte.

KA-WUMM. KA-WUMM. KA-WUMM.

Unablässig trommelte der Regen auf die Dachschindeln, aber als Alice genauer hinhörte, vernahm sie das dumpfe Klopfen, das durchs ganze Haus hallte. Es schien von unten zu kommen. Wahrscheinlich lag Jason auf dem Boden und trat mit seinen Keds gegen die Wand, entweder weil er einen Wutanfall hatte, nachdem sie ihn aus ihrem Zimmer geworfen hatte, oder weil er wieder einmal so tat, als würde er Karate üben. Jedenfalls war das Geräusch nervig. Als Alice in dem Alter war, hätte man ihr so etwas nie durchgehen lassen. Ein Engel war sie zwar auch nicht gewesen, aber wenn sie einen Wutanfall hatte, wurde sie aus dem Zimmer geschickt oder bekam einen kräftigen Klaps auf den Hintern. Jason dagegen kam mit allem durch. Jason, das kleine Wunderkind.

Nach Alice’ Geburt hatten die Ärzte ihrer Mutter erklärt, dass sie nicht mehr schwanger werden könnte. Irgendwelche Verwachsungen in der Gebärmutter nach der schwierigen Geburt würden eine weitere Schwangerschaft verhindern. Ihre Eltern fanden sich damit ab, dass sie nur ein Kind haben würden, und überhäuften Alice zehn Jahre lang mit all ihrer Liebe. Zehn Jahre lang war sie der Mittelpunkt der Welt. Dann geschah das Undenkbare, und ihre Mutter wurde erneut schwanger.

KA-WUMM. KA-WUMM. KA-WUMM.

Das Klopfen hörte nicht auf. Es klang geradezu trotzig. Ja, dachte Alice, ihr kleiner Bruder hatte einen Wutanfall. Nur um Aufmerksamkeit zu kriegen.

Sie starrte auf die Nagellackflecken auf dem Teppich und der Tagesdecke und wusste, dass sie sie nie mehr rauskriegen würde. Die Decke war hinüber.

KA-WUMM. KA-WUMM. KA-WUMM.

»Jason! Es reicht!«, brüllte Alice, so laut sie konnte.

Gleich war es Viertel nach sieben und an der Zeit, Jason in seinen Schlafanzug zu stecken. Das Klopfen hallte immer noch durchs Haus, und jetzt fing auch noch Baxter an, wie irre zu bellen. »Jason, wenn du nicht sofort aufhörst, werde ich es Mom und Dad erzählen.«

Er hörte nicht auf. KA-WUMM. KA-WUMM. KA-WUMM. Baxter bellte immer wilder. Alice rannte die Treppe ins Erdgeschoss hinunter. Dort unten war das Klopfen und Bellen noch lauter.

»Jason?« Sie steckte den Kopf durch die Küchentür, aber dort war er nicht. Dann sah sie im Wohnzimmer und im Arbeitszimmer ihres Vaters nach – auch hier war Jason der Zutritt streng verboten, was ihn jedoch erst recht zu verlocken schien. Nirgendwo war etwas in Unordnung gebracht oder kaputt. Kein herumstampfender Jason.

Erneut sah sie im Wohnzimmer nach, danach im Badezimmer. Immer noch kein Jason.

Schließlich bemerkte Alice, dass die Kellertür einen Spaltbreit offen stand. Es war nur ein Zentimeter, aber bei dem Anblick setzte ihr Herz einen Schlag aus. Die Tür sollte verriegelt sein, damit Jason nicht die steile Treppe hinunterkletterte und an der Werkbank seines Vaters irgendwelchen Unsinn mit den scharfen Werkzeugen, den Lösungsmitteln und anderen Sachen anstellte, mit denen er sich verletzen konnte. Ihr waren die Sicherheitsmaßnahmen so oft eingeschärft worden, dass sie sie mittlerweile im Schlaf hersagen konnte.

Ein paar Minuten zuvor war Alice in den Keller gegangen, um den Spiritus zu holen, und dabei musste sie vergessen haben, die Tür wieder zu verriegeln. Jetzt spielte Jason in dem Raum des Hauses, den er auf keinen Fall betreten sollte. Dafür würde sie gehörig den Kopf gewaschen bekommen.

»Jason, wenn Mom und Dad rausfinden, dass du dort unten warst, werden sie komplett ausrasten.«

Jason reagierte nicht, sondern polterte weiter herum. Halb erwartete Alice, ihn loslachen zu hören, hocherfreut, dass er endlich ihre Aufmerksamkeit erregt hatte. Wenn seine große Schwester oder seine Eltern mit ihm schimpften, hielt er es oft für Spaß. Genauso wie er seine andere Lieblingsbeschäftigung für Spaß hielt: sich vor Mom und Dad verstecken, wenn sie ihn riefen. Allerdings war er eine echte Niete beim Versteckspielen. Er konnte nicht stillhalten, sondern kicherte in seinem Versteck, sei es in einem Schrank, unter einem Bett oder hinter den Wohnzimmervorhängen. Jetzt allerdings nicht. Kein Kichern und kein aufgeregtes Trappeln.

Am Fuß der Kellertreppe entdeckte Alice Baxter. Völlig außer sich rannte der sechs Kilo schwere Jack Russell im Kreis und kläffte sich die Seele aus dem Leib. »Baxter, wo ist Jason? Wo versteckt er sich?«

Kläffend rannte Baxter hin und her.

Alice erreichte den Fuß der Treppe und suchte den Kellerraum ab, der halb im Dunkeln lag. Auf der linken Seite war die Werkstatt ihres Vaters mit einer zwei Meter langen Werkbank, die an der Wand der Treppe gegenüber stand. Die penibel aufgereihten Werkzeuge interessierten Alice kein bisschen, aber Jason wurde magnetisch von ihnen angezogen. Am Rand der Werkbank lag umgekippt eine Saftpackung, aus der unaufhörlich roter Traubensaft auf den Boden tropfte.

»Jason. Dad wird dich fürchterlich ausschimpfen, wenn er den dreckigen Boden sieht.«

KA-WUMM. KA-WUMM. KA-WUMM.

Alice sah zur anderen Seite des Kellers, wo sich Moms Reich befand. Auf einem Regalbrett, das sich außerhalb der Reichweite von Jasons Händen befand, waren Waschmittelbehälter und Flaschen mit Bleiche und Fleckentferner aufgereiht. Auf einem Bügelbrett stapelten sich die Hemden ihres Vaters und warteten darauf, gebügelt zu werden. Vor der Waschmaschine und dem Trockner standen zwei Körbe mit Schmutzwäsche, ordentlich nach Farben sortiert. Baxter sprang von dem Wäschekorb auf den Trockner und kratzte an dem Metall, jaulte und bellte, dann sprang er zurück auf den Betonboden. Der Trockner rumpelte und ruckelte, während sein Inhalt hin und her geworfen wurde. Es klang, als würde ein Paar von Dads Arbeitsstiefeln darin herumpoltern. Alice erinnerte sich allerdings nicht, dass ihre Mom Wäsche in den Trockner geworfen hatte, bevor sie aufgebrochen waren.

Immer noch kläffte Baxter und hüpfte an der Maschine hoch. Sein braun-weißer Schwanz klemmte zitternd zwischen seinen Hinterbeinen.

»Baxter, nein. Sei still.«

Aber Baxter hörte nicht auf.

Alice seufzte und überlegte, was Jason in den Trockner gesteckt haben könnte. Das war nämlich ein weiteres Lieblingsspiel von ihm, irgendwelche Sachen ins Klo oder ins Spülbecken zu werfen – irgendwohin, wohin sie nicht sollten. Dann sah sie das rote Stoffstück, das unter der Trocknertür hervorlugte. Es hätte alles Mögliche sein können – eine rote Kissenhülle, ein Hemdzipfel –, aber Alice wusste sofort, was es war. Sie hatte Jason oft genug mit seinem roten Superman-Umhang gesehen.

Mit jagendem Puls und zugeschnürter Kehle streckte sie die Hand nach der Trocknertür aus. Sie ließ sich nicht öffnen. Alice riss daran, aber die Tür blieb verschlossen. Sie drückte auf den Einschaltknopf, und der Trockner verstummte. Die Metalltrommel kam zum Stehen, und das Rumpeln darin verlangsamte sich wie der Herzschlag eines Sterbenden. Rasch öffnete sie die Tür und hob das rote Cape an, dann schlug sie die Hände vors Gesicht. Ihre Finger rochen immer noch nach Spiritus, aber sie bemerkte es nicht.

Alice fing an zu schreien.

Kapitel 3

Februar 2011

Wie schlimm ist der Kater?

Flatternd öffneten sich Alice’ Lider einen Spalt, dann schlossen sie sich mit einem Flattern wieder, und sie wartete. Sie wartete darauf, die Schwere ihres Katers bestimmen zu können. So startete sie mittlerweile in den Tag. Jeden Morgen mit derselben Frage: Wie schlimm waren die Nachwirkungen der durchzechten Nacht? Sie fragte sich nicht, was sie an dem Tag tun musste oder was sie frühstücken oder welche Besorgungen sie machen sollte. Nein, nichts dergleichen. Es war immer dasselbe.

Erinnerungsfetzen an die letzte Nacht trieben in einem diffusen Nebel durch ihren Kopf, sie sah sie wie hinter einer fettverschmierten Scheibe. Das reichte Alice. Sie hatte es nicht eilig damit, sich zu erinnern, noch nicht. Die Erinnerungsfetzen würden sowieso an die Oberfläche steigen, um zuerst zusammengesetzt und am Schluss bereut zu werden. Immer dieselben Fehler, nur unter verschiedenen Bedingungen. Da hieß es, Krönchen richten und auf ein Neues. Sie traf meist bemerkenswert schlechte Entscheidungen, wenn sie sich betrank, was oft der Fall war, also jeden Tag. Anders gesagt, sie konnte sich an keinen einzigen nüchternen Abend in den letzten Jahren erinnern. Es war ein Teil von ihr geworden. Nicht dass sie stolz drauf war, aber sie hatte sich damit abgefunden. Wer konnte schon aus seiner Haut?

Sie versuchte, noch einmal einzuschlafen, wenigstens kurz. Schöner als in der Wirklichkeit war es im Traum – meistens jedenfalls. Die Wirklichkeit würde sie sowieso bald einholen, und dann würde auch der Selbstekel nicht lange auf sich warten lassen. So wie immer.

Alice hatte ein Ratingsystem entwickelt, mit dem sie bestimmte, welchen Preis ihr Körper und ihr Geist für ein abendliches Besäufnis zahlen mussten. Dieses Ratingsystem war ganz allein ihres. Darauf bildete sie sich nicht viel ein, aber wenn man seinem Körper und seinem Geist Tag für Tag so etwas antat, sollte man wenigstens einen Maßstab entwickeln, um die Folgen abzuschätzen.

Sie stellte sich vor, wie andere Menschen aufwachten und über den vor ihnen liegenden Tag nachdachten, der mit langweiligen Entscheidungen auf sie wartete – was sie zur Arbeit anziehen und ob sie die Garage aufräumen sollten, welche Rechnungen sie bezahlen mussten, solche Dinge. Andere wachten mit Überlegungen und Plänen zur Verwirklichung ihrer langfristigen Ziele und Träume auf – wie sie die Karriereleiter schneller erklimmen konnten, ob sie ihre Stelle kündigen, ein Haus bauen oder heiraten sollten. Wieder andere machten sich Gedanken um ihre Kinder. Machten sie bei der Erziehung alles richtig? Würden die Kinder es einmal besser als ihre Eltern haben?

Für Alice galt das alles nicht. Sie dachte über nichts dergleichen nach. Wenn es möglich wäre, würde sie wahrscheinlich gern in einem spießigen Leben aufwachen, sei es, um in einem Copyshop Kopien anzufertigen und Papier zuzuschneiden oder den lieben langen Tag Windeln zu wechseln und Nasen zu putzen. Der Gedanke, Erwartungen zu übertreffen, war ihr noch nie gekommen – zum Beispiel einen Master zu machen oder in einem Job zu arbeiten, der nicht bedeutete, Idioten Kaffee einzuschenken oder Idioten Tequila einzuschenken.

Nein, Alice’ erster Gedanke jeden Tag konzentrierte sich ausschließlich auf die Frage, wie schlimm ihr Kater war. Das war ihre Wirklichkeit. Das war ihr Geisteszustand. Und wie es aussah, würde sich das auch nicht so bald ändern.

Das Ratingsystem war ziemlich einfach. Fünf war der Schädelkracher – krasse Kopfschmerzen mit pochenden Schläfen. Die Art Schmerzen, die im Nacken anfingen und sich stechend und tastend über den ganzen Kopf ausbreiteten, ihn durchbohrten und die Schläfenadern beinahe explodieren ließen. Jede schnelle Bewegung, jeder kleine Raucherhustenanfall war Folter. Sobald sie es geschafft hatte, zwei, drei Ibu einzuwerfen und mit dem übrig gebliebenen Schnaps hinunterzuspülen, legte sie sich auf den Boden und wartete darauf, dass die Schmerztabletten anfingen zu wirken. Bis dahin konnte sie nicht mehr denken als Scheiße, Scheiße, Scheiße.

Vier bedeutete im Allgemeinen, zum Klo zu kriechen und Galle hochzuwürgen. Richtig kotzen konnte sie sowieso nicht, weil sie kaum etwas aß. Essen tat sie ausschließlich aus Notwendigkeit. Erst wenn sie anfing zu zittern, fiel ihr ein, dass sie Proteine brauchte und noch etwas anderes als Wodka, Whiskey oder Tequila im Magen haben sollte. Vier bestand manchmal nur aus dem Würgereiz, aber das war ihrer fachkundigen Meinung nach schlimmer als Kotzen.

Drei bestand aus einem bleischweren, megasauren Magen, der brannte und blubberte und nach etwas anderem als Hochprozentigem dürstete. Milch half ein bisschen, aber die hatte sie meistens nicht. Das mochte am Fehlen eines Kühlschranks, vielleicht aber auch an mangelnder Voraussicht liegen.

Zwei machte groggy – ihr Gehirn fühlte sich an wie mit feuchten Wattebäuschen vollgestopft, und sie konnte sich weder konzentrieren noch ihre Bewegungen koordinieren. Es war ein halb träumerischer Zustand – ein körperloses Gefühl, durch das sie weder im Hier noch im Jetzt war, so als hätte sie sich zeitweise des Körpers einer anderen Frau bemächtigt, die sie zuvor windelweich geprügelt hatte. Sich an die Begegnungen des Abends zuvor zu erinnern dauerte noch länger. Oder sich daran zu erinnern, was sie getrunken, wo sie getrunken und mit wem sie getrunken hatte. Letzteres spielte meist keine Rolle, weil sie gewohnheitsmäßig allein trank, sogar lieber allein trank.

Eins war die niedrigste Stufe, körperlich betrachtet ein Klacks, aber in vielerlei Hinsicht war dieser Zustand doppelt so schlimm wie die anderen vier zusammen. Zum einen war da der Gefühlskater, der daher rührte, dass sie am Abend zuvor nicht genug getrunken hatte. Alice hasste Schuldgefühle. Kein Ibu, keine Milch und kein Konterbier kamen dagegen an, dass sie sich wie eine Totalversagerin fühlte, weil sie zugelassen hatte, dass ihr Leben außer Kontrolle geriet, und versuchte, ihre Sorgen in Alkohol zu ertränken. Weil sie trank, um all die Fehler, die sie im Laufe der Jahre gemacht hatte, zu vergessen, besonders den ganz großen Fehler. Mit dem ganz großen Fehler hatte es überhaupt erst angefangen. Der Alkohol erledigte zu gegebener Zeit, was er erledigen sollte – sie betäuben –, aber morgens war die Reue wieder da. Und zwar mächtig. Dann spielte sich der Unfall immer wieder vor ihrem geistigen Auge ab, so klar, als wäre er erst gestern passiert.

Kapitel 4

Alice spürte die Gegenwart des Mannes, bevor sie ihn sah. Neben ihr. Unter Decken und Laken, die nach Schweiß und Schlimmerem rochen. Sie warf einen Blick über die Schulter, bemerkte die wirren schwarzen Haare, die unter dem Bettzeug hervorlugten.

Während sie darüber nachdachte, was in der vorhergehenden Nacht passiert war, sah sie zur Zimmerdecke. Eine wasserfleckige hellblaue Zimmerdecke. Und nicht ihre.

Von der Decke hing eine einzelne Glühbirne an schlampig mit Klebeband zusammengeflickten Kabeln. Es war nicht die Lampe, auf die Alice normalerweise in dem heruntergekommenen Motel, in dem sie seit ein paar Monaten wohnte, starrte. Außerdem roch es hier anders. Es roch nicht muffig wie aus ihrem Heizlüfter, sondern nach billigem Rasierwasser und Spiegeleiern, und bei dem Gedanken an Spiegeleier zog sich ihr Magen brennend zusammen. So heftig, dass sie sich aufsetzte und nach etwas suchte, in das sie sich übergeben konnte.

Einen Moment lang drehte sich alles. Sie befand sich in einem winzigen Zimmer. Gerade genug Platz für das Wasserbett, auf dem sie in diesem Moment hin und her schaukelte, und das Schaukeln verstärkte den Schwindel und die Übelkeit noch.

Scheiße.

Gleich würde sie sich übergeben müssen. Garantiert. Am Fußende des Wasserbetts entdeckte sie eine halb volle Schüssel Popcorn, vor allem nicht aufgepoppte Körner, dazwischen ein paar buttergebräunte Stücke. Ganz unten lagen ein paar Zigarettenkippen. Die Schüssel musste reichen. Alice schüttete das Popcorn und die Kippen auf den Boden und übergab sich.

Himmel.

Jetzt roch es nach billigem Rasierwasser, Spiegeleiern und Kotze.

Sie blickte sich um, froh, dass es keinen Spiegel gab, in dem sie sich ansehen musste. Wenn möglich, mied sie Spiegel. Sie hasste das Gesicht, das ihr daraus entgegenblickte. Hasste alles daran. Nicht dass sie hässlich gewesen wäre. Keineswegs. Wenn Alice wollte, konnte sie hübsch sein. Sie musste sich nicht mal besonders Mühe geben. Ein freches Gesicht mit ein paar Sommersprossen, die aus ihrer Teenagerzeit zurückgeblieben waren, und eine kleine Nase über vollen Lippen, für die andere Frauen zum Schönheitschirurgen gingen. Trotz des vielen Alkohols war ihr Körper schlank und straff. Das Auffallendste an ihr waren die Augen – bei denen die Männer zweimal hinschauten, und auch einige Frauen. Grasgrüne Augen, die die irische Herkunft ihrer Familie verrieten.

Bierflaschen lagen auf dem Boden verstreut – ausschließlich amerikanische Marken. Pabst Blue Ribbon, Miller High Life, Budweiser. Zigaretten waren auf Untertellern ausgedrückt oder in Kaffeebecher geworfen worden, ein paar Kippen waren auf dem Teppich zertreten worden. An der Kante der kleinen Kommode am Kopfende des Betts stand eine halb volle Flasche Jack Daniel’s. Die Schubladen waren halb aufgezogen, und T-Shirts und Bluejeans quollen heraus. Das Wasserbett schaukelte unter ihr, während sie die Klamotten anstarrte. Schwarze T-Shirts und verwaschene Levi’s. Männerklamotten.

Es war nicht nur eine unbekannte Wohnung, sie gehörte auch noch einem Mann.

Erst in diesem Moment wurde Alice sich ihrer Nacktheit bewusst – sie trug nicht den kleinsten Fetzen am Leib. Nicht mal Socken, dabei trug sie im Bett immer Socken, selbst in den heißesten Sommernächten. Nackt schlafen machte ihr nichts aus, aber ohne Socken fühlte sie sich ungeschützt. Sie musste gestern Nacht ziemlich dicht gewesen sein, wenn sie sich die Socken hatte abstreifen lassen.

Der Mann neben ihr rührte sich nicht. Er schlief wie ein Stein.

Gut.

Sie wollte sich erst mal anziehen, bevor sie das Rätsel löste, wer ihr Bettgenosse war. In einem unordentlichen Haufen in der Ecke fand sie ihren Secondhand-Sweater, die Bluejeans, BH und Unterhose. Mit ihrer Jacke schien auch ihre Erinnerung, sich ausgezogen zu haben, verloren gegangen zu sein. Irgendwo hier musste die Jacke doch sein. Wenigstens erinnerte sie sich noch, sie gestern zur Arbeit getragen zu haben. Blitze zuckten durch ihren Kopf, als sie ein wenig zu schnell aufstand und beim Anziehen mit ihren Klamotten kämpfte. Die schnellen ruckartigen Bewegungen setzten in ihrem Kopf einen Güterzug in Gang, der direkt unter der Schädeldecke dahindonnerte.

Die ganze Zeit behielt Alice mit halbem Auge den schlafenden Fremden im Blick und kramte in ihrer Matschbirne, wer zum Teufel er sein könnte. Gestern Abend hatte sie hinter dem Tresen im Frisky Pony gestanden, einen abgehalfterten Stripklub im Gewerbegebiet von Harrisburg. Rechts davon eine Autolackiererei, links ein Schrotthandel. Eine Abfahrt der Interstate 81 führte direkt hinter dem Frisky Pony vorbei, sodass das, was in dem Klub als Tanzmusik galt, von dem ständigen Summen von Reifen auf Asphalt untermalt wurde. Selbst an guten Abenden machte Alice im Frisky Pony nur vierzig Dollar, aber weil es unterhalb des Radars der Polizei lag, war die Arbeit hier für sie okay. Im Moment noch. Bald würde sie weiterziehen, das wusste sie. Ihre innere Uhr, die ihr zuverlässig anzeigte, wann sie weiterziehen sollte, hatte angefangen zu ticken. Seit fast sechs Monaten war sie jetzt in Harrisburg, das reichte. Alles wurde zu vertraut. Zu persönlich. Einige der Stripperinnen im Frisky Pony – insbesondere Tia und Naomi – hatten sogar schon mit ihr ausgehen wollen oder sie zu Partys eingeladen und nach der Sperrstunde etwas mit ihr getrunken. Das war immer ein sicheres Zeichen dafür, dass es an der Zeit war, die Zelte abzubrechen – wenn die Leute sich mit ihr anfreunden wollten.

Tequila. Jetzt erinnerte sie sich. Gestern Abend war’s Tequila gewesen. Sauza Hornitos. Es war nie gut, wenn sie sich an die Marke des Schnapses erinnerte, aber nicht an den Namen des Mannes, mit dem sie geschlafen hatte. Schließlich löste sich der Alkoholnebel nach und nach auf, und die Erinnerung kehrte zurück, zeigte sich in ihrer hässlichen Pracht. Tia und Naomi hatten sich ihr angeschlossen und Glas um Glas mitgehalten, dann hatten die beiden eine Zeit lang geknutscht und schließlich Alice zu einer Girls Night eingeladen. Sie hatte dankend abgelehnt, wenn sie sich recht erinnerte.

Alice wusste auch noch, dass Tia und Naomi zu der wummernden Musik auf dem Tresen getanzt und sich gegenseitig ausgezogen hatten. Sie hatten sich wirklich bemüht, sie zu verführen. Aber sie hatte keine Lust gehabt. Es war nicht die erste Privatvorführung, die sie von den beiden bekommen hatte. Sie waren beide nett, aber ziemlich dumm. Alice hatte nicht den Eindruck, dass sie weiter als bis drei zählen konnten. Wenn sie noch ein paar Jahre Schindluder mit ihren schönen Körpern trieben, würden sie fürs Wackeln mit ihren Brüsten nicht mehr genug Geld kriegen, um davon Miete, Essen und Arztbesuche zu bezahlen. Aber das war ihnen nicht klar. Alice war wenigstens bewusst, dass man nur so lange mit einem knackigen Hintern seinen Lebensunterhalt verdiente, solange er knackig war. Nicht dass Alice den Dreh raushatte – weit davon entfernt –, aber wenigstens wand sie sich dabei nicht um eine Stange.

Alice’ Erinnerung reichte ziemlich genau bis zu dem Moment, als die beiden Stripperinnen bei ihren G-Strings angekommen waren, danach war Schluss. Sie erinnerte sich nicht, das Frisky Pony verlassen zu haben, und auch nicht, wie sie in dem Bett gelandet war, auf dem sie gerade saß.

Ein Wasserbett. Sie hasste Wasserbetten.

Sie warf einen Blick aus dem Fenster. Ein Trailerpark. Es schneite leicht. Eine frische Lage Weiß breitete sich über den schwärzlichen Matsch, der vom letzten Schneesturm zurückgeblieben war. Ein paar Kinder bewarfen eine Katze mit Steinen. Als einer der Steine sie am Kopf traf, schrie die Katze, und das Grüppchen rotznasiger Jungen johlte triumphierend. Hinterfotzige kleine Fieslinge. Die konnte sie noch weniger ausstehen als Wasserbetten.

Alice zog den Reißverschluss ihrer Jeans hoch und suchte das Zimmer noch einmal nach Handtasche und Jacke ab. Vielleicht schaffte sie es hier raus, bevor der Fremde aufwachte. Dass sie keine Ahnung hatte, mit wem sie geschlafen hatte, war egal – man musste nicht alles wissen. In dem Raum war keine Tasche. Und auch keine Kondomhülle. Sie hoffte, dass sie nicht so betrunken gewesen war, um das Verhüten zu vergessen. Das hätte ihr gerade noch gefehlt. Sich ein Kind oder was noch Schlimmeres einzufangen.

Sie stieß sich den großen Zeh an der Ecke des Betts an. »Scheiße.«

Der Schläfer rührte sich noch immer nicht.

Sie trat einen Schritt näher, aber sein Gesicht lag unter der Decke begraben. »Hey. Mann. Aufwachen.«

Nichts. Niemand zu Hause.

Der Mann lag völlig still da, nicht einmal die Decke bewegte sich mit seinen Atemzügen. Sie betrachtete ihn noch eine Weile – nichts.

Alice nahm eine leere Bierflasche, hielt sie über eine andere leere Bierflasche. Dann sah sie zum Bett und ließ sie fallen. KNALL. KLIRR. Die Flasche zerbarst. Es war laut – laut genug, um Tote zu wecken.

»Hallo? Zeit zum Aufstehen!«

Aber der Mann reagierte nicht. Alice schwante Übles.

Nein, nein, nein.

Er konnte nicht tot sein. Das ergab keinen Sinn. Man wachte nicht nackt neben einem Toten auf, den man nicht mal kannte.

Alice beobachtete weiter die Decke, wartete darauf, dass sie sich hob und senkte. Vielleicht schlief er einfach nur sehr fest. Sie wartete, dass er sich rührte. Dass er hustete. Nieste. Irgendwas. Aber er tat nichts davon.

Schwarze Haare. Wen kannte sie mit solchen dichten schwarzen Haaren?

Wen interessiert das? Ist doch egal.

Alice sah sich noch einmal nach ihrer Handtasche um. In dem winzigen Raum müsste sie ihr eigentlich sofort ins Auge fallen. Sie musste im Wohnraum sein. Oder im Bad. Irgendwo anders jedenfalls.

Wie unter Zwang sah sie wieder zu dem Mann, der wahrscheinlich gar nicht schlief, sondern tot war. Mittlerweile zitterten Alice’ Hände im Gleichtakt mit ihrem rasenden Herzen, und die Adrenalinwoge, die durch sie schoss, verjagte den Kater. Das Zittern ihrer Hände griff auf den ganzen Körper über, erreichte die Knie und zwang Alice, sich wieder auf das Wasserbett zu setzen. Gurgelnd schwappte das Wasser unter dem Toten hin und her und versetzte ihn in Bewegung. Nach ein paar Sekunden kam es zur Ruhe und mit ihm der Tote.

Scheiß drauf.

Sie stand auf, streckte die Hand aus und riss die Decke zurück.

Ja, der Mann war tot. Kein Zweifel. Seine Augen standen offen, die Pupillen waren erweitert und von einem weißen Film überzogen.

Mit rasendem Herzen sprang sie vom Bett auf und stolperte beinahe über ihre eigenen Füße. Sie spürte das Klopfen in ihrer Brust, als sie auf die Leiche hinunterblickte – die zweite, die sie in ihrem Leben sah.

• • •

Der Tote war ein gut aussehender Mann. Zumindest war er das mal gewesen, auf diese mackerhafte Art. Alice starrte das vertraute Gesicht an – Terry Otis, der Geschäftsführer des Frisky Pony. Dieses koksende, chauvinistische Arschloch, das mit allen Stripperinnen aus dem Laden ins Bett ging. Terry Arschloch Otis, der soff wie ein Loch, durch den Klub stolzierte wie ein Gockel und Besoffene rausschmiss, wenn sie seine Mädchen angefasst hatten, und sie anschließend im Hinterhof verprügelte. Der große, toughe Terry, der einen schwarzen Monster-Pick-up mit XXL-Reifen fuhr, seine Levi’s bügelte und kein Stäubchen auf seinen Cowboystiefeln duldete.

Wie er da nackt in seiner eigenen Kotze lag, war von seiner Toughness nicht mehr viel übrig.

Unverwandt sah sie auf ihren toten Boss und versuchte, ihrem schnapsgeschwängerten Hirn weitere Erinnerungen an die vorhergehende Nacht zu entwinden. Sie wusste noch, dass Terry wie immer im Frisky Pony gewesen war, aber sie hatte nicht mit ihm getrunken, nicht einmal besonders auf ihn geachtet. Er wiederum war vollauf damit beschäftigt gewesen, eine Line vom Tresen zu ziehen und Tia und Naomi beim Fummeln anzuglotzen.

Bei Terry zu Hause war sie noch nie gewesen, auch wenn er sie mehr als einmal eingeladen hatte. Für dich steht meine Tür immer offen, Schätzchen, hatte er ihr schmierig grinsend ein halbes Dutzend Mal erklärt. Er stank aus dem Mund nach dem Stückchen Kautabak, das er unter seine Unterlippe geschoben hatte. Ständig spuckte er in eine Bierflasche, die halb voll mit brauner Spucke war. Da können wir eine richtig gemütliche Nummer schieben, wir beide.

Alice hob sich der Magen, und sie würgte, aber es kam nichts mehr raus, weil nichts mehr drin war. Dann wurde ihr heiß, und Schweiß trat aus ihren Poren und überzog ihr Gesicht mit einem feinen, nach Tequila riechenden Film.

Zweimal wurde es dunkler im Raum. Das eine Mal, als die Sonne hinter den heranziehenden Sturmwolken verschwand, das andere Mal, als ihr Kreislauf in den Keller sackte und sie beinahe ohnmächtig wurde.

Um den Kopf wieder klarzukriegen, kniff sie die Augen zusammen und grub ihre abgekauten Fingernägel so fest in ihre Handflächen, dass sie schmerzhafte Einkerbungen hinterließen. Es dauerte eine Minute. Vielleicht auch zwei. Sie öffnete die Augen und ließ den Blick über die windigen Wände, die klapprige Tür und die vorhanglosen Fenster wandern. Schließlich bemerkte sie die Reisetasche, die auf Terrys Seite des Betts in die Ecke des Schlafraums gestopft war.

Terrys Seite des Betts. So ein Schwachsinn. Als wären sie ein Paar.

Sie starrte auf die Tasche, die aus einem Army-Shop stammen musste. Olivgrün, auf den Stoff mit schwarzer Farbe eine Seriennummer gedruckt. Dann sah sie wieder zu Terry, dessen Kopf nach links geneigt war, als wollte er sein Eigentum im Auge behalten. Sie musste das Letzte gewesen sein, was er gesehen hatte, bevor er starb.

Alice blickte wieder zu der verschlossenen Tasche. Sie wischte sich den Schweiß von der Oberlippe und schob sich näher heran, plötzlich wollte sie wissen, was darin war.

Ich sollte die Cops rufen.

Das konnte sie allerdings gerade nicht brauchen. Dem war sie im Moment einfach nicht gewachsen. Die Cops würden Fragen stellen. Sie würden in ihrer Vergangenheit graben und unschöne Dinge zutage fördern. Nicht jetzt. Am besten nie.

Wie gebannt starrte sie auf die Tasche – als wäre sie ein Kunstwerk. Etwas an dieser fest verschlossenen Army-Tasche wollte, dass sie sie öffnete. Sie würde die Cops rufen müssen. Das war Alice klar. Was blieb ihr sonst auch übrig?

Vielleicht könnte sie wenigstens einen kurzen Blick in die Tasche werfen? Terry war tot, was sollte er dagegen haben? Alice rieb sich übers Gesicht. Sie brauchte noch ein paar Minuten, um einen klaren Kopf zu bekommen, einen Schluck Orangensaft zu trinken, oder was Terry im Kühlschrank hatte, und zu versuchen, die Geschehnisse in der Nacht zu rekonstruieren.

Und ja, auch um einen Blick in die Tasche zu werfen. Das würde sie nämlich tun. Die Tasche war wie ein Glas Whiskey, das jemand einem Alkoholiker spendiert hatte und das darum bettelte, in einem Zug ausgetrunken zu werden. Es war keine Frage des Ob, sondern des Wann. Alice strich sich die Haare hinters Ohr, hob die Tasche auf ihren Schoß und zog den Reißverschluss auf. Der Inhalt war keine große Überraschung. Keine Socken oder Decken, keine Schuhe, kein Survival-Kit. Nichts dergleichen. Stattdessen Tütchen mit Koks. Viele Tütchen. Alice konnte nicht genau abschätzen, wie viel es war und welchen Marktwert es hatte, aber sie vermutete, dass es Schnee im Wert von zehn-, vielleicht zwanzigtausend Dollar war.

Aber das war nicht alles.

Alice grub tiefer und stieß auf ein paar Pillenfläschchen. Amphetamine, Quaaludes, Vicodin. Und ein Fläschchen Rohypnol.

»Ach du Scheiße.«

Alice nahm keine Pillen – sie schoss sich lieber mit Wodka, Whiskey und Tequila ab –, aber sie kannte sich halbwegs damit aus. Rohypnol. Roofies. Terry musste gestern einen ihrer Drinks damit versetzt haben.

Alice sah noch einmal zu Terry, ihre Angst verwandelte sich in dumpfe Wut und Ekel vor sich selbst, weil sie das hatte geschehen lassen. Der Gedanke, dass dieser Drecksack in ihr drin gewesen sein könnte, ließ sie sofort wieder würgen.

An seinen Nasenhaaren hing immer noch etwas von dem weißen Pulver. Geschah dem Kokser recht. Er hatte gekriegt, was er verdiente. Sie bemerkte den Riss an Terrys geschwollener und dunkellila verfärbter Oberlippe. Unter seinem linken Auge war ein fieser Bluterguss – ungefähr so groß wie ihre Faust. Trotz des Tequilas und der Roofies musste sie sich gewehrt haben. Hatte ihm ein paar verpasst, bevor … falls es überhaupt passiert war. Vielleicht war das Arschloch tot umgekippt, bevor er sie vergewaltigen konnte.

Alice wühlte sich weiter durch die Tasche. Ihre Finger strichen über etwas auf dem Boden. Eine braune Papiertüte war unter die anderen Sachen gestopft worden. Sie zog sie heraus. Sie hatte ungefähr die Größe einer kleinen Schuhschachtel und war sorgfältig mit Klebeband zugeklebt.

Ungeduldig wie ein Kind am Weihnachtsmorgen riss Alice das Papier auf und starrte den Inhalt an, fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, die im Bruchteil einer Sekunde trocken geworden waren. Ihr Herz hatte einen Komplettaussetzer. Reglos saß sie zwanzig Sekunden da, und erst da wurde ihr bewusst, wie totenstill es im Trailer war.

Plötzlich knallte etwas Hartes gegen die Metallwand, und Alice zuckte zusammen. Ein zweiter Knall und ein dritter, gefolgt von kreischendem Gelächter.

Den Papierbeutel mit zittrigen Händen umklammernd, spähte Alice aus dem Fenster und sah die Meute der kleinen fiesen Jungs Schneebälle gegen den Trailer des Toten werfen. Sie spürte die Erschütterung bis in die Knochen. Hört auf damit! Hört auf! Sie ertrug das Geräusch nicht – es triggerte Erinnerungen an den Trockner mit Jason darin –, aber in ihrem sadistischen Vergnügen machten die Kids keine Anstalten aufzuhören. Es rumste und rumste und rumste, so als würde es nie aufhören.

Ka-Wumm, Ka-Wumm, Ka-Wumm.

Kapitel 5

Einundneunzigtausend Dollar.

Stapel von Zwanzigdollarbündeln lagen zwischen Bierflaschen, einem Unterteller voll Zigarettenkippen und leeren Skoal-Dosen auf dem Küchentisch. Nervös zupfte Alice an dem verknitterten braunen Papierbeutel und sagte sich die Summe immer wieder im Kopf vor. Die Zahl war unfassbar. Das war mehr Geld, als sie jemals gesehen hatte und wahrscheinlich auch jemals wieder sehen würde.

Alice blickte auf das viele Geld und nippte dabei an einem mit Wodka aufgepeppten Mountain Dew. Terry hatte keinen Orangensaft, aber massenhaft Wodka. Alice war gerade beim zweiten Glas. Mit dem ersten hatte sie ihre Nerven und ihre zittrigen Hände beruhigt. Das zweite machte ihren Kopf wenigstens ein bisschen klarer, und frisch gestärkt beschloss sie, lieber das Geld zu zählen als an den Toten im hinteren Raum des Trailers zu denken.

Neunzigtausend Dollar könnten ihr aus der Sackgasse helfen, in die sie sich manövriert hatte. Sie könnte wieder auf die Füße kommen. Noch mal neu anfangen. Irgendwo. Keine trostlosen Jobs mehr, keinen besoffenen Arschlöchern mehr Drinks ausschenken.

Als Alice den Trailer durchsucht hatte, hatte sie ihre Handtasche und die Jacke auf dem Sofa gefunden, daneben die Stiefel, die ihr Terry, Gentleman, der er war, offenbar ausgezogen hatte. Jetzt lag die Tasche auf dem Tisch. Dafür, dass sie nicht in der Bar zurückgeblieben war, musste der gute Mann ebenfalls gesorgt haben. Ohne das Münzgeld besaß Alice genau dreiundvierzig Dollar. Das wusste sie so genau, weil sie sie nach den einundneunzigtausend Dollar gezählt hatte. Für die Scheine in ihrem Geldbeutel, lauter Eindollarnoten, hatte sie nicht so lange gebraucht. Abgesehen davon besaß sie im Grunde nur ihre paar armseligen Klamotten, kein Auto, keine Kreditkarten, kein Scheckbuch, nicht mal einen Führerschein. Mit ihren einundzwanzig Jahren war sie gerade einmal dreiundvierzig Dollar schwer und durfte nicht Auto fahren.

Die dreiundvierzig Dollar würden so gerade für zwei Nächte in der Bruchbude von Motel reichen. Beim größten Teil seiner Gäste rechnete das Comfort Manor – eine Ansammlung von schuhschachtelgroßen Zimmern ohne jeden Komfort – auf Stundenbasis ab, aber Alice hatte eine spezielle Vereinbarung mit dem Mann an der Rezeption getroffen. Ernie Soundso. Sie gab Ernie Soundso jeden Tag zwanzig Dollar in cash und ließ ihn im Tausch gegen den inoffiziell reduzierten Zimmerpreis ein paar Abende die Woche im Frisky Pony umsonst trinken.

Die Wände im Comfort Manor waren papierdünn, was Alice leider einen Logenplatz bei den obligatorischen Jubelorgien der Prostituierten in den beiden Nachbarzimmern verschaffte. Die Kakerlaken hatten die Größe von Sommerratten und die Ratten die Größe von Winterkatzen. Der einzige Vorzug des Motels war, dass sie in Ruhe gelassen wurde. Keiner interessierte sich für sie oder blieb lange genug, um sie kennenzulernen. Keine neugierigen Nachbarn. Keiner fragte sie nach ihrem Namen – keiner außer Ernie Soundso. Der Mann hatte etwas von einem ekligen kleinen Spanner, machte im Übrigen aber einen harmlosen Eindruck. Wenn er ins Frisky Pony kam, setzte er sich auf seinen Stammbarhocker und nuckelte an einem Seven and Seven, während er die Tittenparade auf der Bühne abnahm, zu schüchtern oder zu ängstlich, um jemanden anzusprechen. Dann ging er wieder heim und legte sich in sein ungemachtes Bett schlafen.

Alice wünschte, sie könnte sich genauer an den gestrigen Abend erinnern. Nicht wegen dem, was Terry ihr vielleicht angetan hatte – das war im Moment nicht von Bedeutung. Was sie wirklich wissen wollte, war, ob jemand mitgekriegt hatte, dass Terry sie mit nach Hause genommen hatte. Das war die Einundneunzigtausend-Dollar-Frage: Konnte sie mit Terry Otis in Zusammenhang gebracht werden?

Der einzige Grund dafür, warum sie das Geld gezählt hatte und versuchte, die Geschehnisse der letzten Stunden zu rekonstruieren, war, dass sie ernsthaft mit dem Gedanken spielte, sich die Kohle unter den Nagel zu reißen und Harrisburg zu verlassen.

Warum auch nicht? Terry war tot. Er hatte sich den Weg in ein frühes Grab gekokst. Dafür konnte sie nichts. Sie war einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen.

Oder auch zur richtigen Zeit am richtigen Ort.

Es ist Drogengeld. Jemand wird danach suchen.

Alice nahm einen Schluck. Die Wirkung machte sich sofort bemerkbar und schloss übergangslos an den Rausch an, mit dem sie aufgewacht war.

Sie hatte sich im Frisky Pony betrunken. Terry war da gewesen. Sie waren zusammen gegangen. Tia und Naomi mussten sie gesehen haben. Es sei denn, die beiden waren früher abgezogen. Aber selbst dann wäre sie diejenige, mit der Terry vor seinem Tod zuletzt gesehen worden war. Damit wäre die Verbindung hergestellt, so einfach.

Alice trank ihr Glas aus und mixte sich einen neuen Drink.