Die Schwelle - Sascha Heeren - E-Book

Die Schwelle E-Book

Sascha Heeren

4,8

Beschreibung

Me|di|zin, die; (Wissenschaft vom gesunden und kranken Organismus des Menschen, von seinen Krankheiten, ihrer Verhütung und Heilung) Wahn|sinn, der; (psychische Störung, die von Wahn [und Halluzinationen] begleitet wird) Wirk|lich|keit, die; (das, was tatsächlich ist und existiert und nicht nur in Phantasie oder Vorstellung vorkommt.) Sam hört Stimmen, halluziniert und steht kurz vor dem Wahnsinn – kein Wunder also, dass er als Hauptverdächtiger angesehen wird, als in seiner Firma vier Kollegen auf brutale Weise getötet werden. Sams Wahnvorstellungen werden schlimmer und er wird das Gefühl nicht los, das seine Firma NYPL – New York Pharmaceutical Laboratories – hinter all dem steckt. Bei seinen Nachforschungen stößt Sam auf das Projekt "Schwelle", eine Pforte zu einer fremden Dimension. Hängen seine Wahnvorstellungen damit zusammen? Offenbar steckt hinter dem Projekt noch viel mehr, denn plötzlich steht Sam vor der Frage, was Wahnsinn und was Wirklichkeit ist. Sascha Heeren führt uns mit seinem Pharma-Thriller in eine Realität, bei der wir uns fragen müssen, ob sie tatsächlich existiert. Was ist real, was ist Fiktion? Wo endet die Wahrheit und wo beginnt der Wahnsinn? Ein Buch mit bitterbösem Humor, das großes Lesevergnügen für alle Thriller-Liebhaber verspricht.

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Ähnliche


Sascha Heeren

Die Schwelle

Thriller

Heeren, Sascha: Die Schwelle, Hamburg, acabus Verlag 2016

Originalausgabe

PDF-eBook: 978-3-86282-399-4

ePub-eBook: 978-3-86282-400-7

Print-ISBN : 978-3-86282-398-7

Lektorat : Mona Kasten, acabus Verlag

Umschlaggestaltung: Marta Czerwinski, acabus Verlag

Umschlagmotiv: Hall of deep hospital, © esebene - fotolia.com

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Der acabus Verlag ist ein Imprint der Diplomica Verlag GmbH, Hermannstal 119k, 22119 Hamburg.

© acabus Verlag, Hamburg 2016

Alle Rechte vorbehalten.

http://www.acabus-verlag.de

eBook-Herstellung und Auslieferung: readbox publishing, Dortmundwww.readbox.net

Inspiriert durch Lorelei Shannon und ihr Labor des Grauens, das

mir bereits vor mehr als einem halben Leben gezeigt hat,

dass Leichen nicht das Verhängnisvollste in einem Keller sein

können. Oder die Antwort darauf, warum einige meiner Dämonen

wie zwei Tonnen schwere Hamster aussehen.

Danke für diese Zeit meiner Jugend!

Die Erinnerung ist kein roter Faden.

Sie ist eher wie Konfetti:

bunt und wild umherschwirrend,

kaum zu fassen!

Er mochte den Park.

Der Kirschlorbeer bildete als immergrüne Hecke eine natürlich anmutende Barriere zum Rest der Anlage. Er wusste, dass nichts derart in der Spur wächst, deshalb war ihm das Gestrüpp lieber als jede noch so anmutige künstliche Form. Sie blieb kalt und hart.

Nichts übertraf seine kleine grüne Insel. Weder der verkrüppelte Baum in der Mitte des Parks noch das Backsteingebäude in seinem Rücken. Beide ragten beeindruckend empor und verkörperten eine längst vergangene Zeit. Doch wirklich verbunden fühlte er sich nur dem Baum, auch wenn es das Gebäude war, das ihm ein Dach über dem Kopf bot. Ein kaltes, hartes Dach.

Jedes Mal, wenn er sich auf die Parkbank gesetzt hatte, warf er dem hölzernen Greis einen anerkennenden Blick zu. Ey, Kumpel, ich fühl mich, wie du aussiehst! Dabei war er vermutlich nicht einmal halb so alt wie dieser Amberbaum. Ein Zaubernussgewächs, hatte ihm Beth verraten. Sie wusste viel. Für ihn hatte der Baum einfach nur nach einem Krüppelbaum ausgesehen, doch wenn sie vom Amberbaum sprach, klang es wie ein magisches Versprechen. In diesen Momenten vergaß er, dass er an einem Ort lebte, der nicht weiter von der Magie hätte entfernt sein können. Das war verzwickt. Im besten Fall verhext. Er erinnerte sich nicht, diesem Ort Versprechen abgerungen zu haben, und wenn doch, dann hatte er seine Wünsche und Sehnsüchte ohnehin bei seiner Aufnahme abgeben müssen.

Wann? Das lag hinter einer klebrigen Nebelmauer, die wie das Backsteinmonster die Wirklichkeit dort draußen abschnürte. Er war gefesselt wie die Zeit in diesem aseptischen Niemandsland zwischen Albtraum und Wirklichkeit, das seine Existenz ständig durch Erledigung von Formalitäten perpetuierte. Das Höchste der Gefühle.

Warten Sie hier, Sie werden gleich zur Erledigung Ihrer Formalitäten von Ihrer Bezugsperson abgeholt.

Damals hatte er auf Beth gewartet, die ihn zur Erledigung seiner Formalitäten abholen sollte. Danach kam sie regelmäßig, auch um ihn zum Park zu begleiten, wo sie schon recht bald von dem wunderschönen Amberbaum und seiner imposanten Herbstfärbung zu erzählen begann, die er nun niemals mehr zu sehen vermochte. Nie wieder würde er seine leuchtend violetten, feurig roten und gelben Blätter sehen können. Heute war er fast abgestorben, da hieß es, sich aufs Wesentliche zu konzentrieren. Und das bedeutete noch immer: nicht sterben. Dazu brauchte man keinen farbenprächtigen Blätterschmuck.

Beth war an diesem verzwickten Ort seine Bezugsperson. Ihr musste er seine Wünsche anvertraut haben. Doch hütete sie sie auch für ihn? Er lebte an einem verzwickten Ort. Da hieß es, sich aufs Wesentliche zu konzentrieren, nicht zu sterben. Dazu brauchte er keine Wünsche. Er brauchte eine Freundin.

Wenn Beth ihm auf der Bank Gesellschaft leistete, war sie der Mittelpunkt des Gartens und manchmal glaubte er, den Krüppelbaum in der vollen Blätterpracht des Amberbaums zu sehen.

„Die sehen aus wie Ahornblätter“, sagte sie und zeichnete die Form auf ihrer Hand nach. „Du kennst doch Ahornblätter, oder?“

„Ja, glaube schon.“

Seine Blicke klebten an ihren Fingerkuppen. Jede einzelne hatte sie mit dem Zeigefinger der anderen Hand berührt. Zärtlich abgezählt.

„Sehen ungefähr aus wie eine Hand. Und beim Zerreißen strömen sie einen herrlichen Duft aus.“

„Ahornblätter?“, fragte er.

„Nein, die Blätter von unserem Freund hier. Ein herrlicher Duft.“

Er würde diese Erfahrung niemals mehr machen können.

„Das möchte ich riechen“, sagte er und blickte zum Krüppelbaum.

Die Bitte eines Hoffnungslosen an einen Sterbenden.

„Ich weiß. Du hast es geschrieben.“ Beth berührte vorsichtig seinen Arm. Sie wollte ihn wieder zu sich holen.

Sein Blick bohrte sich in das morsche Holz. Dann war er wieder bei ihr. „Ich weiß.“

„Ich fand es sehr schön, wie du unseren Park beschrieben hast. Ich konnte ihn mir richtig vorstellen. Schade, dass wir hier keine Enten haben.“

„Ja, schade eigentlich. Ein Teich wäre wirklich schön.“

„Oh, ja. Aber so groß, wie du ihn beschrieben hast, hätte der hier keinen Platz. Dafür müssten wir anbauen, was?“

Sie umrundeten den Park mit ihren Blicken.

„Danke, dass ich es lesen durfte,“ sagte Beth nach einer Pause. „Wenn hier jetzt der Teich wäre, wo wäre dann der Baum mit dem Versteck?“

„Dort drüben ungefähr.“

„Nun ja, so groß hatte ich mir den Teich auch fast vorgestellt. Hier würde er wirklich nicht reinpassen, in unsere kleine grüne Oase.“

Sie sah ihn nachsichtig an.

„Du kannst gut schreiben, ich konnte es mir alles gut vorstellen.“

„Was?“

„Na, deinen Park. Die Büsche, den See, den Regen, das Versteck unter dem Baum …“

„Der heiße Regentag im Park, ja“, flüsterte er.

„Du weißt, dass das deine Fantasie ist?“

„Es ist ein Tagebuch.“

„Ein Tagebuch?“, fragte sie.

„So was in der Art. Es hilft mir, meine Gedanken zusammenzuhalten. Der Schädel reicht dazu nicht aus.“

Er lachte.

„Aber es ist deine Fantasie.“

„Ich fühl mich wie eine lose Blattsammlung.“

Er zog seine Hand an die Brust.

„Leicht zu zerfleddern. Von allem und jedem. Seiten können entfernt und vertauscht oder durch andere ersetzt werden. Das Buch hilft mir … mich zusammenzuhalten. Den Überblick zu behalten. Die Reihenfolge einzuhalten. Mich nicht zu verlieren.“

„Dich zu erinnern?“, fragte sie.

„Bloß nicht! Das verwirrt nur und macht Unordnung. Ich versuche, die Erinnerung zu kontrollieren.“

Sie ist sprunghaft, wirr. Sie kommt, wann sie will. Ständig auf der Flucht, wenn ich sie packen will. Ansonsten drängt sie sich in ihrer nutzlosesten Form auf: zusammenhangslos.

„Aber es ist Fantasie, nicht?“

„Oder die Kontrolle“, sagte er.

„Ja?“

Diese Frage war für ihn nur eine Formalität ohne Belang. Die Beantwortung brachte ihn nicht weiter. Nicht an diesem Ort. Hier stellten sich keine Fragen, um Dinge zu erklären. Aus seiner Perspektive zielte die Frage ausschließlich auf eine Entscheidung ab. Gebundene Fantasie oder zerfledderte Realität? Das galt es, zu entscheiden.

„Du hast schon viele Bücher vollgeschrieben. Weißt du, wie viele es sind?“

Er überlegte.

„Nein.“

Es war egal.

„Ungefähr?“, stocherte sie weiter.

„Nein.“

Das war für ihn ebenfalls unwichtig. Gebunden oder zerfleddert – lieber zwei gebundene, unverrückbare Seiten als tausend zerfledderte.

„Der rote Faden ist das Wichtige“, murmelte er vor sich hin. Seine Hand suchte unwillkürlich ihre Nähe. „Entweder schleift er einen durch den Schlamassel zum Ausgang, oder, falls nicht, dient er einem zumindest noch als Strick. Wie man es auch hält: Man muss durch den Schlamassel durch zum Ausgang.“ Er lächelte vorsichtig. „Schon allein deshalb sollte man stets einen reißfesten Faden bevorzugen.“

Gebundene Fantasie oder zerfledderte Realität? Das war eine Entscheidung zwischen Halteseil oder Strick.

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Rufen Sie uns einfach an. Das Probandensekretariat ist montags bis freitags von 09:00 bis 17:00 Uhr unter den Telefonnummern

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Die Eingangsuntersuchungen zur Feststellung Ihrer Eignung für die Studienteilnahme werden durch Vertragsärzte durchgeführt. Um weitere Informationen über die Studie zu erhalten, nennen wir Ihnen gern den kooperierenden Arzt in Ihrer Nähe, der Sie umfassend einweisen wird.

Unterstützen Sie die Forschung, werden Sie Studienteilnehmer!

Vielen Dank!

Eine Woche im September …

An einem Dienstag zu sterben, ist Mist.

Grundsätzlich lässt sich behaupten, Sterben an sich ist Mist, gerade aus der Perspektive der Betroffenen. Aber das Dahinraffen an einem Dienstag setzt voraus, dass man sich den Montag noch geben musste. Wäre man beispielsweise an einem Montag gestorben, hätte man noch behaupten können, den letzten Tag auf Erden mit einem Sonntag verbracht zu haben. Ausschlafen, frühstücken, kein Stress, Grandmas Braten, Kaffee und Kuchen und schließlich ein Fernsehabend mit einhergehendem Sonntagsfilm.

Aber nein, dem am Dienstag Sterbenden bleibt nur der Montag, der einem mit Arbeitsrealität den Wochenendschlaf aus der Visage prügelt – und das war dann also dein letzter Tag.

Früher als sonst hatte er an einem Dienstag im Büro gesessen und seinen letzten Arbeitstag mit den Worten begonnen:

„Verabschiede dich von deiner Festplatte, du Scheißer!“

Er war allein. Keiner seiner Kollegen wäre auf die Idee gekommen, sich an diesem Ort dermaßen früh einzufinden, nicht nach einem Montag. Aber das war gut so, denn ansonsten hätte man seine letzten Worte mit Sicherheit gegen ihn verwendet. Gegen die Worte auf seiner Beerdigung. Denn Verabschiede dich von deiner Festplatte, du Scheißer! gehört nicht unbedingt zu den letzten Weisheiten eines Menschen, mit denen man ihn nach seinem Ableben zitieren möchte.

War da doch jemand? Jemand, der ihn beobachtete, der ihm zuschaute, der sah, wie er sich am fremden Computer zu schaffen machte? Der seine Worte hörte und ein Klacken von sich gab? Ja, da war eindeutig ein Klacken zu hören. Kein versehentliches. Ein bewusst gesetztes, das aufschrecken sollte.

Sein Kopf schnellte in die Höhe, mit aufgerissenen Augen starrte er in die Richtung, aus der das Geräusch tönte. Doch bevor er auch nur die Gelegenheit bekam, einen Umriss zu erkennen, wurde er herumgerissen.

Jemand schleuderte ihn von der Tischplatte an die Wand. Ein kräftiger Hieb in sein Gesicht ließ seine Lippen aufplatzen, die Brillengläser bersten und das hinterlistige Speckgesicht in eine angsterfüllte Schweinefresse verwandeln, die kaum glauben konnte, was dieser Jemand gerade mit ihr anstellte. Ein spitzer Gegenstand – Brieföffner, Zettelspießer oder beides – rammte sich durch seine rechte Handinnenfläche, dann durch seine linke. Es ging zu schnell, um sich über den erbärmlichen Abklatsch einer Kreuzigung Gedanken zu machen. Aber nicht schnell genug, um dem scharfen Schmerz entkommen zu können. Seine brennenden Hände sogen dieses Gefühl förmlich auf und katapultierten es in jede Zelle seines Körpers.

Er sah an seinem linken Arm hinunter. Der nächste Hieb traf seinen Kiefer. Dann folgte noch ein Schlag ins Gesicht. Er erkannte seine vernagelte Situation. Sein Gegenüber auch. Sein Blick war panikerfüllt. Milchige Kotze stieg in ihm hoch. Nur das Karge, was ihm in der Frühe vergönnt gewesen war. Es quoll über die Lippen, vermischte sich zu einem Rosarot und tropfte im Takt der Schläge auf das Dienstagshemd mit der Seidenkrawatte.

Sein Angreifer setzte den rot lackierten Industrietacker an seine Lippen. Nicht jeder Schuss traf. Der ein oder andere stieß gegen die Zähne, aber die Masse machte es schließlich. Jetzt kam keine Kotze mehr durch.

Das Teppichmesser sorgte für den Rest. Den ersten Schnitt fürs Hemd und die Dekoration, den zweiten für die Entsorgung der Innereien.

An einem Dienstag zu sterben, ist Mist. Aber wenn es einen so zerlegt, wie ihn in den Morgenstunden eines Dienstags, war der Wochentag ohnehin egal.

Montag

Medikamente nehmen!

Nein.

1

191 Main St

Port Washington

New York 11050

USA

Als Samuel Gregg an diesem Montagmorgen aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich weder zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt noch auf einem panzerartig harten Rücken liegend vor. Das täuschte. Auch wenn sich Sam so vorkam, als läge er hilflos und zum Käfer verwandelt in seinem Bett, entsprach es nicht der Realität. Er hob den Kopf, sein Blick glitt zu seinem bleichen Bauch, der das eine oder andere Kilo mehr vertragen konnte und stellte fest, dass ihn nur der Anschein mit Kafkas Samsa1 verband.

Sam fühlte die großen, roten Wülste unter den Augen, die ihn ermahnten, weiterzuschlafen und es in zwei Stunden noch mal zu versuchen. Ein typischer Montag.

Er ließ den Kopf ins Kissen fallen. Die Tränensäcke beschwerten seinen Schädel zusätzlich und drückten ihn mit aller Gewalt zurück in die süße Umnachtung, aber auch das war nur ein Gefühl. Etwas aus der Vergangenheit.

Tess war weg. Der Platz neben ihm war kalt. Sie musste früh gegangen sein.

Die Sache zwischen Tess und ihm lief völlig zwanglos und unkompliziert, aber er hätte lügen müssen, wenn er sich ausgerechnet jetzt wünschte, sie könnte ihm in die Augen sehen. In die Montagmorgenvisage. Doch je zwangloser und unkomplizierter man eine solche Sache auch anging, desto verworrener wurde sie.

Das Handy brummte auf dem Nachttisch.

Stew Turner

Gucken zwei Blondinen einen Cowboyfilm, in dem ein Cowboy auf ein riesiges Kakteenfeld zureitet!

„Ich wette mit Dir um 10 Dollar, dass der da durchreitet!“, sagt die eine. „Ich wette, der reitet da nicht durch!“, sagt die andere. Der Cowboy reitet durch! Sagt die erste: „Schon gut! Kannst Deine Kohle behalten! Ich hab den Film schon mal gesehen!“ Sagt die zweite: „Ich auch! Aber ich hätte nicht gedacht, dass der da noch mal durchreitet!“ Schönen Montag, Stew …

Sam Gregg

… und die Woche nimmt kein Ende! Bis nachher ☺

Der erste Blick in den Schlafzimmerspiegel schenkte Gewissheit. Nein, er war nicht zu einem Käfer mutiert. Und ja, große, rote Wülste hatten sich unter den Augen breitgemacht. Ey, Kumpel, ich fühl mich genauso, wie du aussiehst!

Der zweite Blick zwang ihm Tessa ins Hirn. Zwanglos und unkompliziert. Er lächelte, auch wenn es nichts mit letzter Nacht zu tun hatte.

Sam blieb am Bild seiner Eltern hängen. Ein Polaroid, das beide in jüngeren und besseren Tagen zeigte. Seine Mutter in ihrem gelben Lieblingskleid, sein Vater zugeknüpfter, leicht spießig und verwechselbar. Mutter mit Geschäftspartner, der passende Untertitel. Dennoch entdeckte Sam jedes Mal, wenn er das Bild betrachtete, einen warmen Blick in den sonst so kühlen Augen seines Vaters.

„Dein Vater hat was, echt … sexy“, hatte Tess auf das Bild reagiert. „Aber weißt du was? Du gleichst eher deiner Mutter“, hatte sie gemeint und ihm mit ihrem Finger über die Brust gestrichen, geradewegs auf dem Weg nach unten.

Er löste den Klebestreifen, der das Foto am Holzrahmen des Spiegels hielt und legte es sofort auf die darunter stehende Kommode. Keine Zeit. Die Kommode mit dem Spiegelaufsatz erinnerte mit den Verzierungen an ein fehlplatziertes Möbel. Tess schoss ihm durch den Kopf. Sie hatte einfach ihre blonden Locken abgeschnitten, weil sie sie nervten. Jetzt sah sie wie ein verkorkstes Idol aus. Er musste an Stewart Turner denken, seinen besten Freund, der auch meinte, dass sein Vater zwar ziemlich sexy aussähe, er aber eher seiner Mutter gleiche.

„Keine Angst, Sam“, hatte Stew ihn daraufhin beruhigt, „du bist eh nicht mein Typ!“

Es war ein Montag im Herbst. Die ersten Sonnenstrahlen drangen in sein Schlafzimmer und versprachen heute einen milden Herbsttag, der auch als Sommertag hätte durchgehen können. Jetzt war es noch kühl. Die Tage waren vorbei, an denen man bereits morgens nur mit der Klimaanlage im Auto die Fahrt zur Arbeit überlebte. Strahlende achtzehn bis zwanzig Grad, gestand Sams Blick aus dem ersten Stock diesem Wochenanfang zu. Aber was wusste er schon? Er hatte ja kein Auto. Er brauchte auch keins, denn den Weg zu PharmaLap schaffte er leicht zu Fuß. Da war Tess schon schlechter dran. Sie musste mit dem Auto zur Firma, danach zu ihm, in einer Nacht- und Nebelaktion wieder zurück nach Hause, und anschließend ins Büro.

Du bist ein Arsch, Sam, echt!

Er hätte sie zum Frühstück einladen sollen. Aber warum mit Gewohnheiten brechen?

Sam öffnete die Nachttischschublade und schielte auf einen Müsliriegel. Schoko-Banane. Daneben ein ungebrauchtes Kondom.

Dizzy sprang auf den Nachttisch. Klar, sie war auf den Müsliriegel scharf. Schoko-Banane ging immer, selbst für eine Katze.

„Na, Dizzy, alles klar, meine Kleine?“

Er hob sie hoch, drückte sie an seine Stirn und wartete darauf, dass sie schnurrte. Das war ihr eingespieltes Morgenritual.

Dizzy schnurrte wie eine frisch geölte Singer-Nähmaschine und machte wie jeden Morgen einen wohligen Buckel. Das war das Zeichen, sie abzusetzen.

Er ahnte schon, warum sie heute schneller einen Buckel machte als sonst. Der Grund hieß Schoko-Banane-Müsliriegel.

Er schlurfte in den Flur zum Briefkasten, holte die Post und ging zurück ins Wohnzimmer. Vorbei am Bücherregal.

Ein Blick über die verstaubten Wälzer. Jeden Morgen das Gleiche, aber Sam hatte den Eindruck, als faszinierte dieser Zwischenstopp Dizzy immer aufs Neue.

„So, da wären wir, Dizzy. Mal sehen, was wir hier so haben: Das Ende der Kindheit, Das Haus nebenan, Mord am Strand … Ich hab jedes mindestens zweimal gelesen. Wie steht’s mit dir, Dizzy? Willst du dir eins über den Tag ausleihen?“

Er lachte.

„Du hast sie wahrscheinlich auch schon alle zweimal gelesen, was? Du hast recht: Wer liest heute noch Bücher, he? Nun gut, schauen wir mal, wer uns heute geschrieben hat.“

Das Erste, was ihm ins Auge fiel, war die Monroe, die ihn von einer Postkarte aus anstarrte. Gegen Marilyn in Schwarz-Weiß hatten Rechnungen freilich keine Chance. Also verbannte er die Plagen auf den Wohnzimmertisch, um sich voll und ganz den sinnlichen Schriftzügen der Postkarte zu widmen.

Oh wie sehr bist Du mir nah,

jetzt, wo ich fort von Dir bin!

Als wärst Du mit Deinem Schatten mir gefolgt,

um mich in Einsamkeit noch zu trösten!

Nun sitz ich ganz allein

in meinem Schattenzimmer

und sehn mich

nach dem erlösenden Strahl Deiner Gegenwart!

War das von Marilyn? Sie hatte ja auch gedichtet. Er wusste es nicht. Von Tess war ihm jedenfalls nichts dergleichen bekannt. Egal: Von wem auch immer, es ehrte ihn. Keine billige Liebeserklärung.

Wer verschickt heutzutage noch Postkarten?

Sam kannte niemanden. Aber dann war die Sache zwischen Tess und ihm doch nicht kompliziert, wenn sie ihn liebte.

„So, Dizzy, das Bummeln ist uns nicht gegeben, aber wem sage ich das, was? Wir haben uns ja nicht umsonst so früh aus den Federn gequält, wird also Zeit, an die Arbeit zu gehen, meine Liebe. Ich würde dich ja gern mitnehmen, aber Bill, die fette Ratte, würde dir nur im Halse stecken bleiben. Hoffen wir also einfach, dass irgendwer Erbarmen zeigt und einen Blitz schickt, was?“

Am fetten Billy Boy zu ersticken?

Das könnte Sam seiner Dizzy niemals antun.

1        Gregor Samsa, der Typ, der eines Morgens ebenfalls aus unruhigen Träumen erwacht war, sich aber im Gegensatz zu Sam wirklich in einen riesigen Käfer verwandelt hatte.

2

Auch wenn sich der Weg nicht weit anhörte und er zu Fuß, mit schnellem Schritt und keinem Trotteln auf dem Gehweg, zweiundzwanzig Minuten zu PharmaLap brauchte, entschied sich Sam heute für den Bus. So wie jeden Morgen, denn die sieben Minuten, die sein Chauffeur benötigte, waren nicht zu schlagen. We’ll Get You There, versprach Nassau Inter-County Express mit dem Schriftzug neben der Bustür. Für zwei Dollar wurde dieses Versprechen Wirklichkeit.

Sam hatte die Uhrzeiten im Kopf eingefräst. Er wusste auf die Minute genau, wann er die Appartementtür zuschlagen musste, um aufspringen zu können. Doch heute zählte das nicht, denn mittlerweile war jede seiner Uhrzeiten verstrichen, da kam es nicht auf die eine oder andere Minute an.

Shore Rd und Pleasant Ave warf ihn der Bus verspätet raus. Bevor er seinen Turboschritt anwarf, atmete er kurz noch mal tief ein.

„Ja, das Bummeln ist uns wirklich nicht gegeben“, seufzte er, als wäre Dizzy an seiner Seite.

Mit Betreten des Firmengrundstücks überkam ihn der Wunsch, auf dem Absatz kehrtzumachen. Reine Routine. Nichts weiter als der tägliche Morgenkoller zum Arbeitsanfang. Dabei bot PharmaLap, genauer: NYPL – New York Pharmaceutical Laboratories Pvt. Ltd., nicht wenig. Eine Krankenversicherung, gutes Gehalt, und auch die Wohnung in der Nähe war der Firma zu verdanken gewesen. Als er vor einem Jahr aus dem Kings County Hospital Center entlassen wurde, hatte sein Boss, James Michael Goforth, alle Hebel in Bewegung gesetzt, dass er das möblierte Mittelklasse-Appartement bekam. Sein Job als technischer Redakteur stellte ja nun auch keine übermäßig große Herausforderung dar. Ein gottverdammter Brotjob, den man ihm wie eine Eisenkugel ans Bein gehängt hatte. Dabei wollte er gar nicht undankbar sein.

Die Firma war ihm allerdings unsympathisch. Das schloss Goforth mit seiner seifigen väterlichen Art durchaus ein. Auch Bill Coon, ebenfalls technischer Redakteur und das weltweite Oberhaupt einer wachsenden Arschlochverschwörung, stand auf der Liste seiner Lieblings-Unsympathen. Ansonsten war PharmaLap ein normales Unternehmen, das Arzneimittel herstellte, diese vermarktete und eine eigene Abteilung für Forschung und Entwicklung in den unergründlichen Taschen seines Portefeuilles parat hielt.

Wie bei jedem Unternehmen, das bereits seit Jahrzehnten bestand, gab es auch über PharmaLap unzählige Gerüchte und Verschwörungslegenden. Von Experimenten für biologische Kampfmittel bis zu beabsichtigten Nebenwirkungen aktueller Medikamente war jedenfalls alles an Verschwörungsfama im Angebot, was der überreiche Gerüchtenährboden der hart umkämpften Pharmaindustrie lieferte.

Das umfangreiche und nicht für jeden zugängliche Kellerlabyrinth führte selbst bei den eigenen Mitarbeitern zu den blühendsten Spekulationen. Stew hatte sich zum Kellergeschoss im Alcatraz-Look einmal geäußert:

„Wenn’s nach mir geht, muss ich da gar nicht hin. Da züchten sie vermutlich zwei Tonnen schwere Hamster oder irgendetwas in dem Stil.“

Zu allem Überfluss war sein Büro eigentlich kein richtiges Büro. Es waren sechs Quadratmeter, auf denen ein Schreibtisch über Eck mit PC und Telefon stand, die zu drei Seiten mit grünen Stellwänden umzäunt waren. An der Stelle, wo ein richtiges Büro eine Tür hat, also an der vierten Seite der giftgrünen Box, klaffte ein Nichts. Sein Büro war für jeden zugänglich, und wenn man sich auf die Zehenspitzen stellte, konnte man dem Nebenmann oder der Nebenfrau auf den Schreibtisch spucken. Der einzige Trost war, dass sein Abteilungsleiter Frank McDowell baugleich untergebracht war und mit seiner Statur wie ein ins Laufrad gequetschter Hamster aussah.

Sam zog seine ID-Karte durch das Lesegerät und wartete, bis das grüne Lämpchen den Weg freigab.

Wie jeden Tag drängte sich ihm bei Arbeitsbeginn die Frage auf, wer für die Farbzusammenstellung im Büro verantwortlich gewesen war. Hässlich war gar kein Ausdruck. Dieser Angriff auf die ästhetischen Grundwerte grenzte zweifellos an Körperverletzung.

Frank war trotz seiner Leitungsfunktion glaubwürdig geblieben. Ein Typ, den jeder mochte und der auch mit seinem Umfeld menschlich und fair umging. Er war Ende dreißig und damit zehn Jahre älter als Sam. Vielleicht lag es an diesem Umstand, dass die Verbindung zwischen der Abteilung und ihrem Leiter nicht riss.

Als Sam an Franks Box klopfte, stand er bereits drinnen.

„Frank? Tut mir leid, dass ich störe, aber ich werde heute mit dem Vitando-Report fertig. Da dachte ich, du hast vielleicht was Neues für mich.“

Angriff war bekanntlich die beste Verteidigung, sich nicht erst mit Kleinigkeiten abzugeben, verspäten konnte sich schließlich jeder, dachte Sam. Dennoch dürfte es Frank kaum entgangen sein, dass er erst vor drei Sekunden hier angetanzt war, doch Gott sei Dank gehörte Frank nicht zu jenen Vorgesetzten, die groß darauf rumhackten.

Frank griff sich einen Ordner vom Regal über dem Schreibtisch und blätterte darin herum.

„Sekunde. Ja, ich glaube, du könntest dich auf die Dokumentation über Pestwurz stürzen. Kelly hatte zuletzt damit gearbeitet. Ich meine, sie hat es unter Petasites oder so was abgelegt.“

Vom Hustensaft zur Tablette!

„Toll, danke.“

Sam meinte es nicht so verächtlich, wie es sich anhörte. Anderes Produkt, gleiche Arbeit, nichts weiter. Er sah es emotionslos. Sams Dank galt in dieser Situation vielmehr Franks ausbleibendem Anschiss.

Danke, dass du mir nicht den Arsch hochgebunden hast.

„Gute Arbeit, Sam.“

Sam kramte das Portemonnaie aus der Gesäßtasche hervor und wedelte damit. „Ähm, tut mir leid, dass ich zu spät gekommen bin. Das klingt blöd, aber Dizzy, meine Katze, hatte mir die Brieftasche geklaut … also verschleppt, gewissermaßen.“

Bevor er seine Ausrede in Gänze vorgetragen hatte, war ihm klar, dass ihn jeder andere Chef unangespitzt in den Boden gehauen hätte.

„Diese Ausrede ist jedenfalls originell, das muss man dir lassen. Du siehst geschafft aus, Sam. Alles in Ordnung?“

„Ja, alles okay. Ich kann nur in letzter Zeit nicht besonders gut schlafen.“

„Ich hoffe, du weißt, dass ich jeder Zeit für dich da bin, falls du mich mal brauchen solltest. Du bist ein tüchtiger Mann, und wenn ich dir helfen kann, tue ich das jeder Zeit.“

Ein tüchtiger Mann, dem man seine Zeit in der Klapse ansieht. Aber warum auf den Behindertenparkplatz verzichten, wenn er einem angeboten wird?

„Da wäre vielleicht was. Ich wollt mich mal mit dir über meine Sicherheitseinstufung unterhalten. Ich komme damit nicht mal in die Cafeteria!“

Die Cafeteria lag hinter einer Sicherheitsglastür, die noch andere Bereiche einschloss: Keller, waffenfähiges Material, Hamster, das Übliche.

„Soll das ein Witz sein?“

Frank verzog das Gesicht.

„Nein, kein Witz.“

„So ohne Weiteres geht das natürlich nicht. Aber ich werde sehen, was ich für dich tun kann, Sam.“

Nachdem der formale Teil mit Frank geklärt war, schaute Sam in Tess’ Büro nebenan rein.

Als Sam sie mit angehaltenem Atem und zusammengepressten Lippen beobachtete, konnte er nicht anders, als sich einzugestehen, dass dieses entzückende fünfundzwanzigjährige blonde Geschöpf etwas Engelhaftes ausstrahlte. Er kam sich ihr gegenüber wie ein gerupfter Vogel vor. Aber auch wenn sie gebrechlich wirkte, unter dieser Anmut verbarg Tessa Louis ein mächtig tiefes Gewässer.

Er berührte sie am Hals.

„Sam, mein Gott, hast du mich erschreckt!“

„Genau wie du mich gestern Nacht. Weißt du, was ich meine?“

„Ja, gestern Nacht, das war …“

Sie erhob sich von ihrem Bürostuhl und zog sich an ihm hinauf. Sie lächelte und küsste ihn. Kurz. Abwartend. Prüfend. Heftig, als hätte sie auf ihn gewartet. Dabei war Sams Zurückhaltung kein Hindernis.

„Ich liebe dich“, sagte sie und zog ihn runter zu ihren Lippen.

Zwanglos und unkompliziert gehörten der Vergangenheit an. Spätestens seit Marilyn Monroe. Mit einem Mal war ihm klar, dass das Gedicht von ihr war. Verdammt, sie meinte es ernst.

Seine Brieftasche noch in der Hand, kramte er das Foto der letzten Weihnachtsfeier raus. Wenn es eine gute Party war, dann sollte man auch ein Foto davon mit sich rumschleppen. Es zeigte Tess, Stew und ihn. Kichernd mit Santa-Claus-Mützen.

Er hatte ein schlechtes Gewissen. Er sollte sie mehr in sein Leben lassen. In den Teil, der gesund war. Oder zeigte er ihr das Foto, um der Verlegenheit zu entkommen?

„Die Weihnachtsfeier, weißt du noch?“ Er wedelte mit dem Foto.

Sie lächelte. „Oh ja, Sam, ich weiß auch noch, was nach der Feier passierte … Dass du ein Foto davon hast!“

Sie zog ihr Smartphone aus der Handtasche. Wenige Handgriffe später strahlte ihn das Foto von ihrem Display aus an.

„Zieh’s dir endlich auf dein Handy!“

„Ich weiß“, grinste er, „ich bin eher der altmodische Typ.“

Er wedelte nochmals mit dem zerschlissenen Foto.

„Tja, dann wundert’s mich eigentlich, dass es dir nichts ausmacht, wenn man uns in der Öffentlichkeit fotografiert!“, sagte sie, setzte sich zurück an ihren Schreibtisch und ließ Sam überrascht stehen.

Er hatte Stew damals als Erstem das Foto gezeigt.

„Das war ’ne Party, Stew, was? Erinnerst du dich?“, hatte er erinnerungsselig geschwärmt und das Foto vor seiner Nase geparkt.

„Nein, ich erinnere mich nur noch an einzelne Bilder“, hatte Stew geantwortet. „Weißer Rum, heiße Musik und verdammt schlechtes Essen. Ich bin froh, dass immer du darauf bestehst zu fahren, Sam.“

„Ich hänge halt an meinen Gehirnzellen. Die Anzahl derer, die korrekt ihre Arbeit verrichten, wird immer überschaubarer. Da wird man halt vorsichtig.“

„An ein Bild kann ich mich allerdings noch ganz genau erinnern: wie Bill auf die Tanzfläche gekotzt hat!“

„Da muss ich dich leider enttäuschen, Stew“, hatte Sam damals geantwortet. „Von Bills Rückwärtsessen hab ich nämlich bedauerlicherweise keinen Abzug.“

Sam stand immer noch wie bestellt und nicht abgeholt hinter Tessa. Sie ignorierte ihn und arbeitete weiter.

„Vielen Dank für die Karte!“, flüsterte er ihr ins Ohr und hielt die Monroe vor den Monitor.

Tess studierte die Liebesbotschaft hinter Marilyn mit hochgezogenen Augenbrauen.

„Und? Von mir ist sie jedenfalls nicht.“

„Wirklich?“

Er hätte es schwören können.

„Nein.“

„Tja, dann hat sich wahrscheinlich jemand einen Scherz erlaubt. Stew! Ich wette, er war’s. Ja. Wer sonst? Aber der kann was erleben!“

Stew Turner, Sams bester Freund, schwul, Systemprogrammierer, von geschmeidig männlicher Schlankheit, die auch einen Hetero-Mann hätte schwach machen können, mit einer hinreißenden Frisur, einer Art wuscheligem Nest aus dunklen, anthrazitfarbenen Haaren, genoss es, den Status der maximalen Sicherheitsstufe innezuhaben – verdient, wie er zu betonen nicht müde wurde. Dafür genoss Sam das Privileg, dass Stew ihm den Kaffee aus der Cafeteria servierte. Ein seltener Fall, dass der Unter den Ober schlug.

Stew Turner

Kommst du heut noch mal rein, oder überlässt du mich heute allein dem Wahnsinn? Nicht, dass der Laden auch ohne dich laufen würde!

Sam Gregg

In der Zeit hättest du schon Kaffee holen können!

3

„Hallo! Guten Morgen, Casanova. Was war denn gestern Nacht? Hast du dir Mickey-Mouse-Filme angesehen oder deine Briefmarkensammlung umsortiert?“

Stew stand in Sams Büro. Ohne anzuklopfen oder auf eine Antwort zu warten, schnappte er sich das Allheilmittel gegen Bills Brechmittel-Stimme: die Boxerhandpuppe Muhammad Ali. Sie lag ständig auf dem Regal über dem Monitor parat. Ready to rumble …

Bill Coon war nicht einfach der Inbegriff eines Arschlochs. Bill Coon war seine absolute Krönung. Sams Augen wollten sich jedes Mal übergeben, wenn er ihn zu Gesicht bekam, und der Atem wollte ihm jäh stocken, wenn Bills Aftershave wie ein giftiger Schimmel den Flur verpestete. Im direkten Gespräch hätte ihn Sam am liebsten erwürgt.

„Ich war früh auf!“, antwortete Sam. „Zu deiner Beruhigung, Stew: Dizzy hat mir die Brieftasche geklaut, deswegen konnte ich nicht früher kommen.“

„Ja, natürlich, Katzen klauen Brieftaschen, entwenden die American Express Card und gehen shoppen. Das weiß man doch.“ Stew boxte in Sams Richtung. „Bloß hat diese Ausrede einen entscheidenden Nachteil: Sie ist so originell, dass man von vornherein ausschließen kann, ihr Glauben zu schenken.“

„Ja, mein Gott, Frank hat’s geschluckt!“

„Bill hätte sie dir jedenfalls in den Rachen gestopft und dich daran ersticken lassen“, sagte Stew. Er ließ Sam nicht aus den Augen.

„He–he–he, du hast ganz einfach deinen faulen Hintern nicht aus dem Bett gekriegt!“, rief er und schloss mit einer Rechts-links-rechts-Kombination ab. „Ich dagegen habe ein Privatleben.“

„Aha.“

„Ja, ich hab gestern Nacht bis zum Morgengrauen getanzt.“

Er holte zum Hüftschwung aus.

„Ja, ja.“

Sam befreite Muhammad Ali aus Stews Fängen und warf ihn auf den Tisch. Diese Waffe musste geschont werden. Für den Ernstfall mit Bill.

„Und?“, brüstete sich Stew. „Trotz des grauenhaften Morgens steh ich pünktlich wie eine Schweizer Uhr an meinem Platz und trotze der Müdigkeit wie ein frischer Fisch, der aus dem Wasser dem jungen Tag entgegenspringt.“

Er präsentierte stolz seinen Traumkörper. Eine Drehung nach links, eine nach rechts, fehlte nur noch eine Pirouette.

„Wie der junge Tag, he?“