Die Schwere des Blutes - Laura McHugh - E-Book

Die Schwere des Blutes E-Book

Laura McHugh

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Beschreibung

Jedes Geheimnis hat seinen Preis

Das kleine Städtchen Henbane liegt tief in den Bergen Missouris verborgen. Noch immer tuscheln die Bewohner hinter vorgehaltener Hand über Lucys schöne Mutter Lila, die vor sechzehn Jahren spurlos und unter ungeklärten Umständen verschwand. Auch Lucys Schulfreundin Cheri wird seit einem Jahr vermisst, und ihr Verschwinden scheint auf mysteriöse Weise mit Lilas Schicksal verknüpft zu sein. Als Cheris Leiche – übersät mit Tattoos und Brandmalen – gefunden wird, ist Lucy fest entschlossen herauszufinden, was ihr zugestoßen ist. Doch schon bald erkennt sie, dass in einem abgeschiedenen Ort wie Henbane zahlreiche Geheimnisse verborgen liegen – Geheimnisse, die zu beschützen die Bewohner über Leichen gehen würden

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Seitenzahl: 521

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Buch

Henbane ist ein kleiner Ort, tief verborgen in den weitläufigen Wäldern Missouris. Die Menschen, die hier leben, kennen die Einsamkeit und sind doch unentrinnbar aufeinander angewiesen.

Lila wuchs als Waisenkind auf und will in Henbane ein neues Leben beginnen. Die junge Frau ist auffallend schön, und bald schon beginnen die Bewohner der Kleinstadt, über ihre außergewöhnliche Wirkung auf Männer zu tuscheln. Die Hochzeit mit Carl Dane und die Geburt ihrer Tochter Lucy scheinen schließlich wie der Beginn einer glücklichen Zukunft. Doch Carl kennt nicht die ganze Wahrheit über Lila …

Lucy lebt allein bei ihrem Vater, nachdem ihre Mutter unter ungeklärten Umständen verschwand. Auch Lucys Freundin Cheri wird seit mehreren Monaten vermisst. Als die Leiche des Mädchens verstümmelt aufgefunden wird, macht Lucy sich daran, das Geheimnis der verschwundenen Mädchen von Henbane aufzudecken. Doch es gibt so manche Bewohner in der Stadt, die über Leichen gehen würden, um ihre dunklen Geheimnisse zu bewahren …

Autorin

Laura McHugh wuchs als jüngstes von acht Kindern in Iowa und Missouri auf. Sie besitzt einen Masterabschluss in Bibliothekswissenschaft, hat als Bibliothekarin und Softwareentwicklerin gearbeitet und bereits mehrere Kurzgeschichten veröffentlicht. In ihrer Freizeit näht sie gerne, sie ist begeisterte Hobbygärtnerin und mag Zombiefilme. Laura McHugh lebt mit ihrem Mann, den gemeinsamen Töchtern und ihrem Hund in Columbia, Missouri. Die Schwere des Blutes ist ihr erster Roman.

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Laura McHugh

Die Schweredes Blutes

Thriller

Deutsch von Andrea Brandl

Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel »The Weight of Blood« bei Spiegel & Grau, New York.

Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag ­keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

1. Auflage

Copyright der Originalausgabe © 2014 by Laura McHugh

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2016 by Limes in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkterstr. 28, 81673 München

Redaktion: Gerhard Seidl

Umschlaggestaltung: © www.buerosued.de

Umschlagmotiv: © Arcangel Images/Michelle Kerry

BS · Herstellung: kw

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-18209-0V001

www.limes-verlag.de

Für Brent, Harper und Piper

1

1

Lucy

Viel mehr als der Zustand von Cheri Stoddards Leiche machte den Leuten die Tatsache zu schaffen, dass sie überhaupt aufgefunden wurde. Es geschah an einem Samstag im März. Eisiger Nebel kroch durch das Tal und gefror über Nacht. Die Landschaft auf der gegenüberliegenden Straßenseite vom Laden meines Onkels hatte etwas Gespenstisches, als die Morgensonne allmählich aufging und auf den von dickem Raureif überzogenen Ästen der austreibenden Eichen entlang des North Fork River glitzerte. Der Baum, der am nächsten zur Straße stand, war tot, und sein nahezu hohler Stamm hatte sich so weit zur Seite geneigt, dass er gefährlich dicht über dem Wasser schwebte. Ein Geiertrio hatte sich auf den Ästen niedergelassen. Zumindest behauptete das Buddy Snell, der Fotograf des Ozark Country Record. Er machte ein Foto von ihnen – drei gewaltige schwarze Vögel, deren Umrisse sich scharf von den weiß verkrusteten Ästen abhoben –, weil sie gerade kein geeignetes Motiv für die Titelseite gehabt hatten. Es sei echt unheimlich gewesen, meinte er, regelrecht gruselig. Er trat einen Schritt näher und kniete sich auf den gefrorenen Boden am Ufer, um eine noch eindrucksvollere Perspektive zu bekommen. In diesem Moment bemerkte er den langen braunen Zopf im seichten Wasser, der inmitten all der Steine kaum auszumachen war. Als Nächstes entdeckte er Cheris Kopf, halb verdeckt unter einem Stück Treibholz: ihr sommersprossiges Gesicht mit der stumpfen Nase und den weit auseinanderstehenden Augen; zu weit, um sie hübsch aussehen zu lassen. Der Rest von Cheris sterblichen Überresten steckte in dem ausgehöhlten Baumstumpf und war von Brandmalen und stümperhaften Tattoos übersät. Zum Zeitpunkt ihres Verschwindens war ihre Haut makellos gewesen, und ich überlegte, ob die frischen Narben und Male womöglich Aufschluss darüber gaben, was mit ihr passiert war, ob sie eine Art geheimnisvolle Landkarte der Zeit zwischen ihrem Verschwinden und dem Tag darstellten, als man sie auffand.

Cheri war achtzehn gewesen, als sie gestorben war, ein Jahr älter als ich. Sie lebte schon seit unserer Kindheit praktisch direkt neben uns, bloß ein Stück die Straße hinunter, und war ständig zum Spielen herübergekommen und so lange geblieben, bis mein Vater sie nach Hause geschickt hatte. Meine Barbiepuppen hatten es ihr ganz besonders angetan, weil sie selbst keine Puppen besaß. Früher brachten wir manchmal den ganzen Tag damit zu, Häuser aus Holzscheiten für Barbie zu bauen und Pools anzulegen, indem wir Löcher in die Erde buddelten, die wir mit Wasser aus dem Gartenschlauch füllten. Ihre Mom rief oder holte sie kein einziges Mal nach Hause, und einmal versteckte ich sie sogar in meinem Kleiderschrank, wo sie die ganze Nacht blieb. Am nächsten Tag entdeckte sie mein Vater und schimpfte, aber als er ihr tränenüberströmtes Gesicht sah und mitbekam, wie sie die Waffeln verschlang, die ich für sie aufgetaut hatte, verstummte er und briet uns stattdessen Speck. Er wartete, bis sie zu Ende gefrühstückt und sich ein wenig beruhigt hatte, dann fuhr er sie nach Hause.

Die Kinder in der Schule, darunter auch meine beste Freundin Bess, fanden Cheri komisch und wollten nicht mit ihr spielen. Ich wusste, dass Cheri ein bisschen langsam im Kopf war, aber dass sie tatsächlich anders war als wir, begriff ich erst in der vierten oder fünften Klasse, als sie in eine Sonderschulklasse kam. In der Zeitung wurde sie als »zurückgeblieben«, »in ihrer geistigen Entwicklung verzögert« und mit dem »Verstand einer Zehnjährigen« beschrieben.

Später, auf der Highschool, standen wir uns nicht mehr ganz so nahe; in vielerlei Hinsicht war ich reifer als sie und verbrachte meine freie Zeit meistens mit Bess. Trotzdem begegneten wir uns immer noch jeden Morgen an der Bushaltestelle an der Kreuzung der Toad Holler Road. Sie war stets die Erste, hockte mit einer Zigarette, die sie ihrer Mutter gemopst hatte, auf einem Baumstamm unter den Dattelpflaumenbäumen und pulte an ihren Schürfwunden herum. Wenn sie mehr Zigaretten bei sich hatte, bot sie mir eine an. Ich wusste nicht, wie man richtig inhaliert, und sie vermutlich auch nicht, trotzdem saßen wir jeden Morgen nebeneinander, rauchten, schwatzten und lachten.

Eines Morgens war ich schneller als Cheri. Als der Bus die staubige Straße entlanggerumpelt kam und immer noch weit und breit nichts von ihr zu sehen war, machte ich mir allmählich Sorgen, weil ihre Mutter sie grundsätzlich immer zur Schule schickte, auch wenn sie krank war, nur um sie ein paar Stunden los zu sein. Tage vergingen ohne ein Lebenszeichen von ihr. Schließlich ging ich quer durch den Wald zum Wohnwagen der Stoddards und klopfte immer wieder an die Tür, aber es machte keiner auf. Es gab Gerüchte, Cheri hätte die Schule geschmissen, und als endlich jemand Offizielles zu Doris Stoddard fuhr, meinte die, ihre Tochter sei eben abgehauen. Sie hätte sie nicht als vermisst gemeldet, weil sie davon ausgegangen sei, dass Cheri ohnehin bald wieder auftauchen würde.

Sämtliche Ladenbesitzer hängten Zettel in ihren Schaufenstern auf, und ich befestigte sogar gleich mehrere an den Regalen im Dane’s, dem Laden, der seit mehreren Generationen im Besitz meiner Familie war und den inzwischen mein Onkel betrieb. AUSREISSERIN prangte in dicken schwarzen Lettern über Cheris Foto. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie allen Ernstes allein weggelaufen war, aber alle anderen schienen es zu glauben. Mit der Zeit verblasste die Farbe, und das Papier wurde wellig, und als man die Zettel schließlich abnahm, machte sich keiner die Mühe, neue aufzuhängen.

Zwischen Cheris Verschwinden und dem Mord an ihr verging ein ganzes Jahr, und in dieser Zeit geriet sie praktisch in Vergessenheit. Es war, als würde sie außer mir keiner vermissen. Aber kaum war ihre Leiche aufgetaucht, hatte die ganze Stadt kein anderes Thema mehr. Seit Jahren war nichts mehr so Spektakuläres in Henbane passiert. Horden von Kamerateams standen plötzlich auf der Matte und parkten ihre Übertragungswagen am Flussufer, um Aufnahmen des Baums zu machen, wo die Leute inzwischen Plüschtiere und Blumen niedergelegt hatten. Sie kamen in den Laden, bestellten Kaffee und Red Bull und meckerten über die holprigen Straßen und das miese Handynetz. Diejenigen, die Cheri zu Lebzeiten kaum zur Kenntnis genommen hatten, konnten es auf einmal kaum erwarten, mit ihrer Verbindung zur jüngsten Berühmtheit im Ort anzugeben. Ich habe im Sexualkundeunterricht direkt hinter ihr gesessen… Einmal, bei der Weihnachtsparade, ist sie bei mir auf dem Traktor mitgefahren… Ich war dabei, als sie sich mal im Bus übergeben hat.

Jeder im Ort hatte seine eigenen Theorien, grübelte darüber nach, wo sie während des vergangenen Jahres gewesen sein mochte und weshalb sie ausgerechnet jetzt wieder aufgetaucht war. Jedes Kind wusste, dass Menschen in den Bergen häufiger spurlos verschwanden, weil es dort oben massenhaft Verstecke gab. Ihre Leichen wurden von Dachsen gefressen, in den Wäldern verscharrt oder in einsame Schluchten geworfen, aber zerstückelt und öffentlich zur Schau gestellt wie Cheri endeten sie nie. Das war nicht die Art, wie man hier in der Gegend ein Gewaltverbrechen beging, und genau das schien den Leuten am meisten Angst einzujagen: die Tatsache, dass der Mörder nicht nach dem bekannten Schema vorgegangen war. Wieso sollte jemand riskieren, entdeckt zu werden, bloß weil er uns zeigen wollte, was er mit Cheri angestellt hatte, wo es doch so einfach gewesen wäre, ihre Leiche verschwinden zu lassen? Es gab nur eine halbwegs plausible Erklärung dafür: Der Täter musste von außerhalb stammen, und Leute von außerhalb waren tausendmal bedrohlicher, als ein einheimischer Übeltäter es jemals sein könnte.

In den darauffolgenden Wochen gingen bei Meyer’s Eisenwarenladen die Schlösser und Munition aus. Keiner traute sich mehr, nach Einbruch der Dämmerung einen Fuß vor die Tür zu setzen, und die wenigen, die es doch taten, waren bis an die Zähne bewaffnet. Auch mein Dad traf Vorkehrungen. Er arbeitete auf dem Bau und nahm jeden Job an, den er kriegen konnte, normalerweise ein, zwei Autostunden entfernt in Springfield oder Branson, deshalb musste er mich immer wieder tageweise allein zu Hause lassen. Nachdem Cheris Leiche gefunden wurde, fuhr er jeden Tag die ganze Strecke hin und wieder zurück, verbrachte Stunden auf der Straße, nur um über Nacht bei mir sein zu können.

Immer wieder ging ich im Geiste unsere allmorgendlichen Unterhaltungen an der Bushaltestelle durch. Cheri hatte meistens von ihrem gerade aktuellen »Freund« erzählt; irgendwelche perversen Idioten, die sich um den Trailer ihrer Mutter herumdrückten und beteuerten, wie hübsch sie sei, weil sie sie begrapschen wollten. Die Jungs in der Schule waren nicht minder fies. Sie bezeichneten sie als »Spasti« und brachten sie zum Weinen. Ich riet ihr, sie einfach links liegen zu lassen, hatte mir aber nie die Mühe gemacht, sie mir zur Brust zu nehmen, damit sie sie zufriedenließen. Genau daran musste ich denken, als ihre in einen hohlen Baumstamm gestopfte Leiche gefunden wurde. Ich hatte sie im Stich gelassen, immer wieder. Vermutlich war ich ihre beste Freundin gewesen, sie aber nicht meine. Ich hatte von Anfang befürchtet, ihr könnte etwas zugestoßen sein, hatte aber nichts unternommen. All die Jahre war ich ihr eine weniger gute Freundin gewesen, als sie dachte. Ich hatte ihr zwar meine Happy-Holidays-Barbie geschenkt, aber nicht etwa, weil sie die am liebsten mochte, sondern weil ich ihr Haar ruiniert hatte.

Der Frühling verging wie im Flug. Auf den Hügeln ringsum grünte und blühte es mit geradezu beschämender Üppigkeit – ein wahres Meer aus cremefarbenen und rosa Hartriegelsträuchern, Judasbäume mit zarten Wolken lavendelfarbener Blüten, dichte Teppiche aus Flammenblumen, Schuppenwurz und Butterblumen. Wenig später spannte sich ein dichtes Blätterdach über den Wäldern und tauchte sie in tiefe Schatten, Kletterpflanzen und allerlei Sträucher grünten und wucherten, während die Hitze förmlich lebendig zu werden und uns keine Sekunde mehr aus ihrem Würgegriff freizugeben schien. Cheri war in Baptist Grove begraben worden, in einem Kindersarg, weil es billiger war und bequem alles hineinpasste, was von ihr übrig geblieben war. Trotzdem musste ich ununterbrochen an sie denken, daran, dass sie mir so viele Dinge anvertraut, aber mit keiner Silbe erwähnt hatte, dass sie weglaufen wollte.

Ende Mai gab es immer noch keine brauchbaren Hinweise, und der Mord an Cheri war weiterhin in aller Munde – die Leute stritten, ob der Baum, in dem ihre sterblichen Überreste gefunden worden waren, vollends gefällt oder in eine Art Gedenkstätte umfunktioniert werden sollte, obwohl die meisten längst wieder zu ihrem Alltag zurückgekehrt waren. Dad wurde die ständige Fahrerei leid, daher ließ er mich wieder tageweise allein zu Hause. Im Lauf der Wochen wurde es immer unwahrscheinlicher, dass jemand anderem dasselbe passieren würde wie ihr.

Der Schock und die Angst der Leute im Ort verebbte so weit, dass die Kinder in der Schule sogar Witze über den Vorfall rissen. Die meisten meiner Klassenkameraden hielten Mr. Girardi, unseren ehemaligen Kunstlehrer, für den Täter, obwohl er ein wasserdichtes Alibi hatte. Um die Zeit von Cheris Verschwinden war er nach nicht einmal einem Halbjahr nach Chicago zurückgekehrt, und die Schüler mutmaßten, er hätte Cheri mitgenommen, weil er auf zurückgebliebene Mädchen stehe. Weshalb hätte er sie wohl sonst in ihren lächerlichen künstlerischen Ambitionen unterstützt oder sie die Mittagspausen im Zeichensaal verbringen lassen?

Mr. Girardi hatte von Anfang an auf der Verliererseite gestanden, allein schon, weil er nicht aus der Gegend stammte, es aber noch viel schlimmer gemacht, wann immer er den Mund aufgemacht hatte. Er hatte keine Ahnung, dass Geist bei uns nicht ghost, sondern haint hieß, dass wir krank meinten, wenn wir puny sagten, obwohl es eigentlich mickrig bedeutete, und dass hollow bei uns holler ausgesprochen wurde. »Ah«, sagte er, als wir es ihm erklärten. »Dann ist ein holler also eine Art Tal.« Und als einer der Schüler ihn in God’s country, einer Umschreibung für die Pampa, willkommen hieß, sinnierte er lautstark darüber, weshalb es in der Gegend wesentlich mehr Orte gab, die den Namen des Teufels trugen als den des Herrn. Sein Einwand war durchaus berechtigt: Der spitze Bergkamm hieß Devil’s Backbone, die tiefe Schlucht nannten wir Devil’s Throat, und aus einer Quelle namens Devil’s Eye sprudelte kühles Wasser – Satans gesamte Anatomie schien sich in der Landschaft widerzuspiegeln. Monatelang verglich Mr. Girardi Henbane mit Gemälden der Hölle: Die Landschaft war schroff, die Erde von rotem Lehm bedeckt, im dornigen Gestrüpp tummelte sich allerlei Getier, das entweder biss oder stach, die Straßen schlängelten sich wie Eingeweide durch die Landschaft, und die Hitze sog einem förmlich den Atem aus der Brust. Allein schon der Name, erklärte er, ehe er gefeuert wurde, weil er uns ein Gemälde von Hieronymus Bosch gezeigt hatte, auf dem überall nackte Busen zu sehen waren – Henbane, das Wort für Bilsenkraut, das auch als »Hexenkraut« bezeichnet wird. Er ist überall. Immer und überall.

Mir tat Mr. Girardi leid, weil er nicht begriff, wieso ihn alle wie einen Eindringling behandelten. Es verschlug zwar immer mal wieder Touristen in unsere Gegend, aber nur selten zogen Fremde nach Henbane, deshalb kam es den Leuten seltsam vor, wenn doch einmal jemand hängen blieb. Obwohl ich mein ganzes Leben hier verbracht hatte – ich war im Holschindelhaus zur Welt gekommen, das mein Großvater Dane keine Meile vom North Folk River gebaut hatte –, vergaßen die Leute nie, dass meine Mutter eine Fremde gewesen war. Sie war nicht hier geboren worden, sondern aus einer fremden Stadt hergekommen, auch wenn sie bloß im benachbarten Iowa lag. Manche wollten schlicht nicht glauben, dass die Maisfelder und riesigen Schneewehen im Norden ein so geheimnisvolles Wesen wie meine Mutter hervorzubringen vermochten, deshalb spannen sie allerlei wilde Geschichten von Zigeunern und Wölfen um sie. Als Kind wusste ich natürlich nicht, ob es so etwas tatsächlich gab, deshalb studierte ich stundenlang Fotos von ihr und suchte nach Beweisen für die Behauptungen der Leute. War ihr langes schwarzes Haar ein Zeichen für Zigeunerblut in ihren Adern? Hatte sie ihre eisgrünen Augen von einem Wolf geerbt? Ich musste zugeben, dass ihr olivfarbener Teint, der volle Mund und die weit stehenden Augen tatsächlich etwas Exotisches hatten. Irgendwo hatte ich gelesen, dass Schönheit anhand von Symmetrien und Entfernungen zwischen Nase, Augen, Kinn und Mund mathematisch berechnet werden kann. Meine Mutter war eine bildschöne Frau gewesen, daran bestand kein Zweifel, aber ihre Schönheit war nicht der einzige Grund, weshalb sie im Ort für solches Aufsehen gesorgt hatte. Sie hatte etwas an sich, ganz tief in ihrem Innern, das die Fotos nur schwer zu vermitteln vermochten.

Teilweise lag es daran, dass die Leute sie nicht wirklich kannten, meinte Dad. Sie war in die Stadt gekommen, um für meinen Onkel zu arbeiten, aber die Leute konnten nicht nachvollziehen, weshalb er unbedingt eine Fremde hatte holen müssen. Eine Frau ohne Familie, die noch dazu kein Wort über ihre Vergangenheit verlor. Jemand, der keine Angehörigen vorweisen konnte, musste doch verstoßen worden sein. Und bestimmt nicht grundlos. Es ging das Gerücht, sie sei eine Hexe. Die Leute erzählten heute noch, meine Mutter hätte Joe Bill Sump in eine Schlange verwandelt. Wenn man ihr zu nahe käme, verströme sie ein Gift, um einen mit einem Zauber zu belegen, behaupteten sie. Außerdem hätte sie rechteckige Pupillen wie eine Ziege. Manche behaupteten sogar, man habe lediglich einen Vogel in ihrem Sarg gefunden, als man ihr Grab ausgehoben hätte. Aber nichts davon stimmte. Sie hatte ja noch nicht mal ein Grab, weil ihre Leiche nie gefunden worden war. Der Großteil von Dads Familie, seine Tanten, Onkel und Cousins mütterlicherseits, brachen den Kontakt zu uns ab und behandelten uns wie Aussätzige, nur wegen ihr. Aber mir machte das Geschwätz nichts aus, so lächerlich es auch sein mochte. Meine Mutter war keine Hexe gewesen. Punkt. Mir war es sogar recht, dass sie argwöhnisch blieben, weil ich dadurch Ruhe vor ihnen hatte. Das war immer noch besser, als sie über das Einzige tuscheln hören zu müssen, das wirklich stimmte: Als ich noch ein Baby war, ging meine Mutter mit dem Derringer meines Vaters in das finstere Steinlabyrinth der Old Scratch Cavern und tauchte nie wieder auf. Bis zu Cheris gewaltsamem Tod war das mysteriöse Verschwinden meiner Mutter der spektakulärste Vorfall im Ort gewesen.

Am letzten Schultag ging ich allein von der Bushaltestelle nach Hause. Über ein Jahr war vergangen, seit Cheri mich das letzte Mal begleitet hatte, und ich wusste noch genau, wie sie einen Moment lang bei uns in der Einfahrt gestanden hatte, bevor sie das letzte Stück bis zum Wohnwagen ihrer Mutter gelaufen war. Mir fiel auf, dass das Haus ohne Dads Pick-up in der Einfahrt regelrecht verwaist aussah. Der Zaun war halb von Wiesenkerbel überwuchert, und überall zwischen den Sträuchern im Vorgarten lagen Steine herum. Zu der Zeit, als Grandpa das Haus gebaut hatte, war es eines der hübscheren in der Gegend gewesen. Es war ein einfaches, zweigeschossiges, weiß gestrichenes Wohnhaus mit Veranden auf der Vorder- und Rückseite, doch inzwischen war die Farbe verblasst und blätterte überall ab. Ringsum standen Walnussbäume, und Grandpa Dane hatte um das Fundament Schneeballsträucher gepflanzt. Einmal war Grandma Dane beim Fensterputzen aus dem ersten Stock gestürzt, aber die Sträucher hätten den Fall gedämpft und ihr so das Leben gerettet, behauptete Grandpa. Die Holzfußböden hatten längst ihren Glanz verloren, aber die Wände leuchteten immer noch in den fröhlichen Rosa-, Blau- und Orangetönen, in denen meine Mutter sie in einem Anfall von Nestbautrieb kurz vor meiner Geburt gestrichen hatte.

Auf der Lichtung neben dem Haus hatten wir einen Gemüsegarten angelegt, wo ich Stunden damit zubrachte, Unkraut zu jäten und Steine auszusortieren. Aber sosehr wir uns auch anstrengten, immer wieder kamen neue Steine zum Vorschein und zerbeulten die Klinge der Gartenfräse. Hinter dem Haus verlief ein kleiner Bach, der sich im Frühling in einen reißenden Fluss verwandelte. Das Grundstück war auf drei Seiten von dichtem Wald umgeben, der sich bis hinauf in die Ozark Mountains zog.

Ich war in der Küche und hängte Fliegenklebestreifen auf, als eine laute Stimme von der Straße hereindrang: Birdie, unsere Nachbarin. Sie war seit über zwanzig Jahren Witwe und hatte sich angewöhnt, in den alten Overalls ihres verstorbenen Mannes herumzulaufen, deren Hosenbeine sie mehrmals umkrempeln musste, weil sie gerade mal einen Meter fünfzig groß war. Sie sah nach mir, wenn Dad bei der Arbeit war, und obwohl sie seit dem Tag meiner Geburt regelmäßig hier war, meldete sie sich grundsätzlich mit lautem Rufen an, sobald sie die Grundstücksgrenze überquerte. Das gehöre sich nun einmal so, meinte sie. Man betrete nicht ohne Erlaubnis das Haus anderer Leute, es sei denn, man lege es darauf an, mit einer Kugel im Kopf zu enden. Ich versicherte ihr, dass das heute ganz bestimmt nicht mehr so gehandhabt würde, aber sie war kein Mensch, der seine Prinzipien so ohne Weiteres über Bord warf und mit seinen Gewohnheiten brach.

Ich trat nach draußen und tätschelte Merle, ihrer Coonhound-Hündin, den Kopf, während Birdie die Augen gegen die helle Spätnachmittagssonne zusammenkniff. Ihr Gesicht war von tiefen Falten durchzogen, und wenn eine Brise durch ihr dünnes graues Haar fuhr, konnte man die rosige Kopfhaut erkennen. »Du bist auch schön brav, solange der Totengräber weg ist, ja?«

Ich musste mir ein Grinsen verkneifen. Dad arbeitete auf dem Bau, aber wie viele der Älteren erinnerte Birdie sich noch genau an die Zeit, als die Danes ihren Lebensunterhalt mit der Totengräberei verdient hatten, und für sie setzte Dad diese alte Familientradition immer noch fort. Dad wusste zwar, wie man eine Leiche unter die Erde brachte, wurde aber nur sehr selten dafür engagiert, trotzdem nannte Birdie ihn grundsätzlich »Totengräber«, so wie sie den Arzt mit »Doktor« ansprach und dabei sowohl auf seine Familienhistorie anspielte, als auch ihren Respekt bekunden wollte.

»Ich komme schon klar, Birdie. Wie geht es dir?«

Sie schwenkte einen Leinensack vor meiner Nase. »Ich hab heute Morgen ein Opossum erschossen, das sich über das Hundefutter hergemacht hat. Und als ich es aufheben wollte, hingen plötzlich diese verdammten Babys dran.« Sie öffnete den Sack, während Merle ein leises Winseln ausstieß.

Ich spähte in den Beutel, in dem eine Handvoll winziger Opossumbabys, kaum größer als mein Daumen, umherkrabbelten. Ausgewachsene Opossums sind unglaublich hässliche Viecher, aber die Babys waren wirklich süß mit ihren winzigen rosa Nasen und Pfötchen und ihren dünnen unbehaarten Schwänzen.

»Was willst du mit ihnen anstellen?«, fragte ich, in der festen Annahme, dass sie die Mutter der Kleinen bereits zu einem herzhaften Eintopf verarbeitet hatte. Birdie verspeiste so gut wie alles, was ihr vor die Flinte kam, mit Ausnahme von Wildkatzen, die sie ohne viel Federlesen ins Feuerfass warf.

»Die sind noch zu klein für den Topf«, erklärte sie sachlich. »Ist ja kaum ein Gramm Fleisch dran. Ich dachte mir, Gabby nimmt sie vielleicht. Die hat ja sowieso schon einen halben Zoo zu Hause.« Sie drückte mir den Sack in die Hand. »Vielleicht könntest du ja kurz bei ihr vorbeigehen, bevor’s dunkel wird.«

Gabby, Bess’ Mutter, nahm jeden Streuner bei sich auf, egal ob Mann oder Tier; dasselbe galt für Babys, die von ihrer Mutter verlassen worden waren. Ich war das beste Beispiel dafür. Sie und Birdie hatten sich gemeinsam mit meinem Onkel Crete abwechselnd um mich gekümmert, bis Dad in seinem whiskeygetränkten Kummer begriffen hatte, dass meine Mutter nicht wieder zurückkommen würde.

»Klar.«

»Danach kannst du gern zum Abendessen rüberkommen. Und wenn du über Nacht bleiben willst, ist immer ein Bett für dich frei.«

»Danke, aber schätzungsweise hängt es davon ab, wie lange ich brauche.« Ich war nicht unbedingt scharf darauf, bei Birdie zu bleiben. Früher hatte ich ständig bei ihr übernachtet, wenn mein Dad bei der Arbeit gewesen war, und war heilfroh gewesen, als er mir endlich erlaubt hatte, allein zu Hause zu bleiben, wenn auch nur unter der Bedingung, dass Birdie nach mir sah. Er wusste genau, dass sie ihre Aufgabe sehr ernst nahm und in regelmäßigen Abständen die halbe Meile Fußmarsch bewältigte, um sicherzugehen, dass ich das Haus nicht abfackelte, verhungerte oder Gott weiß was anstellte.

»Also, dann los«, sagte sie.

Wir nickten einander zu, dann nahm ich den Beutel und machte mich auf den Weg durch den Garten, blieb jedoch noch einmal stehen, um etwas Flohkraut zu pflücken und damit Arme und Beine einzureiben, damit mich die Mücken nicht stachen. Ein Wildpfad führte von dem Bach in Richtung Fluss, wo Bess und Gabby in einem Doppeltrailer hinter der Bell Tavern lebten. Der Wald gehörte meinem Dad und meinem Onkel; jeder von ihnen hatte sein eigenes Stück Land bekommen, und keiner wusste so recht, wo die Grenze dazwischen verlief. Grandpa Dane hatte Crete den Laden vermacht, weil er der Erstgeborene und vermutlich auch der bessere Geschäftsmann war. Dad war ihm deswegen nicht böse gewesen. Ihm war die Arbeit auf dem Bau sowieso lieber. Außerdem war auch er nicht mit leeren Händen zurückgeblieben, sondern hatte das Haus bekommen und die Familientradition der Totengräberei fortgeführt, auch wenn sie bei Weitem nicht mehr so einträglich war wie zu Grandpas Zeiten. Stattdessen war das Handwerk nahezu in Vergessenheit geraten, so wie das Anfertigen von Bugholzstühlen oder von Apfelpuppen.

Private Begräbnisse waren nach wie vor erlaubt, solange sie auf Privatgrundstücken und nicht innerhalb der Stadtgrenze erfolgten. Die meisten von Dads Kunden waren ältere Leute, die sich die Kosten für ein »städtisches« Begräbnis nicht leisten konnten, wie sie jene Zeremonien bezeichneten, die von einem Begräbnisinstitut durchgeführt wurden. Aber es gab auch andere, die sich ein Privatbegräbnis wünschten: Hippies aus der Kommune in Black Fork, die lieber in der Erde verrotten wollten, als sich einbalsamieren zu lassen, oder auch ein Priester der Pfingstgemeinde – diese Typen, die als Beweis für ihren Glauben gerne mal mit Klapperschlangen herumhantierten –, der dem lieben Gott allerdings nicht wertvoll genug gewesen war, um ihn vor einem tödlichen Schlangenbiss zu bewahren. Es gab auch undurchsichtige Umstände, unter denen eine Beerdigung außerhalb des Friedhofs gewünscht wurde, aber Dad war, ebenso wie die Danes-Männer vorheriger Generationen, dafür bekannt, im Zweifelsfall keine unangenehmen Fragen zu stellen. Manchmal, wenn er getrunken hatte, erzählte er mir Geschichten, die ich aber auf keinen Fall weitererzählen durfte: Geschichten von Typen, die bei der Herstellung von Meth mitsamt ihrem Labor in die Luft geflogen, bei einer Schießerei im Drogenmilieu erschossen oder von einem eifersüchtigen Liebhaber erschlagen worden waren. Wenn er wieder nüchtern war, entschuldigte er sich jedes Mal, weil er mir solche Angst eingejagt hatte, und ließ mich schwören, dass er keine Namen genannt hatte.

Nach einer Weile gelangte ich an den Waldrand und hörte das Rauschen des Flusses in der Ferne. »Lucy-lou«, rief Gabby, als sie mich sah. Sie saß auf einem Gartenstuhl auf ihrer baufälligen Veranda und hatte die nackten Füße auf eine Kühltruhe gestellt. Ihr krauses blondes Haar stand in sämtliche Richtungen ab wie bei einem zerfledderten Löwen. Sie trug ein kurzes Frottee-Bikinikleidchen, nur ohne Bikini darunter. »Wann tust du endlich, was man dir sagt, und rufst an, damit ich dich abhole? Du weißt doch, dass ich es nicht mag, wenn du ganz allein im Wald unterwegs bist.«

»Tut mir leid.« Vor dem Mord an Cheri waren Bess und ich ständig durch den Wald gestromert, und Gabby hatte nie etwas dagegen gehabt, im Gegenteil. Bitte, hatte sie oft gesagt, verschwindet mal für eine Weile. Ich konnte nur hoffen, dass ihre neu gewonnene Besorgnis mit der Zeit nachlassen würde.

Ein Joint klemmte zwischen Gabbys Daumen und Zeigefinger. »Du lieber Himmel«, stieß sie hervor, als ich die Verandatreppe heraufkam, »jedes Mal, wenn ich dich sehe, ähnelst du deiner Mutter noch mehr. Und deine Haare … auch schon fast bis zum Hintern, genau wie bei ihr. Und endlich kriegst du auch mal ein Paar Titten. Gütiger Herr Jesus, ich hatte schon Angst, das wird nichts mehr.«

Man hatte mir schon immer gesagt, ich würde meiner Mutter ähneln, aber im Lauf des letzten Jahres, während ich mir die Haare hatte wachsen lassen und ich in die Höhe geschossen und nicht mehr ganz so linkisch war, verglich Gabby mich pausenlos mit ihr. Anfangs freute ich mich noch darüber, aber in letzter Zeit schien Gabby die Ähnlichkeit zwischen uns eher zuzusetzen. Es gefiel mir gar nicht, dass sie mich so traurig und mitleidig ansah.

»Ich habe etwas für dich«, sagte ich und hielt ihr den geöffneten Sack hin.

Sie nahm einen langen Zug von ihrem Joint, sodass er beinahe bis zu ihren Fingerspitzen herunterbrannte, und drückte den Stummel auf der Armlehne ihres Stuhls aus. »Gütiger Himmel!«, rief sie, nahm eines der Opossumbabys heraus und setzte es sich auf die Handfläche. »Wo hast du denn diese putzigen Kerlchen her?«

»Von Birdie.«

»Es wundert mich, dass sie sie nicht gleich gekocht hat.« Gabby streichelte den seidigen kleinen Schwanz des Opossumbabys, das ihn prompt um ihren Finger wickelte.

Die Fliegentür öffnete sich quietschend, und Bess trat heraus. Sie nahm ihr selbst gefärbtes Haar im Nacken zusammen, hob es hoch und fächelte sich Luft zu. »Schon wieder Streuner?«, fragte sie. Der Trailer bot einer undefinierbaren Anzahl an Katzen und einem Kaninchen mit einem zerquetschten Beinchen ein Zuhause.

»Sieh doch nur, Bessie.« Gabby hob den Finger, an dem das Opossumbaby kopfüber baumelte.

»Birdie hat die Mutter der Kleinen erschossen«, sagte ich.

»Super.« Bess verdrehte die Augen und wandte sich an ihre Mutter. »Und wir wissen ja, wie groß dein Herz für die Mutterlosen ist.«

Gabby schenkte ihr keine Beachtung. »Im Holzstapel hat eine der Katzen gerade Junge bekommen, Lucy. Mal sehen, ob sie die Kleinen annimmt. Wir fangen mal mit einem an, für den Fall, dass sie es frisst. Falls ja, ziehen wir sie eben von Hand auf.«

»Glaubst du allen Ernstes, eine Katze nimmt ein Opossumbaby an?« Bess musterte den Jointstummel, um herauszufinden, ob noch ein Zug für sie drin war. »Du spinnst doch. Das ist eine Vergewaltigung der Natur.«

»Ich hab schon komischere Sachen erlebt«, hielt Gabby dagegen.

»Los, Luce.« Bess schlüpfte in ein Paar Flipflops. »Wir gehen rüber ins Bell’s. Meine Kippen sind aus.«

»Kommt nicht infrage«, sagte Gabby. »Es wird bald dunkel, und ich habe keine Lust, euch in Einzelteilen aus dem Wasser zu ziehen.«

»Wir könnten genauso gut am helllichten Tag massakriert werden.« Bess schob den Finger in den Bund ihrer Shorts und zog sie ein Stück nach unten.

»Ich habe Nein gesagt.« Gabby nahm die Opossumbabys nacheinander aus dem Beutel und legte sie sich auf die Brust, wo sie sich mit ihren winzigen Krallen an dem Frotteestoff festklammerten.

»Früher, als du uns im Kombi eingesperrt und draußen vor dem Red Fox rumgehurt hast, hattest du doch auch keine Angst um uns«, sagte Bess.

»Wenn ich keine Angst gehabt hätte, dann hätte ich euch wohl kaum eingesperrt.« Die beiden starrten einander finster an, ehe Gabby aufstand und mit den Kleinen ins Haus ging.

»Wieso musst du auch unbedingt damit anfangen?«, fragte ich.

»Es nervt mich einfach bloß«, sagte Bess. »Nach der ganzen Sache mit Cheri hatte sie plötzlich die große Erleuchtung. Seither rennt sie wieder zu den Anonymen Alkoholikern und will ständig wissen, wo ich hingehe.« Bess zwirbelte ihr Haar zu einem Knoten im Nacken, dann schüttelte sie es. »Es ist echt ätzend. Neuerdings hält sie sich für die Mutter des Jahres. Und ich erinnere sie eben gern mal dran, dass der Titel leider schon vergeben ist.«

»Sie raucht immer noch Pot«, wandte ich ein. »Wie passt das mit den Anonymen Alkoholikern zusammen?«

Bess lachte. »Pot ist doch keine Droge, sondern ihre Medizin. Gegen ihre Angstzustände, sagt sie. Wie Xanax oder all dieses Zeug. Es ist das Einzige, das ihr hilft, halbwegs klar im Kopf zu bleiben. Ich freue mich sogar darauf, dass ich bald im Wash-n-Tan anfangen kann, damit wir nicht ständig hier draußen aufeinanderhocken.«

»Ich wünschte, du würdest auch im Laden meines Onkels arbeiten, so wie ich.«

»Aber dein Dad hat es dir ja noch nicht mal erlaubt.«

»Ich weiß, aber das wird er schon noch. Er hat keinen Grund, es mir zu verbieten.« Die letzten zwei Jahre hatte er gemeint, ich sei noch nicht alt genug, aber jetzt, wo ich siebzehn war, hatte er eigentlich keine Argumente mehr.

Bess feixte. »Vielleicht hat er ja Angst, du könntest genauso enden wie Becky Castle, wenn du zu viel Zeit bei deinem Onkel verbringst.«

»Hollys Mom? Ich bin nicht mal sicher, ob Crete überhaupt noch mit ihr zusammen ist. Außerdem war sie auch schon vorher ein Wrack.« Holly war ein paar Jahre jünger als Bess und ich, mit weißblondem Haar und so bleicher Haut, dass Bess sie immer als Albino bezeichnete. Wir drei waren in der Grundschule für ein gemeinsames Projekt der Landjugend zusammengespannt worden – wir sollten Kaninchen aufziehen, die anschließend bei der Landwirtschaftsausstellung präsentiert wurden. Becky, Hollys Mom, hatte regelmäßig vergessen, ihre Tochter nach den Treffen abzuholen.

Bess nickte. »Ja, stimmt schon, aber hast du sie in letzter Zeit mal gesehen? Die Frau sieht wie ein ausgewrungener Waschlappen aus. Neulich war sie drüben im Bell’s und hat ganz allein vor der Jukebox herumgetanzt. Und in ihrem Genick klebte überall Wichse.«

»Woher willst du denn wissen, dass das Wichse war?«, fragte ich und lachte.

Bess zuckte die Achseln. »Ich sage ja nur, wenn dein Dad schon meint, ich hätte einen schlechten Einfluss auf dich, wird er wohl kaum wollen, dass du auch nur in ihre Nähe kommst.«

Crete hatte sich nie die Mühe gemacht, mir oder Dad seine aktuellen Freundinnen vorzustellen; vermutlich, weil Dad ihm ständig seinen miesen Frauengeschmack unter die Nase rieb. Andererseits hielt sowieso keines von Cretes Techtelmechteln lange genug, als dass sich etwas Ernstes daraus entwickeln könnte.

»Na gut, ich muss jetzt nach Hause«, sagte ich und nahm den Leinensack, in dem ich die Opossums hergetragen hatte. »Vielleicht sieht man sich ja morgen.«

»Sie will dich bestimmt nach Hause fahren.«

»Sag ihr einfach, du hättest versucht, mich aufzuhalten.« Ich lächelte und hauchte Bess einen Kuss zu.

Sie tat so, als würde sie ihn mit der Hand auffangen, und berührte behutsam ihre Wange, so wie wir es schon als kleine Mädchen getan hatten. »Und sieh zu, dass dich keiner zerstückelt«, ermahnte sie mich. Zerstückelt. Das Wort kam so mühelos über ihre Lippen, als hätte sie es schon tausendmal gesagt. Dabei war es ein Wort aus der Zeitung, das dutzendfach in Artikeln und lokalen Fernsehnachrichten wiederholt worden war, so lange, bis es sich beinahe richtig anfühlte, es auszusprechen; es war so leicht, sich Cheri als zerstückelt vorzustellen. Viel schwieriger war es hingegen, sich auszumalen, wie jemand eine Klinge in ihr Fleisch rammte, Knochen und Gelenke zersägte, Muskeln durchtrennte, ihre Luftröhre zerschnitt. Aus irgendeinem Grund erschien es mir nicht fair, das, was ihr widerfahren war, in einem einzigen sauberen Wort zusammenzufassen.

Ich nahm den langen Weg nach Hause zurück, quer über den Streifen Naturschutzgebiet an der Old Scratch Cavern, wo die Suchhunde damals die Witterung meiner Mutter verloren hatten. Natürlich war auch Old Scratch ein anderes Wort für den Teufel. Ich traute mich nicht in die Höhle. Dort gab es überall enge Tunnel und Stellen, an denen der Boden über einem unterirdischen Fluss nachgab. Was sich die Höhle erst einmal einverleibt hatte, blieb für immer verschwunden, und sollte sie die Gebeine meiner Mutter verschlungen haben, würde ich sie ohnehin nie wiederfinden.

Am schlimmsten war die Ungewissheit – nicht mit Sicherheit sagen zu können, was mit meiner Mutter passiert war. Der Sheriff war überzeugt davon, dass sie Selbstmord begangen hatte, aber niemand fand je einen Beweis dafür, dass sie tatsächlich tot war. Die Suchtrupps, die Dad zusammengetrommelt hatte, förderten ebenfalls nichts Handfestes zutage. Bluthunde nahmen zwar ihre Witterung auf und verfolgten sie in Richtung der Höhle, aber man fand keine Leichenteile. Das Schlimmste war, dass sie zwar Dads Pistole, aber sonst nichts mitgenommen hatte; dabei sagte nicht einmal das etwas aus. Ich war nicht die Einzige, die sich weigerte, die offizielle Erklärung für bare Münze zu nehmen – wie bei allem, was meine Mutter betraf, rankten sich auch um ihr spurloses Verschwinden Gerüchte, wilde Geschichten und ein Hauch von Magie.

Es hieß, sie spuke nachts durch Old Scratch und die Wälder. Sie habe ihre Seele mit einer Krähe getauscht und sei davongeflogen oder habe sich einer Horde Zigeuner angeschlossen. Ohne einen handfesten Beweis für ihren Tod konnte ich so tun, als wäre sie immer noch am Leben, als hätte sie sich irgendwo anders niedergelassen; ich konnte mir einreden, sie hätte aus irgendeinem wichtigen Grund die Gegend verlassen müssen, käme aber eines Tages zurück, um mich zu holen. Ich bettelte Gabby und Birdie – und auch meinen Dad, bevor er sich endgültig weigerte, sie jemals wieder zu erwähnen – immer wieder an, mir Geschichten über sie zu erzählen, irgendwelche Bagatellen, wer sie gewesen war und was sie getan hatte. Auf diese Weise erschuf ich ein Bild von ihr, ein Mosaik, zusammengesetzt aus den Beschreibungen anderer Leute: Hexe und Geist, Frau und Mädchen, Magie und Realität. Ich wollte immer mehr, aber mehr bekam ich nicht.

Als Cheri in dem Baumstumpf gefunden wurde, dämmerte mir, dass nicht die Ungewissheit das Schlimmste war. Vielmehr war sie ein Luxus, ein echtes Geschenk. Das Schlimmste war die Gewissheit, dass ein geliebter Mensch tot war, und ich war plötzlich dankbar, dass man die Leiche meiner Mutter niemals gefunden hatte. Die Zweifel mögen zwar fortwährend an einem nagen, trotzdem bleibt stets ein Fünkchen Hoffnung, an das man sich klammern kann.

Im Wald war es mittlerweile dunkel geworden. Glühwürmchen leuchteten in der Finsternis auf, aber ich kannte den Weg wie meine Westentasche. Angst hatte ich eigentlich keine. Nach dem Mord an Cheri hatte ich den Wald gemieden, so wie alle anderen auch, aber mit der Zeit war die Sorge verflogen, dass einem etwas zustoßen könnte. Ich kannte die Gegend besser als jeder Fremde, der sich hierher verirren könnte. Solange ich wachsam blieb, würde mir schon nichts passieren. Ich war nicht wie Cheri, nicht so verletzlich wie ein weidwundes Rehkitz, die einfachste Beute für jede Art von Jäger. Niemand hatte nach ihr gesucht. Nicht einmal ich.

Zu Hause schmierte ich mir ein Erdnussbuttersandwich und trug es mit einer Tasse Tee in mein Zimmer hinauf. Ich knipste die Nachttischlampe an, deren Schein düstere Schatten auf die lavendelfarben gestrichenen Wände warf, und schaltete den Ventilator am Fenster neben dem Bett ein. Frische Luft wehte ins Zimmer und ließ die obersten Seiten meines Notizbuchs flattern, das ich auf meinem Kopfkissen hatte liegen lassen. Es war eine Art Tagebuch, in dem ich vorwiegend Listen angefertigt hatte: »Dinge, die ich über meine Mutter weiß« – fast eine ganze Seite und dazu eine Haarsträhne, die ich an einem ihrer Nachthemden gefunden und an den Rand geklebt hatte –, »Jungs, die ich schon mal geküsst habe« – fünf, vier beim Flaschendrehen unten am Fluss, als ich vom Apfelwein leicht beschwipst gewesen war, und den Sohn des Pastors, der bei uns zu Besuch gewesen war und den Dad dabei erwischt hatte, wie er mich mit voller Absicht auf der Veranda vom rechten Weg geradewegs in die Sünde stürzen wollte – und: »Was ist mit Cheri passiert?« Ihr Tod hatte die Frage nicht beantwortet und auch die Liste der Möglichkeiten nicht kleiner werden lassen. Sie war weggelaufen oder entführt worden, und ihr letztes Lebensjahr war ein großes Fragezeichen.

Wenn ich nicht gerade über Cheris Liste brütete, machte ich mir Notizen über die Orte, die ich eines Tages bereisen wollte. Natürlich wollte ich nach Iowa, um zu sehen, wo meine Mutter gelebt hatte, aber dort würde ich wohl nicht lange bleiben. Es war nicht weit genug weg. An manchen Tagen wünschte ich mir, so weit von Henbane weg zu sein, dass man Tage brauchen würde, um dorthin zu gelangen. Dad hatte mich nie weiter als bis nach Branson mitgenommen und zeigte keinerlei Interesse, irgendwo anders hinzufahren, selbst wenn wir es uns leisten könnten. Er hatte die drei Eckpfeiler für mein Leben ganz klar festgesteckt: gute Noten schreiben, keinen Ärger bekommen, aufs College gehen – alles Dinge, die er selbst nicht geschafft, meine Mutter sich aber für mich gewünscht hatte. Nach dem Vorfall mit dem Pastorensohn kam noch ein vierter Pfeiler hinzu: Lass nicht zu, dass ein Junge auf dem Weg zu den drei anderen Zielen deine Pläne durchkreuzt.

Über meine Noten konnte Dad sich jedenfalls nicht beklagen; die Schule fiel mir leicht. Das müsste ich von meiner Mutter haben, meinte er. Und Ärger hatte ich auch nur selten; höchstens das eine oder andere Gerangel mit Craven Sump, dem Neffen von Joe Bill, der – sofern man die Geschichte glauben wollte – verschwunden war und nie wiedergesehen wurde, nachdem meine Mutter ihn in eine Schlange verwandelt hatte. Dad meinte, Joe Bill hätte sich vom Acker gemacht, weil er keinen Unterhalt für seine Kinder hätte zahlen wollen, aber Craven und seine Sippschaft waren davon überzeugt, dass schwarze Magie im Spiel war. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit beschimpfte er mich als »Hexe« oder »Teufelsbrut«, und manchmal hatte ich es satt, warf ihm ein Schimpfwort an den Kopf oder verpasste ihm einen kleinen Schubs, und dann verpetzte er mich beim Rektor. Aber der seufzte nur und meinte, ich hätte mehr Potenzial als all meine Klassenkameraden, müsste aber dringend an meinem Benehmen arbeiten, wenn ich es zu etwas bringen wollte. Manchmal starrte ich Craven auch nur finster an und dachte dabei ganz konzentriert an ein Schlangennest in der Scheune, aber leider machte er keine Anstalten, seinen nervtötenden Menschenkörper zu verlassen. Hätte meine Mutter tatsächlich übersinnliche Kräfte besessen, hätte sie diese ganz bestimmt an mich weitervererbt.

Ich fläzte mich mit meinem Sandwich aufs Bett, zog meine Taschenbuchausgabe von Menschenkind aus dem Spalt zwischen Matratze und Fußbodenleiste und schlug es an der Stelle auf, wo das kopierte Lesezeichen von Nancy’s Trade-A-Book steckte. Die winzige Bibliothek von Henbane – wobei die Bezeichnung »Bibliothek« schon übertrieben ist, weil es sich lediglich um einen einzelnen Raum im Keller des Rathauses handelt – hatte nie etwas Anständiges auf Lager, deshalb hatte ich Dad eine Liste zusammengestellt, und wann immer er durch Mountain Home kam, hielt er bei Nancy’s an und sah nach, ob er etwas von den Büchern finden konnte.

Als mir die Augen zufielen, ging ich in das rosa geflieste Badezimmer auf der anderen Seite des Korridors, um mich fertig zu machen, und knipste die Lichter aus. Dann tappte ich barfuß zu dem Doppelfenster gegenüber von meinem Bett und blickte auf den Garten und die Berge dahinter hinaus. In Erdkunde hatten wir gelernt, dass hier in der Gegend die Sterne heller strahlten als irgendwo sonst, weil es keine anderen Lichtquellen gab. Aus dem All war Henbane vermutlich ein tiefschwarzer Fleck auf der Erdkugel.

Die schwarzen Schatten der Fledermäuse vor der silbernen Mondsichel sahen aus, als fielen Ascheflöckchen vom Himmel. In den Sommernächten kamen sie aus Old Scratch heraus und flatterten auf der Suche nach Nahrung im ganzen Tal herum. Ihre Gegenwart war so vertraut wie die Leuchtkäfer und die Frösche, die mich abends in den Schlaf sangen. Einmal hatte Dad einen ganzen Monat auf einer Baustelle in Little Rock verbracht; er hatte sich dort in einem Motel eingemietet, und als er wieder nach Hause gekommen war, hatte er wegen der nächtlichen Geräuschkulisse kaum ein Auge zugetan. Anfangs hatte ihn die Stille des Hotelzimmers irritiert, aber im Lauf der Wochen war sie ihm so vertraut geworden, dass ihn das Froschkonzert völlig aus dem Konzept brachte. Ich überlegte, ob es mir wohl genauso erginge, wenn ich Henbane eines Tages verlassen würde. Ob all die kleinen Dinge, die mein Leben hier ausmachten, ganz schnell in Vergessenheit geraten würden.

In der Pfanne brutzelten gerade Hirschsteaks mit Soße, als Dad am Freitagabend mit einem Buch unterm Arm nach Hause kam. Obwohl der Sommer noch gar nicht richtig angefangen hatte, war er von der vielen Arbeit im Freien längst braun gebrannt.

»Nach einer Woche McDonald’s riecht das Fleisch himmlisch!« Lächelnd nahm er mich in die Arme, dann löste er sich und drückte mir mein neues Buch in die Hand. »Ich weiß ja, wie sehr du dir das gewünscht hast.«

Solomons Lied. Die Seiten waren wellig und aufgeworfen, als wäre das Buch in die Badewanne gefallen. »Danke, Dad.«

»So, das war’s also erst mal mit der Schule, ja? Wie war dein letzter Tag?«, fragte er, während er die Post der vergangenen Woche durchging, die jedoch nur aus unwichtigem Kram bestand.

»Gut. Nichts Neues.« Ich stellte das Essen auf den Tisch und schenkte uns Tee ein, während Dad die Stiefel auszog und sie neben die Hintertür stellte.

Wortlos verputzten wir unsere Steaks. Das Fleisch war ziemlich zäh. Birdie hatte mir zwar schon vor Jahren beigebracht, wie man Wild zubereitete, doch nach ihrem Rezept musste es vor dem Braten vierundzwanzig Stunden lang in Milch eingelegt werden, und ich schaffte es nie, so lange im Voraus zu planen.

»Hast du mit Onkel Crete geredet?«, fragte ich.

»Ja. Er glaubt offenbar, dass du bei ihm arbeiten wirst.«

»Na und? Was sagst du dazu? Vielleicht könnte ich mir endlich ein eigenes Handy kaufen. Und ein bisschen Geld fürs College zurücklegen.« Ich war sicher, dass dieses Argument bei ihm ziehen würde.

»Du brauchst kein Handy. Und ein Stipendium bekommst du auch.«

»Dad.«

»Ich hab ja nicht Nein gesagt.« Er zog eine Sehne zwischen den Zähnen hervor und legte sie auf den Tellerrand. »Aber es gibt ein paar Regeln, an die du dich halten musst.«

Ich lächelte. Das lief ja besser als gedacht. Er hatte bereits eine ganze Liste an Regeln aufgestellt, die ich beachten musste, wenn ich allein zu Hause war, deshalb konnte es nicht allzu schlimm sein, wenn noch ein paar Punkte dazukämen. Und da er nicht hier war, würde er auch nicht erfahren, wenn ich die blödesten von ihnen ein bisschen flexibler handhabte. »Jaaa …« Ich stöhnte theatralisch.

»Ich meine es ernst«, sagte er. »Du bist zu Hause, bevor es dunkel ist. Du gehst im Dunkeln nicht durch den Wald. Du hältst dich von seinen Freunden fern.« Ich dachte an Becky Castle und ihr verklebtes Haar. Diese Regel würde ich locker einhalten. »Und du sparst den Großteil von deinem Lohn.«

»Klar. Das war’s?«

Einen Moment lang saß er reglos da, während ein eigentümlicher Ausdruck auf seine Züge trat und er nach den richtigen Worten zu suchen schien. »Crete wird auf dich achtgeben … trotzdem musst du wachsam sein. Man weiß nie, wer dir dort so alles über den Weg läuft, und … kümmere dich um deinen eigenen Kram. Erledige deine Arbeit und halt dich aus allem raus, was dich nichts angeht. Und wenn dir irgendetwas komisch vorkommt, sagst du es mir. Im Notfall kann ich ihm jederzeit einen Grund sagen, weshalb du nicht mehr kommst.«

»Wovon um alles in der Welt redest du?« Ich sah ihm an, dass er es bierernst meinte, konnte mir aber beim besten Willen nicht vorstellen, was ihm solche Sorgen bereitete. »Ich vermiete dort Kanus und verkaufe Würmer an Angler. Das ist doch nicht gefährlich.«

Er zog die Brauen zusammen wie immer, wenn er die Geduld zu verlieren drohte. »Ich will, dass du dir merkst, was ich sage, und dich daran hältst.«

»Schon gut«, sagte ich. »Aber du brauchst dir um mich keine Sorgen zu machen. Ich kann ganz gut auf mich selbst aufpassen.«

»Das weiß ich«, bestätigte er leise und blickte auf seinen Teller, als bedauere er zutiefst, dass es so war.

2

Lila

Ich war daran gewöhnt, herumgereicht zu werden. Alle meine Sachen passten bequem in den hässlichen braunen Koffer, den ich seit meinem zwölften Lebensjahr besaß, als ich nach dem Tod meiner Eltern von unserer Farm im Norden von Cedar Falls hatte wegziehen müssen. In den folgenden sechs Jahren war ich in sieben Pflegefamilien untergekommen, und manchmal hatte ich ihn noch nicht einmal ausgepackt. Aber diesmal war es anders. Diesmal würde ich aus Iowa weggehen und nicht wieder zurückkommen.

Meine Sozialarbeiterin, die mir von Anfang an klipp und klar gesagt hatte, dass Teenager so gut wie nie adoptiert wurden, hatte mich bereits darauf vorbereitet, dass ich allmählich zu alt wurde, um noch länger in staatlicher Obhut zu bleiben. Eigentlich hatte ich mich sogar auf diesen Moment gefreut, zumindest so lange, bis es bei meiner Pflegeschwester Crystal so weit gewesen war. Sie war ein Jahr älter als ich und meine Zimmergenossin bei den Humphries gewesen. Meine Eltern hätten mit Crystal so ihre Probleme gehabt, weil sie ständig die Schule schwänzte und aufsässig war, trotzdem hatten wir etwas, das uns verband: Niemand wollte uns lange bei sich haben, nicht mal Leute wie die Humphries, die sogar Crack-Babys und behinderte Kinder aufnahmen.

Wir würden ständig herumgeschubst werden, weil wir so hübsch seien und schon Titten hätten, deshalb hätten die Pflegemütter Angst, wir könnten ihre Männer oder Söhne in Versuchung führen, meinte Crystal, aber in ihrem Fall hatte es vermutlich auch damit zu tun, dass sie gern mal ein bisschen zündelte. Was mich betraf, hatte sie teilweise recht: Ich konnte nichts dafür, wenn meine Pflegeväter und ihre Söhne Stielaugen bekamen. Mit ihnen flirtete ich grundsätzlich nie, höchstens mit ihren Freunden oder den Nachbarjungen. Vielleicht war ich auch mit einem oder zwei von ihnen in der Kiste gelandet. Und prompt erwischt worden. Stichwort: Koffer. Ich hätte ein Problem mit meiner Impulskontrolle, meinte die Sozialarbeiterin. Nach dem Tod meiner Eltern hatte ich auch etwas noch Schlimmeres angestellt; ich war nicht sicher, ob es in meiner Akte stand, aber falls doch, konnte ich den Leuten keinen Vorwurf daraus machen, wenn sie mich wie eine heiße Kartoffel behandelten.

Crystal hatte bei den Humphries jedenfalls ein bisschen Leben in die Bude gebracht und sich ständig über unsere Pflegemutter mit ihrem Züchtigkeitstick lustig gemacht. Mrs. Humphries hatte uns BHs gekauft, in denen unsere Brüste ganz platt gedrückt wurden und die wir sogar nachts anlassen sollten. Aber Crystal hüpfte barbusig übers Bett, fuchtelte mit der Bibel herum, die Mrs. Humphries ihr gegeben hatte, und schrie in einer Imitation der durchgeknallten Mutter aus Carrie: »Ich kann deine dreckigen Kissen sehen!« Wir lachten uns jedes Mal halb kaputt darüber.

Als Crystal achtzehn wurde, schmiss sie die Schule und zog von Cedar Falls nach De Moines, wo sie in einem Striplokal anfing. Sie schrieb mir, ich solle doch nachkommen, und ich dachte auch ernsthaft über ihren Vorschlag nach. Dann herrschte plötzlich Funkstille. Ein halbes Jahr später erfuhr ich, dass Crystal an einer Überdosis gestorben war. Die Sozialarbeiterin gab mir einen Moment Zeit, um die Nachricht zu verdauen, ehe sie zur Tagesordnung überging und geschäftig die Ärmel ihres dunkelblauen Blazers hochschob, den sie schon am Tag unseres Kennenlernens 1986 getragen hatte, als riesige Schulterpolster noch modern gewesen waren.

»Also, was hast du getan, damit du nicht eines Tages auch so endest?«, herrschte sie mich an, wobei ihre Augen schier aus den Höhlen zu treten drohten. »All die Jahre habe ich wieder und wieder auf dich eingeredet, aber du warst so damit beschäftigt, deinem alten Leben hinterherzuflennen, dass du keine Zeit hattest, dir Gedanken über deine Zukunft zu machen. Aber dein altes Leben ist vorbei, und es kommt auch nicht wieder zurück. Nie wieder!« Sie war so aufgebracht, dass sie nur noch schreien konnte. Speicheltröpfchen spritzten aus ihrem Mund. Am liebsten hätte ich ihr eins auf die Nase gegeben. Aber ich verkniff es mir und ballte stattdessen im Schoß eine Hand zur Faust.

Sie schleuderte mir einen Stapel Broschüren entgegen. »Du hast absolut nichts in der Hand. NICHTS! Niemand wird sich um dich kümmern, du bist ganz auf dich gestellt. DEINEELTERNWÜRDENSICHWÜNSCHEN, DASSETWASAUSDIRWIRD! Denk mal darüber nach. Dir läuft die Zeit davon!«

Ich fragte mich, ob sie das zu allen sagte – auch zu Crystal, deren Eltern meines Wissens noch lebten, sich aber einen feuchten Kehricht um sie scherten. Ich brauchte keine Sozialarbeiterin, die mich daran erinnerte, was meine Eltern sich für mich gewünscht hätten. Ich war ihr einziges Kind gewesen, und sie hatten sich alle Mühe mit mir gegeben: Meine Mom war meine Gruppenleiterin bei den Pfadfinderinnen gewesen; mein Stiefvater hatte mich beim Fußballspielen vom Feldrand aus lautstark angefeuert; jahrelang hatten sie Geld für meine Klavierstunden ausgegeben und sich standhaft geweigert anzuerkennen, dass ich ein hoffnungsloser Fall war. Meine Mom war Lehrerin gewesen, und ich war in der Schule immer gut mitgekommen – bis auf einen Schlag alles anders geworden war. Wären sie nicht umgekommen, hätte sich mein Leben möglicherweise in eine positive Richtung entwickelt und ich wäre ein völlig anderer Mensch geworden, aber das vermochte niemand zu sagen.

An diesem Abend blätterte ich die Broschüren durch: Volkshochschulkurse, Handels- oder Kosmetikschule. Die Ausbildungen kosteten allesamt Geld, und ich hatte die Antragsfrist für die staatliche Unterstützung versäumt, deshalb käme eine Bewerbung sowieso erst zum nächsten Semester infrage. Ich hatte zwar einen Teilzeitjob in einem Pancake-Restaurant, verdiente aber nicht genug für die Miete und meinen Lebensunterhalt, wenn ich auszöge. Die Rekrutierungsbroschüren der Armee und der Marine legte ich beiseite – das wäre die allerletzte Notlösung – und griff zur letzten Broschüre von einer Zeitarbeitsfirma, die auf die Vermittlung von Anstellungen mit Kost und Logis spezialisiert war: Kindermädchen, Haushälterinnen, Hilfsarbeiter, Pflegekräfte für Senioren. Langfristig konnte ich mir keine der Tätigkeiten vorstellen, aber für den Moment wäre es eine gute Möglichkeit, genug Geld zu sparen, bis ich mir darüber klar geworden war, welchen Beruf ich tatsächlich ergreifen wollte.

Die Agentur befand sich in einem Einkaufszentrum in De Moines, in dem nur die Hälfte der Läden vermietet war, und ich musste mit dem Bus hinfahren. Ein Typ mit einem langen dünnen Zopf rief mich vor zwei Frauen mittleren Alters auf, die schon länger warteten, und stellte mir eine ganze Reihe persönlicher Fragen, darunter auch solche, die meinem Empfinden nach für eine Bewerbung nicht relevant waren, trotzdem beantwortete ich sie pflichtschuldig. Jetzt brauchen wir bloß noch ein Foto, meinte er, als wir die Bewerbungsunterlagen ausgefüllt hatten. Ich hatte nur eines von mir und Crystal am Pool in der Brieftasche, das ich mit mir herumtrug, seit sie weggegangen war. Ich fragte den Typen, ob er es vielleicht kopieren könnte, damit ich das Original behalten konnte, woraufhin er meinte, das sei kein Problem, außerdem würde er die andere Hälfte wegschneiden, sodass bloß ich darauf zu erkennen sei.

Einen Monat später bekam ich einen Arbeitsvertrag mit der Post zugeschickt, den ich unterschrieb und zurückschickte – ich erklärte mich bereit, zwei Jahre lang auf einer Farm in einer Kleinstadt namens Henbane im Süden von Missouri zu arbeiten.

Die Sozialarbeiterin fuhr mich zum Busbahnhof und wünschte mir Glück. Mrs. Humphries hatte darauf bestanden, dass ich die Bibel mitnahm, die sie mir geschenkt hatte, aber ich ließ sie im Fußraum des Wagens der Sozialarbeiterin liegen. Der Busfahrer verstaute meinen Koffer im Gepäckraum, dann stieg ich ein.

Die Fahrt von De Moines nach Springfield mit einem Zwischenstopp in Kansas City dauerte fünfzehn Stunden. Am Busbahnhof holte mich ein alter Mann namens Judd ab und erklärte, mein neuer Arbeitgeber, Mr. Dane, entschuldige sich, weil er mich nicht persönlich in Empfang nehmen könne, dafür würde er mich am nächsten Morgen zum Frühstück einladen. Judd wuchtete meinen Koffer auf seinen Pick-up und setzte sich hinters Steuer. Die Fahrt verlief weitgehend schweigend, lediglich als er zwischen zwei Radiostationen wechselte, die beide »Achy Breaky Heart« spielten, gab er ein verdrossenes Brummen von sich.

Zwei Stunden fuhren wir quer durch Missouri. Die Straßen wurden immer schmaler und schlängelten sich durch die Landschaft, während mir dämmerte, dass ich vermutlich nie wieder zurückfinden würde, sollte ich nach Hause wollen. Schließlich bogen wir auf einen unbefestigten Pfad ein, der an umgepflügten Feldern mit fein säuberlich gezogenen Setzlingsreihen vorbeiführte, bis Judd vor einer Art Garage aus Beton anhielt. Feuchte Abendluft schlug mir entgegen, als ich ausstieg. Hinter den Feldern erhoben sich sanfte grüne Hügel, und der moosige, schlammige Geruch des in der Nähe vorbeifließenden Flusses stieg mir in die Nase. Ich hatte mir ausgemalt – nein, insgeheim darauf gehofft –, dass die Farm ein wenig so wäre wie die meiner Eltern. Fehlanzeige. Alles war irgendwie verzerrt, so wie mein Gesicht in dem halb blinden Spiegel auf der Toilette am Busbahnhof, als ich mich im harschen Licht der Neonlampe gefragt hatte, ob ich tatsächlich so aussah – bleich, verängstigt und mit dunklen Rändern unter den Augen –, ob mein wahres Ich nicht länger zu dem Bild passte, das ich von mir hatte.

Ich musste mir vor Augen führen, dass ich mich lediglich einen Bundesstaat weiter südlich befand, wie anders konnte es hier also schon sein? Aber die Berge waren zu hoch, der Himmel zu blau, selbst der Boden fühlte sich nicht richtig an: Er war rot, voller Steine und irgendwie fremdartig. Hier musste man ständig aufpassen, wohin man trat und was man anfasste. Ich würde die flache Weitläufigkeit meiner Heimat vermissen, die dunklen, fruchtbaren Böden, die Maisfelder mit den hohen rauschenden Stauden, das große weiße Farmhaus, in dem ich aufgewachsen war, und den üppigen Garten ringsum. Hier in Henbane sprossen lediglich ein paar dornige Büschel aus der Erde, auf die man vermutlich lieber nicht barfuß treten sollte.

Trotzdem würde ich nicht nach Iowa zurückkehren, weil dort nichts und niemand auf mich wartete, also konnte ich mich ebenso gut am Riemen reißen und aufhören zu jammern. Rings um die Garage standen mehrere Geräteschuppen, dahinter, ein Stück den Hügel hinauf, befand sich ein kleines Wohnhaus. Vermutlich mein neues Zuhause. Judd nahm meinen Koffer, doch statt ihn den Hügel hinaufzutragen, öffnete er eine Tür seitlich an der Garage und schob ihn hinein. »Hier schläfst du«, brummelte er, nickte mir zu, schwang sich wieder hinters Steuer und fuhr davon. Ein Anflug von Enttäuschung keimte in mir auf, den ich jedoch eilig unterdrückte. All die Jahre in Pflegefamilien hatten mich gelehrt, dass man erst wusste, welche Atmosphäre einen in einem Haus erwartete, wenn man einen Fuß über die Schwelle setzte; ob es nett oder feindselig war oder ob einen dieser gruselig niedliche Precious-Moments-Charme empfing.

In der Garage war es dunkel, und ein muffiger Geruch schlug mir entgegen, als hätte sie eine Weile niemand mehr betreten. Unter einem der Fenster befand sich ein schmales Bett mit ausgebleichten Decken darauf. In der Ecke stand eine Küchentheke mit einer einzelnen Kochplatte und einem winzigen Kühlschrank, in der anderen war ein behelfsmäßiges, durch an der Decke befestigte Laken mit Blümchenmuster abgeteiltes Badezimmer mit einer Toilette, einem Waschbecken und einer Duschkabine. Abgesehen vom Bett gab es nur ein einziges Möbelstück: eine Kommode, an der bereits der Lack abblätterte und in deren Schubladen noch die abgetragenen Kleider von jemand anderem lagen.

Der Betonboden, die Dachsparren und die dicke Staubschicht, die auf allem lag, machten die Garage nicht unbedingt zu dem, was man als gemütliches Zuhause bezeichnen würde, aber eines gefiel mir daran: Es gehörte mir. Ich hatte ein Zimmer ganz für mich allein – etwas, das ich seit dem Tod meiner Eltern nicht mehr gehabt hatte. Ich knipste das Nachttischlämpchen an und öffnete das Fenster, vor dem die Insekten ein abendliches Konzert veranstalteten. Je länger ich lauschte, umso klarer konnte ich die einzelnen Geräusche ausmachen – sirenenartiges Heulen, das an- und wieder abschwoll wie Tausende Alarmglocken. Da ich nichts anderes zu tun hatte, legte ich mich aufs Bett und schwitzte. Mehr nicht. Morgen früh würde mein neues Leben beginnen. Und ich schwor mir, dass ich alles daransetzen würde, es nicht zu versauen.

Ich wachte sehr früh auf und war geduscht und angezogen, als Mr. Dane an die Tür klopfte. Er war groß und breitschultrig und trug Jeans und ein graues T-Shirt. Eigentlich hatte ich mit einem älteren Mann gerechnet, aber er konnte höchstens fünfunddreißig sein. Sein Haar war aus dem Gesicht gekämmt, sodass erste Ansätze von Geheimratsecken zu erkennen waren, und als er lächelte, kamen zwei Reihen schiefer Zähne zum Vorschein, die wie Spielkarten übereinanderstanden.

»Morgen«, begrüßte er mich gedehnt und streckte mir die Hand entgegen. »Freut mich, dich kennenzulernen. Ich bin Crete.«

»Lila«, stellte ich mich vor. »Wie man vermuten kann.«

Er war auf eine etwas derbe Art gut aussehend, mit markanten Gesichtszügen und strahlend blauen Augen. Seine Nase hatte einen leichten Höcker und war ein wenig schief, als hätte er sie nicht nur einmal gebrochen.

»Freut mich, dass du wohlbehalten hier angekommen bist. Frühstück? Wie klingt das für dich?«

»Gut«, antwortete ich. »Ich habe Riesenhunger.« Ich folgte ihm nach draußen zu seinem Laster, einem riesigen Doppelachser mit Gewehrhalterung unter dem Rückfenster. Er hielt mir die Tür auf und half mir beim Einsteigen.

Kaum startete er den Motor, setzte das Gebläse auf Hochtouren ein. Er entschuldigte sich und drehte es ein bisschen herunter. »Und fühlst du dich in der Garage einigermaßen wohl?«, erkundigte er sich. »Ich wollte noch ein Fliegengitter einsetzen lassen, damit du da drinnen nicht vor Hitze zerfließt. Judd soll sich darum kümmern.«

»Danke, das wäre nett.«

»Sag einfach Bescheid, wenn du etwas brauchst. Ich will, dass du dich hier wie zu Hause fühlst.«

Ich lächelte, und er erwiderte das Lächeln. Meine Erwartungen an meinen neuen Boss waren nicht allzu hoch – ich hatte die Erfahrung gemacht, dass man mit Erwartungen im Leben nicht allzu weit kam –, aber dass er zumindest dem ersten Eindruck nach halbwegs normal war, machte die Sache definitiv angenehmer. Die Fahrt dauerte nicht sonderlich lange; das Dane’s war eine rustikale Hütte mit Wellblechdach am Straßenrand gegenüber dem Fluss.