Die Schwestern vom Ku'damm: Tage der Hoffnung - Brigitte Riebe - E-Book
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Die Schwestern vom Ku'damm: Tage der Hoffnung E-Book

Brigitte Riebe

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Beschreibung

Teil 3 der packenden 50er-Jahre-Reihe von Bestsellerautorin Brigitte Riebe. Berlin 1958: Farben und Formen, Augenblicke, eingefangen mit Bleistift und Papier. Seit sie denken kann, will Florentine Thalheim nur eines: sich ganz dem Zeichnen und der Malerei hingeben. Die jüngste von drei Töchtern hatte schon immer einen rebellischen Geist. Nur wenn sie zu malen beginnt, wird alles hell und leicht, dann singen die Farben in ihr. Während ihrem Vater für Florentine eine Zukunft im Kaufhaus am Ku'damm vorschwebt, beginnt sie ein Studium an der Kunstakademie. Hier ist sie voll in ihrem Element, arbeitet wie im Rausch. Doch schon bald legt sich ein Schatten auf ihr Glück. Rufus Lindberg, ihr herrischer Lehrer, macht ihr das Leben an der Schule zur Hölle, und die politischen Spannungen zwischen Ost und West drohen die Stadt und die Thalheims zu entzweien. Gibt es Hoffnung für Florentine und ihre Familie? Gibt es Hoffnung für Berlin?

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Seitenzahl: 558

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Brigitte Riebe

Die Schwestern vom Ku’damm: Tage der Hoffnung

Roman

 

 

 

Über dieses Buch

Berlin 1958: Farben und Formen, Menschen und Augenblicke eingefangen in Bleistift und Papier. Seit sie denken kann, will Florentine Thalheim nur eines: sich ganz dem Zeichnen und der Malerei hingeben, erst recht, seit sie bei einem Aufenthalt in Paris die Werke der großen Künstler bestaunen konnte. Doch die jüngste von drei Töchtern hatte schon immer einen rebellischen Geist. Zwei Mal ist sie durch das Abitur gefallen, mehr als eine Ausbildung zur Dekorateurin hat sie nicht vorzuweisen. Während ihre Eltern und die älteren Schwestern Rike und Silvie hoffen, dass sie ihr Talent eines Tages für das Familienunternehmen, das Kaufhaus am Ku'damm, einsetzen wird, träumt Florentine weiterhin den wagemutigen Traum, an der Berliner Kunstakademie angenommen zu werden …

Vita

Brigitte Riebe ist promovierte Historikerin und arbeitete zunächst als Verlagslektorin. Sie hat mit großem Erfolg zahlreiche Romane veröffentlicht, in denen sie die Geschichte der vergangenen Jahrhunderte lebendig werden lässt. Ihre Bücher wurden in mehrere Sprachen übersetzt. 2018 erschien der Auftakt ihrer großen 50er-Jahre-Trilogie über drei Schwestern und ihr Kaufhaus am Ku'damm: «Jahre des Aufbaus» dreht sich um die älteste Thalheim-Tochter Rike. Band 2, «Wunderbare Zeiten», erzählt die Geschichte der mittleren Schwester Silvie. Der dritte Teil, «Tage der Hoffnung», widmet sich Nesthäkchen Florentine. Die Autorin lebt mit ihrem Mann in München.

Für meine Lea

In den Flüssen nördlich der Zukunft

werf ich das Netz aus, das du

zögernd beschwerst

mit von Steinen geschriebenen

Schatten

 

Paul Celan

PROLOG

Berlin, Februar 1958

All das würde sie nie wieder vergessen.

Die teils mandelgrünen, teils zinngrauen Dächer von Paris.

Den Silberglanz der nächtlichen Seine im Dezember, wenn die ersten Flocken fallen.

Einen Himmel, der sich bei Sonnenuntergang manchmal fast violett färbt.

Lautes Taubengurren vor Notre-Dame.

Das ungeduldige Klackern der Pumps auf dem Trottoir, weil Pariserinnen es immer eilig zu haben scheinen.

Fetzen von Akkordeonmusik im abendlichen Quartier Latin, die so schön melancholisch stimmen kann wie sonst nichts auf der Welt.

Hunger, der den Magen ganz eng werden lässt, und die Erlösung, die ein Stück ofenwarmes Baguette bringt.

Den Geschmack von schwarzem Tabak auf der Zunge, mit dem man sich so verdammt erwachsen fühlt.

Ihre Liebesnächte in der zugigen Mansarde, die ihnen zum Zuhause geworden war.

Aktzeichnen bei Monsieur Colbert, der sie präzises Hinsehen lehrt.

Aber ebenso wenig würde sie die bitteren Tränen vergessen und das Gefühl abgrundtiefer Verlorenheit, nachdem ihr Freund Pascal sich urplötzlich doch nicht mehr zum Künstler berufen fühlte und für einen sicheren Brotberuf zu seinen Eltern nach Lyon zurückkehrte. Es hatte sie enorme Kraft gekostet, sich aus diesem betäubenden Schmerzzustand zu befreien, doch eines bitterkalten Morgens war ihr plötzlich klar geworden: Ich muss zurück nach Berlin.

Und so steht sie nun, sechzehn Monate nach ihrer Flucht, frierend und mit leerem Magen wieder am Bahnhof Zoo: Florentine, jüngste der Thalheim-Schwestern, keinen Centime mehr im Portemonnaie, weil ihre allerletzte Barschaft für die Fahrkarte draufgegangen ist. Im Rucksack nur ein paar Klamotten, die nicht viel wiegen. Schwer machen ihn erst die Skizzenbücher, die sie in Paris bis zur letzten Seite vollgezeichnet hat, ebenso wie der schon reichlich zerfledderte Band Mohn und Gedächtnis, den sie immer bei sich trägt, weil Celans Worte sich für sie beim Lesen in Farben verwandeln. Und dann gibt es ja auch noch ihren kostbarsten Besitz, die unhandliche graue Mappe mit ihren Bildern, die sie keinen Moment aus den Augen lässt, obwohl sie das Beste aus den letzten Monaten bereits als Wertpaket in die alte Heimat vorausgeschickt hat.

Dieser Schatz könnte sich vielleicht bald als hilfreich erweisen. Falls sie doch darauf zurückgreifen muss, um angenommen zu werden.

Vor Aufregung hat Flori im Zug nicht geschlafen und ist jetzt hundemüde. Und wohin nun?

Viel Kontakt zur Familie hatte sie nicht gerade in den letzten Monaten. Ein paar Briefe an Silvie, noch weniger Briefe an maman, die der Vater bestimmt gleich hatte mitlesen wollen, weil er stets das Schlimmste befürchtete.

Trotzdem zu den Eltern in die noble Villa am Branitzer Platz, die sie sicherlich erleichtert wiederaufnehmen, nach der ersten Wiedersehensfreude aber garantiert mit Endloslitaneien von Ermahnungen und Vorschriften quälen würden?

Zur großen Schwester Rike in die Charlottenburger Giesebrechtstraße, wo diese mit ihrem italienischen Mann Sandro und den beiden gemeinsamen Kindern Anna und Matteo lebt? Auch von Rikes Seite müsste sie sich sicherlich auf so einiges gefasst machen …

Zu Silvie, mittlere der Thalheim-Töchter, die ihr früher stets die Stange gehalten hat, in Floris Augen allerdings seit Heirat und Mutterschaft ebenfalls ins Lager der Biederen übergewechselt ist? Ihre Lust auf Silvies sonoren Verleger-Gatten plus Söhnchen hält sich deutlich in Grenzen …

Floris ältere Schwestern könnten unterschiedlicher nicht sein. Wie Feuer und Wasser sind sie ihr oft erschienen, und ihre Streitigkeiten und Zerwürfnisse hat sie irgendwann gar nicht mehr gezählt. Und doch verbindet Rike und Silvie bei aller Gegensätzlichkeit etwas, das ihr fehlt und das Flori niemals aufholen kann, egal wie alt sie wird: ein ganzes Jahrzehnt gemeinsamer Erfahrungen, bevor sie zur Welt gekommen ist, wichtige Erfahrungen, die die beiden eben doch zur Einheit werden lassen, wenn es nötig wird.

Wie könnte sie jemals dagegen ankommen?

Die intelligente, gewissenhafte Rike, die für den Wiederaufbau des im Krieg zerbombten Kaufhauses gesorgt hat und jedes schwierige Problem meistert. Und die sinnliche, extrovertierte Silvie, die im Rundfunk große Erfolge feiert und mit ihrem Charme alle in ihren Bann ziehen kann – was bleibt da noch übrig für sie, die Jüngste? Zudem hat Flori mit Claire eine andere Mutter, die der sagenumwobenen Alma, Papas erster Frau, niemals das Wasser reichen konnte. Bei Licht betrachtet ist sie mit ihren Schwestern also eigentlich nur halb verwandt, und genauso hat sie sich in deren Gegenwart oft gefühlt: unscheinbar, kindisch, ganz und gar überflüssig. Ohne ihre Zeichnungen, ihr Tor zu anderen Welten, wäre es wohl gar nicht auszuhalten gewesen, aber schwer genug ist es für sie auch so geblieben. Flori musste die Stacheln ausfahren, um sich zu spüren, musste Contra geben, damit man sie nicht übersah, musste aufbegehren gegen das, was ihr zuwider war, und sich vor allem anstrengen, alles immer ganz, ganz anders zu machen als die beiden.

Am ehesten hat noch Oskar sie verstanden, Silvies Zwillingsbruder, der sich sein Leben lang ebenso wenig um Konventionen geschert hat wie Flori. Doch der liegt seit einem Jahr neben seiner Mutter im Familiengrab auf dem Westender Friedhof an der Heerstraße. Von seinem tragischen Unfalltod zu erfahren, ist Flori sehr nahgegangen. Oskar und sie waren begeisterte Fans von James Dean, dessen Filme sie regelrecht inhaliert haben. Dass er nun genauso wie sein Idol in einem schicken Sportwagen ums Leben gekommen ist, erscheint ihr wie eine grausame Ironie des Schicksals. Wie kann ausgerechnet Oskar tot sein, der doch Kriegsgräuel und jahrelange Gefangenschaft in Russland überstanden hat? Jemand wie er, voller Witz, Übermut und sprudelnder Lebendigkeit?

Bis heute kann Flori es noch immer nicht fassen, und ihr wird jedes Mal eiskalt, wenn es ihr wieder in den Sinn kommt. Das Kopfweh der letzten Tage verstärkt sich, und die Nase beginnt erneut zu laufen. Ob sie vielleicht doch eine üble Grippe ausbrütet?

Sie muss es zu Fuß noch mindestens bis zur Bleibtreustraße schaffen, in Oma Fridas einstige Wohnung, die inzwischen schon so viele Familienmitglieder beheimatet hat. Wer auch immer von ihnen da inzwischen wohnt, wird ihr sicherlich etwas zu essen und ein warmes Bett nicht verwehren.

Und wenn doch?

Dann muss sich eben etwas anderes ergeben.

Flori marschiert los.

Schon nach wenigen Schritten fühlt es sich an, als sei sie niemals weg gewesen. Berlin riecht ganz anders als Paris, rauer, ärmlicher, nicht glamourös und garantiert kein bisschen südlich, eher nach Straßendreck als nach Austern, nach Kohlen, Bockwurst und billigem Senf, und doch atmet sie die kalte Luft begierig ein. Hier, auf dem Ku’damm, kennt sie jeden Zentimeter, und natürlich bleibt sie als Erstes vor dem Modekaufhaus Thalheim, gleich am Anfang der berühmten Prachtallee, stehen. Die Fassade ist hell erleuchtet, trotz der immensen Stromkosten, über die sich ihr Vater seit Jahren aufregt. Rike hat recht gehabt, darauf zu bestehen, findet Flori, die beim Wiederaufbau allerdings noch zu jung war, um das Konzept damals schon zu begreifen. Wie ein Edelstein erstrahlt das Kaufhaus in der dunklen Winternacht, verkörpert Eleganz, Seriosität, modisches Flair. Im Kampf gegen die Blockade der Sowjets hat sie als Teenager bunte Bilder bekannter Sehenswürdigkeiten gemalt, um die geplagte Berliner Kundschaft aufzumuntern. Neun Jahre liegt das erst zurück, ihr allerdings kommt es vor wie ein halbes Jahrhundert.

Mindestens.

Den klassisch dekorierten Schaufenstern widmet sie nur ein paar flüchtige Blicke. Schlussverkauf steht da quer über jedem, auf einem weißen Band, in klobigen roten Lettern, das hätte man ihrer Meinung nach wesentlich ansprechender lösen können. Mit einem Schlag sind ihre mühsamen Lehrjahre im KaDeWe wieder präsent und damit natürlich auch die Erinnerungen an Pascal, und Flori schüttelt sich unwillkürlich, um beides ganz schnell loszuwerden.

Nie wieder wird sie einem Kerl erlauben, ihr so weh zu tun.

Und ebenso wenig wird sie jemals wieder Schaufenster dekorieren, das hat sie sich geschworen, auch wenn die Familie davon träumt, sie auf diese Weise doch noch ins Unternehmen einzubinden. Flori hat ganz andere Pläne. Geboren kurz nach Beginn des Naziregimes, im «Dritten Reich» eingeschult, Krieg und Bombennächte durchlitten, schließlich nach 1945 in einen Frieden gestolpert, der sich nicht getraut hat, so richtig mit der Vergangenheit aufzuräumen, und mehr Fragen offengelassen hat als Antworten gegeben – das alles brodelt als explosive Mischung in ihr. Für sie gibt es nur einen Weg, damit fertigzuwerden: Kunst.

Flori nickt der Ruine der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche mit dem hohlen Zahn zu, wie die Berliner den zerschossenen Turm flapsig getauft haben, beides noch immer unrenoviert, was sie seltsamerweise beruhigt, denn es zeigt ihr, dass sie eigentlich doch gar nicht so lange weg war. Ab da geht sie schneller, lässt den Gloria-Palast hinter sich, in dem Wanja Krahl sie anlässlich der Berlinale 1953 wie Strandgut abgeliefert hatte. Ihre Schwester Silvie hat sich später von ihm getrennt, Flori aber findet seine Gletscheraugen und die Reibeisenstimme insgeheim bis heute ziemlich aufregend.

Wie unfassbar naiv sie damals noch gewesen war! An der Seite ihrer Ost-Berliner Freundin Franzi als jugendliche Rebellin beim Aufstand des 17. Juni die Revolutionsfahnen schwingen zu wollen … Franzi haben diese kindischen Phantasien über ein Jahr im gefürchteten Dessauer Jugendhaus eingebrockt. Was Flori selbst im Westteil Berlins stocktrunken in der Wohnung mit den beiden geilen alten Männern passiert ist, daran will sie lieber erst gar nicht denken.

Im Kempinski gegenüber, das auf einmal viele neue Stockwerke hat, sind die Fenster hell erleuchtet. Das Modehaus Staebe-Seger auf ihrer Straßenseite dagegen, an dem sie gerade vorbeikommt, interessiert sie nicht weiter. Papa regt sich nur allzu gern über diesen Konkurrenten auf, dabei ist dessen Angebot doch viel biederer. Jetzt allerdings könnte sie selbst das ganz gut gebrauchen, denn Geld für neue Klamotten hatte sie in Paris nicht übrig.

Flori linst an sich herunter. Zerschlissene Jeans, schiefgelaufene Stiefel, ein zerbeulter dunkelblauer Dufflecoat, der schon längst in die Reinigung gehört hätte, auf dem Kopf ein uralter roter Strickhut mit Krempe, unter dem sie ihr scheckiges Haar versteckt: Als Schönheitskönigin würde sie im Moment wohl kaum durchgehen. Schon eher als Vogelscheuche – ausgerechnet sie, eine Thalheim!

Sie muss kichern, dann beginnt sie laut zu lachen und kann sich gar nicht mehr beruhigen. Einige Passanten drehen sich nach ihr um, was sie nur noch mehr erheitert. Irgendwann wird sie wieder ernst und geht weiter. Flori kennt die rührende Geschichte vom verlorenen Sohn, der zerlumpt, aber zutiefst geläutert zurück nach Hause findet.

Doch wie ist das eigentlich mit verlorenen Töchtern?

An der Ecke zur Bleibtreustraße hält sie erneut inne, wechselt die Mappe unter den anderen Arm, atmet tief ein und aus. Jetzt hat sie es gleich geschafft, doch diese letzten Meter, die noch vor ihr liegen, ziehen sich wie Gummi.

Endlich steht sie vor der Hausnummer 33.

Noch immer empfängt der Frauenkopf auf dem Bogen jeden Besucher wie ein freundlicher Torwächter. Noch immer steht Thalheim in geschwungener Schrift über dem bronzenen Klingelknopf für den zweiten Stock rechts.

Flori drückt ihn beherzt. Der Summer ertönt, und die Haustür öffnet sich. Sie hat erst ein paar Stufen bewältigt, als ihr eine schwarz-weiße Promenadenmischung entgegengestürmt kommt, die sie, mit ihrem Stummelschwanz wedelnd, begrüßt und bis ins zweite Stockwerk begleitet. Oben, an der geöffneten Wohnungstür, steht Gregor, neben ihm Hotte, eine grau getigerte Katze auf dem Arm, der ein halbes Ohr fehlt.

«Flori?», sagt ihr Cousin verblüfft.

«Ebendiese», erwidert sie mit breitem Lächeln, zieht sich die Mütze vom Kopf und entblößt einen Schwall Kupferlocken, die nach unten hin ins Schwärzliche gehen, als sei versehentlich ein Tuscheglas ausgelaufen, während der Hund nun liebeheischend um Gregors Beine wuselt. «Zurück aus der Fremde, müde, durchgefroren, ein bisschen erkältet und sehr, sehr hungrig. Dürfte ich vielleicht um Essen und Unterschlupf bei euch in der Arche Noah bitten?»

«Aber klar doch», erwidert Hotte an Gregors Stelle. «Dann komm mal rin, Kleene. Buletten sind jerade fertig jeworden.»

1

Berlin, April 1958

Das Schreiben kam mit der Morgenpost. Floris Hände begannen zu zittern, als sie den Absender las: Hochschule für bildende Künste, Hardenbergstraße 33.

«Der Brief ist da», sagte sie, als sie in die Küche zurückkehrte, wo ihre beiden Mitbewohner noch beim Frühstück saßen. «Menno – ich flattere vielleicht gerade!»

Heute konnten sie es ausnahmsweise gemütlicher angehen lassen; Gregor musste wie jeden zweiten Samstagvormittag nicht ins Architekturbüro, und im Tierheim übernahmen andere Kollegen Hottes Schicht. Lupo, der schwarz-weiße Rüde, dem jemand den Schwanz zertrümmert hatte, und Madame Coco, die anderthalbohrige Katzendame, strichen unauffällig um den Tisch, in der Hoffnung, dass vielleicht doch ganz zufällig etwas für sie abfiele. Seit ein paar Tagen ergänzte ein großer Vogelkäfig auf der alten Kredenz das heimische Bestiarium, in dem zwei verwaiste, ziemlich zerrupfte Wellensittiche mit den Namen Fiepsi und Piepsi den ganzen Tag zwitscherten. Hotte hätte am liebsten ständig weitere Tiere als neue Familienmitglieder angeschleppt, aber Gregor hatte ein striktes Veto eingelegt.

Nicht ganz unberechtigt, wie auch Flori fand.

Da sie seit Monaten das einstige Wohnzimmer okkupierte, aus dem ihr Cousin seine Modellbauten vorübergehend ausgelagert hatte, war es ganz schön eng in der Wohnung geworden. Hotte schien es nichts auszumachen, Gregor dagegen rang ab und an hörbar nach Luft und schien sich durchaus wieder nach mehr Platz zu sehnen.

«Dann setz dir mal und mach vor allem endlich uff», verlangte Hotte mit leuchtenden Augen. «Wir beede wollen uns schließlich mit dir freuen!»

Flori riss den Umschlag auf, begann zu lesen, stutzte, las noch einmal kopfschüttelnd, dann ließ sie den Brief auf den Boden fallen.

«Was ist los?», fragte Gregor. «Du bist ja auf einmal ganz grün um die Nase. Doch nicht etwa schlechte Neuigkeiten?»

«Aus und vorbei», erwiderte sie tonlos. «Die wollen mich nicht. Jetzt möchte ich nur noch tot sein …»

«Aber du bist doch grandios!», rief Hotte empört. «Die Bilder, die du uns jezeigt hast, waren einfach spitze. Dit müssen die Herrn Professoren doch och erkennen, wenn se keene Tomaten auf die Aujen haben!»

«Dieses verdammte Abitur», murmelte Flori. «Ich hatte so sehr gehofft, sie drücken ein Auge zu, weil ich doch eine abgeschlossene Ausbildung habe, über ein Jahr in Paris war und vor allem meine Mappe eingereicht habe. Aber offenbar hat nichts davon sie überzeugt.» Schluchzend sank sie auf einen Stuhl. «Alles umsonst …»

«Du willst also einfach aufgeben?» Gregor blickte seine Cousine streng an, nachdem er den Brief aufgehoben und ihn überflogen hatte. «Ich dachte, Kunst ist dein Leben!»

«Ist sie ja auch. Ohne meine Zeichnungen wäre ich vermutlich längst tot. Aber was soll ich deiner Ansicht nach jetzt tun? Mich am Tor der Akademie anketten und in Hungerstreik treten, bis man auf mich aufmerksam wird?», schniefte Flori. «Ich habe versagt. Wieder einmal. Ist ja nix Neues bei mir.»

«Unsinn! Sich selbst leidtun bringt in der Regel gar nichts. An deiner Stelle würde ich auf jeden Fall noch einmal mit ihnen reden. Du musst doch ohnehin deine Mappe abholen. Vielleicht ergibt sich bei dieser Gelegenheit eine Möglichkeit. Denk dir was aus, leg dich ins Zeug. Kreativ genug biste doch schließlich. Und notfalls musst du es halt noch einmal versuchen …»

«Ich bin eigentlich schüchtern, damit du es nur weißt», fuhr sie ihn an. «Total schüchtern sogar, auch wenn es vielleicht nach außen hin nicht so wirkt! Und noch länger warten? Das halt ich nicht aus!»

«Dann spring über deinen Schatten und überzeug sie von dir, denn geschenkt bekommt man im Leben nun mal nichts», gab er zurück. «Für seine Träume muss man kämpfen, Flori. Und glaub mir, ich weiß, wovon ich rede.»

Sprach er von seiner Liebe zu Hotte, die offiziell ein Straftatbestand war, auch wenn die beiden Männer eine Möglichkeit gefunden hatten, um sie doch zu leben? Jedenfalls stand zwischen seinen dichten dunklen Brauen plötzlich eine steile Falte, die ihn älter machte. Obwohl Gregor die gerade Thalheim-Nase hatte und die hellen Augen seines Vaters Carl, ähnelte er auf einmal verblüffend seiner dunkelhaarigen Mutter, vor deren Launenhaftigkeit Flori sich als Kind gefürchtet hatte. Seitdem Tante Lydia allerdings in zweiter Ehe mit Pastor Jürgen Grothe aus Potsdam verheiratet war, war sie offener, viel freundlicher geworden und dessen beiden inzwischen erwachsenen Töchtern Luisa und Amelie eine liebevolle Stiefmutter.

Für seine Träume muss man kämpfen – als ob sie das nicht selbst wüsste! Jetzt fing auch noch Gregor an, sie zu maßregeln. Dabei hatte ihr in den letzten Wochen seine ruhige, selbstverständliche Art so gutgetan. Er war lange nicht so gesprächig wie sein jüngerer Bruder Paul, der Bandleader, der von früh bis spät am Plappern war, doch was er sagte, hatte Hand und Fuß. Seit Gregors erfolgreichem Mitwirken an der Interbau im letzten Jahr war die Branche auf ihn aufmerksam geworden, und er hatte auf einmal die Wahl zwischen verschiedenen namhaften Architekturbüros, was er sehr genoss. Flori liebte es, mit ihm über Ideen für neues Wohnen zu reden, und hatte dabei schon einiges über das Weimarer Bauhaus gelernt, dessen Tradition er sich verpflichtet fühlte. Im friedlichen Zusammenleben mit ihm und seinem Lebenspartner Hotte hatte sie sich endlich ernst genommen gefühlt, nicht mehr wie die doofe Kleine, auf der alle herumhackten.

Und jetzt diese enttäuschende Wendung! Gregor war also doch kein bisschen anders als der Rest dieser anstrengenden Familie. Tu dies, lass jenes, überleg dir doch … und werd vor allem endlich vernünftig … Auch deshalb war Flori nach Paris geflohen, um endlich diesem Stimmenkonzert zu entrinnen, das in ihr niemals ganz zur Ruhe kam. Doch leider hatte es nicht funktioniert. Die lästigen Stimmen hatten sie dort ebenso malträtiert. Nur im Atelier schwiegen sie. Sobald sie Kreide oder Pinsel zur Hand nahm und zu arbeiten begann, wurde es plötzlich ganz still in ihr. Und sehr, sehr hell.

Diese absolute Seligkeit sollte jetzt nicht ihre Zukunft sein dürfen?

Papa wäre natürlich ohnehin strikt dagegen, und maman würde sich seiner Meinung wie so oft gewiss anschließen, deshalb war Flori bislang aus gutem Grund vage geblieben, was ihre Studienpläne anging. So sehr hatte sie darauf gehofft, die Eltern mit einem «Aufgenommen» zu überraschen und doch noch umzustimmen, aber daraus wurde ja nun leider nichts.

Sie bückte sich nach dem Brief, zerknüllte ihn zu einer Kugel und kickte ihn wütend in die Ecke. Dann stand sie so abrupt auf, dass der Stuhl krachend umfiel, und verschwand im Wohnzimmer.

Anschließend brüllte eine geschlagene Stunde lang Elvis Presley seinen Jailhouse Rock durch die geschlossene Tür, bis der Plattenspieler schließlich verstummte.

 

Erst als es dunkel wurde, kam Flori wieder heraus. Gregor saß lesend am Küchentisch; Hotte schnitt gerade Zwiebeln. Auf dem Herd blubberte Wasser in einem hohen Topf. In einer Pfanne duftete angebratenes Hackfleisch, gut gewürzt.

«Doch nicht etwa Spaghetti bolognese?», fragte sie hoffnungsvoll.

«Haste eigentlich nich verdient. So kindisch, wie de dir vorhin ufjeführt hast.»

Die Zwiebeln kamen ins Öl. Hotte ließ sie anschwitzen und gab kleingeschnittene Tomaten dazu.

«Weeß ick», murmelte Flori verlegen. «Und es tut mir ja auch leid. Meint ihr, darin könnte ich morgen Eindruck machen?» Sie vollführte eine geschmeidige Drehung.

Ihre Eltern waren entsetzt gewesen, in welch verwahrloster Aufmachung sie aus Paris zurückgekommen war. Der Vater hatte etwas von «Clochards» gemurmelt und dass eine Thalheim in so einem Aufzug nicht herumlaufen könne, maman fast schon panisch die Augen verdreht. Danach war Claire in ihr Schlafzimmer gelaufen und schwer beladen wieder zurückgekehrt. Pullover, Hosen, Röcke, Kleider – alles, was man sich nur wünschen konnte, schleppte sie an. Claire achtete auf ihre Figur; was ihr passte, konnte auch die Tochter tragen, die ebenso zierlich war wie sie.

Doch Flori hatte auf stur geschaltet. «Dein madamiges Zeug kannste behalten», hatte sie abgewehrt. «So etwas Stocklangweiliges tragen doch nur alte Frauen. Habt ihr in eurem Kaufhaus denn nichts für uns Junge?»

Silvie, von einer zu Tode gekränkten Claire zu Hilfe gerufen, hatte die Widerspenstige gepackt und mit ihr eine private Einkaufstour durch das Modekaufhaus Thalheim veranstaltet, das im ersten Stockwerk die brandneue Abteilung HULA HOOP eingerichtet hatte, in der es von Blousons, Petticoats und Jeans nur so wimmelte. Nach und nach hellte sich Floris düsterte Miene auf, weil es dort doch flotte Sachen gab, die sogar ihr gefielen, und schließlich verließen die Schwestern mit zwei prallen Papiertüten den Laden. Danach stärkten sie sich noch in einer der quietschbunt möblierten Eisdielen nur ein paar Meter weiter auf dem Ku’damm, die jetzt überall in Berlin wie Pilze aus dem Boden schossen. Wie zufällig gesellte sich nach kurzem Rike dazu, was Flori augenblicklich Schlimmes vermuten ließ.

«Das war jetzt eine Investition in dein neues Leben, hier in Berlin, und wir haben sie gern geleistet», verkündete die Älteste dann auch prompt, nachdem sie sich um ein Haar die Zunge am Espresso verbrannt hätte. «Aber nur meckern und fordern ist nicht, kapiert? Die ganze Familie musste finanziell zusammenrücken, um Oskars immense Kreditschulden zu tilgen, da sind die Rücklagen ganz ordentlich geschmolzen. Und einen Goldesel haben wir leider auch nicht. Du bist jetzt vierundzwanzig, Flori. Du solltest endlich wissen, wohin dein Weg dich führen soll, damit du bald auf eigenen Füßen stehen kannst.»

«Ich habe ganz gewiss nicht vor, euch ewig auf der Tasche zu liegen», murmelte Flori, der das Bananasplit auf einmal nicht mehr schmeckte. «Vielleicht kann ich ja sogar schneller Geld verdienen, als ihr alle denkt.»

«Dann rück doch endlich damit raus, was du vorhast», schaltete sich nun auch Silvie ein, die ihren Joghurtgletscher kaum angerührt hatte. «Deine Geheimnistuerei macht uns alle noch ganz kirre!»

Rike nickte dazu so eifrig, dass ihr schicker tomatenroter Hut bedenklich zu wippen begann. «Wir haben schließlich lang genug Geduld gezeigt», lautete ihr Kommentar.

Da war sie wieder, jene fatale Einheit der beiden, gegen die Flori sich so machtlos fühlte! Natürlich würde sie der Familie von ihren Plänen erzählen, aber erst, nachdem sie an der Hochschule für bildende Künste angenommen war.

Damals war sie noch zuversichtlich gewesen …

Und jetzt dieser Rückschlag.

Sie seufzte laut auf. Wenn sie diese Hürde doch nur schon genommen hätte! Aber so schnell würde sie nicht aufgeben, das hatte sie sich geschworen.

Zumindest hatte sich Silvies Beratung gelohnt. In der Pepitahose, der weißen Bluse, dem schwarzen V-Pulli und der legeren petrolgrünen Jacke fühlte Flori sich wohl. Die scheckigen Haare hatten sich schon vor ein paar Tagen im Friseursalon in einen kinnlangen Schnitt verwandelt und umschmeichelten nun im gewohnten Kupferton ihr schmales Gesicht.

Allerdings hatten die beiden in der Küche bislang noch keinen Ton von sich gegeben.

Langsam drehte sie sich noch einmal um die eigene Achse. «Und?», fragte sie. «Was meint ihr?»

«Kannste morgen so anziehen», sagte Hotte anerkennend, und auch Gregor nickte. «Aber warum trägste eigentlich keenen Rock? Die Beene dafür haste doch!»

«Nie und nimmer!», erwiderte Flori. «Ich geh ja schließlich nicht zum Sekretärinnenkurs. Bin ich nicht zu schick?», vergewisserte sie sich nicht ohne Koketterie. «Für ein Modepüppchen sollen sie mich an der Hochschule für bildende Künste bloß nicht halten!»

«Weil Künstler für gewöhnlich in Fetzen rumrennen?», erwiderte Gregor. «Vergiss es! Professor Karl Otto, der Direktor, ist schließlich Architekt mit jahrzehntelanger Berufserfahrung. Und mir ist bislang noch kein Architekt über den Weg gelaufen, der es schlampig gemocht hätte.»

***

In der Kombination, die von Hotte und Gregor am Vorabend für gut befunden worden war, machte Flori sich am Montag mit klammem Herzen auf den kurzen Weg in die Hardenbergstraße.

Hinter ihr lag eine zerwühlte Nacht voller Zweifel und Ängste. Es kam ja schließlich nicht auf das Äußere an, sondern auf ihre künstlerischen Fähigkeiten, und da war sie sich alles andere als sicher. Hatte die Hochschule für bildende Künste sie nicht doch aus triftigem Grund abgelehnt und nicht nur wegen einer Formalie wie des fehlenden Abiturs? Dass sie in puncto Kunst noch ganz am Anfang stand, wusste Flori selbst, auch wenn ihr in Paris das Aktzeichnen erstaunlich gut von der Hand gegangen war. Ein paar Monate lang hatte sie sich zwei Abende pro Woche einen Kursus in einer privaten Kunstschule geleistet, bis ihr das Geld ausgegangen war. Danach blieb ihr nur noch Pascal als Modell, und es waren ein paar sehr schöne Studien entstanden, von denen sie aus Trauer und Wut allerdings den Großteil verbrannte, nachdem er sie so schmählich im Stich gelassen hatte. Vielleicht tat Flori sich beim Aktzeichnen leichter als manch anderer, weil sie sich schon als Kind vorgestellt hatte, wie Leute unter ihrer Kleidung aussahen. Das ständige Gerede über Klamotten bei den Thalheims hatte sie förmlich dazu getrieben: Sie wollte den Kern der Menschen erfassen und herausfinden, wer sie wirklich sind, sobald ihre schützenden Hüllen wegfallen, die so vieles verstecken oder vortäuschen können. Unmittelbar nach dem Krieg hatte sie beim Herumstreunen in der Stadt manchmal ganz brauchbare Modelle entdeckt. Nicht ganz nackt natürlich, aber eben doch so mangelhaft bekleidet, dass ihr Zeichenstift es leichtgehabt hatte. Gezeigt hatte sie diese frühen Studien niemandem; sie schlummerten in einer Kiste im Keller der elterlichen Villa und würden heute vor ihren eigenen kritischen Augen vermutlich keinerlei Gnade mehr finden. Reichte so ein bisschen Talent überhaupt, wenn einem die nötige Erfahrung fehlte?

Vermutlich nicht.

Mit jedem Schritt in Richtung Hardenbergstraße wurden ihre Beine schwerer. Das imposante, riesige Gebäude, um das sie mehrmals sehnsüchtig herumgeschlichen war, hatte sie bereits von außen ziemlich eingeschüchtert.

Abgelehnt war schließlich abgelehnt. Was sollte da sinnloses Nachbohren bringen, mit dem sie sich nur lächerlich machen würde? Wahrscheinlich wäre es am klügsten, sich die Mappe ohne jedes Palaver aushändigen zu lassen und dann schnellstmöglich wieder zu verschwinden, bevor es zu Peinlichkeiten kommen konnte.

Also wirklich aus die Maus? Für alle Zeiten? Ihre Augen wurden feucht, obwohl sie sich fest vorgenommen hatte, nicht zu weinen. Die gesamte Familie würde wieder einhellig auf ihr herumhacken, falls diese Pleite herauskäme!

Flori, die kleine Versagerin … Flori, die es zu nichts brachte … Flori mit ihren wirren Plänen …

Es nützte nichts, dass ihr eine warme Frühlingssonne den Rücken wärmte und überall auf den schmalen Rasenflächen Blümchen die bunten Köpfe aus der Erde streckten. Radfahrer fuhren gut gelaunt an ihr vorbei, die Straßen waren voller Mopeds, und einige besonders wagemutige Cabrio-Besitzer hatten bereits ihr Dach geöffnet, Flori jedoch fühlte sich von der ganzen Welt verkannt. In ihr war es rabenschwarz geworden.

«Was ich erlebt hab, das kann nur ich erleben, ich bin ein Vagabund», plärrte eine Männerstimme aus dem Autoradio vor ihr plötzlich überlaut, um gleich danach in melodisches Gelächter auszubrechen, das sie aus ihren Gedanken aufschreckte.

Quietschende Bremsen. Ein empörtes Hupkonzert. Flori war auf die Fahrbahn getreten, ohne nach links oder rechts zu schauen.

«Verdammt noch mal! Haben Sie denn keine Augen im Kopf? Um ein Haar hätte ich Sie überfahren …»

Ein schnittiger Sportwagen in leuchtendem Türkis war keine Handbreit vor ihr zum Stehen gekommen, gesteuert von einer jungen Frau, die eine Sonnenbrille trug und ein buntes Seidentuch um den Kopf geschlungen hatte. Energisch schaltete sie das Autoradio aus.

Als sie die Brille abnahm, stockte Flori, die sich verlegen auf dem Gehsteig in Sicherheit gebracht hatte, der Atem.

Ein klares Gesicht mit hohen Wangenknochen und dunklen Mandelaugen, unterstrichen von perfekt aufgetragenem Make-up. Ein Gesicht, das sie in viele Träume begleitet hatte.

«Franzi? Franzi Rath? Aber das kann doch gar nicht wahr sein», stieß sie hervor.

«Flori? Ich glaub, ich werd verrückt! Warte mal, ich stell den Motor ab.» Sie fuhr ein Stück weiter und parkte den Wagen zwischen zwei anderen Autos, ohne auszusteigen.

Flori war ihr gefolgt. «Du siehst ja aus wie ein Star!» Mehr brachte sie nicht hervor, weil ihr Kopf sich auf einmal so leer anfühlte. «Wie du geschminkt bist! Und dieser edle Kamelhaarmantel …»

Die Freundin aus früheren Tagen winkte ab. «Alles nur gepumpt. Musste mich ein bisschen auftakeln, weil ich heute Mittag zum Casting nach Grunewald eingeladen bin. Am Theater kannste beim Vorsprechen so aussehen, wie die Natur dich geschaffen hat, Hauptsache, du beherrschst deinen Text. Beim Film dagegen wollen sie immer das ganze Brimborium, bevor sie dich für eine anständige Rolle besetzen. Ich nenne mich jetzt übrigens Lyss Ramoner. Klingt doch gleich ganz anders als das biedere Franziska Rath, findest du nicht? Und du? Wie geht es dir?»

«Weißt du eigentlich, wie sehr du mir gefehlt hast?», sagte Flori leise, ohne auf die Fragen einzugehen. «Ich hatte zwei Herzensmenschen, und einer davon warst du.»

«Du mir auch.» Die Antwort kam prompt und klang ehrlich. «Ich habe dich oft vermisst.»

«Und warum bist du dann sang- und klanglos aus meinem Leben verschwunden?», bohrte Flori nach. «Damit hast du mir sehr weh getan, weißt du das eigentlich? Ich bin bis nach Paris geflohen!»

Ein Schatten legte sich über Franzis Gesicht. «Weil das Leben dich eben manchmal wie eine Lawine überrollen kann. So jedenfalls ist es mir ergangen. Ich habe meine Zeit gebraucht, bis ich wieder halbwegs atmen konnte – vom Aufrappeln ganz zu schweigen. Und arbeiten musste ich ja schließlich auch noch.» Sie fuhr sich über das Gesicht, dann lächelte sie Flori schief an. «Jetzt steh ich hier und rede mit dir, als sei nichts geschehen! Dabei hatte ich eigentlich Stein und Bein geschworen, niemals wieder auch nur ein Wort mit jemandem zu wechseln, der den Namen Thalheim trägt. Aber so einfach ist das leider nicht. Denn schließlich gehöre ich trotz allem auch irgendwie zu eurem verkorksten Verein. Und du kannst schließlich nichts für das ganze Schlamassel. Du am allerwenigsten.»

Flori starrte sie verständnislos an. Wovon redete Franzi?

«Sag nur, sie haben dir von dem ganzen Drama um Oskar und mich nichts erzählt», fragte Franzi kopfschüttelnd.

«Was denn erzählt? Ich versteh kein Wort.»

«Ich glaub es nicht! Sie haben es tatsächlich nicht. Hätte ich mir ja eigentlich denken können – typisch Thalheim. Alles immer schön unterm Deckel halten, so lange, bis es zu gären beginnt.» Sie setzte die Brille wieder auf, und ihre Rechte im halboffenen braunen Schweinslederhandschuh klopfte energisch auf den Beifahrersitz. «Dann steig mal ein, Florentine Thalheim. Es gibt nämlich Redebedarf!»

«Aber ich muss doch meine Mappe abholen, und du hast diesen wichtigen Termin …»

«Das geht jetzt vor. Zwei Ecken weiter ist das Café Stein, dort reden wir beide in aller Ruhe.»

 

Wie lange hockte sie jetzt schon auf diesem unbequemen Holzstuhl vor dem Sekretariat und wartete darauf, dass die Tür endlich wieder aufging?

Es kam ihr vor wie eine Ewigkeit. Das Karussell in ihrem Kopf begann sich erneut zu drehen. Die hundertste Runde vielleicht, oder sogar mehr, sie hatte aufgehört zu zählen.

Ihre ehemals beste Freundin Franzi fährt eine sündteure türkisblaue Corvette. Franzi wohnt jetzt in der West-Berliner Goethestraße auf zwei Etagen. Franzi heißt nicht länger Franzi, sondern Lyss Ramoner. Franzi macht Karriere und ist auf dem besten Weg, ein Filmstar zu werden. Franzi und Oskar hatten sich ineinander verliebt und wollten heiraten, bis die Wahrheit schlagartig ans Licht gekommen ist. Kitty ist Onkel Carls große Liebe, die er viele Jahre lang aus den Augen verloren, dann aber wiedergefunden hat.

Okay, das war so ziemlich das Einzige, was sie wusste, weil die beiden jetzt zusammen in seinem Potsdamer Haus lebten.

Aber nicht, dass diese Kitty Franzis Mutter ist.

Und Onkel Carl Franzis Vater.

Damit ist Franzi ihre Cousine.

Doch der Irrsinn geht noch weiter: Der Vater von Luisas kleinem Sohn ist nämlich Oskar, ihr toter Bruder. Keiner hat ihr davon erzählt, Silvie nicht, Rike nicht, weder Papa noch maman, nicht einmal Gregor … Weil sie in dieser Familie so unwichtig ist, dass man sie ruhigen Gewissens übergehen kann? Wie weh das tut, wie unendlich weh!

Im wilden Durcheinander trieben einzelne von Franzis Sätzen durch Floris Hirn, und sie fühlte sich noch immer halb betäubt, wenn sie an das Gespräch im Café Stein dachte.

«… ist mir klar, dass alle Thalheims mich für seinen Tod verantwortlich machen.» Franzis Stimme, so schrill, wie Flori sie noch nie zuvor gehört hat. «Ganz schön praktisch, wenn man eine Schuldige hat, auf die man alles schieben kann! Ja, Oskar hat mit sich gehadert, seinem Leben, seinem Schicksal, seiner Arbeit – und mit Sicherheit auch mit mir. Doch als Oskar verunglückt ist, waren wir bereits Monate getrennt. Einer musste doch den Schlussstrich ziehen, als herauskam, dass wir Cousin und Cousine sind, oder nicht? Ich war mutiger als er. Wie es Frauen eben so sind.»

«… bin ich bislang über zwanzig Jahre ohne leiblichen Vater ausgekommen und verzichte auch weiterhin liebend gern darauf …»

«… eine Familienversöhnung anstreben?» Ein bitteres Lachen, das Flori durch und durch ging. «Ist doch schon einmal total in die Hose gegangen!»

«Fräulein Thalheim, höret Sie mi?» Ein großer rot geschminkter Mund beugte sich über sie. «Sie könna dahana ned oifach sidzen bleiba. Des han i Ihna scho vor Schdunda gsagd.»

Dass jemand so viele Zähne haben konnte!

Das mussten doch weitaus mehr als die üblichen zweiunddreißig sein. Weiß und spitz blitzten sie hervor, während die Lehrstuhlsekretärin vor Empörung in ihr württembergisches Heimatidiom verfiel. Marga Bix stand auf dem silbernen Namensschild unterhalb des gestärkten hellblauen Krägelchens. Dass sie die rechte Hand von Professor Otto war, hatte sie Flori bereits klargemacht, als sie ihr mit spitzen Fingern die Mappe aushändigen wollte.

«Hier bitte unterschreiben.» Ein rot lackierter Nagel tippte auf die entsprechende Zeile. «Muss ja schließlich alles seine Ordnung haben, gerade bei denen, die wir mangels Talent nun einmal nicht aufnehmen können.»

Flori hatte den Kugelschreiber fallen lassen, als hätte sie sich verbrannt, während Fräulein Bix sie so verblüfft anstarrte, als wüchsen ihr auf einmal Karotten aus den Ohren.

«Ich denke gar nicht daran. Nicht, bevor ich Professor Otto persönlich gesprochen habe.»

«Der Herr Professor hat anderes zu tun. Sie sind abgelehnt, Fräulein Thalheim. Daran ändert sich nichts mehr. Also unterschreiben Sie gefälligst …»

«Nein. Behalten Sie die Mappe.» Flori blieb stur. «Ich warte hier, bis mich der Professor vorlässt.»

«Da könnet Se Moos ansezda!», brach es feucht aus Fräulein Bix heraus.

«Auch das meinethalben. Ich will zu Professor Otto!», wiederholte sie hartnäckig.

Auch Stunden später hatte Flori sich nicht vom Fleck bewegt, obwohl es draußen langsam dunkel werden musste.

«Der Herr Professor hat das Haus längst verlassen. Und ich gehe jetzt auch. Zugesperrt wird, haben Sie mich verstanden?», zeterte die Bix. «Offiziell sind nämlich noch immer Ferien. Das Semester beginnt erst nächste Woche!» Mit diesen unschlagbaren Argumenten hatte sie ins Hochdeutsche zurückgefunden.

Log sie, um Flori endlich loszuwerden? Die flackernden dunklen Augen unter dünn gezupften Brauen verrieten es nicht. Vielleicht sagte die Bix ja die Wahrheit. Vielleicht gab es mehrere Türen, die untereinander verbunden waren, und durch eine von diesen konnte der Direktor unbemerkt entwischt sein. Sie hatte in den Stunden ihres Wartens nicht nur jede Menge Studenten kommen und gehen sehen, sondern auch diverse Männer mittleren Alters, die wie Professoren gewirkt hatten. War Otto darunter gewesen? Gregor hatte ihr aus einem der Interbau-Kataloge ein winziges Porträt ausgeschnitten, das allerdings so austauschbar war, dass es ihr nicht weitergeholfen hatte.

«Dann komme ich eben morgen wieder.» Flori erhob sich mit steifen Knien.

«Da werden Sie ebenso wenig Glück haben …»

«Und übermorgen und überübermorgen und überüberübermorgen und immer so weiter – so lange, bis ich den Professor sprechen kann», fiel Flori ihr ins Wort. «Schließlich bin ich eine Thalheim, und Sie glauben ja gar nicht, wie hartnäckig wir sein können!»

Sie hatte das letzte Wort, aber es fühlte sich ganz und gar nicht wie ein Triumph an. Kaum hatte sie das Akademiegebäude verlassen, blies ihr ein kühler Abendwind entgegen, der unmissverständlich verriet, dass der Frühling gerade erst angebrochen war. Franzis atemlose Erzählung legte sich erneut wie ein Bleigewicht auf ihre Schultern. Oskar war an gebrochenem Herzen gestorben, das stand für Flori eindeutig fest. Er hatte sich unsterblich in eine junge Frau verliebt, die sich als nahe Verwandte entpuppte, weil zuvor keiner den Mut zur Wahrheit besessen hatte.

Ob sein Ende nicht doch Selbstmord gewesen war? Es hieß zwar, ein Laster habe ihm die Vorfahrt genommen, aber wer einmal Oskar am Steuer erlebt hatte, wusste, wie riskant er zumeist unterwegs war. Er sieht den Laster kommen, schließt innerlich mit allem ab und tritt auf das Gaspedal anstatt auf die Bremse … Sie zwang sich, nicht weiterzudenken. Oskar war tot, und damit mussten sie nun alle zurechtkommen.

Das Einzige, was es noch von ihm gab, waren Erinnerungen – und ein vier Monate alter Schreihals namens Felix, der mit seiner Mutter Luisa das Dachstübchen in der elterlichen Villa bewohnte. Warum war Flori beim Anblick dieser beiden eigentlich nicht sofort misstrauisch geworden? Natürlich hatte sie das Baby gesehen, als sie die Eltern besucht hatte, und sich noch über das Tamtam gewundert, das die beiden mit dem Kleinen und seiner Mutter veranstalteten. Nicht ein Wort über Luisas uneheliche Schwangerschaft, was bei diesen Spießern normalerweise doch für gewaltige Empörung hätte sorgen müssen. Stattdessen nur freundliches Eidadadei, Luisa vorne, Felix hinten. Weil sie nun einen Enkel hatten, Ersatz für den toten Sohn?

In Papas Augen hatten Jungs ja immer schon viel mehr gegolten …

Aber Oskar und Luisa als Liebespaar? Flori schüttelte sich. Und doch musste er mit ihr geschlafen haben, sonst gäbe es ja schließlich nicht dieses rundliche Kind mit dem hellblonden Flaum auf dem Köpfchen, das es bereits selbständig heben konnte, wie Luisa freudestrahlend herausposaunt hatte.

Zur Hochzeit allerdings war es nicht gekommen. Weil Oskar doch vor diesem Schritt gezögert hatte, Schwangerschaft hin oder her?

Deshalb hieß der Kleine jetzt auch Grothe mit Nachnamen anstatt Thalheim.

Noch immer tief in Gedanken, schloss Flori die Haustür auf und stieg nach oben. Lupo begrüßte sie freudig, Madame Coco dagegen, die sich seit dem ersten Abend angewöhnt hatte, in ihrem Bett zu schlafen, blieb unsichtbar. Die abgeschabte dunkelbraune Lederjacke an der Garderobe kannte Flori seit vielen Jahren, es war noch immer dieselbe, die Carl schon kurz nach dem Krieg auf seinem Motorrad getragen hatte. Dazu passte der schwarze Helm, den er darübergestülpt hatte. Normalerweise freute sie sich jedes Mal, ihren Onkel zu sehen, heute jedoch verhielt es sich anders. Am liebsten wäre sie sofort in ihrem Zimmer verschwunden, doch die Tür zur Küche war nur angelehnt, und die Männer hatten sie offenbar kommen hören.

«Flori?», rief Gregor. «Wir haben Besuch. Carl ist da.»

Seit einiger Zeit nannte er seinen Vater beim Vornamen, was ihre Beziehung neu belebt hatte. Vielleicht auch, weil Carl, der sich immer gern verweigert hatte, sobald es um Emotionales ging, nun endlich anerkannte, dass sein Sohn Männer liebte und mit Hotte sein Leben teilte.

Beide sahen sie erwartungsvoll an, als sie zögernd die Küche betrat. Zu ihrem Entsetzen bemerkte Flori, dass der Tisch mit den Bildern und Zeichnungen bedeckt war, die sie als zu minderwertig empfunden hatte, um sie der Mappe beizulegen.

«Habt ihr jetzt den Verstand verloren?», wetterte sie los. «Einfach an meine Sachen zu gehen. Ich fass es nicht!»

«Sorry, ich wollte Carl nur zeigen, wie talentiert du bist.» Gregor klang nicht einmal reumütig. «Hotte und ich kennen deine Arbeiten doch bereits, ich versteh deinen Ärger ehrlich gesagt nicht.»

«Ach nein? Dann will ich dir mal was erklären! Ich bestimme, wann und wem ich meine Bilder zeige, ich allein! Kapiert?»

«Wir waren nur so empört, dass die Hochschule für bildende Künste dich angesichts dieser Qualität abgelehnt hat», setzte er nach.

«Ach, das hast du auch gleich weitererzählt, damit möglichst alle es erfahren? Vielen Dank dafür, lieber Cousin!»

Sie tat ihm unrecht, denn sie wusste, dass ihr Onkel ihm Anvertrautes sehr wohl für sich behalten konnte. Aber Flori hatte in diesem Moment einfach keine Lust, gerecht zu sein. Sie wollte wütend sein, weil sie sich bloßgestellt fühlte.

«Gregor hat recht, Flori, ganz großes Kompliment.» Carl zeigte sein gewinnendstes Lächeln. «Du bist wirklich gut. Und wenn die Professoren bei euch im Westen zu borniert sind, um das zu erkennen, dann versuch es doch bei uns im Osten. Da gibt es auch gute Lehrer und phantastische Künstler! Du bewirbst dich an der Hochschule für angewandte und bildende Künste im schönen Weißensee und wohnst während des Studiums einfach bei mir in Potsdam. Freie Kost und Logis sind natürlich garantiert. Ich würde mich über ein frisches junges Gesicht bei uns im Haus unbändig freuen! Na, ist das kein verlockendes Angebot?»

Flori blieb ihm die Antwort schuldig. Stattdessen sammelte sie schweigend die Blätter zusammen und legte sie zurück in die Mappe, die sie zuklappte und auf einem der Stühle ablegte. Anschließend ging sie zum Wasserhahn, füllte ein Glas und trank.

«Wart ihr etwa auch an meinen Skizzenbüchern?» Ihre Stimme klang scharf.

«Nein», erwiderte Gregor. «Hab ich nicht angerührt. Ehrenwort!»

«Reicht auch so. Mach das gefälligst nie mehr wieder. Sonst ist es mit der Freundschaft nämlich aus und vorbei.»

Er nickte zerknirscht. «Versprochen! Aber wie war es denn nun in der Hardenbergstraße? Konntest du mit Professor Otto reden?»

«Von wegen! Dieser Otto versteckt sich hinter einer Sekretärin mit Haifischgebiss, die ihn verteidigt wie den Heiligen Gral. Ich habe ihn nicht einmal zu Gesicht bekommen.»

«Aber du gehst noch einmal hin?», wollte Gregor wissen.

«Worauf du dich verlassen kannst! So lange, bis er mich empfängt.» Flori leerte das Wasserglas ganz und stellte es mit Nachdruck auf den Tisch. «Und nun zu dir, lieber Carl. Weißt du, wen ich unterwegs ganz zufällig getroffen habe? Franzi!»

Es war auf einmal sehr still in der Küche, selbst die beiden Piepmätze hielten ausnahmsweise die Schnäbel. Nur der Wasserhahn tropfte monoton in die Spüle.

«Flori, ich …», begann Carl nach mehrfachem Räuspern, sie aber ließ ihn gar nicht erst zu Wort kommen.

«Wann wolltet ihr mir eigentlich sagen, was alles während meiner Abwesenheit passiert ist? Dass Oskar und Franzi ein Paar waren, dass sie fast geheiratet hätten, dass Franzi deine Tochter ist, Onkel Carl» – das «Onkel» kam ganz dumpf –, «und damit meine Cousine. Dass Oskar der Vater von Luisas kleinem Sohn ist …» Sie hielt inne. «Ist da noch etwas, das ich nicht weiß? Dann raus damit, bitte! Verdammt noch mal!» Sie schlug mit der flachen Hand auf den Küchentisch. «Und das geht auch an dich, Gregor, und an deinen Bruder Paul, unseren flotten Bandleader, der über alles und jedes plappert, das Wichtigste aber verschweigt: Ich gehöre ebenso zu dieser Familie wie ihr – auch wenn meine Mutter Claire heißt und nicht Alma!»

«Natürlich tust du das, Flori», sagte Carl rasch. «Und ich wollte dich niemals kränken oder ausgrenzen. Aber dein Vater meinte, wir sollten abwarten, bis du zurück bi…»

«Als ob du dich jemals darum geschert hättest, was dein jüngerer Bruder will!», fiel sie ihm ins Wort. «Außerdem bin ich schon seit Wochen wieder da, und keiner von euch hat mir irgendetwas gesagt. Ich bin es leid, von euch allen noch immer wie ein Kind behandelt zu werden. Ich bin erwachsen. Merkt euch das gefälligst!»

«Ich hab es dir gleich gesagt, Carl», meinte Gregor, während er aufstand, um Teewasser aufzusetzen. «Sie wird dir das übelnehmen. Ich wusste es, aber …»

«Und warum hast dann sogar du den Mund gehalten?», fuhr sie ihn an.

«Weil die Liebesgeschichten meines Vaters nur ihn etwas angehen», erwiderte er ruhig. «Es wäre Carls Aufgabe gewesen, für Klarheit zu sorgen, lange schon. Als Kind und Heranwachsender habe ich ihn für seine Amouren gehasst und teilweise sogar verachtet. Später jedoch, als ich meine Augen nicht länger davor verschließen konnte, dass ich selbst anders bin, konnte ich ihn besser verstehen. Es gehört schon eine gehörige Portion Mut dazu, zu dem zu stehen, was man liebt, wenn man dabei die ganze Welt gegen sich glaubt.»

Carl stützte seinen Kopf in beide Hände. Als er wieder aufschaute, wirkte er auf einmal um Jahre älter. Plötzlich sah Flori, dass seine Haare inzwischen mehr grau als blond waren, sie sah die Falten um die Augen und die ledrige Haut am Kinn, die von bläulichen Adern durchzogenen Hände. Das alles fiel gar nicht weiter auf, sobald er redete oder sich bewegte.

Er ist alt, dachte Flori in plötzlichem Entsetzen, geboren noch im letzten Jahrhundert. Man vergisst es, weil er so schlank und drahtig ist und keinen Wohlstandsbauch vor sich herträgt wie Papa. Aber er hat noch im Großen Krieg gekämpft, der ihm ein steifes Bein beschert hat. Als Beamter könnte er längst Pension beziehen. Stattdessen hat er zweimal sein Amt als Staatsanwalt niedergelegt, mit dem sich er wegen der politischen Lage nicht mehr identifizieren konnte, und müht sich noch immer für ein paar lumpige Ostmark als Anwalt ab.

«Es tut mir leid, Flori», murmelte er. «Ich hätte mich nicht davor drücken dürfen. Ich war viel zu lange viel zu feige, Lydia gegenüber und natürlich auch meinen Söhnen, die gespürt haben, dass ich innerlich längst woanders war. Jetzt muss ich dafür bezahlen. Ja, es gibt da das neue alte Glück mit meiner wunderbaren Kitty, die mich dankenswerterweise kein zweites Mal in die Wüste geschickt hat, doch auf Franzi muss ich verzichten. Ich liebe meine beiden Jungs, aber von einer eigenen Tochter habe ich ein Leben lang geträumt. Jetzt hat mir das Schicksal eine geschenkt, und eine schöne, kluge, hochtalentierte noch dazu, die jedoch weigert sich, mich als Vater anzunehmen. Das hat sie unmissverständlich zum Ausdruck gebracht und durch ihren Umzug nach West-Berlin weiter zementiert.»

«Sie machen ihm Schwierigkeiten, seitdem die berühmte Tochter in den Westen abgehauen ist», sagte Gregor, während er den Tee aufgoss. «Kein leichtes Dasein für einen Anwalt, dem das Wohl seiner Mandanten so am Herzen liegt.»

«Ich komm schon klar.» Eine wegwerfende Handbewegung. Jetzt sah Carl plötzlich wieder so jung und dynamisch aus wie eh und je. «Die SED hat eben Angst vor dem Kapitalismus, weil er ihr die braven Bürger abspenstig macht. Tausende hauen ab in den Westen. Da vergreifen sie sich manchmal in der Wahl der Mittel. So hat das Ministerium für Kultur zum Beispiel angeordnet, dass ab diesem Jahr im Kampf gegen westliche Dekadenz sechzig Prozent aller öffentlich gespielten Unterhaltungsmusik aus sozialistischen Ländern stammen müssen. Sagt selbst: Ob das jemanden zum Bleiben veranlassen wird? Wohl kaum!»

«Im Geheimen hören sie weiterhin Elvis, Chuck Berry, Peter Kraus und die Valente», sagte Gregor. «Und natürlich Silvies Stimmen im RIAS.» Er sprach mit verstellter Stimme im Bass weiter. «So gelangte die Lüge in die ach so unschuldige DDR …»

Keiner am Tisch lachte.

«Du ziehst also nicht zu uns nach Potsdam?», sagte Carl schließlich.

«Natürlich nicht. Und nach der Sache mit Franzi erst recht nicht», erwiderte Flori. «Man kann die Tochter doch nicht gegen die Nichte austauschen. Außerdem liegt mir euer System nicht. Ich hab etwas gegen Zwang und Enge, das war schon immer so.»

«Aber ihr werdet euch doch wiedersehen, Franzi und du? Ihr habt euch immer schon so gut verstanden!» Carl sah sie flehend an. Hoffte er, dass sie sein Schlüssel zur verlorenen Tochter sein würde?

Flori zuckte die Achseln. Natürlich würden sie sich wieder treffen, und das sogar bald, aber sollte sie ihm das jetzt schon verraten? Nachdem er ihr so lange die Wahrheit vorenthalten hatte, sollte ihr Onkel ruhig noch eine Weile zappeln.

«Ich versteh ohnehin nicht, was du drüben noch willst», fuhr sie fort. «Was hält dich dort? Kannst du mir das verraten?»

Über Carls Gesicht ging ein kleines Lächeln.

«Wie ähnlich ihr drei Schwestern euch bei aller Verschiedenheit doch seid», erwiderte er. «Genau das haben mich Rike und Silvie auch schon gefragt.»

«Und wie lautet deine Antwort?», fragte Flori, noch immer auf der Hut, aber schon eine Spur versöhnlicher.

«Anstand», sagte Carl. «Ein Gefühl von Dankbarkeit. Nicht gleich die Flinte ins Korn werfen, sobald es schwierig wird. So könnte ich es vielleicht am besten zusammenfassen.»

«Mit anderen Worten: Kitty», sagte Gregor grinsend. «Wann genau hast du eigentlich vor, sie ganz offiziell zur Frau Thalheim zu machen?»

***

«Aufwachen, Dornröschen!», sagte eine tiefe Männerstimme. «Die tausend Jahre Schlaf sind vorbei.»

«Da liegst du leider total daneben, lieber Freund! Dass sie niemand anderer als Rosenrot sein kann, sieht doch ein Blinder!»

Jemand zupfte kräftig an ihren Locken, und Flori wurde schlagartig wach.

Eingeschlafen – wie überaus peinlich! Aber es war jetzt bereits der dritte Tag, den sie wartend vor dem Sekretariat verbrachte, und irgendwann waren ihr offenbar im Sitzen die Augen zugefallen.

«Wenn sie so verlegen wird, ist sie sogar noch niedlicher.» Der Bass gehörte zu einem kräftigen jungen Mann mit braunen Haaren, der links von ihr saß. «Genau mein Typ!»

«Allerdings nur so lange, bis sie deine wahre Fresse gesehen hat», kam es von rechts, wo ein schlaksiger Blondschopf hockte. «Es sei denn, sie liebt Ungeheuer. Lieben Sie Ungeheuer, schöne Unbekannte? Sie kennen doch sicherlich den Filmklassiker La Belle et la Bête? Tolles Licht, sogar Kaffeekannen und Kerzenleuchter können sprechen, und dazu als Überraschungsbonbon Jean Marais im Tierfell? Alles pure Magie, sag ich nur!»

Flori schüttelte den Kopf.

«Kein Cocteau, nein?», bohrte der Blonde nach. «Sollten Sie unbedingt nachholen. Na, egal, mein Kumpel hier ist auf jeden Fall das Tier. Zeig dich ihr, Benka! Irgendwann musst du es ja ohnehin tun.»

Der Dunkle vollzog eine Drehung und hielt ihr die andere Gesichtshälfte hin. Es sah aus, als sei Sprengstoff auf seiner Haut explodiert. Ein Labyrinth von wulstigen Narben, Mäander der Zerstörung, Täler und Hügel geschundenen Fleisches, dunkelrot.

Flori biss sich auf die Lippen, um nicht erschrocken aufzuschreien.

«Kleine Säurepanne im Chemieunterricht», sagte er lakonisch. «Liegt schon eine Weile zurück. Irgendwann gewöhnt man sich daran. Zwei Vorteile: Mein Augenlicht hab ich behalten. Und ich muss mir nicht erst das Ohr abschneiden wie einst van Gogh, um verrückt und damit weltberühmt zu werden. Mit diesem Gesicht wird mich garantiert keiner vergessen. Gestatten, Bernhard Schwarz, aber wer mich mag, nennt mich Benka.»

«Theo Bonin.» Der Rotblonde stand auf und schlug die Hacken zusammen.

«Theodor Alexander Hubertus Bogislav von Bonin, um präzise zu sein», feixte sein Kumpel. «Sein Licht sollte man niemals unter den Scheffel stellen. Bogislav nenne ich ihn allerdings nur, wenn er es allzu bunt treibt.»

«Also adelig?», entfuhr es Flori.

«Ach, was», wiegelte Theo ab. «Hinterstes Hinterpommern, alle Ländereien verloren und ohnehin bloß die verarmte Seitenlinie. Finanziell total abgebrannt. Jetzt bleibt mir nur noch die Kunst.»

Flori bekam den Mund noch immer nicht ganz zu.

«Und wie heißt du?», wollte er nun wissen. «Ich bin jetzt mal ganz modern und sage einfach du. Das tun wir hier nämlich alle. Sind ja schließlich nicht bei der Juristerei!»

«Flori. Flori Thalheim», brachte sie heraus.

«Erstes Semester wie wir? Bist auch in der Meisterklasse beim Lindberg?», fragte Benka.

«Leider nicht.»

«Dann beim Thieler? Oder beim Heiliger? Deshalb dieser Riesenrucksack, der neben dir steht! Hast du etwa die ersten Modelle schon mitgebracht? Aber mit diesen zarten Händen willst du doch nicht ernsthaft Bildhauerin werden?», bohrte Theo nach.

Flori schüttelte den Kopf.

«Dann musst du beim Camaro sein», tippte Benka. «Ein wilder Vogel, das sagen alle, aber noch lange nicht so wild wie Rufus Lindberg …»

«Nirgendwo!» Sie war richtig laut geworden. «Ich bin nämlich abgelehnt …»

In diesem Moment ging die Tür auf. Anstatt der Haifisch-Dame Bix stand ein schlanker Mann Mitte fünfzig im Türrahmen, der Flori nachdenklich musterte. Helle Hose, salopper dunkler Pulli, die Haare kurz geschnitten, etwas zwischen Blond und Grau.

Die beiden jungen Männer neben Flori nahmen bei seinem Anblick unwillkürlich Haltung an.

«Sie sind das also», sagte er und rieb dabei sein Kinn. «Das berühmte Fräulein Thalheim, das so lange hier sitzen bleiben will, bis ich nachgebe.»

Sie stand auf, plötzlich nicht ganz sicher auf den Beinen.

«Nur so lange, bis Sie meine Sachen wirklich angesehen haben», sagte sie leise. «Ich habe auch noch die Skizzenbücher mitgebracht …»

«Na, dann kommen Sie mal mit», sagte Professor Otto.

«Toi-toi-toi», zischte Theo leise, und Benka murmelte: «Du schaffst das schon. Mit dir ist alles Magie …»

Hatte er das wirklich gerade gesagt? Oder hatte sie es sich nur eingebildet?

Sie schulterte den Rucksack und folgte dem Professor durch das Sekretariat, während die Bix hinter ihrer Schreibmaschine saß und sie mit Blicken versengte, die jeden anderen auf der Stelle in ein Häuflein Asche verwandelt hätten. Flori jedoch stapfte ungerührt weiter.

Alles in ihr war auf einmal leicht und hell. Sie hatte ihr Ziel erreicht – jedenfalls beinahe.

«Standhaft sind Sie, das imponiert mir. Und ganz schön mutig dazu. Der Name Thalheim … sind Sie zufällig verwandt mit Gregor Thalheim?»

«Mein Cousin», sagte sie voller Stolz. «Ich wohne gerade bei ihm.»

«Sieh einer an! Ein sehr begabter junger Mann, von dem man gewiss noch hören wird. Wir sind uns im Rahmen der Interbau begegnet.»

Professor Otto forderte sie auf, auf einem reichlich abgeschabten Sessel Platz zu nehmen. Er selbst setzte sich hinter den Schreibtisch und begann zu blättern.

«Ihre Vita, Fräulein Thalheim …»

«Ich weiß, es sieht vielleicht so aus, als sei ich eine Schulversagerin, aber wozu braucht man schon Mathe, wenn man doch nur malen will?», sprudelte sie hervor. «Und das mit dem schlechten Französisch ist mittlerweile auch passé. Ich war über ein Jahr in Paris, hab mir alle Museen angesehen, viel gezeichnet und gemalt. Zum Schluss haben mich manche Franzosen sogar für eine Einheimische gehalten. Na ja, zumindest, wenn ich einen guten Tag hatte. Nur das Abitur hat leider nicht geklappt. Aber ich habe …»

Seine Handbewegung brachte sie zum Verstummen. «Steht ja alles hier, nicht wahr?», sagte Professor Otto. «Lassen Sie uns zum Wesentlichen kommen.» Er schlug ihre eingereichte Mappe auf und nahm ein Blatt nach dem anderen zur Hand. Bei einigen verharrte er länger, während Flori vor lauter Anspannung kaum noch zu atmen wagte. Nach ungefähr der Hälfte legte er die Mappe wieder weg und musterte Flori eingehend. «Warum wollen Sie Kunst bei uns studieren?», fragte er. «Sie sind älter als die meisten Erstsemester. Sie sollten wissen, was Sie vorhaben.»

«Weil ich muss», erwiderte sie, ohne zu zögern. «Kunst ist mein Leben. Ohne Zeichnen oder Malen werde ich krank. Und ich hab noch so viel zu lernen!»

«Und später einmal? Schulkindern die Grundlagen der Aquarelltechnik nahebringen oder preisgünstige Linolschnitte auf dem Weihnachtsmarkt verhökern?»

«Nein!», rief sie. «Ganz gewiss nicht! Ausstellungen machen, reisen, andere Künstler treffen, mich politisch ausdrücken. Kunst existiert ja schließlich nicht im luftleeren Raum! Künstler müssen Stellung beziehen, besonders heute, wo Faschismus und Krieg gerade erst hinter uns liegen.»

«Wohl wahr», sagte er, stand auf und ging zum Fenster. «Und daran werden wir noch sehr lange zu kauen haben. Meine Frau ist die Nichte von August Bebel. Sagt Ihnen der Name etwas?»

«Aber natürlich», versicherte Flori. «Bebel hat die deutsche Sozialdemokratie begründet. Man nannte ihn auch den Arbeiterkaiser.»

Die Antwort schien ihm zu gefallen. «Gut aufgepasst im Geschichtsunterricht», sagte er lächelnd.

«Und anschließend vieles dazugelesen», sagte Flori. «Ich musste einfach wissen, wie es zu Hitler kommen konnte. Und zu all diesen abscheulichen Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Wir müssen dafür sorgen, dass es damit für alle Zeit vorbei ist. Wir alle!»

Er nickte, schien von ihrem inneren Feuer beeindruckt.

Flori linste zum Rucksack. «Möchten Sie vielleicht noch meine Skizzenbücher sehen? Ich habe sie alle mitgebracht.»

«Nicht nötig.» Er kehrte wieder zum Schreibtisch zurück. Erneut ruhten seine Augen nachdenklich auf ihr. «Ich habe mich bereits im Vorfeld mit mehreren Kollegen beraten, weil Ihre ungewöhnliche Aktion im Haus natürlich für Aufsehen gesorgt hat. Nicht alle, aber doch die meisten von ihnen stimmen mit mir überein: In Ihrem Fall ist wohl uns ein Fehler unterlaufen, der sich zum Glück noch korrigieren lässt. Wir nehmen Sie auf, Fräulein Thalheim, allerdings …»

«Aber das ist ja wunderbar!» Sie war freudig aufgesprungen. Pures Glück erfüllte sie, und für einen Moment spielte sie sogar mit dem Gedanken, ihm anzuvertrauen, was bislang nur Pascal wusste, aber dann entschied sie sich doch dagegen. Wenn man sich Menschen zu sehr öffnete, konnte man enttäuscht werden. Sie musste erst prüfen, ob er ihrer Ehrlichkeit auch würdig war.

«… nur probeweise zum Grundstudium für die ersten zwei Semester. Danach wird neu entschieden, ob Sie sich so weiterentwickelt haben, dass Sie bei uns bleiben.»

«Ich werde Sie nicht enttäuschen.» Flori strahlte ihn an. «Versprochen!»

«Enttäuschen Sie vor allem Ihren Lehrer nicht, Fräulein Thalheim», sagte Professor Otto mit feinem Lächeln. «Denn das Zusammenspiel von Schüler und Lehrer ist entscheidend für jede Art von Entwicklung. Damit wären wir dann bereits beim nächsten Problem angelangt: Die Meisterklassen sind alle besetzt. Nur bei Professor Lindberg wäre noch ein Platz frei – dem Anspruchsvollsten aus der Riege unserer lehrenden Künstler, der seinen Studenten alles abverlangt, und wenn ich alles sage, dann meine ich auch alles. Rufus Lindberg hat schwedische Wurzeln und daher einen ganz eigenen Blick auf die Kunst.»

«Wann kann ich anfangen?»

«Gefällt mir, dass Sie brennen. So und nicht anders soll es sein! Das Schriftliche bringt Fräulein Bix dann morgen auf den Weg. Ordnung muss sein.» Er zwinkerte Flori zu. «Eine echte Perle übrigens. Was täte ich nur ohne sie? Und grüßen Sie mir bitte Ihren Cousin!»

Leichtfüßig ging Flori hinaus. Nein, sie flog förmlich.

Dass das Leben so schön sein konnte …

2

Berlin, Sommer 1958

Inzwischen fühlte Flori sich in der Hardenbergstraße ganz zu Hause, und es tat ihr leid, dass das Semester bald zu Ende gehen würde. Sie liebte die große Eingangshalle der Hochschule für bildende Künste, das noble Treppenhaus aus hellem Stein, in dem sie von Veranstaltung zu Veranstaltung flitzte, die hohen Decken, die Arbeiten anderer Studenten an den Wänden oder in den Glaskästen, die die endlosen Gänge belebten, den großen Garten hinter dem Haus, vor allem aber die Werkstätten, die über den gesamten Gebäudekomplex verteilt waren. Das uralte Fahrrad ihrer großen Schwestern hatte sie aus dem Keller geholt und himmelblau lackiert. Morgen für Morgen fuhr sie damit los, um pünktlich den Platz an ihrem Brett im großen Aktzeichensaal einzunehmen, wo die Studenten im Kreis um das Podest mit wechselnden nackten Modellen saßen. Flori achtete nicht auf die anderen, von denen einige immer wieder den Hals zum Nachbarn reckten und sich untereinander verglichen, sondern blieb ganz für sich. Meistens merkte sie nicht einmal, wenn der Professor hinter ihr stehen blieb, so vertieft war sie in ihre intime Allianz zwischen Modell und Zeichenstift, die sie froh machte.

Aktzeichnen war jedoch bei weitem nicht das Einzige, was sie faszinierte. Alles fand sie spannend und aufregend, alles wollte sie am liebsten auf der Stelle ausprobieren: Tonarbeit, Bildhauerei, Siebdruck, Lithographie, Materialkunde, Fotografie. Dazu kamen Vorlesungen in Kunstgeschichte und christlicher Ikonographie, über die viele ihrer Kommilitonen ächzten, die sie jedoch niemals schwänzte. Wäre es nach Flori gegangen, hätte sie sich noch weitaus mehr Unterrichtsstunden aufgeladen, Benka jedoch hatte sie nach einem kritischen Blick auf ihren ohnehin schon übervollen Stundenplan davon abgehalten.

«Ich hab gerade mal die Hälfte von dem belegt, was du dir aufgehalst hast. Und das ist schon jede Menge!»

«Weil du eben faul bist», neckte sie ihn. «Und dazu noch ein halbes Kind.» Dass er zwei Jahre jünger als sie war, bekam er ständig von ihr zu hören. «Ich hab keine Zeit zu verlieren!»

«Papperlapapp! Wenn du dich jetzt schon kaputtmachst, wird aus dir nie ein großes Licht. Irgendwann musst du schließlich auch mal schlafen», sagte er mit seinem halben Lächeln, das ihr inzwischen ebenso ans Herz gewachsen war wie dieser ganze baumlange Kerl mit seinem zerstörten Gesicht. «Von anderen Kleinigkeiten wie Essen, Leben und Lieben ganz abgesehen.»

«Ach, Essen», tat sie seinen Einwand ab. «Wer braucht das schon, wenn er Kunst atmen kann? Das ist Leben für mich, das ist Liebe!»

«Außerdem solltest du deine Kräfte für die Meisterklasse aufheben. Sonst putzt Lindberg dich wieder runter.»

Der einzige dunkle Fleck an ihrem sonnigen Kunsthimmel!

Mit diesem Lindberg kam Flori so gar nicht zurecht. Obwohl er nicht mit «Professor» angesprochen werden wollte und sich mit einigen seiner Schüler sogar duzte, blieb er ihr ein Rätsel. Noch nie zuvor war sie einem derart unberechenbaren Menschen begegnet, dessen Stimmungen so sprunghaft wechseln konnten wie das Wetter an einem Apriltag. Mal gab er sich aufgeräumt, ja geradezu euphorisch, redete und erzählte, als seien ihm seine Studenten die liebsten Menschen auf der Welt. Dann wieder erschien er tief in sich versunken, reagierte abweisend, als sähe er sie zum ersten Mal, und beantwortete Fragen, wenn überhaupt, dann höchstens barsch. Im sogenannten Freitagskreis, wo die Wochenaufgabe, die er ihnen gestellt hatte, vor der ganzen Klasse bewertet wurde, konnte er mit wenigen Worten vernichten, woran jemand tagelang gearbeitet hatte. Am schlimmsten jedoch war, wenn er sich stumm abwendete, als sei jedes Wort verschwendet.