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Aus Not verkauften bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts arme Tessiner Bergbauern oft ihre Kinder als Kaminfeger nach Mailand. Dort mussten sie durch die finsteren Kamine klettern und mit den nackten Händen den Ruß herabwerfen. In ihrem Bund der «Schwarzen Brüder» hielten sie zusammen, wehrten sich gegen ihr Elend und verstrickten sich in Kämpfe mit den Mailänder Straßenjungen. Die packenden Abenteuer der Kaminfegerbuben werden hier anhand der wahren Geschichte des kleinen Giorgio erzählt. Der im Kriegsjahr 1941 erschienene Jugendroman wurde eigentlich von Lisa Tetzners Mann, Kurt Held, geschrieben. Als politischer Flüchtling hatte er im Schweizer Exil Publikationsverbot. Deshalb ließ der spätere Autor der «Roten Zora» den Roman unter dem Namen seiner Frau verlegen. Lisa Tetzner hatte durch alte Chroniken von den Kaminfegerjungen erfahren und das Buch begonnen, aber nicht zu Ende geführt. Kurt Held vollendete den Roman, der Weltruhm erlangte und sogar verfilmt wurde.
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Lisa Tetzner
Die Schwarzen Brüder
Erlebnisse und Abenteuer eines kleinen Tessiners
Mit Illustrationen von Emil Zbinden
FISCHER E-Books
Liebe Leser!
In einer alten Chronik, die zwischen vielen dicken, längst vergilbten Büchern in der Staatsbibliothek aufbewahrt ist, fand ich einen sonderbaren Bericht: »Kleine Schweizer Sklaven«. Die gab es zu jener Zeit, als arme Bergbauern im Kanton Tessin ihre Buben zwischen acht und fünfzehn Jahren als Kaminfegerbuben nach Mailand verkauften.
»In notdürftige Lumpen gehüllt«, las ich da, »barfuß oder nur mit schlechten Schuhen versehen und ohne Strümpfe müssen sie, klappernd vor Kälte und entkräftet vor Hunger, von frühmorgens bis spätabends unter dem fortwährenden Geschrei: ›Spazzafornello!‹, das ihren jungen Lungen auch nicht zuträglich sein kann, die Stadt von einem Ende zum andern durchziehen. Von Locarno bis Arona werden diese Kinder in Barken, wie Tiere zusammengepfercht, transportiert. Eine solche vollgepfropfte Barke schlug kürzlich zwischen Cannobio und Cannero um, und sechzehn kleine Kaminfeger ertranken.« Aus dieser alten Chronik erfuhr ich auch von Giorgio und seinen Freunden und wie diese kleinen, behänden Buben durch den offenen Kamin und den Rauchfang bis hinauf zu den Dächern klettern mussten, um mit ihren nackten Händen den Ruß herabzuwerfen. Und die Erlebnisse und Abenteuer der kleinen Schweizer Buben sind so seltsam, aufregend und rührend zugleich, dass es sich wahrlich verlohnt, sie ausführlich zu berichten.
Sie geschahen vor hundert Jahren. Damals stand Mailand noch unter österreichischer Oberhoheit. Seither hat sich vieles geändert. Die Buben legen keine Leimruten mehr, um kleine Vögel zu fangen, die Adler sind selten geworden, und die Kaminfegermeister kaufen keine Knaben mehr von ihren Eltern. An Stelle dieser lebendigen Besen lassen sie heute ihre langen, mit Bleilot beschwerten Drahtbürsten in den Kamin hinabfallen.
Aber, ob nicht auch darum so manche Eltern noch heute ihre Kinder, wenn sie nicht folgen wollen, mit den Worten schrecken: »Warte nur, ich sag’s dem schwarzen Mann, der schwarze Mann wird dich gleich holen!«?
Vielleicht wissen sie nicht einmal, warum sie ihren Kindern mit diesen Worten drohen. Giorgio aber, der kleine Held unserer Geschichte, wusste es nur zu genau. Und ich hoffe, ihr gewinnt ihn und die anderen tapferen Buben, die sein mühevolles Leben teilten, lieb und freut euch an der guten, treuen Kameradschaft, die sie miteinander verband, und darüber, dass die Geschichte endlich zu einem guten Ende kam.
Die Hauptpersonen unserer Geschichte sind
unser Held.
Sein Vaterder kein schlechter, böser Vater ist, aber unverschuldet in Not gerät.
Seine Mutterwenn sie nicht das Bein gebrochen hätte …
Die Großmutter»Nonna« genannt. Sie wollte, dass Giorgio nach Mailand ging, denn sie war überzeugt, dass etwas aus ihm würde.
AnitaGiorgios Freundin, die eigentlich auf seine Rückkehr warten wollte, aber …
Antonio Luinider Mann mit der Narbe, ein gefährlicher Mensch, den der Teufel holen sollte; stattdessen holt ihn die Polizei.
AlfredoGiorgios bester Freund, der ein trauriges Leben und ein Geheimnis hat.
Biancaseine Schwester. Von ihr erfährt man aber erst im zweiten Band.
Ihre Stiefmutterdie sich wie eine Hexe benimmt.
Ihr Onkelder sich von dieser zu bösen Taten verleiten lässt.
Battista RossiGiorgios Meister, ein Mailänder Kaminfeger. Kein böser Mann, aber …
Seine Frausie allerdings ist eine wahre Hexe.
Anselmo, ihr Sohnein unerfreulicher Knabe, der ganz und gar seiner Mutter gleicht.
Angeletta, ihre Tochtersie ist fast wie ein wirklicher Engel, und wenn Giorgio sie nicht hätte …
Giuseppegenannt: die »Zitrone« oder das Zitronengesicht; noch ein Mailänder Kaminfeger, der aber mehr trinkt als arbeitet.
Die Schwarzen BrüderMailänder Kaminfegerbuben. Freunde von Giorgio.
Danteein Fischerknabe aus Magadino.
Antonioder stärkste der schwarzen Brüder.
Augustoein Knabe, der weder Vater noch Mutter hat.
Der Rotkopfer bleibt in Mailand und wird zuletzt der Häuptling der schwarzen Brüder.
Die Wölfeeine Bande Mailänder Straßenbuben; die Feinde der schwarzen Brüder.
Der Blatternarbigeihr Häuptling.
Die Katzeder tapferste der Wölfe.
Der Einäugigeeiner, der es auch versteht, um sich zu schlagen.
Doktor Casellaein Arzt aus Lugano, der erst im zweiten Band auftritt, ein hilfsbereiter Mensch, und wenn er Giorgio nicht gefunden hätte, dann …
Lorenzodessen Sohn, der hilfsbereit ist wie sein Vater. Wir werden ihn aber erst am Schluss kennenlernen.
An einem Morgen im Spätsommer des Jahres 1838 kam ein Mann das Verzascatal herunter. Er war mittelgroß, von breiter, stämmiger Gestalt, und sein Gesicht flößte einen leisen Schrecken ein, besonders wenn man den Mann abseits der allgemeinen Fahrstraße traf.
Das Gesicht war nicht ausgesprochen bösartig. Der Mann hatte zwei dunkle Augen, wie fast alle hierzulande, eine große Nase, die kühn aus dem schmalen, gelben Gesicht heraussprang, darunter einen Schnauzbart, der auf beiden Seiten nach unten hing, und einen breiten, unschönen Mund, von dem man aber nur die roten Lippen sah, denn das andere wurde von einem buschigen Vollbart überdeckt.
Das Gefährliche und zugleich Abstoßende lag in der Narbe, die von der Stirn über die rechte Wange bis zu dem Kinn lief und das eine Auge beinahe streifte, weshalb man den frühen Wanderer auch den Mann mit der Narbe nannte.
Er kam von Prato im Maggiatal und wollte nach Sonogno. Er ging ziemlich eilig und hatte kaum einen Blick für die hohen, felsigen Hänge, auf denen das erste Frührot wie eine zarte Decke lag. Er sah auch nicht die brausenden Wasser der Verzasca, die kleinen, schnellen Forellen, die von Tümpel zu Tümpel sprangen. Er blickte nur immer vor sich hin und war wütend darüber, dass dieses Sonogno nicht auftauchen wollte. Endlich sah er die ersten Häuser. Sie lagen wie riesige Felsblöcke vor ihm. Unbehauen und ungeschlacht lehnten sie sich an die steilen Hänge, die beinahe senkrecht in die Schlucht fielen. Wenn man die Bewohner besuchen wollte, musste man von einem Haus ins andere steigen, so steil und eng standen sie übereinander.
Der Mann hemmte seinen Schritt. Nun, da er wusste, dass er dem Dorf nahe war, konnte das Geschäft, um dessentwillen er nach Sonogno kam, bis zum Abend warten, und er schlug einen Seitenweg ein. An einer Grasbank setzte er sich, zog ein Stück Brot, ein Stück Käse und eine Flasche Wein aus der Tasche und aß.
Im Dorf war es noch still. Vereinzelt krähte ein Hahn. Trotzdem waren bereits viele Leute wach, und auch der kleine Giorgio, von dem wir in diesem Buche erzählen wollen und um dessentwillen der Mann mit der Narbe den weiten Weg von Prato nach Sonogno gemacht hatte, lag schon mit offenen Augen auf seinem Strohsack.
Vor ungefähr einer halben Stunde war die Großmutter aufgestanden, die mit in seiner Kammer schlief. Dabei erwachte Giorgio jeden Morgen. Die alte Frau schlüpfte in ihren Rock, dann ging sie – ihre hohe hagere Gestalt reckte sich wie ein dürrer Baum in die Höhe –, eine Weile vor sich hin sprechend, auf und ab, bis sie auf einmal über die Stiege nach unten polterte. Giorgio hatte sich nicht gerührt, obwohl er bereits ganz munter war. Diese Zeit am Morgen, wo er allein in seiner Kammer lag, war beinahe die schönste Stunde des langen Tages, und er genoss sie Minute um Minute.
Es schlug fünf von der nahen Kirche. Er zählte jeden Schlag. Die erste Viertelstunde war vorbei. Unterdessen war die Sonne über dem Monte Zucchero hervorgekommen. Langsam, wie ein glühender Ball, schob sie sich über den hohen Berg, und nun schien es, als wollte sie den Abhang hinunterrollen.
Als Giorgio das zum ersten Mal gesehen hatte, war er schreiend aufgesprungen: »Nonna, die Sonne fällt ins Tal!« Die Nonna hatte ihn getröstet und ihn einen Dummkopf genannt, und als er wieder aufsah, war sie tatsächlich schon eine Handbreit über die Bergkuppe gestiegen und dachte gar nicht daran, ins Tal herabzufallen.
Seitdem wartete Giorgio jeden Morgen mit mehr oder weniger Neugier auf diesen Augenblick. Er hatte heute keine Angst mehr. Er würde die Sonne ja auch nicht aufhalten können, aber er sah immer wieder mit einer gewissen Freude, wie sich der Himmel über dem Monte Zucchero rötete, dann brannte, und wie die Sonne auf einmal von der glühenden Bergkuppe in den Himmel sprang.
Nun stieg sie jede Minute höher. Er konnte das, ohne sich umzudrehen, an der grauen Wand verfolgen. Zuerst erreichte sie den Gekreuzigten, dann fielen ihre Strahlen auf das kleine Muttergottesbild, nun beleuchteten sie den Kopf, den Hals, die Brust der Maria, und jetzt hatte sie das kleine Bild schon hinter sich gelassen und kroch noch tiefer die Wand hinunter. Giorgio lauschte, während er das beobachtete, auf alle Geräusche im Haus. Die Nonna hatte bei ihrem Gang nach unten an die Schlafkammer der Eltern geklopft. Die Mutter stand auf. Ein paar Augenblicke später hörte er auch die laute, helle Stimme seines Vaters. Jetzt zog er sich wohl an und ging in den Stall, und nun kam die Mutter herauf und pochte an die Tür. »Aufstehen!«, rief sie.
Giorgio schloss die Augen und tat, als schliefe er noch.
»Aufstehen!« Die Mutter rief und pochte lauter.
Giorgio glaubte jetzt wirklich, fest zu schlafen. Die Mutter stand schon im Zimmer. Er wusste es, aber es war so schön, die paar Minuten vom ersten Klopfen der Mutter bis zu diesem Augenblick noch das Gefühl zu haben, man schliefe. Nun fasste sie ihn am Kopf, schüttelte ihn hin und her und sagte nochmals: »Aufstehen! Aufstehen! Es wird gleich halb schlagen, und du musst das Ave läuten!«
Er öffnete die Augen und blinzelte die Mutter an. Die Mutter stand unmittelbar am Bett. Es war eine fünfunddreißigjährige Frau. Sie sah aber schon recht alt und vergrämt aus. Die schwarzen Haare durchzogen weiße Strähnen, die Wangen waren eingefallen und blass und die Augen lagen tief in ihren großen Höhlen.
»Ich komm schon.« Giorgio versuchte, sich noch einmal auf die andere Seite zu drehen. Aber auch das war nur ein Manöver, um die paar Minuten bis zum Aufstehen zu strecken; denn schon hatte die Mutter die leichte Decke von ihm genommen, und er lag nun, nur mit seinem Hemd bekleidet, auf dem dicken, harten Laubsack.
Mit einem Sprung stand er neben der Mutter. Er reichte ihr bis an die Schulter, versuchte, die Arme um sie zu schlingen und lachte sie mit seinen hellen, gelben Augen an. Aber die Mutter hatte sich bereits wieder umgedreht und ging nach der Tür.
Giorgio fuhr mit seinen dünnen, sehnigen Beinen in die kurzen Hosen und band sie mit einem Strick über den Hüften zusammen. Der Vater holte das Vieh aus dem Stall. Bianca, die alte Kuh, muhte leise, er hörte das klägliche Meckern der kleinen Ziege, die er nach seiner Freundin Anita benannt hatte. Die Stalltür fiel krachend zu. Der Vater trieb das Vieh auf die Weide.
Der Knabe strich sich mit seinen Händen über das struppige bräunliche Haar, auch über das feste, bubenhafte Gesicht, und schon war er fertig und polterte die steinernen Treppen hinunter, der Mutter nach.
Das Haus, in dem Giorgio mit seinen Eltern wohnte, stand am Ende des kleinen Dorfes. Es war eines der typischen Steinhäuser, wie sie im ganzen Verzascatal stehen. Sie sind aus rohen, festen Platten gebaut, die ohne Zement nur lose aufeinander geschichtet werden, auch das Dach besteht aus solchen Steinen. Wie eine Treppe liegen sie übereinander, und dort, wo beide Treppen zusammenstoßen, ist ein schmaler, gerader Steg.
Unten war der große Stall. Von ihm führte eine Tür in die Küche, von dieser ging eine geländerlose Steinstiege in den ersten Stock. Rechts lag die Kammer, in der die Eltern schliefen, und links die, in der die Zwillinge ihr Lager hatten. Von dieser Kammer führte wieder eine Treppe in das Dachgeschoss, wo er mit der Großmutter schlief.
Er schoss die beiden Stiegen hinunter, aber er musste noch eine dritte Treppe hinabsteigen, die sich an das untere Haus anlehnte, denn das Haus seiner Eltern stand unmittelbar über einem anderen. Nun kam er in die Gasse.
Bis hierher war die Sonne noch nicht gekommen. Es war kalt, ihn fror, und er setzte sich in Trab. Er musste durch das halbe Dorf. Die Gasse, vielmehr der steinige Weg, der den Ort zerteilte, ging einmal hinauf und hinunter, dann kam er auf den kleinen Platz, wo aus einem alten Brunnen das Wasser rauschte.
Von dem Platz ging er über den Friedhof, und nun war er an der Kirche.
Die Kirche von Sonogno war das Schönste des kleinen Dorfes. Sie hatte einen hohen spitzen Glockenturm, in dem die Glocken wie kleine Äpfel hingen, und ein lang gestrecktes Schiff, das sich auf der einen Seite an das Dorf lehnte, während es auf der anderen Seite viele Meter in die Tiefe ging.
Giorgios Vater war seit Jahren Kirchendiener. Das brachte ein paar Rappen ein, und da der Vater einer der ärmsten Bewohner Sonognos war, konnte er das Geld gut brauchen. Zu seinen Obliegenheiten gehörte es auch, jeden Morgen die Glocken zu läuten. Da er aber um diese Jahreszeit eine halbe Stunde früher mit dem Vieh auf die Weide zog, besorgte das Giorgio.
Der Knabe stieß die schwere Kirchentür auf und trat ein. In der Kirche war es noch kälter als auf der Straße. Ein leichter Räuchergeruch wehte ihm entgegen und heimelte ihn an. Er lief durch das lange Schiff bis zum Altar. Durch die hohen Fenster drang schon ein Sonnenstrahl. Er sah hinauf. Der Strahl malte blaue und grüne Lichter auf die gegenüberliegende Wand. Er bog an dem kleinen Gitter, das das Allerheiligste von der Kirche trennte, nach rechts ab und ging durch die kleine Pforte in den Glockenturm.
Ob der alte Kauz wieder im Fenstersims saß? Den ersten Tag hatte er sich vor dem Tier, das wie ein Mensch auf ihn heruntersah und seinen Kopf so spaßig drehen konnte, gefürchtet. Auch die Fledermäuse waren furchtbare Tiere; aber jetzt war er an sie gewöhnt und ängstigte sich nicht mehr vor ihnen. Der Kauz saß da. Es saß sogar noch eine andere Eule neben ihm; sie war kleiner und hatte lustige, spitze Ohren. Wahrscheinlich war das seine Frau. Giorgio wollte schon lange einmal zu ihnen hinaufsteigen und sehen, ob sie da oben ein Nest mit Jungen hatten, und sich eines davon holen.
Da hing der Strick, und gerade schlug es drei viertel. Jetzt musste er beginnen. Er zog den Strick nach unten. Das erste Mal war es immer schwer. »Bim«, der erste Schlag. »Bam«, der zweite sprang dem ersten nach. Dann schwangen die Glocken beinahe von selber, und er brauchte nur noch wenig zu ziehen. Nach drei Minuten ließ er den Strick los. Die Glocken konnten jetzt allein ausschwingen. Die Käuze saßen immer noch da. Bis Mittag! Er winkte zu ihnen hinauf. Nun wollte er etwas essen, und er lief wieder aus dem hohen Glockenturm und aus der Kirche hinaus.
Die ersten Leute kamen. Giorgio grüßte. Das war der kleine Beppo, der Vater seiner Freundin Anita. Ob Anita schon auf war? Sie wohnte in einem dunklen Häuserviereck am anderen Ende des Dorfes. Er machte einen Umweg zu ihr hinunter. Aber es war noch still in dem düsteren Haus, und er kehrte eilig zurück.
Da stand der alte Scala, der Grottowirt, vor seinem Gasthaus. Giorgio mochte ihn nicht, er sah auf die Seite. Dort hinkte der dicke Baretta, der Jäger, vorüber. Er hatte seine Flinte über der Schulter, und der Dackel trippelte neben ihm. Aber da war Giorgio schon wieder bei seinem Haus und kletterte nach oben.
Er ging durch den Stall nach der Küche. In dem rauchigen Raum saßen die Nonna, die Mutter und die Zwillinge. Die Zwillinge waren sechs Jahre alt. Carlo war rund und quecksilbrig wie eine junge Katze. Pietro steif und langsam, er stolperte immer über seine Füße.
Die Zwillinge kauten Polentaschnitten. Die Nonna kaute ein Stück Brot. Sie tauchte es in Wasser und sog wie ein Säugling daran. Solange Giorgio denken konnte, war das das Einzige, was die Nonna am Morgen aß.
Die Mutter hatte schon gegessen und wartete auf Giorgio. »Wo bleibst du bloß wieder?«, fragte sie. »Wir müssen Futter holen.«
Giorgio stopfte sich eilig ein Stück Polenta in den Mund, ein anderes steckte er in die Tasche, dann nahm er einen Korb und die Sichel von der Wand. Die Mutter war bereits gegangen.
Sie stiegen hinter dem Haus den Berg hinauf. Er war steil, die Hänge schossen fast senkrecht in die Höhe, und einmal musste er der Mutter und einmal die Mutter ihm die Hand geben.
Es war warm geworden. Die Sonne fiel wie ein Feuerstrahl in das Tal. Sie schwitzten bei jedem Schritt, und der Schweiß lief ihnen in Bächen den Rücken hinunter.
Sie kletterten immer höher hinauf. Rechts und links bogen kleine Hänge ab, Reben standen darauf; sie wanden sich um die Felsen wie Girlanden. Wo der Hang ein paar Schritte breiter wurde, lagen Maisäcker; aber keiner war größer als zehn bis zwölf Quadratmeter, dann kam wieder Fels, und es ging steil hinauf und hinunter.
Das Dorf lag jetzt ungefähr zweihundert Meter unter ihnen, man sah aber nur die Spitze des Kirchturms und von da aus steil hinab in das Wasser der Verzasca. Es schoss in wilden Wirbeln von einem Stein zum andern oder spritzte wie eine Fontäne in die Höhe.
Links führte ein kleiner Pfad durch eine Schlucht. Sie mussten ihn noch hinauf, dann kamen sie auf eine kleine Matte, die sich wie ein schmales Band um eine Felswand zog. Auf der Matte wuchs hohes schönes Gras.
»Das wollen wir heute mähen.« Die Mutter stellte ihren Korb ab. Giorgio stellte seinen Korb daneben. Er nahm die lange Leine heraus, die er mitgebracht hatte, und sah sich um. Dort war ein kleiner Kastanienbaum. Er prüfte seine Stärke. Ob er wohl hielt? Sicher. Er band den Strick fest um den Baum, knüpfte sich das Ende um den Leib und ließ sich langsam hinunter. Er rutschte bis an den Rand der abschüssigen Matte. Sie fiel beinahe dreihundert Meter steil ab.
Unter ihm kochte, zischte und donnerte das Wasser der Verzasca. Ihm schwindelte einen Augenblick; aber dann besann er sich, dass er angeseilt war, und gleich darauf drehte er sich schon nach der anderen Seite, fasste die Sichel fester und sichelte.
Auch die Mutter hatte sich festgebunden. Sie schwebte wie er über dem Abgrund und mähte das hohe Gras. Sie sichelten eilig und mit beiden Händen. Keiner sprach ein Wort. Giorgio sah nur manchmal in den Himmel.
Die Sonne stach wie eine Nadel. Sie war in die Mitte des Tales vorgerückt und hüllte alles in eine milchige Farbe. Giorgio sah, dass sich rechts vom Monte Zucchero ein großer Adler erhob. Er legte die Hand vor die Augen. Ja, jetzt kam er über das Tal herüber. Es war sicher einer von den Steinadlern, von denen der Vater erzählt hatte.
Sie kreisten in den letzten Tagen immer über der kleinen Herde und beunruhigten die Ziegen. Der alte Baretta war hinter ihnen her und wollte sie schießen. Ob er sie wohl traf? Wahrscheinlich nicht. Der Alte zitterte ja schon, wenn er das Gewehr nur in der Hand hatte, wie wollte er da treffen.
Die Wiese war zur Hälfte abgemäht. Giorgio schob das Gras während des Mähens immer nach oben. Wie weit war übrigens die Mutter? Er blickte zu ihr hinüber. Da sah er, dass die Mutter steif und starr geradeaus blickte. Was hatte sie bloß?
Er rief: »Mutter!« Sie rührte sich nicht. Sie starrte weiter vor sich hin. Giorgio legte beide Hände vor die Augen. Da entdeckte er, warum die Mutter so unbeweglich vor sich hin sah. Vor ihr tanzte eine große Viper auf und ab.
Giorgio hatte noch nie eine so große Schlange gesehen. Es sah aus, als stünde sie auf ihrem Schwanz, und der Kopf bewegte sich immer vor dem Gesicht der Mutter hin und her.
Gerade wollte er noch einmal rufen, da besann er sich: Wenn sich die Mutter auf seinen Ruf hin rührte, biss die Schlange zu. Aber was sollte er machen? Er musste versuchen, näher zu schleichen. Würde der Strick langen? Jedenfalls probierte er es. Er zog sich nach oben. Vom Pfad aus konnte er der Mutter ins Gesicht sehen. Sie hielt den Mund halb geöffnet und alles bebte an ihr.
Er ließ sich nieder und kroch auf die Schlange zu. Er kroch so behutsam wie möglich; aber die Schlange spürte, dass ein anderer Mensch nahte. Sie tänzelte schneller, und ihre Zunge schoss wie ein kleiner Blitz hin und her.
Giorgio blieb liegen und wartete, bis sie sich wieder beruhigt hatte, dann schob er sich Schritt für Schritt weiter, hob die Hand mit seiner Sichel, schlug blitzschnell zu, und die Schlange war in zwei Teile zerschnitten, die beide auf und ab zuckten.
Die Mutter war immer noch wie gelähmt, dann wurde sie weiß und fiel in sich zusammen. Ein Glück, dass sie fest an ihrem Strick hing. Giorgio pflückte ein paar Arnikas, zerrieb sie zwischen den Händen und hielt sie der Mutter unter die Nase. Sie kam schon wieder zu sich, strich sich ein paar Mal über die Stirn, nickte Giorgio zu und sichelte weiter.
Auch Giorgio machte kein Aufhebens von dieser Sache; Vipern gab es hier überall, und es kam oft vor, dass er einer den Kopf einschlug oder sie zufällig mit der Sichel durchschnitt. Man musste nur versuchen, schneller zu sein als sie und sich nicht von ihnen beißen zu lassen.
Sie sichelten noch eine Stunde, dann schoben sie das Gras zusammen, verteilten es auf ihre beiden Körbe und kletterten genauso langsam die Hänge und Matten wieder hinunter, wie sie heraufgeklettert waren.
Im Dorf war es inzwischen lebendig geworden. Ein paar Kameraden von Giorgio trieben ihre Ziegen heim. Am Dorfbrunnen tranken vier Kühe. Zwei Esel mit Lasten, die wohl von Locarno kamen, bogen bei der Kirche in die Straße ein, und aus dem kleinen Kramladen, der neben dem Grotto war, hörte man die Stimmen der feilschenden und schimpfenden Frauen.
Die Mutter und Giorgio schütteten das Gras in eine Ecke des Stalles und gingen in die Küche. Die Nonna hatte eine Minestra gekocht. Sie dampfte auf dem großen Kaminfeuer, und die ganze Küche roch danach.
Bevor Giorgio essen konnte, musste er noch einmal in die Kirche, den Mittag einläuten. Er nahm einen Sack mit. Er wollte ja sehen, ob die Käuze Junge hatten. Junge Käuze fängt man am besten mit einem Sack.
Vor der Kirche spielte Anita. Sie war ein quicklebendiges rundes Mädchen, hatte zwei blanke helle Augen und rotes Haar, das das pausbackige Gesicht wie ein feuriger Kranz umlohte. Er wollte sie mitnehmen; aber sie spielte mit Enverino, dem Sohn des Grottowirtes. Enverino war ein großer grober Kerl. Er war zwei Jahre älter als Giorgio, außerdem bildete er sich viel darauf ein, dass sein Vater ein Grotto und einen Kramladen hatte und das halbe Dorf bei ihnen verschuldet war.
Giorgio konnte den langen unbeholfenen Knaben nicht leiden. Er sah auf die Seite und rannte eilig an den beiden vorbei. Er läutete hastig und ohne Andacht die Glocken, dann kletterte er auf einer brüchigen Leiter zu den beiden Käuzen hinauf. Die beiden Alten liefen aufgeregt auseinander. Der kleinere schlug mit den Flügeln. Giorgio hätte ihn anfassen können. Er griff in das Loch, in das die beiden sonst immer verschwanden, hinein, packte etwas Leichtes, Flaumiges, stopfte es in seinen Sack und rutschte schnell wieder die Leiter hinunter. Der kleine Kauz flatterte hoch, als wollte er sich auf ihn stürzen; aber Giorgio schlug die Tür zum Turm zu und rannte davon.
Enverino und Anita spielten noch immer.
»Was hast du in deinem Sack?«, fragte Anita und kam näher. Giorgio machte den Sack auf und sah das erste Mal hinein: »Einen kleinen Kauz.«
»Ach zeig ihn!« Anita zappelte aufgeregt mit Händen und Beinen.
Giorgio ließ sie in den Sack hineinsehen.
»Ist der noch klein!« Sie schlug vor Aufregung und Freude die Hände zusammen. »Schenkst du ihn mir?«
Giorgio schüttelte den Kopf.
»Warum nicht?«
»Weil du mit Enverino spielst.«
»Ach der«, sagte sie verächtlich. »Mit dem spiele ich doch nur, weil du nie da bist. Bitte, gib mir den Kauz.«
»Nein.« Giorgio blieb fest. »Aber vielleicht bringe ich dir heute Abend einen Vogel mit.«
»Was für einen?«, wollte sie wissen.
»Ich weiß es noch nicht.«
»Aber vergiss es nicht.«
»Ich vergesse es nicht. Wenn ich heute Abend zurückkomme, werde ich pfeifen.« Er band seinen Sack wieder zusammen, blinzelte Anita noch einmal zu und rannte weiter.
»Kommst du endlich wieder«, hörte er Enverino noch sagen.
»Ja«, antwortete Anita schnippisch, »aber ich spiele nicht mehr mit dir.«
»Hat der Giorgio dich aufgehetzt?«, knurrte Enverino. »Ich werde ihm alle Knochen zerschlagen.«
Anita lachte hellauf. »Versuch’s nur. Du holst ihn ja doch nicht ein.«
Nein, Enverino hätte ihn nicht mehr eingeholt. Giorgio war schon auf der Steintreppe, die zu seinem Haus hinaufführte; aber er bog vor der Tür nach rechts ab. Hier hatte er einen kleinen Felsspalt mit einem Gitter abgeschlossen. Dahinter waren seine Tiere: zwei Meisen, zwei Kaninchen und ein kleiner Specht. Jetzt kam noch der Kauz dazu.
Giorgio warf den Sack in eine Ecke. Er wollte den Kauz später zu dem Specht in den Käfig setzen. Unten wartete die Minestra. Nach der Suppe gab es noch ein Stück Polenta. Auch die Nonna, die am Kamin sitzen geblieben war, bröckelte sich heute ein paar Stücke von dem runden, goldgelben Kuchen ab.
Nach dem Essen wollte Giorgio gleich wieder zu seinem Stall. Aber die Mutter hielt ihn zurück. »Wir müssen noch Unkraut jäten.«
»Im Grund?«, fragte der dicke Carlo.
Die Mutter nickte.
»Dann bring mir Erdbeeren mit.« Auch Pietro bettelte, und die Mutter und Giorgio versprachen es ihnen.
Sie nahmen diesmal nur die kurzen Hacken mit und stiegen gleich hinter dem Haus in einen tiefen Schlund. Der Weg in die Tiefe war noch gefährlicher als der in die Höhe. Sie sprangen von einem Stein zum andern, hielten sich da an einem Strauch und dort an einem Baum fest, bis sie in der Talsohle ankamen.
Das Tal war ein Gewirr von Felsbrocken mit ausgewaschenen Steinen und umgestürzten Bäumen, kleinen Höhlen und tiefen Löchern, und darüber und dazwischen sprühte, zischte, wirbelte und spritzte das Wasser der Verzasca.
Sie schoss hier von einem Felsen herunter und sammelte sich in einem tiefen Loch, spritzte ein paar Schritte weiter wie eine Fontäne in die Höhe und fiel einige Meter tiefer in einem Sprühregen auf die Felsen zurück.
Wo ihr Pfad endete, hatte man ein paar Bäume umgehauen, und auf den glitschigen, dicken Stämmen kletterten sie auf die andere Seite der Schlucht. Hier ging es nicht so steil nach oben. Der Fels war hie und da gespalten, hatte Absätze, und zwischen jedem Spalt und jedem Absatz waren kleine Felder und Gartenstücke.
Die Mutter grüßte eine Nachbarin, die Bohnen pflückte, und blieb einen Augenblick stehen. Giorgio sprang unterdessen weiter. Da war endlich ihr Feld.
Es waren zwei winzige Maisäcker, die mitten in der prallen Mittagssonne lagen. Die Bohnenstauden, die sie umrahmten, standen in voller Blüte, und die alten Rebstöcke, die sich an den Felsen lehnten, bildeten ein so dichtes Laubdach, dass die eine Hälfte der Äcker völlig im Schatten stand.
Giorgio ging mit seiner kleinen Hacke dem Unkraut zu Leibe. Jetzt war auch die Mutter hinter ihm. Er hörte den gleichmäßigen Schlag ihrer Hacke neben der seinen und hackte eifrig weiter.
»Giorgio!«, rief die Mutter plötzlich.
Giorgio richtete sich auf. »Ja, Mutter?«
»Du könntest nun nach den Beeren sehen, den Rest kann ich allein hacken.«
»Gerne.« Giorgio steckte seine Hacke in den Strick, der seine Hose zusammenhielt, schichtete das Unkraut noch auf die Seite, dann ging er den schmalen Pfad, den sie gekommen waren, weiter.
Er kannte zwei gute Erdbeerplätze. Der eine war an einem kleinen Hang, der sich wie ein grünes Band ungefähr hundert Meter höher um den felsigen Berg zog. Er stieg hinauf. Aber es musste schon jemand da gewesen sein. Die Blätter lagen zertreten am Boden, und es waren nur noch ein paar vereinzelte Beeren zu sehen.
Der zweite Platz war in einer Mulde unten am Wasser. Eigentlich hätte er wieder bei der Mutter vorbeigehen müssen; aber es gab eine Schlucht, durch die man sich unmittelbar in die Mulde hineinlassen konnte. Er sprang zu der Schlucht hinüber. Hier waren zwei Risse wie von einem großen Keil in die Schlucht hineingetrieben, und wenn man es vorsichtig anstellte, konnte man in ihnen wie in einer Rutschbahn nach unten gleiten.
Es gelang, obwohl er sich die Beine aufschlug; aber auf einmal waren die Risse durch einen abgebröckelten Stein wie vermauert. Der Stein konnte erst vor einigen Tagen abgestürzt sein; denn das letzte Mal war er noch ohne Schwierigkeiten in die Mulde geglitten. Was sollte er machen? Hinauf konnte er nicht mehr, und bis in die Mulde waren es noch ungefähr vier Meter.
Etwas oberhalb des Steines stand eine junge Kastanie. Wenn er sich daran hängte und sie nach unten bog, war die Entfernung kleiner. Er tat es, und die Kastanie bog sich tatsächlich um fünfzig Grad. Er ließ sie los und landete glücklich in den hohen Farnen, die die Mulde wie ein kleiner Wald überdeckten.
Schön war es hier. Außer den Farnen gab es Schachtelhalme, Orchideen, dicke Butterblumen, Glockenblumen, und das Wasser der Verzasca war ein paar Meter so sanft und ölig, als könne es gar nicht so zischen und springen, wie es das oberhalb und unterhalb der Mulde tat.
Das Wasser war auch tiefer hier. Beinahe mannstief und so blau und grün, als hätte man Farbe hineingeschüttet. Er sah zwei große, getüpfelte Forellen. Als er näher kam, schossen sie wie zwei Blitze davon.
Er bog die Farne auseinander. Wirklich, hier gab es noch Erdbeeren. Sie waren so groß, rund und reif wie alles in dieser Schlucht, und es dauerte nicht lange, so hatte er beide Hände voll. Er machte aus ein paar Farnblättern und zwei gebogenen Binsen einen richtigen Korb und tat die Beeren hinein.
Der Rückweg war leichter. Er kletterte einige vom Wasser überspritzte Felsen hinauf, und da er barfuß war, fand er überall Halt. Dann ging er den Wasserlauf entlang. Einmal schoss das Wasser wie ein Pfeil an ihm vorbei, ein andermal quirlte und schäumte es auf, als wollte es in lauter Tropfen zerspringen. Dann musste er es durchwaten; aber er kam ziemlich schnell vorwärts, und schließlich stand er wieder an so einem kleinen Pfad wie dem, den er mit seiner Mutter heruntergekommen war.
Er wollte ihn hinaufgehen. Da fiel ihm ein, dass er Anita einen Vogel versprochen hatte. Er bog noch einmal in eine der kleinen Schluchten ab, die hier überall von den steilen Felsen gebildet wurden. Er ging ganz langsam, auch leise, und plötzlich blieb er stehen und äugte geradeaus.
Vor ihm war ein kleiner Platz, und zwischen dem niedrigen Gras flatterte etwas ängstlich auf und ab. Da sprang Giorgio auch schon vor. »Ein Fink«, jubelte er, »ein Fink!« Und er legte seine Hand über das kläglich flatternde und piepsende Tier. Der Vogel hing an einer Leimrute, die Giorgio hier ausgelegt hatte. Es gab viele Plätze im Tal, wo der Knabe Leimruten auslegte, denn der alte Grottowirt zahlte für jeden gefangenen Singvogel einige Rappen. Den Finken sollte der Wirt aber nicht bekommen. Der war für Anita.
Er zog die Leimrute von den kleinen Füßen; dann band er das Tier in einen Lappen. Nun musste er eilen, wenn er noch bis zum Abendläuten heimkommen wollte.
Er sprang wieder über das Wasser und lief einen schmalen Hang entlang, um den Weg abzukürzen, als er plötzlich ein großes Tier vor sich sah.
Was war das? Es hatte eine spitze Schnauze, ein silbriges Fell und kleine, ihn wütend anblitzende Augen. War es ein wildernder Hund? Aber der hätte doch sicher gebellt? War es ein Fuchs? Aber Füchse sahen doch braun aus. War es vielleicht ein Marder? Dafür war er zu groß. Ein Wolf? Es war schon lange kein Wolf mehr im Tal gesehen worden, und auch der Vater konnte sich kaum noch der zottigen großen Tiere erinnern, die früher die Ziegen und die Kälber niedergeschlagen und zerrissen hatten.
Giorgio wusste auch nicht, was er machen sollte. In der einen Hand hatte er den Vogel und in der anderen den Korb mit den Beeren. Seine einzige Waffe, die Hacke, baumelte an seiner Hinterseite, und das Tier war knapp sechs Meter von ihm entfernt.
Er war schon entschlossen, den Vogel oder die Beeren fallen zu lassen und mit der freien Hand nach der Hacke zu fassen, da schnüffelte das Tier ein paar Mal laut, sah ihn noch einmal an, drehte sich eilig um und lief davon.
Giorgio ging ihm nach. Er bekam einen scharfen, säuerlichen Geruch in die Nase. Hatte er den schon einmal gerochen? Natürlich, er erinnerte sich, es war ein Dachs, der da vor ihm herlief, ein großer, ausgewachsener Dachs.
Jetzt wurde er mutiger und sprang hinter dem Tier her; aber da bog es unter eine Felswand und war einen Augenblick später verschwunden. Sicher hat er da seine Höhle, dachte Giorgio, und er merkte sich die Felswand.
Mit ein paar Sprüngen erreichte er seinen Weg wieder, und nach einigen Minuten langte er oben im Dorf an. Er war diesmal unterhalb der Kirche herausgekommen, aber das wollte er auch. Er ging über den kleinen Friedhof, bog in das dunkle Gemäuer ein, in dem Anita wohnte, und pfiff.
»Giorgio!«, antwortete Anita schon.
»Ja, ich bin da«, sagte Giorgio.
Einen Augenblick später sah das Mädchen aus einem der schwarzen Fensterlöcher, die in großen Abständen in den dicken Steinmauern lagen. »Hast du den Vogel?«
Giorgio bejahte. »Es ist ein Fink!«
»Ein Fink!«, jauchzte sie, und ihr Gesicht wurde ganz hell. »Ich komme.«
Wie der Wind musste sie die Treppen heruntergeweht sein, denn Giorgio hatte noch nicht bis drei gezählt, da stand sie zapplig und bettelnd vor ihm.
»Zeig ihn mir!« Sie hob die Hände.
Giorgio setzte zuerst den Korb mit den Erdbeeren auf die Erde, dann packte er das Tuch vorsichtig aus.
»Da ist er.«
»Tatsächlich, ein Fink!« Ihre Hände klatschten zusammen, und sie ließ sich das sorgsam wieder zusammengeknöpfte Tuch geben.
»Und du schenkst ihn mir wirklich?« Sie wollte es noch immer nicht glauben.
»Ja«, erwiderte Giorgio.
»Danke! Danke! Danke!« Sie schloss ihn stürmisch in ihre Arme, und als hätte sie Angst bekommen, Giorgio könnte es sich doch noch anders überlegen, drehte sie sich genauso stürmisch, wie sie gekommen war, um und rannte mit ihrem Finken ins Haus zurück.
Giorgio war einen Moment ganz verstört, weil sie ihn so schnell wieder verlassen hatte; da tauchte ihr Gesicht oben am Fenster auf. »Weißt du«, rief sie herunter, »ich will ihn nur schnell in einen Käfig tun, damit er mir nicht wieder davonfliegt!« Aber dann war sie endgültig verschwunden.
Giorgio trabte weiter. Es war sicher bereits sechs vorbei, und der Vater war bestimmt schon daheim; denn es hatte, als er noch unten am Wasser war, bereits zum Abend geläutet. Er bekam auf einmal ein schlechtes Gewissen. Das war ja eigentlich seine Aufgabe, und er lief noch schneller.
Er trat in die Küche. Es waren aber nur die Mutter und die Nonna da. Die Mutter fragte ihn auch gleich: »Wo warst du so lange?«
»Oben am Hang waren keine Beeren«, entschuldigte er sich, »ich musste noch hinunter in die Schlucht gehen.« Er stellte sein Körbchen auf den Tisch.
»So«, erwiderte die Mutter, »und inzwischen musste der Vater zur Kirche, und die Zwillinge mussten ohne Beeren ins Bett.«
»Ich kann doch nichts dafür«, trotzte Giorgio.
»Nun«, sagte die Mutter, »der Vater wird dir’s schon erzählen, wenn er heimkommt!«
»Wo ist er denn?«
»Zum Läuten gegangen.«
Da kam er. Er stand groß in der Tür. Giorgio sah ihn an. Ja, das würde heute sicher ein Donnerwetter geben.
In dem breiten, von struppigen, schwarzen Haaren umrahmten Gesicht, in dem man nur die kleinen Augen, die breite Nase und die weißen Zähne sah, blitzte es schon.
»Ist der Lausbub da?«, grollte seine tiefe Stimme.
»Ja«, sagte die Mutter, »er behauptet, er hätte so lange nach den Beeren gesucht.«
Giorgio, der am Kamin stand, nickte. »Ich habe außerdem einen Dachs gesehen.«
»Dem bist du natürlich nachgelaufen«, knurrte der Vater, der sich unterdessen an den Tisch gesetzt hatte.
»Ja«, stammelte Giorgio; er merkte erst jetzt, dass es besser gewesen wäre, von der Dachsgeschichte zu schweigen.
»Nun«, erwiderte der Vater, »dafür sollst du jetzt sehen, wie es uns schmeckt«, und er langte nach dem Topf mit Buchweizengrütze, den die Nonna auf den Tisch gestellt hatte.
Die Eltern aßen langsam und schweigend. Es gab noch Kastanien, und zuletzt bekam der Vater Brot und Käse. Giorgio blieb geduldig am Kamin. Wenn es nicht schlimmer kam, das bisschen Hunger war zu ertragen.
»So«, sagte der Vater, nachdem er das letzte Stück Brot genießerisch mit einem Schluck Wein hinuntergespült hatte, »nun wollen wir uns noch einmal unseren Landstreicher ansehen.«
Aber da sagte jemand vom Stall her: »Permesso?«
»Herein«, antwortete die Mutter.
Es war die Magd vom Grottowirt. Sie schob ihr dickes, aufgeschwemmtes Gesicht in die Küche.
»Im Grotto ist einer, der will Euch sprechen, Roberto«, sagte sie zum Vater.
»Mich?« Der Vater war erstaunt.
»Ja, Euch.«
»Wer denn?«
»Ich kenn ihn nicht. Sie nennen ihn den Mann mit der Narbe.«
Der Vater stand auf und langte nach seiner Kappe. »Da will ich einmal gehen.«
Giorgio freute sich. Nun kam er um seine Predigt und um seine Prügel; denn sicher war er, bis der Vater heimkehrte, schon längst in seiner Kammer.
Er bekam jetzt sogar etwas von der Grütze. Sie setzten sich alle noch zusammen. Die Nonna spann mit ihren zittrigen, dünnen Händen. Die Mutter hatte sich Stroh geholt und flocht es zu schmalen Bändern. Giorgio half ihr. Die Bänder wurden kreisförmig zusammengelegt, mit dünnen Hanffäden aneinandergebunden, bis sie einen Hut bildeten. Die Hüte sammelte der Grottowirt und brachte sie nach Locarno auf den Markt.
Der Vater war inzwischen ins Grotto gegangen. An dem großen Steintisch saßen ein paar Bauern und tranken ihren Wein, und etwas abseits von ihnen hockte hinter einem Liter Nostrano der Mann, der am Morgen von Prato gekommen war. Die Magd zeigte auf ihn: »Da sitzt er.«
Roberto trat näher. »Ihr wollt mich sprechen?«
Der Mann schob ihm einen Stuhl und ein Glas Wein hin. »Trinkt erst«, antwortete er.
Die beiden tranken und sahen sich an. Giorgios Vater gefiel der Mann nicht. Er sah ihm zu hart und zu bösartig aus, und da erblickte er auch die Narbe.
Er wollte den Mann gerade fragen, bei welchem Streit man ihn so verunziert habe, da sagte der Narbige: »Ihr habt einen Sohn?«
»Ja.« Giorgios Vater trank wieder.
»Er ist dreizehn?«
»Er wird dreizehn.«
»Ich suche solche Knaben.«
»So.« Roberto trank wieder einen Schluck.
»Ich bringe sie für ein halbes Jahr nach Mailand«, fuhr der Mann fort, »ich gebe sie dort in Dienst. Der Vater bekommt dreißig Franken für seinen Sohn.«
Roberto wusste jetzt, warum ihn der Mann sprechen wollte. »Ich verkaufe meinen Sohn nicht für tausend Franken.«
Der Mann machte nur: »Oho!«
»Nein«, sagte Roberto lauter, »solange wir noch zu essen und zu trinken haben, würde ich lieber mein letztes Hemd als meinen Buben verkaufen.«
Der Mann mit der Narbe sah auf. »Das hat mir schon mancher gesagt, und auf einmal waren das letzte Brot und der letzte Wein von seinem Tisch verschwunden.«
Sie sahen sich wieder eine Weile an. »Nun«, erwiderte Roberto grob, »vorläufig haben wir von beidem noch genug.«
»Ich glaub es schon«, beschwichtigte ihn der Mann. »Ich komme dann im nächsten Jahr wieder.«
Roberto stand auf, sein Glas war auch leer. »Gut«, sagte er und blinzelte den Mann an, »dann könnt Ihr ja wieder vorsprechen.«
»Verlasst Euch darauf.« Das Gesicht des Mannes zog sich seltsam zusammen. »Ich spreche bestimmt wieder vor, und dann gebt Ihr mir wahrscheinlich Euern Knaben sogar mit Freuden mit nach Mailand.«
»Mit Freuden nie«, erwiderte Roberto, schob das leere Glas beiseite und ging.
Die Familie saß noch am Kamin, als der Vater zurückkam.
»Was gab’s?«, fragte die Mutter.
»Es war wirklich ein Mann mit einer Narbe, der mich sprechen wollte«, antwortete der Vater.
»Und was wollte er?«
»Er kauft Kinder.«
»Kinder!« Die Mutter und die Nonna schrien auf, und auch Giorgio sah erschrocken von seinem Stroh hoch.
»Der Mann wollte mir für den da«, und der Vater zeigte auf Giorgio, »dreißig Franken geben, wenn ich ihn für einen Winter mit nach Mailand lasse.«
»Dreißig Franken?«, wiederholte die Mutter. »Was soll er denn dort?«
»Wohl arbeiten«, meinte der Vater.
»Und was hast du dem Kerl geantwortet?« Die Mutter sah ihn fragend an.
Der Vater kniff die Augen zusammen. »Dreißig Franken sind mir für einen so großen Buben zu wenig. Er ist mir schon sechzig wert.«
»O du Rabenvater!«, schrie die Großmutter und warf dem Vater ein Stück Holz vor die Füße.
»War das immer noch zu wenig?« Der Vater sah sie lachend an. »Im nächsten Jahr kommt er übrigens wieder.«
»Warum?«
»Er sagte, ich würde ihm dann meinen Buben sogar mit Freuden für dreißig Franken geben.«
»Dieser Teufel!«, rief die Mutter.
Der Vater lachte wieder. »So sah er auch aus.«
Giorgio konnte das erste Mal in seinem Leben nicht schlafen. Sonst brauchte er sich nur auf seinen Laubsack zu legen, sich auszustrecken, die Decke über den Kopf zu ziehen und schon war er eingeschlafen. Heute dachte er immer an den Mann mit der Narbe.
Er war ins Dorf gekommen, um Kinder zu kaufen, und wollte auch ihn für dreißig Franken mitnehmen. Für diese dreißig Franken sollte er ein halbes Jahr nach Mailand. Was hätte er wohl in Mailand machen müssen? Arbeiten, meinte der Vater. Aber er arbeitete auch hier den ganzen Tag, bis der Rücken und alle Glieder schmerzten; dazu musste er nicht erst nach Mailand gehen.
Er versuchte, den Mann auf die Seite zu schieben und an die Schlange zu denken, die er am Morgen getötet hatte. Aber der Narbige kam wieder, und er spürte, dass dieser Mann doch eine Rolle in seinem Leben spielen würde. Er wollte ja auch im nächsten Jahr zurückkommen.
Giorgio beschloss deswegen, sich den Mann einmal anzusehen. Er war den ganzen Abend im Grotto gewesen, also war er sicher auch morgen früh noch da. Jedenfalls wollte er versuchen, mit der Nonna aufzustehen und im Grotto nach ihm zu fragen. Er hatte das kaum zu Ende gedacht, da schlief er endlich ein.
Er wachte noch vor der Nonna auf, schlüpfte in die Hosen, schlich sich an ihr vorbei die Treppen hinunter und ging hinüber zum Grotto.
Die dicke Magd kehrte Stroh und Abfälle auf die Straße.
»Ist der Mann mit der Narbe noch da?«, fragte Giorgio.
Die Magd sah ihn verschlafen an. »Gerade ist er gegangen. Wenn du springst, kann du ihn noch einholen.«
»Wohin ist er?«
»Er wollte das Tal hinunter.«
»Nach Frasco?«
»Wahrscheinlich!«
Die Magd war mit ihrer Arbeit fertig und ging wieder ins Haus.
Giorgio kannte einen kleinen Weg, der hinter dem Grotto ums Dorf herumführte. Wenn er sich beeilte, holte er den Mann sicher noch ein.
Er lief, was er laufen konnte. Dort, wo der kleine Weg in die Straße mündet, versteckte er sich oberhalb der Straße hinter ein paar Himbeersträuchern. Da polterten Schritte, und einen Augenblick später kam der Mann.
Der große, über die Stirn gedrückte Hut, die blitzenden Augen, der schwarze Bart, die Nase, die wie ein Adlerschnabel aus seinem Gesicht sprang, auch die Narbe, die sich über die ganze Wange zog, das alles sah genauso aus, wie sich Giorgio einen Mann, der Kinder kauft, vorgestellt hatte. Sollte er ihm einen Schabernack oder einen Streich spielen, damit ihm die Lust verging, jemals wieder in ihr Dorf zu kommen und Kinder zu kaufen? Aber was? Er konnte wie eine Weihe schreien. Er konnte einen Stein den Felsen hinunterrollen. Er konnte mit einem Holzstück werfen. Er konnte …?
Als ob er Giorgios Gedanken erraten hätte, blickte der Mann zu ihm herauf. Sah er ihn? Giorgio bückte sich tiefer ins Gebüsch. Da senkte der Mann seinen Blick wieder; aber es war für Giorgios Streiche bereits zu spät, denn der Mann war inzwischen an seinem Versteck vorübergegangen und bog um den nächsten Felsen.
Giorgio ging erst langsam, dann immer schneller heim. Er konnte das Gesicht des Mannes nicht vergessen. Ja, es verfolgte ihn den ganzen Morgen, während er die Glocken läutete, während des Essens, und er vergaß es erst, als er mit der Mutter wieder zum Heuen musste, über dem Abgrund hing und das Gras sichelte.
Auch der Vater konnte den Mann mit der Narbe nicht vergessen. Hatte er ihm nicht beinahe gedroht? Er hatte gesagt, dass Brot und Wein oft schneller vom Tisch verschwinden, als man denkt; aber vorläufig war noch keine Gefahr, dass das geschah.
Nein, Roberto hatte mit seiner Familie sein Auskommen. Er besaß ein Haus und ein Stück Garten, seine Weiden und seine Grashänge. Im Stall standen eine Kuh und ein Kalb und außerdem zwei Ziegen und Zicklein. Er hatte Hühner und Kaninchen, er besaß ein großes Maisfeld und einen Weizenacker. Sein Wein stand gut, auch seine Hirse. Was konnte ihm also passieren und was wollte er mehr?
Und doch schien es, als sollte der Mann mit der Narbe recht behalten.
Ein paar Wochen später, an einem schönen Spätsommertag, war der Vater mit den Kühen und Ziegen, wie alle Tage, auf die Alp gestiegen. Giorgio holte mit der Mutter Futter. Die Zwillinge spielten hinter dem Haus, und die Nonna kochte Polenta.
Da sah Giorgio seinen Vater kurz vor dem Mittagessen von der Alp herunterkommen. »Da kommt der Vater«, sagte er zur Mutter.
»Wo?« Die Mutter richtete sich auf.
Er zeigte es ihr.
»Wenn der Vater so springt, ist sicher etwas passiert«, meinte die Mutter. »Komm, wir gehen auch heim.«
Sie waren gleichzeitig mit dem Vater am Haus.
»Was ist geschehen?«, rief die Mutter ängstlich.
»Der Adler hat eine Ziege und das Zicklein in eine Schlucht gejagt.«
Der Vater war ganz außer Atem und schwitzte vom schnellen Laufen.
»Die große?«, fragte die Mutter weiter.
»Ja, die Martha und ihr Zicklein.«
Giorgio dachte nur an das Zicklein. »Unsere Anita?«, wollte er wissen.
»Jaja«, wiederholte der Vater, und dann erzählte er. Beppo, der Vater von Anita, und er waren ganz vergnügt mit den Kühen und den Ziegen auf der Alp angekommen, hatten sich gerade niedergesetzt und ein Spiel begonnen, als sie sahen, wie einer der Königsadler, die die Herde schon lange beunruhigten, sich auf die Ziegen stürzte, die große in ein Tobel jagte und mit der kleinen davonwollte.
»Wir haben Steine genommen und ihn beworfen, und er hat das Zicklein wieder fallen lassen, aber so unglücklich, dass es auch in das Tobel gestürzt ist; jetzt schreien sie beide aus der Tiefe, und der Adler kreist noch immer über ihnen.«
»Was wollt ihr machen?« Die Mutter hatte große erschrockene Augen.
»Ich wollte den Jäger holen, aber er ist nicht da.«
»Ich weiß, wo er ist!«, rief Giorgio.
»Wo denn?«
»Unten im Grund. Um diese Zeit fischt er immer Forellen.«
»Hol ihn und schick ihn herauf«, sagte der Vater. »Ich werde unterdessen versuchen, uns den Adler weiter mit Steinen vom Leibe zu halten.«
Giorgio rannte durch den Ort. Am Kirchplatz spielten wieder Anita und Enverino.
Anita kam gleich zu ihm herüber. »Wo gehst zu hin?«
»Ich hole den Jäger. Ein Adler ist über unsern Ziegen«, stammelte Giorgio aufgeregt.
»Ich komme mit.« Sie ließ Enverino stehen.
Die Kinder fassten sich bei den Händen und jagten zusammen in den Grund.
Der alte Baretta, den sie alle den Jäger nannten, saß tatsächlich an einem der großen Wasserlöcher und angelte.
»Du sollst –!«, schrie Giorgio.
»Sei still.« Der Jäger legte einen Finger an den Mund. »Gerade will eine anbeißen.«
Aber Giorgio blieb nicht still. »Du sollst gleich mit der Büchse auf die Alp kommen. Der Adler hat eine Ziege in das Tobel gejagt und ein Zicklein niedergeschlagen.«
»Soll ich sie ihm vielleicht wieder abjagen?«, sagte der Alte ärgerlich; denn natürlich war nun die Forelle auf und davon. »Da müsste ich ja Flügel haben.«
»Sie haben es ihm schon wieder abgenommen«, erzählte Giorgio eilig weiter, »aber es ist auch in das Tobel gestürzt, und der Adler kreist immer noch darüber.«
»Kunststück«, knurrte der Alte, »wenn man ihm sein Frühstück nicht gönnen will.« Aber dann pfiff er zwei Töne, wie er es immer machte, wenn ihn etwas interessierte, packte sein Angelgerät zusammen und sagte: »Kommt!«
Giorgio hatte nicht daran gedacht, mit auf die Alp zu gehen, noch weniger Anita; aber der Alte hatte so bestimmt »Kommt!« gesagt, dass sie mitgingen.
Der Alte holte noch Flinte, Kugeln und Pulverhorn, und sie stiegen auf die Alp hinauf. Sie sahen den Adler schon von weitem. Er kreiste in kühnen, großen Schleifen über der Schlucht. »Es sind sogar zwei!«, schrie Giorgio.
Der Jäger beschattete seine Augen.
»Ja«, meinte er, »zu dem Männchen ist noch das Weibchen gekommen.«
Sie kannten den Jäger; denn kaum hatte der kleine Zug die Alp erreicht, schrie der größere der Adler auf, und die beiden Vögel flogen mit großen Schlägen davon.
Die Männer begrüßten sich.
»Du hättest durch den Wald kommen sollen«, sagte Giorgios Vater, »sie haben dich erkannt.«
»Ich hätte durch den Himmel kommen sollen«, äffte ihn der Alte nach, »das wäre noch besser gewesen.«
»Streitet euch nicht gleich«, mischte sich der kleine Beppo ein, »überlegt lieber, was wir machen können.«
»Leben die Ziegen noch?«, wollte der alte Baretta wissen.
Sie gingen zur Schlucht und horchten.
»Ich glaube, wenigstens eine«, meinte Roberto.
Giorgio hörte jetzt auch ein paar klägliche, dünne Laute. Sie stiegen wie ein leises Wimmern aus der tiefen Schlucht herauf. »Wir sollten sie holen, damit wir wenigstens die Tiere retten«, meinte der alte Baretta.
»Aber wer?« Roberto sah ihn an. »In das Loch kann man nur mit einem Seil, und die Stricke, die wir mithaben, sind für einen Mann zu schwach.«
»Auch für einen Buben?«, fragte der Alte.
Roberto kniff die Augen zusammen. »Einen Buben können sie unter Umständen tragen.«
Der Alte drehte sich zu Giorgio um. »Hast du Lust?«
Und ob Giorgio Lust hatte. Er strahlte. Die kleine Ziege, die unten lag, war außerdem seine Lieblingsziege. »Ja«, rief er laut, »ja.«
Der kleine Beppo knüpfte die Stricke, die die Männer mithatten, zu einem Seil zusammen. Giorgios Vater schlug ein paar gespitzte Pfähle in der Schlucht in die Erde und legte einen anderen, dickeren Pfahl dazwischen.
Der Jäger beobachtete inzwischen die Adler. Sie waren zurückgekommen; aber sie kreisten so hoch über der Alp, dass sie auch der beste Schütze nicht getroffen hätte.
»So«, meinte der kleine Beppo, »jetzt wird es reichen.« Er band ein Stück Holz an das untere Ende des Strickes. Giorgio klemmte es zwischen seine Beine und die beiden Männer ließen ihn langsam über das Querholz, das sie zwischen die Pfähle gelegt hatten, in die Schlucht hinunter.
Giorgio war auch jetzt nicht ängstlich, obwohl er einmal gegen einen Strauch und ein andermal gegen einen Felsen stieß. Die Schlucht war ungefähr dreißig Meter tief. Es war mehr ein Spalt als eine Schlucht, und der linke Zipfel mündete in das Bett der Verzasca.
Die Ziege lag ganz auf dem Grund und schien tot zu sein. Das Zicklein hing ein paar Meter höher in einem Gesträuch. Das Zicklein war es, das so kläglich wimmerte.
Als das Tier Giorgio kommen sah, schrie es lauter und zappelte sich etwas frei; aber dadurch rutschte es langsam auch auf den Grund der Schlucht.
Giorgio kletterte ihm nach. Endlich erreichte er es. Das Zicklein sah schlimm aus. Der Adler hatte mit seinen Krallen in beide Seiten geschlagen, und aus der Brust und dem Leib floss Blut. Es tropfte aber auch vom Kopf; der Adler hatte wahrscheinlich hineingehackt.
Giorgio versuchte, das Tier hochzuheben. Da schrie es noch kläglicher. Jetzt sah er, dass es sich durch den Fall auch die beiden Hinterbeine gebrochen hatte und nicht mehr stehen und gehen konnte.
Was sollte er mit dem armen Tier machen? Er strich ihm ein paarmal behutsam über seinen blutenden Kopf. Dabei sah es ihn mit seinen großen, ängstlichen Augen verzweifelt an. Am besten war es wohl, wenn er es an den Strick band und von den Männern nach oben ziehen ließ.
Bevor er das hinaufrief, sah er nach der Ziege. Sie lag ein paar Schritte weiter in einem Gebüsch, war wirklich tot und hatte schon große, verglaste Augen. Ein Ast war ihr mitten durch den Leib gedrungen.
Er kletterte wieder zu der kleinen Ziege hinüber. »Die große ist tot!«, rief er zu dem Vater hinauf. »Nur die kleine lebt noch. Ich binde sie an das Holz. Wenn ich wieder rufe, zieh sie nach oben!«
»Gut«, antwortete der Vater.
Während er sich dergestalt mit der kleinen Ziege beschäftigte, waren die Adler immer höher gestiegen. Sie hatten wohl gesehen, dass die Männer jemand in die Schlucht ließen und ihnen ihre Beute, die sie schon so sicher glaubten, wieder genommen werden sollte. So dachten wenigstens die Männer, auch der alte Jäger; aber die Adler dachten nicht so.
Sie kreisten zuerst noch höher, bis sie kaum mehr zu sehen waren; aber während der kleinere beinahe in der Himmelsbläue verschwand, tauchte der andere in der Nähe des Kastanienwaldes wieder auf, der sich wie eine große, dunkelgrüne Raupe von Sonogno bis hinauf zu der Alp zog. Er versuchte, sich den Männern von hinten zu nähern.
Der alte Baretta, der ihn kommen sah, steckte seinen Hut und seine Jacke über einen Stock, um ihn zu täuschen, und schlich von Strauch zu Strauch, während sich Roberto und der kleine Beppo über die Schlucht beugten.
Giorgio hatte zum zweiten Mal gerufen.
In diesem Augenblick – der alte Baretta hob schon seine Büchse – strich das Männchen mit Gekreisch wieder ab; aber zur gleichen Zeit ließ sich das Weibchen, das alle aus den Augen verloren hatten, wie ein Pfeil aus der Höhe hernieder.
Nur Anita sah den Vogel aus der Luft schießen und schrie ängstlich; aber bevor die überraschten und entsetzten Männer überhaupt zur Besinnung kamen, war der Adler an ihnen vorbei in die Schlucht hinabgeschossen.
Giorgio hatte das Zicklein längst festgebunden und schrie das dritte Mal »Hallo!«. Da erst hörte er den Schrei Anitas und dann das Geschrei der Männer. Er sah in die Höhe und erblickte über seinem Kopf den Adler.
Der Knabe erschrak noch mehr als die Männer, wie er das große Tier so unmittelbar über sich sah, ja, er zitterte am ganzen Körper, die Knie wurden ihm weich, und er sank vor Schreck zusammen.
Der Adler hatte sich unterdessen ungefähr fünf Meter über ihm in den Zweigen eines alten, verdorrten Baumes niedergelassen. Er schlug mit den Flügeln, öffnete seinen Schnabel, kreischte, hob einmal das rechte und einmal das linke Bein, und seine Augen blitzten Giorgio wie zwei feurige Kugeln an. Giorgio zitterte noch immer. Besonders beunruhigten ihn diese großen, kalten Augen, die ihn unablässig anstarrten.
Die kleine Ziege hatte den Adler auch erspäht und spürte wohl doppelt die Gefahr, die ihr drohte. Ihr klägliches Schreien und die Tatsache, dass der große Vogel noch immer nur wie ein Seiltänzer auf seinem Ast hin und her tanzte, machten Giorgio wieder lebendiger und mutiger.
Aber was sollte er gegen den Vogel machen? Er war über einen Meter groß. Sein Schnabel war so spitz wie eine Hacke und seine Krallen so scharf wie Sicheln. Sollte er ihn mit Geschrei verscheuchen? Sollte er einen Stein aufheben? Einen Ast? Auch die Männer überlegten, wie sie Giorgio helfen konnten. Giorgios Vater war um die Schlucht herumgelaufen. Er konnte jetzt den Adler und seinen Knaben sehen. Der alte Baretta war ihm mit seiner Flinte gefolgt. Aber der Adler saß unmittelbar über Giorgio, und wenn der Alte schoss, konnte er genauso gut Giorgio wie den Adler treffen.
Der Adler kreischte lauter, dass dem Knaben der Atem stockte; es war ein bösartiges und wildes Schreien. Er hob außerdem seine Flügel immer schneller, und Giorgio wurde von dem Wind, den die Flügel machten, beinahe umgeworfen.
Er überlegte weiter: Widerstand war wohl unmöglich. Das Beste war zu fliehen. Der Adler wollte ja auch nicht ihn. Er wollte die kleine Ziege. Aber die Schlucht hatte kaum ein Versteck und kaum einen Ausgang.
Da schrie die Ziege zum zweiten Mal. Sie jammerte so kläglich und verzweifelt, dass Giorgio am liebsten mitgeschrien hätte. Sie spürte wahrscheinlich, dass sich der Adler gleich wieder auf sie stürzen würde und es dann mit ihrem Leben vorbei war.
Nein, Giorgio konnte nicht fliehen. Er konnte das Tier nicht im Stich lassen, und er nahm alle Kräfte zusammen, bückte sich, hob einen Stein auf und warf ihn gegen den Adler. Er nahm einen Ast, dann wieder einen Stein, dann wieder einen Ast und schleuderte alles gegen das große, schreckliche Tier. Er traf den Adler auch. Das erste Mal gegen die Brust. Der Adler tänzelte von einem Bein auf das andere. Er traf ihn gegen die Flügel. Der Adler hüpfte höher und kam wieder auf seinen Ast. Er traf ihn gegen den Kopf. Der Adler kreischte auf und entfaltete seine Flügel.
Kam er jetzt? Giorgio hielt schon wieder einen Stein in der Hand; aber der Adler stürzte sich nicht herab, er flog in die Höhe.
Der Knabe starrte ihm nach. Waren er und die Ziege gerettet? Der Adler war schon in gleicher Höhe mit der Alp; aber da ließ er die Flügel wieder fallen und stürzte zum zweiten Mal in die Tiefe.
Giorgio schloss die Augen. Diesmal war es sicher nicht nur mit der Ziege, sondern auch mit ihm vorbei. Er hörte es schon dicht über sich prasseln. Er spürte Federn um sich, die Krallen streiften ihn, und dann stürzte er von einem schweren Schlag getroffen auf die Seite.
Kam nun das Ende? Er blieb seltsamerweise ruhig. Er hörte nur seinen Herzschlag und manchmal, von ganz weit her, die Stimme Anitas und die polternde Stimme seines Vaters, die seinen Namen riefen.
Da öffnete er die Augen wieder. Tatsächlich, unmittelbar über ihm hockte der Adler. Aber was war das? Seine Flügel waren in die Zweige einer kleinen Kastanie geklemmt, die Krallen hingen still nach unten, und aus der Brust des Vogels tröpfelte Blut. Nur die großen Augen hatten noch etwas von der alten Bissigkeit und dem alten Grimm.
Giorgio sprang auf. Der Vogel musste tot sein. Er rührte sich nicht mehr. Hatte er sich zu Tode gestürzt? Hatte er sich wie die alte Ziege irgendwo aufgespießt? Er ging vorsichtig näher und stieß ihn mit einem Stock an. Der Vogel war wirklich tot. Er fiel nun ganz in sich zusammen.
Aber der Vogel hatte sich nicht zu Tode gestürzt; es war auch sonst nichts Außergewöhnliches mit ihm geschehen. Der alte Baretta hatte einfach, als das große Tier wieder aus der Schlucht in die Höhe stieg, seine Büchse abgedrückt und es trotz seiner zittrigen Hände mitten in die Brust getroffen.