Die Schwestern vom Ku'damm: Wunderbare Zeiten - Brigitte Riebe - E-Book
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Die Schwestern vom Ku'damm: Wunderbare Zeiten E-Book

Brigitte Riebe

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Beschreibung

Teil 2 der packenden 50-er-Jahre-Trilogie von Bestsellerautorin Brigitte Riebe. Berlin, 1952: Während für Rike das Kaufhaus an erster Stelle steht, will die mittlere Schwester Silvie nach den dunklen Jahren des Krieges nur eins: das Leben in vollen Zügen genießen. Die Geschäfte laufen ohnehin bestens, das Kaufhaus bietet das Neueste vom Neuen an: Petticoats, Nylonstrümpfe und Perlonhemden, dazu feine Stoffe und Waren, die nach angesagter italienischer Mode angefertigt werden. Doch nun, da die Wunden des Krieges verheilt sind, weigern die Männer sich plötzlich, die Geschäfte allein den Frauen zu überlassen. Als dann auch noch Florentine, mittlerweile zu einer jungen Frau herangewachsen, gegen alles und jeden rebelliert und die Familie zu entzweien droht, wird Silvie klar, dass sie Verantwortung für das Kaufhaus Thalheim und ihre Familie übernehmen muss.

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Seitenzahl: 530

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Brigitte Riebe

Die Schwestern vom Ku'damm: Wunderbare Zeiten

Roman

 

 

 

Über dieses Buch

Berlin, 1952: Während für Rike, die verantwortungsbewusste Älteste, das Kaufhaus an erster Stelle steht, will die mittlere Schwester Silvie nach den dunklen Jahren des Krieges nur eins: sich amüsieren und das Leben in vollen Zügen genießen. Das Kaufhaus am Ku'damm, das Rike in den letzten Jahren so mühsam wieder aufgebaut hat, interessiert Silvie nicht. Die Geschäfte laufen ohnehin bestens, Rike bemüht sich, das Neueste vom Neuen anzubieten: Petticoats, Nylonstrümpfe und Perlonhemden, dazu feine Stoffe und Waren, die sie nach angesagter italienischer Mode anfertigen lässt. Doch die Dynamik in der Familie hat sich geändert. Nun, da die Wunden des Krieges verheilt sind, weigern die Männer sich plötzlich, die Geschäfte allein den Frauen zu überlassen. Erst als Florentine, die jüngste Schwester und mittlerweile zu einer jungen Frau herangewachsen, gegen alles und jeden rebelliert und die Familie zu entzweien droht, wird Silvie klar, dass sie Verantwortung für das Kaufhaus Thalheim und ihre Familie übernehmen muss…

Vita

Brigitte Riebe ist promovierte Historikerin und arbeitete zunächst als Verlagslektorin. Sie hat mit großem Erfolg zahlreiche Romane veröffentlicht, in denen sie die Geschichte der vergangenen Jahrhunderte wieder lebendig werden lässt. Ihre Bücher wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt. Die Autorin lebt mit ihrem Mann in München.

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Oktober 2019

Copyright © 2019 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

Verse auf S. 84 aus: Joseph von Eichendorff: Aussicht. München 1970

Verse auf S. 144 aus: Rainer Maria Rilke: Liebeslied. Leipzig 1923

Liedtext auf S. 276 und 277: Abwandlung von: Du bist nicht die Erste, Comedian Harmonists, Text Rudolf Bernauer, Rudolf Oesterreicher

Liedtext auf S. 283 aus: Mr. Sandman, The Chordettes, Text: Pat Ballard.

Liedtext auf S. 284 aus: Fly Me to the Moon (ursprünglich: In Other Words) Frank Sinatra, Text: Bart Howard

Liedtext auf S. 346 und 347: Cheek to Cheek, Ella Fitzgerald, Text: Irving Berlin

Gedicht auf S. 356: Rainer Maria Rilke: Du musst das Leben nicht verstehen. Frankfurt am Main 2016

Verse auf S. 438 und 439 aus: Ingeborg Bachmann: Die gestundete Zeit. Frankfurt am Main 1953

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung Hafen Werbeagentur, Hamburg

Coverabbildung Umschlagabbildung: Sebastian Schmidt, Ildiko Neer/arcangel; ullstein bild

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-20049-4

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

Für Edith, die Leserin

Man muss das Leben tanzen

Friedrich Nietzsche

PROLOG

Berlin, Frühling 1952

Den Ku’damm von der Bleibtreustraße aus in Richtung Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche entlangzuschlendern, ist für Silvie Thalheim jedes Mal eine Art Zeitreise. Heute sind alle Schaukästen längst wieder intakt und mit Werbemitteln bestückt, und von den Litfaßsäulen locken bunte Plakate, die für Damenmode, Nylonstrümpfe oder Zahnpasta werben. Doch sie kann sich noch bestens an zerborstenes Pflaster, Scherben, Häuserfassaden wie aufgerissene Wunden und Menschen in Lumpen erinnern, die hier entlanggehastet sind. Damals war das Modekaufhaus Thalheim, vor dem sie inzwischen angekommen ist, ebenso eine Ruine wie die Kirche gegenüber, die noch immer auf ihren Abriss oder Wiederaufbau wartet, weil der Senat und die westlichen Alliierten keinen Konsens erzielen können.

Dass sie nun das Modekaufhaus betreten und den Charme seiner licht gebauten Stockwerke auf sich wirken lassen kann, ist das Verdienst ihrer älteren Schwester Rike. Klug und vorausschauend hat diese das großväterliche Erbe geschützt und in der Schweiz vor der Abwertung durch die bundesdeutsche Währungsreform bewahrt. Nur so konnte der Neubau finanziert, nur so ein Modeangebot für die Frau von heute bereitgestellt werden, das in West-Berlin seinesgleichen sucht. Friedrich Thalheim, der Senior der Firma, hatte den Glauben daran niemals aufgegeben, ebenso wenig wie an die Rückkehr seines einzigen Sohnes Oskar, Silvies Zwillingsbruder, der seit einem Dreivierteljahr zurück in Berlin ist.

Seitdem sind die Karten bei den Thalheims neu gemischt.

Wer Sieger sein wird und wer Verlierer, muss erst die Zukunft zeigen …

Manchmal stellt Silvie sich vor, sie sei eine ganz normale Kundin, die sich durch die Abteilungen treiben lässt. Sie besitzt nicht die Materialkenntnisse ihrer Schwester Rike, sie hat sicherlich nicht den Sinn für Schnitte und Formen wie Miriam Sternberg, die der Familie Thalheim seit Kindertagen nahesteht. Und ganz sicherlich kann sie nicht so spielerisch zeichnen wie ihre Halbschwester Flori, das Nesthäkchen der Familie.

Aber Silvie sieht. Sie spürt, darin ist sie einzigartig.

Und sie ahnt – was die Menschen sich wirklich wünschen, auch wenn sie nach außen hin so tun, als sei es ganz anders.

Materialien braucht sie nicht zu berühren, um zu wissen, wie sie sich auf der Haut anfühlen, und so erfasst sie den Unterschied zwischen Seide, Wolle, Georgette, Crêpe de Chine, Taft und vielen anderen Stoffen schon beim Hinsehen intuitiv. Ganz selten überrascht sie, was scheinbar über Nacht «modern» wird, Diors «New Look» ebenso wenig wie der Wunsch der Frauen, wieder mehr Bein zu zeigen, etwas später. Silvie hat den Wandel im Blut, von der Familie bisweilen als «Unstetigkeit» abgetan, dabei hat sie doch lediglich begriffen, dass nichts so bleibt, wie es ist, und alles immer wieder anders werden muss.

Dabei geht es ihr nicht um die Männer.

Wie man denen gefällt, das weiß sie, seitdem ihre Brüste gewachsen sind und die Hüften sich zu runden begannen. Keine große Kunst bei blonden Haaren, blauen Augen und guten Beinen, wie sie manchmal selbstkritisch denkt.

Männer sind so leicht zufriedenzustellen.

Nein, die Frauen sollen mit Thalheim-Mode glücklich werden, auch jene, die vom Schicksal eher stiefmütterlich behandelt wurden. Ein neues Kleid, ein schwingender Rock, Samt, über den die Hand versonnen gleitet, raschelnde Seide, das sind die Träume, die Silvie dabei im Sinn hat.

Im Modekaufhaus Thalheim können sie alle wahr werden.

So nimmt sie manchmal ein paar Stücke in die Kabine, probiert sie durch und lässt sich dabei von den Geräuschen aus den Nachbarkabinen inspirieren. Dieses Ächzen und Stöhnen, wenn eine Enttäuschung droht, dieses kurzatmige Schnappen, wenn der Reißverschluss nicht zugeht, und schließlich der Moment andächtiger Stille, wenn die Frau nebenan sich zufrieden vor dem Spiegel dreht, das ist ihre Musik.

Silvie liebt es, dass ihre Familie Frauen in die Lage versetzt, so zu empfinden.

Noch mehr allerdings liebt sie ihre eigene Freiheit.

Bereits der Gedanke an die kleinste Fessel, die diese beschneiden könnte, ist Silvie unerträglich. Und so verlässt sie nach ihren Ausflügen das Modekaufhaus Thalheim wieder, zutiefst erleichtert, dass ihre Vespa, die draußen parkt, sie zu ganz anderen Ufern tragen wird …

1

Berlin, Mai 1952

Die Höhle war seit jeher ein Geheimnis, das nur sie beide teilten. Im Schutz des kuschligen Federbetts schrumpften kindliche Nöte und Ängste auf Miniaturformat, bis sie sich schließlich ganz auflösten, denn die vertraute Nähe des anderen schenkte Trost und Mut. Zusammen fühlten sie sich stark genug, um der ganzen Welt die Stirn zu bieten. Irgendwann konnte man dann wieder gemeinsam auftauchen – verschwitzt, aber gelöst.

Heute, in der Dämmerung, als im Hof bereits die Vögel zu zwitschern begannen, war es beinahe wie früher: Oskars Kopf ruhte in Silvies Armbeuge; seine Lider waren geschlossen, die Wimpern bewegten sich leicht. Die alte Narbe auf der Stirn vom Rolltreppensturz im Kaufhaus Thalheim war kaum noch sichtbar. Sein Gesicht wirkte entspannt; für den Moment schienen alle Albträume besiegt, auch wenn er kein kleiner Junge mehr war, der Schutz bei seiner Zwillingsschwester suchte.

Er war ihr Alter Ego, ihr Herzensmensch, der Nächste vor allen anderen. Nicht einen Augenblick hatte sie daran geglaubt, dass er tot sein könnte. Silvie hatte in den Jahren nach dem Krieg auch dann noch auf den Suchdienst des Roten Kreuzes gehofft, als die anderen Thalheims längst die Hoffnung aufgegeben hatten, weil jede Nachricht ausblieb. Oskar lebt, das hatte sie die ganze Zeit über gespürt. Als grünen Jungen hatten die Nazis ihn nach dem Notabitur an der Ostfront verheizt, als erwachsener Mann, versehrt an Körper und Seele, war er vor einem knappen Jahr endlich nach Berlin zurückgekehrt.

Sie strengte sich an, bloß nicht zum Bettende zu schauen. Ihr Bruder hatte immer die schönsten Füße der ganzen Familie gehabt: schmal, perfekt geformt, mit einem eleganten Spann, der jedem Balletttänzer Ehre gemacht hätte. Jetzt fehlten ihm links vier Zehen, erfroren in den eisigen Wintern Russlands, und später im Lagerlazarett wüst abgesäbelt, ohne Narkose, wie er einmal scheinbar nebenbei erwähnt hatte.

Immerhin hatte Oskar Thalheim drei Jahre Krieg und fast sieben endlose Jahre russische Gefangenenlager überlebt. Andere hatte es schlimmer getroffen, viel, viel schlimmer.

Was bedeuteten da schon vier verlorene Zehen?

Er wiederholte diesen Satz ständig, offenbar in der Hoffnung, irgendwann selbst daran zu glauben. Dass es bestenfalls ein Teil der Wahrheit war, wussten sie beide. Silvie spätestens seit seiner ersten Nacht in Oma Fridas einstiger Wohnung in der Bleibtreustraße, in der sie bis vor kurzem zusammen mit ihrer Schwester Rike gelebt hatte. Oskars gellende Schreie aus dem Nachbarzimmer hatten sie im Morgengrauen aus dem Schlaf gerissen; für ein paar Augenblicke war sie wie gelähmt gewesen. Dann stand er schon im Türrahmen, die blonden Haare zerrauft, das Gesicht angstvoll verzerrt.

«Sie kommen, Silvie, all die Toten sind auf dem Weg!»

Unwillkürlich schlug sie die Decke zurück, so wie sie es immer getan hatte, und er kroch zu ihr ins Bett, am ganzen Körper zitternd, bis ihre Wärme ihn schließlich beruhigte.

«Niemand kommt, Brüderchen», flüsterte sie, die Arme fest um ihn geschlungen. «Und wenn doch, dann können sie was erleben, das versprech ich dir! Immerhin bin ich ja acht Minuten älter als du …»

Sie mussten lachen, alle beide, danach begann er zu weinen, und sie hielt ihn fest, bis seine Tränen versiegt waren. Irgendwann schlief Oskar ein, doch sie blieb noch lange wach. So viele Jahre Leben hatte man ihm gestohlen.

Wie sollte er sich jemals davon erholen?

Genauso hatte es sich auch vor ein paar Stunden wieder abgespielt, und Silvie war froh, dass Oskar endlich eingeschlafen war. Keiner würde je von seinen Albträumen erfahren, das hatte sie sich geschworen.

Tagsüber war er zwar übermüdet, aber charmant und schlagfertig wie eh und je. Seine Rolle im Modekaufhaus Thalheim nahm er allerdings leider noch immer nicht so ernst, wie ihr Vater es von ihm erwartete. Sein einziger Sohn, auf dessen Rückkehr Friedrich Thalheim all seine Hoffnungen gesetzt hatte, spielte den Juniorchef nach außen hin famos. Schaute man allerdings genauer hin, sah es anders aus. Oskar vergaß Termine, hielt sich nicht an Vereinbarungen, und auf seinem Schreibtisch türmte sich Unerledigtes. Gäbe es nicht «Hildi», wie er ihre Sekretärin Hildegard Stutzke liebevoll nannte, die ständig rettend eingriff, um das Schlimmste zu verhindern, wäre die Liste der kleinen und größeren Pannen sicherlich noch länger.

Silvie machte sich Sorgen um ihren Zwillingsbruder.

Er fuhr Auto wie ein Verrückter, aß unregelmäßig und verbrachte zu viele Nächte in Etablissements wie der Charlottenburger Ciro-Bar, dem Nachtclub Vagabund oder dem berüchtigten Schöneberger Jazzlokal Badewanne, als würde er regelrecht vor dem Schlaf fliehen, der ihm so böse Träume brachte. «Pandabär», zog sie ihn auf, weil seine Augenschatten immer tiefer wurden. Oskar jedoch wollte keine guten Ratschläge oder gar Ermahnungen hören, nicht einmal, wenn sie von seiner Zwillingsschwester kamen.

«Früher warst du irgendwie anders, lustiger, nicht auf den Mund gefallen und vor allem nicht so grässlich angepasst», hatte er einmal prompt gekontert, als sie es schließlich doch nicht lassen konnte und ihn zur Rede stellte. «Damals ließ sich köstlicher Unsinn mit dir anstellen – und das fand ich wunderbar.»

«Früher war ich auch ein verwöhntes Gör, das vom Leben keine Ahnung hatte», gab Silvie zurück.

Dass sie ihre einstige Leichtigkeit manchmal selbst schmerzlich vermisste, würde sie ihm nicht auf die Nase binden. Oskar hatte Entsetzliches durchgemacht, aber die ersten Nachkriegsjahre in Berlin waren auch kein Zuckerschlecken gewesen. Silvie hatte gehungert, gefroren, für die Familie illegale Geschäfte auf dem Schwarzmarkt getätigt, dreimal ihr Herz verschwenderisch verschenkt und dreimal eine bittere Enttäuschung kassiert – das hatte sie geprägt.

«Heute bin ich die Radiostimme Berlins und schon lange kein Kind mehr», fügte sie hinzu.

«Papperlapapp, verehrtes Fräulein Neunmalklug! Alles ein wenig spielerisch anzugehen, hat noch keinem geschadet. Lieber interessant verlebt, als öde verspießert. Außerdem habe ich, wie du weißt, so einiges nachzuholen …»

Jetzt betrachtete sie Oskar, der noch immer tief und fest schlief. Er sah aus, als könne er kein Wässerchen trüben, und Silvie konnte ihm ohnehin nicht lange böse sein. Ganz im Gegensatz zu Rike, der Erstgeborenen in der Thalheim-Familie. Zwischen ihr und Oskar herrschte dicke Luft, seitdem Friedrich Thalheim den Sohn im vergangenen Herbst ohne langes Federlesen zum Mitgeschäftsführer ernannt und damit ihre Befugnisse drastisch beschnitten hatte. Jahrelang hatte Rike für die Wiedererrichtung des Modekaufhaus Thalheim am Ku’damm gekämpft, das alliierte Bomber 1943 in Schutt und Asche gelegt hatten. Sie hatte den Vater aus russischer Haft freigekauft und schließlich sogar ihre Erbschaft von Opa Schubert in das Familienunternehmen investiert, um nun erleben zu müssen, wie der Bruder ihr vorgezogen wurde, obwohl ihm Fachkenntnisse, Erfahrung und offenbar auch Motivation fehlten. Silvie hatte sich immer wieder aufs heftigste mit Rike gestritten und Oskar verteidigt, doch inzwischen kam Silvie die drei Jahre ältere Schwester oft so bedrückt vor, dass sie ihr richtig leidtat.

Silvie hatte sich nie besonders für das Kaufhaus interessiert und war froh über ihren Job beim RIAS – fernab aller beruflichen Familienzwistigkeiten. Sie hatte sich eine begeisterte, ständig wachsende Hörerschaft in West und Ost herangezogen, egal, ob sie Musik auflegte oder mit eigenen Reportagen aus dem Berliner Alltag auf Sendung war. Ihr neustes «Baby», an dem sie schon lange tüftelte, existierte bislang nur in ihrem Kopf, aber es würde bei ihren Vorgesetzten und den anderen Kollegen in der Redaktion Begeisterung auslösen, das wusste sie. Wie eine Bombe könnte es einschlagen und die bereits mehr als erfreulichen Quoten noch weiter in die Höhe schnellen lassen …

Ihr Blick glitt zum Schrank. Dort hing es, das Kleid, das sie zu Rikes kirchlicher Trauung anziehen würde. Wenn ihre Schwester in wenigen Stunden mit Alessandro Lombardi vor den Altar trat, dürfte Silvie darin für Aufsehen sorgen, möglicherweise sogar einen kleinen Skandal auslösen.

Rike schien in dem italienischen Stoffhändler die große Liebe gefunden zu haben, während sie selbst die ihre vor sechs Monaten verloren hatte. Mit jeder Faser fühlte Silvie sich als Ralf Heigers legitime Witwe, auch wenn er offiziell mit einer anderen Frau verheiratet gewesen war. Silvie träumte oft von ihm, nicht von dem herzkranken Gefangenen, den sie kein einziges Mal besuchen durfte und der die Torturen in der JVA Weißensee am Ende nicht überlebt hatte, sondern von dem klugen, wortgewandten Journalisten, der ihr kurz nach dem Krieg die Liebe zum Rundfunk eingepflanzt hatte. Durch ihn war sie auch zur begeisterten Leserin geworden, für Silvie zu Schulzeiten noch unvorstellbar. Inzwischen jedoch wusste sie, welch Wunderwelten sich zwischen gedruckten Seiten auftaten, und ihr Hunger nach Büchern war schier unersättlich. Ralfs Bassbariton, der schnell ins Spöttische umschlagen konnte, hatte sie bis heute im Ohr, und sie sehnte sich nach dem erfahrenen, zärtlichen Geliebten, der so aufregend küssen konnte.

Manchmal hatte Silvie Angst, dass sie nun für immer allein bleiben würde, denn welcher Mann könnte schon an einen wie Ralf heranreichen? Unwillkürlich schüttelte sie sich, um diese negativen Gedanken wieder loszuwerden – und dabei wurde Oskar wach.

«Geht es dir besser?», fragte sie, noch immer besorgt. «Bist du so weit wieder in Ordnung?»

«Und ob!», versicherte er strahlend. «Was würde ich ohne dich nur tun?»

Sie versetzte ihm einen liebevollen Stups. «Hör auf, solchen Unsinn auch nur zu denken, seinen Zwilling wird man nicht los. Soll ich mich mal um Kaffee kümmern? Rike hat mich tausendmal beschworen, auf keinen Fall zu spät zu kommen. Allerdings wäre es einfacher, wenn ich zum Einkleiden der Braut nicht bis ins Westend müsste. Aber sie wollte die Nacht vor der Trauung ja partout keusch im Elternhaus verbringen.»

«Dabei haben die beiden doch eine tolle Wohnung. Und außerdem ist sie mit Lombardi schon verheiratet», wendete Oskar gähnend ein. «Was soll der ganze Zirkus also?»

«Standesamtlich zählt nicht in Italien, das weißt du doch.» Silvie war froh, dass die Trauung überhaupt stattfand. Es hatte endlos gedauert, bis sie einen Pfarrer aufgetan hatten, der bereit war, ein evangelisch-katholisches Paar zu trauen – als ob es nicht vollkommen egal war, welcher Glaubensrichtung der Mensch angehörte, den man liebte! Sie drohte Oskar spielerisch mit erhobenem Zeigefinger. «Außerdem heißt dein Schwager Sandro und ist ein ausgesprochen netter Kerl. Versprich mir also bitte, dass du dich ihm gegenüber ordentlich aufführst – wenigstens heute! Das gilt übrigens auch für den Rest seiner Familie.»

«Den Kaffee mache ich. Und wenn die versammelten Lombardis nicht zu stark auf die Pauke hauen, sehe ich da kein Problem.» Oskar reckte und streckte sich ausgiebig, dann stand er auf. Der gestreifte Schlafanzug, der um seine langen Glieder schlackerte, verriet, wie dünn er noch immer war. «Weißt du eigentlich, wen Rike sonst noch alles eingeladen hat?», fuhr er fort. «Mir gegenüber hat sie eisern geschwiegen.»

«Unsere Schwester hat eben einen Hang zu Geheimnissen.» Silvie stand ebenfalls auf, um ins Bad zu gehen. Im Vorbeigehen strich sie zärtlich über das Kleid.

«Das ist nicht dein Ernst, oder?» Feixend blieb Oskar stehen.

«Hast du nicht gesagt, man soll bloß nicht zu spießig sein? Übrigens ein Modell von Heinz Oestergaard, in das ich mich auf Anhieb verguckt habe», antwortete Silvie.

Sie hatte den angesagten Couturier in seinem Atelier für den RIAS interviewt, was ihm offenbar großen Spaß gemacht hatte. Deshalb war er auch so freundlich gewesen, ihr dieses Schmuckstück als Dankeschön auszuleihen. Sie verriet Oskar nicht, dass die helle, leicht singende Stimme des Modeschöpfers, der man einen Hauch Dänemark anhörte, Auslöser für ihr geplantes Sendungsformat gewesen war. Oskar würde ohnehin in Kürze zu hören bekommen, was seine Zwillingsschwester sich da ausgedacht hatte.

«Oestergaard?», wiederholte er nun verblüfft.

«Der Modeschöpfer, charmanter Typ, bisschen crazy. Er hat Nutten eingekleidet und will, dass alle Frauen schön sind. Ganz Berlin redet über ihn. Und bald werden sie auch über mich reden.»

«Unser Vater kriegt die Krise, wenn du modisch fremdgehst – und dann gleich auch noch so», sagte Oskar.

«Ich ziehe an, worauf ich Lust habe. Papa wird schon damit klarkommen, und wenn nicht, dann ist es mir auch egal.»

 

Als sie mit Duschen und Eincremen fertig war, musterte sie sich im Badezimmerspiegel. Sie mochte, was sie sah: die strahlend blauen Augen, die gerade Nase, den vollen Mund. Ihre Haut war rosig und klar, doch wenn sie lachte, gab es da ein paar fiese Fältchen um die Augen, die vor zwei, drei Jahren noch nicht da gewesen waren.

In einem Jahr würde sie dreißig werden.

Bislang hatte Silvie Frauen immer ausgelacht, die mit dieser angeblich magischen Zahl haderten, aber jetzt fühlte es sich plötzlich merkwürdig an, selbst so kurz davorzustehen. Trotz kriegsbedingtem Frauenüberschuss hatte sie sich noch nie über einen Mangel an Verehrern beklagen müssen. Und trotzdem war sie allein.

Kein Mann. Kein Haus. Kein Kind.

Die Worte einer Kollegin, die ihr auf einmal nicht mehr aus dem Kopf gingen.

«Dafür habe ich meinen Beruf und meine Fans.»

Hatte sie das jetzt tatsächlich laut gesagt?

Oskar, der ihr eine Tasse Kaffee ins Bad brachte, schwarz und stark, so wie sie ihn liebte, schaute sie fragend an.

«Selbstgespräche können durchaus hilfreich sein», sagte er, schon wieder halb im Gehen. «Allerdings gäbe es da auch noch deinen Bruder, der ziemlich gut im Zuhören ist. Nur für den Fall, dass du das vergessen haben solltest.»

Silvie wurde rot, was ihr schon eine halbe Ewigkeit nicht mehr passiert war. Wie kein anderer konnte er bis auf den Grund ihrer Seele schauen. Manchmal dachte sie sogar, dass Oskar in der Lage war, ihre Gedanken zu lesen, was ihr nicht immer gefiel.

Wieder in ihrem Zimmer, setzte sie sich an den kleinen Schminktisch vor dem Fenster, dessen geschwungenen Spiegel sie so sehr mochte. Alle Möbel bekamen zurzeit bewegte Formen, als ob sie tanzen wollten, das fand sie ganz wunderbar. Silvie trug Puder auf, danach folgten Mascara und roter Lippenstift. Die schulterlangen blonden Haare bürstete sie nur durch; aufstecken würde sie sie erst ganz zum Schluss. Danach zog sie die schwarze Spitzenunterwäsche an, in der sie sich so herrlich sündig fühlte, und schlüpfte in ein blaues Sommerkleid. Als Abschluss folgte der dreireihige Perlenchoker ihrer verstorbenen Mutter, eine perfekte Ergänzung zu den weißen Perlohrringen, die sie niemals ablegte. Zuletzt verstaute sie das Kleid für die Hochzeit in einem Leinenüberzug und packte ein zweites Paar Pumps in eine Tragetasche.

Sie war gerade mit allem fertig, da kam Oskar hereingeschlendert, piekfein in Smoking, weißem Hemd und dunkler Seidenfliege, die schwarzen Schuhe gewienert. Seine blonden Haare waren mit Brillantine frisiert, was seinen Kopf noch schmaler erscheinen ließ.

«Und?», wollte er wissen. «Was sagst du?»

«Dufte», versicherte Silvie. «Nein, warte, ich muss mich korrigieren: Du siehst einfach umwerfend aus. Die Italiener werden Augen machen!»

«Sollen sie. Wir Thalheims müssen ihnen doch zeigen, wer in Sachen Mode die Nase vorn hat.» Sein Blick wurde kritisch. «Und du – auf einmal ganz bieder? Hat dich jetzt doch im letzten Moment der Schneid verlassen?»

«Keineswegs», erwiderte Silvie und griff nach ihrer Leica, die ihr so viel Freude bereitete. «Aber ein perfekter Auftritt will auch perfekt inszeniert sein. Und jetzt nichts wie los! Aufgeregte Bräute darf man nicht warten lassen.»

***

«Dio mio – das kann doch nicht wahr sein! Jetzt geht mein Kleid nicht mehr zu. Aber bei der letzten Anprobe vor zwei Wochen hat es noch einwandfrei gepasst …»

«Du bist schwanger, Schwesterherz», konterte Silvie. «Rike mit Busen, das ist doch eine gelungene Abwechslung. Aber keine Sorge. Miri hat wie immer alles raffiniert durchdacht: Ich nehme einfach die zweite Knopfleiste, dann kannst du ungestört atmen. So, und nun lass dich mal anschauen!» Silvie trat einen Schritt zurück und betrachtete ihre Schwester. Das ärmellose Kleid bestand aus cremeweißer Shantungseide, war im Empirestil gearbeitet und reichte bis zu den Knöcheln. Vorn unter dem zarten Brustband leicht in Falten gelegt, wurde es im Rücken von einer Doppelreihe weißer Perlknöpfe geschlossen. Während der Trauung würde ein glockig geschnittener Bolero, den die Braut später ablegen konnte, die bloßen Arme züchtig verhüllen – eine perfekte Mischung aus Eleganz, Unschuld und Raffinesse.

Der Entwurf für Rikes Brautkleid stammte von ihrer Freundin Miriam Sternberg, die seit anderthalb Jahren in einem Kibbuz am See Genezareth lebte. Anfangs war sie für alles in Israel Feuer und Flamme gewesen: die Menschen, die aus so vielen verschiedenen Ländern stammten, die neue Form des Zusammenlebens, die Kinder, die sie im Nähen unterrichtete – und natürlich für Ben Green, der den Ausschlag für ihren Umzug gegeben hatte. Doch offenbar hatte es sich mit Ben nicht so entwickelt wie erhofft, denn der Tonfall ihrer Briefe hatte sich verändert. Inzwischen schrieb Miri abgeklärter, teilweise sogar kritisch, und es war ganz offensichtlich, wie sehr sie Berlin und ihre Freunde dort vermisste.

Umso begeisterter hatte sie reagiert, als der Vorschlag kam, sich Rikes Brautkleids anzunehmen. Maß wurde in Berlin genommen, Miris Skizzen folgten aus Israel, und genäht wurde dann wiederum in der Modellabteilung des Modekaufhaus Thalheim – entstanden war dieses Ergebnis, das enorm viel hermachte.

«Du siehst toll aus. Miri wäre bestimmt überglücklich, wenn sie dich jetzt so sehen könnte», sagte Silvie. «Weißt du, was? Ich werde massenhaft Fotos schießen, und wir schicken ihr dann die Abzüge. Die junge Schneiderin, die ihren Entwurf so brillant umgesetzt hat, solltet ihr übrigens im Auge behalten. Die kann echt was. Sag das mal der Kukschinski vom Maß-Atelier, damit sie sie auch gut behandelt!»

«Ich vermisse Miri jeden Tag», murmelte Rike, presste plötzlich die Hand vor den Mund und rannte in Richtung Toilette.

Als sie wiederkam, wirkte ihr Teint grünlich.

«Jetzt bin ich schon im vierten Monat – und diese elende Spuckerei hört noch immer nicht auf. Ich hoffe nur, das Kleid hat nichts abbekommen!» Ängstlich lugte sie an sich herab. «Wie kann man überhaupt zulegen, wenn man so gut wie nichts bei sich behält?»

«Alles tippitoppi», versicherte Silvie. «Die Natur weiß schon, wie sie es richtig anstellt, dass ein gesundes Kind entsteht. Jetzt isst du erst einmal ein Stück Zwieback und trinkst einen Schluck Tee, das wird dir guttun.»

Rike gehorchte.

«Man sieht doch noch nichts?» Rike drehte sich vor dem großen Standspiegel hin und her.

«Man ahnt es allenfalls – und freut sich mit dir», sagte Silvie. «Sei froh, dass deine Schwiegermutter die Hochzeit nicht noch einmal hat platzen lassen.»

Sie waren in Silvies altem Jugendzimmer, in dem Rike auch die Nacht verbracht hatte. Die elegante Villa am Branitzer Platz, in der sie alle zusammen aufgewachsen waren, hatte sich geleert, seitdem die erwachsenen Thalheim-Sprösslinge eigene Wege gingen. Jetzt gehörte sie wieder ganz Friedrich und seiner zweiten Frau Claire. Deren gemeinsame Tochter, die achtzehnjährige Florentine, beanspruchte mittlerweile das Dachgeschoss für sich, das ursprünglich für Rike ausgebaut worden war und später einige Zeit ihren Cousin Gregor und dessen Freund Hotte beherbergt hatte.

«Viel hat nicht gefehlt! Als Sandros Bruder Valentino vor fünf Tagen aus Mailand anrief, klang er vollkommen verzweifelt: ein erneuter Schwächeanfall der Mutter, mit starken Leibschmerzen. Ich habe ihm dann mit fester Stimme geantwortet, dass wir die Hochzeit dieses Mal unter keinen Umständen verschieben werden, und urplötzlich ging es Antonia wieder besser.»

Die kleine Stärkung hatte offenbar gewirkt. Rike sah nicht mehr ganz so elend aus.

«Sie hadert noch immer mit mir», fuhr sie fort, während Silvie sie mit einem Hauch Rouge und rosenholzfarbenem Lippenstift weiter verschönerte. «Antonia findet mich zu alt für Sandro, zu intellektuell, zu wenig anschmiegsam. Evangelisch bin ich ja auch noch und nicht einmal willig zu konvertieren. Dass wir nicht im Mailänder Dom heiraten, sondern in einer schlichten Berliner Kirche, die nicht sonderlich schön aussieht, ist für sie das Allerletzte. Überhaupt: Deutschland! Sie führt sich so italienisch auf, als habe ihre Wiege niemals in Luzern gestanden. Eins jedenfalls steht für mich fest: Mamma werde ich sie niemals nennen.»

«Musst du doch auch nicht.» Silvie beäugte ihr Werk kritisch, dann nickte sie. «Vermutlich könnte keine Frau ihren Ansprüchen genügen. Antonia Lombardi würde ihren Sohn am liebsten höchstpersönlich ehelichen, wenn das irgendwie möglich wäre. Aber wer weiß, vielleicht wird aus ihr ja zumindest eine brauchbare Großmutter. Wunder gibt es schließlich immer wieder …»

Rikes Blick blieb skeptisch. «Meinst du wirklich?», murmelte sie und zupfte ein unsichtbares Fädchen von ihrem Kleid. «Ich weiß ja nicht einmal, ob ich als Mutter etwas tauge. Da konzentrierst du dich die ganze Zeit darauf, schwanger zu werden, und wenn es dann endlich klappt, hören die Sorgen nicht auf. Ganz im Gegenteil!»

Unwillkürlich hatte Silvie sich abgewandt.

Rike nahm ihre Hand. «Wie unsensibel von mir – bitte verzeih! Ich rede die ganze Zeit nur von mir, ohne daran zu denken, dass du …»

Silvie griff nach dem Schleier, der auf dem Tisch lag. «Sollte dazu nicht eigentlich noch ein fesches Myrtenkränzchen gehören?», fragte sie betont fröhlich.

«Du willst nicht darüber reden …» Rike stockte.

Gut erkannt. Silvies Schwangerschaftsabbruch lag nun schon einige Jahre zurück. Damals war sie sich nicht sicher gewesen, ob das Kind, das sie erwartete, von Ralf oder von Ben Green war, der insgeheim bereits seine Auswanderung nach Israel vorantrieb. Rike hatte sie beschworen, es zu behalten und gemeinschaftlich mit ihr großzuziehen. Dafür jedoch hatte Silvie zu jener Zeit der Mut gefehlt. Sie steckte mitten zwischen zwei Liebschaften, hatte sich überfordert gefühlt und viel zu unreif für ein Kind. Inzwischen jedoch bereute sie ihre Entscheidung. Dass die Schwester nun schwanger war, hatte ihr damaliges Gefühlschaos erneut aufgewirbelt. Aber Silvie hatte gelernt, Probleme mit sich allein auszumachen, und so würde sie es heute, an Rikes Hochzeitfest, erst recht halten.

«Eigentlich wäre es ja Mamas Aufgabe gewesen, dich mit dem Brautkränzchen zu krönen», fuhr sie fort, während sie das zarte grüne Gebinde mit den weißen Blümchen mittig auf Rikes Scheitel feststeckte. Anschließend befestigte sie den Schleier daran, der bis zur Taille reichte. «Ich weiß, wie viel sie dir bedeutet hat. Mir übrigens auch.»

Silvie berührte den einstigen Ehering ihrer Mutter Alma, der ihr auf dem Mittelfinger passte, während Rike fast immer Almas alten Schlangenring als Talisman trug. «Aber das kann sie ja leider nicht mehr, und so musst du eben mit mir vorliebnehmen», fuhr Silvie fort.

Die zweite Frau ihres Vaters kam nicht in Frage für diesen Anlass. Claire, nur ein gutes Jahrzehnt älter als Rike, hatte niemals versucht, ihnen gegenüber die Mutterrolle zu beanspruchen. Anfangs kritisch von den Schwestern beäugt, weil übernervös, stets Friedrichs Meinung und rasch aus der Fassung zu bringen, hatte sie sich in den harten Nachkriegsjahren bewährt. Sie hatte mit angepackt, dabei an Kontur und Selbstvertrauen gewonnen und war für sie zur Freundin geworden, was Silvie wie Rike gleichermaßen schätzten.

«Du machst das ganz wunderbar.» Rike klang zutiefst gerührt. «Und immerhin führt Papa mich zum Altar – auch wenn er das in einer katholischen Kirche tun muss. Der Allerärmste! Auf Weihrauch reagiert er angeblich allergisch. Ob er überall Pusteln kriegt oder in Schnappatmung verfällt?»

Beide lachten.

«Kann ich so heiraten?» Rikes Stimme zitterte leicht.

«Das will ich meinen!», versicherte Silvie. «Dein Sandro bekommt eine hinreißende Braut. Allerdings solltest du jetzt allmählich aufbrechen, sonst denkt er womöglich noch, du hättest es dir im letzten Moment anders überlegt …»

Als wären ihre Worte nach draußen gedrungen, klopfte es ungeduldig an der Tür, und Friedrich Thalheim trat ein.

«Wir müssen dann.» Das Familienoberhaupt trug zu seinem dunklen Anzug eine Seidenkrawatte mit Silberstreifen. Hinter ihm wuselte Claire aufgeregt in einem mitternachtsblauen Jackenkleid, zu dem sie ein farblich passendes Hütchen kombiniert hatte. «Seid ihr endlich fertig?»

«Die Braut – ja», erwiderte Silvie und schob die Schwester ein Stück nach vorn. «Was mich betrifft, so brauche ich noch einen winzigen Moment.»

«Aber dass du ja nicht zu spät kommst …» Friedrich runzelte die Stirn, weil ihm ihre Aufmachung sichtlich missfiel. «Du willst das zur Hochzeit anlassen? Immerhin sind wir ein führendes Berliner Modehaus – das verpflichtet!»

«Lass dich überraschen», erwiderte Silvie lächelnd. «Und natürlich werden wir pünktlich sein. Oskar wartet unten im Auto, und der ist selbst in einem gebrauchten DKW schneller als der Schall. Fahrt ruhig schon mal vor.»

Als der Rest der Familie endlich verschwunden war, öffnete Silvie den mitgebrachten Leinensack und breitete das Couturekleid auf dem Bett aus. Danach holte sie die Haarklammern aus der Handtasche. Sie hatte die Banane, die ihren Hals grazil und lang wirken ließ, in letzter Zeit so oft getragen, dass sie die Frisur selbst ohne Spiegel perfekt hinbekam.

Die Lippen nachgezogen, ein Hauch Chanel Nº 5.

Die Nylons, die sie vorsichtig über ihre schlanken Beine streifte, waren hauchdünn und halterlos, die Absätze der mitgebrachten Pumps aufregend hoch. Das Sommerkleid flatterte auf einen Stuhl. Dann schlüpfte Silvie in Oestergaards Kreation: körpernah geschnitten, am Rücken atemberaubend in einem tiefen V dekolletiert – und aus pechschwarzem Satin.

***

Das Auto war den Zwillingen im gleichen Moment aufgefallen, ein roter Zweisitzer, chromblitzend und absolut verkehrswidrig vor der Heilig-Geist-Kirche auf dem Bürgersteig geparkt.

«Ein Rometsch, ich glaub, ich werd verrückt», murmelte Oskar verzückt neben ihr, während er seinen ungeliebten DKW in die enge Parklücke manövrierte. «Brandneu muss der sein, gerade frisch vom Band gerollt. Dafür lass ich jeden Porsche stehen.»

Silvie sparte sich die Antwort, denn das Aussteigen in dem engen Kleid und den hohen Pumps erforderte ihre ganze Konzentration. Von ihrer Schulter baumelte die alte Leica, die noch immer gute Dienste tat. Natürlich waren sie doch ziemlich spät dran. Familie und Freunde saßen offenbar schon in der Kirche. Nur ein paar Schaulustige standen noch auf den steil ansteigenden Stufen vor dem gedrungenen Bau. Die Heilig-Geist-Kirche war im unteren Bereich verklinkert. 1932 war sie als Notkirche errichtet, im Krieg zerstört und 1948 zur Palmweihe festlich wiedereröffnet worden – kein sonderlich schönes Gotteshaus, aber eines, das von der Gemeinde geliebt wurde und in dem vor allem ein toleranter Pfarrer amtierte.

Ihr Auftritt erfolgte punktgenau.

Den meisten Hochzeitsgästen blieben die Ahs und Ohs im Hals stecken, als sie an Oskars Arm den Mittelgang entlangschritt, um schließlich in der ersten Bankreihe Platz zu nehmen, die den engsten Angehörigen vorbehalten war. Claire schüttelte indigniert den Kopf, während Flori, die man mit viel Geduld schließlich doch zu einem grünen Trägerkleid überredet hatte, begeistert den Daumen hochhielt. Auch Sandros jüngerer Bruder Valentino, in edlem dunkelblauen Zwirn, schien durchaus angetan von dem unerwarteten Anblick, während Antonia Lombardis schmale Lippen noch mehr zum strengen Strich gerieten.

Armes Rikelein, dachte Silvie voller Mitgefühl. Mit deinem Sandro hast du zwar einen Hauptgewinn gezogen, deine Schwiegermutter jedoch wird dafür sorgen, dass es dir bloß nicht zu gemütlich in eurer Ehe wird, darauf könnte ich wetten.

Vor den Stufen zum Altar wartete der Bräutigam, eine Augenweide im Cut, mit silberner Weste und gleichfarbigem Binder, die dunklen Locken so frisch getrimmt, dass sein Nacken noch immer gerötet war. Dass er vor Aufregung leicht zitterte, fiel wahrscheinlich nur Silvie auf; dass er Tränen in den Augen hatte, als das Orgelpräludium einsetzte und Rike am Arm ihres Vaters gemessenen Schritts auf ihn zukam, sahen auch die anderen.

Silvie schoss die ersten Fotos.

«Amore mio», flüsterte Sandro zutiefst gerührt, nachdem Friedrich ihm die Braut feierlich übergeben hatte. «Endlich werden all meine Träume wahr, carissima Rica.»

 

Der Rest der Zeremonie erschien Silvie wie eine unendliche Abfolge von Latein, Hinknien, Aufstehen und sich wieder Hinsetzen. Die Hochzeitspredigt klang in ihren Ohren eher wie eine Mahnung, wie ungemein katholisch das Eheleben und die Erziehung der Kinder künftig zu sein hätten. Mehrfaches Räuspern in ihrem Rücken, das wahrscheinlich von Onkel Carl rührte, der zwischen seinen Söhnen Gregor und Paul saß und noch nie viel von Religion gehalten hatte. Erneut dramatisches Orgelspiel, jede Menge Weihrauch und schließlich ein vollkommen verpatztes Ave Maria.

Silvie blickte sich um. Waren katholische Gotteshäuser nicht voller Gemälde, Engel- und vergoldeter Heiligenstatuen? Der schlichte Kirchenraum wirkte eher wie ein beliebiger Saal, dessen Nüchternheit nicht einmal die weißen Rosengebinde an den Holzbänken zu mindern vermochten. Silvie konzentrierte sich lieber wieder auf die Menschen. Wie goldig Elsas kleine Isabella mit ihrem Brüderchen Luca nach vorne lief! Um ein Haar wäre die fünfjährige Tochter von Rikes Freundin dabei über ihr langes rosa Kleid gestolpert, fing sich aber gerade noch. Der Dreijährige neben ihr, in kurzen Hosen, mit blauer Mini-Fliege, hielt das weiße Seidenkissen, auf das die Trauringe aufgesteckt waren, souverän in seiner Patschhand.

Rike weinte, als Sandro ihr den Ring überstreifte, danach bekam er seinen, und ihr anschließender Kuss fiel so innig aus, dass der beleibte Pfarrer dezent zu hüsteln begann.

Noch einmal Orgelbrausen, dann war auch das glücklich überstanden. Isi und Luca, die Blumenkinder, verstreuten verschwenderisch bunte Blüten, ihnen folgte das frisch getraute Ehepaar und strahlte um die Wette, während Silvie einen ganzen Film verschoss.

«Und wer ist nun diese heiße Witwe?», hörte sie eine Männerstimme hinter sich, die sie aufhorchen ließ. Melodisch klang sie, besaß aber gleichzeitig in der Tiefe etwas Raues und Widerspenstiges, das sie sofort anzog.

«Silvie Thalheim, die Schwester der Braut», flüsterte Markus Weisgerber, der frühere Teilhaber des Kaufhauses. «Aber verheiratet war sie meines Wissens bislang noch nie.»

Der Unbekannte lachte. «Umso besser. Und wie komme ich an sie ran?»

«Gar nicht.» Silvie drehte sich abrupt um. «Jedenfalls garantiert nicht auf diese Weise.»

Der Mann sah so gut aus, dass sie unwillkürlich schneller atmete. Er war einen Kopf größer als sie und sehr schlank, fast knochig. Sein Anzug aus feinem englischen Tuch war lässig zerknittert und sollte vermutlich den Eindruck erwecken, Äußerlichkeiten seien ihm gleichgültig – eine Lüge, wie sie sofort erkannte, denn vor ihr stand ein durch und durch eitler Kerl. Dunkles, glattes Haar fiel ihm in die Stirn, um einiges länger, als die herrschende Mode es erlaubte. Er hatte ein schmales Gesicht mit einem markanten Kinn. Das Auffallendste an ihm waren die Augen: eisgrün wie Gletscherwasser, mit einem dichten schwarzen Wimpernkranz, um den ihn jede Frau beneidet hätte.

«Wanja Krahl», sagte er mit einer Verneigung, die eine Spur zu übertrieben ausfiel, um ehrlich gemeint zu sein. «Bitte untertänigst um eine zweite Chance!»

«Sei klug und gewähr sie ihm, Silvie», sagte Markus lachend. «Wanja spielt den jungen Schiller in meinem aktuellen Film – was ihn zweifellos über Nacht berühmt machen wird.»

Als kleines Mädchen hatte Silvie heimlich für den damaligen Kompagnon ihres Vaters geschwärmt, der immer nur Augen für ihre Mutter Alma gehabt hatte. Als sie dann später durch Almas Tagebuch von der heftigen Affäre erfuhr, die die beiden heimlich verbunden hatte, war sie nicht einen Moment lang überrascht gewesen. Rike war entrüstet und dermaßen entsetzt, dass sie die Lektüre jahrelang aufgeschoben hatte – Silvie keineswegs. Kaum war sie auf die Aufzeichnungen der Mutter gestoßen, hatte sie sie auch sofort gelesen. Im aufregenden Spiel zwischen Frau und Mann konnten seltsame Dinge vorgehen, das hatte sie schon als Kind gespürt und später mehr als einmal am eigenen Leib erfahren. Zwar gab es einen gewaltigen Unterschied zwischen Liebe und Begehren, doch beides waren immense Kräfte, die zum Himmel führen oder direkt in die Hölle münden konnten.

Sie zog eine Braue hoch. «Korrigieren Sie mich, wenn ich falschliege: War Friedrich Schiller nicht eher rotblond und durch und durch anämisch?», erwiderte sie langsam.

«Da kennt eine aber ihre Klassiker!» Krahls Blick wurde noch eine Spur intensiver. «Nur keine Bange, schöne Frau: Wir haben in Schwarzweiß gedreht, und vom Hungern hab ich mich noch immer nicht ganz erholt, denn dieser hundsgemeine Schinder» – er versetzte Markus einen Stoß – «hat mich wochenlang darben lassen, damit es möglichst realistisch wirkt. Außerdem spielt man Rebellen und Genies ohnehin am besten ganz von hier aus!» Er legte eine Hand auf sein Herz.

«Wenn Sie das sagen», entgegnete Silvie, ohne dabei eine Miene zu verziehen. Wanja Krahl löste etwas in ihr aus, das sie viel zu lange vermisst hatte. Doch der Typ sollte sich bloß nichts einbilden! Jetzt schaute sie nur noch Markus Weisgerber an. «Ich hab da im Sender was Neues vor. Sobald die Sache spruchreif ist, melde ich mich, okay?»

Mit einer eleganten Drehung wandte sie sich um und stöckelte ein paar Schritte weiter.

«Moment!» Wanja Krahl war ihr nachgestürzt. «Sie hätten nicht zufällig Lust, sich von mir zur Feier kutschieren zu lassen? Mein Wagen ist brandneu und wird Ihnen gefallen …»

Der knallrote Rometsch! Er konnte keinem anderen als ihm gehören.

«Wissen Sie was?» Silvies Lächeln wurde schmelzend. «Nehmen Sie doch meinen Zwillingsbruder mit, der hat ein Faible für ausgefallene Schlitten. Oskar, kommst du mal bitte?»

«Und Sie?» Die Enttäuschung stand ihm ins Gesicht geschrieben. «Mit diesen Schuhen werden Sie doch kaum laufen wollen …»

«Machen Sie sich um mich mal keine Sorgen, Herr Krahl», erwiderte Silvie. «Gehen wir, Markus?»

«Gefällt er dir tatsächlich so gut?», fragte ihr Begleiter amüsiert, als sie kurz danach Seite an Seite im DKW saßen. «Wenn Frauen so kratzbürstig sind, wird es immer gefährlich.»

Den Blick auf die Straße gerichtet, sagte Silvie: «Du musst es ja wissen. Aber mich würde viel mehr interessieren, weshalb du diesen Mann zu Rikes Hochzeit angeschleppt hast.»

«Lilo ging es heute Morgen nicht besonders», sagte Markus, «wieder Migräne, ihr altes Leiden. Und so ganz allein wollte ich bei den versammelten Thalheims nicht aufschlagen. Außerdem ist Wanja ein amüsanter Kerl – vorausgesetzt, er bockt nicht gerade. Vor der Kamera spielt er zum Niederknien. Aus dem könnte ein ganz Großer werden, wenn er ernsthaft an der Schauspielerei dranbleibt.» Er begann seine Finger zu kneten. «Du musst wissen, mir liegt unendlich viel an diesem Projekt», fuhr er fort. «Ist ja schließlich mein Entree als Produzent. Ich wollte partout keine gezuckerte Schnulze wie die von Holt. Wen die Götter lieben stellt Mozart so deutsch dar, dass es richtig weh tut. Unser Lied der Freiheit soll den Zuschauern zeigen, dass in diesem Land ein Geist steckt, den viele nach zwölf Jahren Nazizeit fast vergessen haben. Mal sehen, wie das Berlinale-Publikum den Film aufnimmt!»

«Lied der Freiheit», murmelte Silvie beifällig. «Schöner Titel!»

«Deshalb hab ich ja auch alles darangesetzt, Gustav von Wangenheim als Regisseur zu gewinnen. Seine Inszenierungen von Nathan der Weise und Hamlet am Deutschen Theater Berlin sind legendär. Leider wurde er Opfer einer Intrige und daraufhin als Intendant abgesetzt. Danach hat er einige Filme für die DEFA gedreht, was ihn nur umso geeigneter macht. Ich wollte für den Schiller-Stoff unbedingt einen Regisseur, der den Osten kennt.»

Silvie hatte von dem Regisseur gehört: jüdisch, einstmals Stummfilmstar unter cineastischen Größen wie Murnau, Lang und Lubitsch, später dann Arbeiterdichter und überzeugter Kommunist, der bereits 1933 in die Sowjetunion emigriert war und von den Nazis in Abwesenheit zum Tode verurteilt wurde. In Moskau hatte er über Jahre beim Sender Freies Deutschland gearbeitet, bis er 1945 wieder nach Deutschland zurückkehrte. Der Mann hatte zweifellos eine beeindruckende Biographie.

«Eine ungewöhnliche Wahl», sagte Silvie. «Werden sich daraus nicht Probleme ergeben?»

Sie hatten die Villa am Branitzer Platz erreicht. Hinter ihnen näherte sich mit lautem Hupen der blumengeschmückte Alpha Romeo der Brautleute.

«Meinst du die Presse oder das Publikum?», hakte Markus nach.

«Beides», erwiderte Silvie. «Viele wollen nach den harten Jahren, die hinter uns liegen, im Kino nur noch seicht-beschwingte Stoffe sehen. Und auf alles aus dem Osten reagiert die Westpresse ganz schön allergisch.»

«Wer gegen den Strom schwimmen will, der muss viel Wasser schlucken können», sagte Markus. «Daran bin ich gewöhnt. Mittlerweile macht es mir sogar Spaß.»

«Geht mir ähnlich.» Silvie stieg aus. «Und du hast schon recht: Irgendwann will man es dann gar nicht mehr anders.» Sie zögerte, weil es ja eigentlich noch ein Geheimnis war, dann jedoch überwand sie sich. «Ich habe ja vorhin schon angedeutet, dass ich beim RIAS ein neues Format plane», sagte sie, «eine einstündige Sendung, auf Tuchfühlung mit berühmten Menschen oder solchen, die etwas Außerordentliches getan haben. Kein klassisches Interview, ich möchte nur ein paar ausgesuchte Fragen stellen und sie dann erzählen lassen. Sozusagen eine Art Seelenstriptease vor dem Mikrophon, ganz privat. Du als Filmproduzent kennst doch so viele Leute, auch aus deinen Jahren in den USA. Meinst du, du könntest mir bei den Kontakten vielleicht ein wenig Hilfestellung geben?»

«Die schöne Silvie wird endgültig flügge.» Er begann zu schmunzeln. «Gefällt mir. Gefällt mir sogar sehr. Ja, ich denke, da ließe sich durchaus etwas machen …»

 

Das offene Küchenzelt, ein großes weißes Oktogon, war im Garten der Thalheim-Villa aufgebaut. Drinnen wurde man an einer Theke mit Warmhalteplatten von zwei feschen jungen Köchen mit hohen weißen Mützen bedient, deren Gerichte die Herkunft des Restaurantbesitzers nicht verleugnen konnten. Draußen waren unter weißen Sonnenschirmen Gartentische und bequeme Stühle aufgestellt. Ein Stück des Rasens hatte man mit Holzplanken belegt und somit einen provisorischen Tanzboden geschaffen. Flori verspeiste mit ungebremstem Appetit bereits das zweite Wiener Schnitzel, während andere Hochzeitsgäste sich lieber an Zwiebelrostbraten, Tafelspitz, Fiakerhendl oder gefüllte Kalbsbrust hielten. Zufrieden schienen sie alle; die jüngste Thalheim hatte definitiv einen guten Riecher gehabt. Mit seiner schmackhaften gutbürgerlichen Küche hatte der Wiener Schani Feldmann sich binnen kurzer Zeit mitten in die Herzen der Berliner gekocht, und sein Schanigarten in der Reichsstraße, gelegen im noblen Wohnviertel Westend, war stets gut besucht. Das Beste stand den Hochzeitsgästen noch bevor: ein ausladendes Süßspeisenbuffet, mit Sachertorte, Kaiserschmarrn, Apfelstrudel, Topfenknödeln und unterschiedlich gefüllten Palatschinken, das keine Wünsche offenließ.

Angesichts von so viel Fülle hätte man fast vergessen können, dass der Krieg erst seit sieben Jahren vorbei war. Ja, im Westen hatten alle wieder ausreichend zu essen, und es gab keine Lebensmittelmarken mehr, doch man befand sich noch immer in einer Stadt, die in vier Sektoren unterteilt war und von alliierten Besatzungsmächten kontrolliert wurde.

Auch die italienischen Gäste schlemmten begeistert: Rikes alte Freundin Elsa, die mit der ganzen Familie aus Mailand zur Hochzeit angereist war, inzwischen mit ihrem dritten Kind schwanger, ihr charmanter Mann, der Chirurg Dr. Michele Morelli, sowie die beiden Kleinen Isi und Luca. Aber auch Valentino und Grazia, Sandros Patentante, langten kräftig zu, während seine Mutter Antonia an den dargebotenen Köstlichkeiten lediglich mäkelig herumpickte.

Silvie, die das Hochzeitspaar zunächst in allen nur denkbaren Posen abgelichtet hatte, verspürte mittlerweile ebenfalls Hunger. Eigentlich war sie fast ein bisschen enttäuscht. Rike hatte ihr Kleid lediglich durch hochgezogene Brauen kommentiert; Papa war erwartungsgemäß explodiert, hatte sich aber schnell beruhigt. Die anderen rund dreißig Hochzeitsgäste riskierten höchstens verstohlene Blicke, direkt sprach keiner sie auf ihr Schwarz an.

Und wennschon. Sie selbst fühlte sich unwiderstehlich in diesem Modell – und darauf kam es schließlich an.

Sie war gerade dabei, sich Schnitzel und «Erdäpfelsalat» auftun zu lassen, wie der junge Koch aus Österreich die Kartoffelbeilage so drollig nannte, als es hinter ihr laut wurde.

«Wie Verbrecher haben sie uns kontrolliert, sonst wäre ich doch niemals zu spät zur Hochzeit meiner Nichte gekommen! Eines Tages werden sie uns vielleicht gar nicht mehr zu euch rüberlassen – und was dann?» Tante Lydias Tonfall klang empört wie eh und je, dabei war sie in letzter Zeit auf erstaunliche Weise verwandelt. Endlich von Carl geschieden, hatte sie nur ein paar Monate später den verwitweten Pastor Jürgen Grothe geehelicht, der die Inselgemeinde in Hermannswerder bei Potsdam seelsorgerisch betreute. Oma Frida, Friedrichs und Carls alte Mutter, die inzwischen ganz in ihrer eigenen Welt lebte, hatte sie ohne Murren mit ins Pfarrhaus übersiedelt. Dort lebten ebenfalls Jürgens halbwüchsige Töchter Luisa und Amelie, die die neue Frau des Vaters erfreulich rasch akzeptiert hatten.

Silvie trat an den Tisch unter dem weißen Sonnenschirm, an dem ihre Tante gerade Platz genommen hatte, und setzte sich ebenfalls. «Die Sektorenübergänge zwischen Ost- und West-Berlin sind nach wie vor frei passierbar», sagte sie. «Daran hat sich nichts geändert. Die Zonengrenze dagegen ist zu. Wenigstens lassen sie uns nun doch noch zu euch in die DDR, zumindest mit Passierschein. Aber eine Schweinerei ist es trotzdem.»

«Frei passierbar? Dass ich nicht lache», kommentierte Friedrich säuerlich, der soeben dazugestoßen war. «Meine Verkäuferinnen aus den Ostbezirken der Stadt bekommen diese ‹Freiheit› jeden Morgen und jeden Abend zu spüren. Wir müssen im Modekaufhaus bereits eine Art morgendliches Notprogramm fahren, so schwach sind wir da personalmäßig aufgestellt.»

«Du sparst noch immer genug an deinen bienenfleißigen Ostfrauen, lieber Bruder», kam nun von Carl, der sich mit einem Glas Wein in der Hand zu ihnen gesellte. «Denn sonst hättest du sie sicherlich längst entlassen. Und ja, diesen neuen Aufwand habt ihr eurem Herrn Adenauer zu verdanken, der so gar nichts von einer vernünftigen Wiedervereinigung und Neutralisierung Deutschlands hören will, wie Stalin sie vorgeschlagen hat, Garantie demokratischer Rechte und Parteien eingeschlossen.» Er leerte sein Weinglas in einem Zug. «In meinen Augen läuft es schnurgerade auf eine Wiederbewaffnung Westdeutschlands hinaus – und das, obwohl nach 1945 alle feierlich geschworen haben, nie mehr eine Waffe anzufassen.»

«Der Russe lässt uns ja keine andere Wahl», polterte Friedrich los. «Du siehst doch, was er in Korea angerichtet hat!»

«Daran sind die Amis aber auch nicht ganz schuldlos, lieber Fritz», konterte Carl. «Und was bringt das ganze sinnlose Sterben von Millionen Menschen? Über den 38. Breitengrad kommen sie beide nicht – trotz massivem Kriegsgedöns!»

«Papperlapapp», entgegnete Friedrich heftig. «Außerdem sind wir hier mitten in Europa. Sollen wir uns vielleicht eines Tages wehrlos von russischen Panzern überrollen lassen? Der Alte am Rhein weiß schon, was er tut! Du solltest inzwischen auch klüger geworden sein. Wenigstens hast du deinen Staatsanwaltsposten an den Nagel gehängt. Auch wenn ich nicht weiß, was du als Anwalt in Pankow willst.»

Silvie aß und hörte dabei dem Schlagabtausch amüsiert zu. Die beiden so unterschiedlichen Brüder gerieten jedes Mal aneinander, wenn sie sich trafen, doch heute war es besonders intensiv.

Carl richtete sich in seinem Stuhl auf, nun war er fast so groß wie Friedrich. «Mandanten zur Seite stehen», erwiderte er knapp. «Menschen brauchen Rechtsvertreter, die ihnen aus der Patsche helfen, wenn sie etwas angestellt haben oder dessen bezichtigt werden, hüben wie drüben. Und angeblich sagt man über mich» – ein kurzes verschmitztes Grinsen –, «ich sei einer der Besten.»

«Hier bei uns im Westen könntest du ebenso Mandanten in Bedrängnis betreuen und dabei ein Mehrfaches verdienen», fuhr Friedrich fort. «Aber du musst ja bei deinen verdammten Kommunisten bleiben …»

«Das, Bruderherz, ist vielleicht einer der gravierendsten Unterschiede zwischen uns.» Carl stellte sein Glas ab. «Geld hat mich noch nie sonderlich interessiert. Mir kommt es im Leben auf ganz andere Dinge an.»

Trotz seines lahmen Beins, das er einer Schusswunde aus dem Ersten Weltkrieg verdankte, stand Carl erstaunlich elegant auf und trat auf Sandro und Rike zu, die sich gerade vom Nebentisch erhoben hatten.

«Der alte Onkel bittet um einen Tanz mit der bezaubernden Braut», sagte er lächelnd. «Wird sie ihm den wohl gewähren?»

«Mit dem allergrößten Vergnügen», erwiderte Rike. «Außerdem bist du kein bisschen alt, sondern mein Lieblingsonkel.»

Paul, Carls jüngerer Sohn, und seine Jungs spielten gerade den Foxtrott Singin’ in the Rain, mit dem Gene Kelly im gleichnamigen Musikfilm das Kinopublikum diesseits und jenseits des Atlantiks begeisterte. Der Name ihrer Band hatte im Lauf der Jahre beinahe ebenso oft gewechselt wie die Zusammensetzung des Quartetts. Immerhin war es den jungen Männern gelungen, eine vorübergehende Talsohle zu überbrücken und wieder mehr Engagements zu erhalten. Aktuell nannten sie sich The Crazy Creatures und hatten ebenso deutsche Schlager im Repertoire wie Blues, Ragtime und Boogie-Woogie.

«Und Sie? Nicht auch Lust auf Tanzen?» Beim Klang der Stimme durchfuhr Silvie ein Schauer. Als sie sich umdrehte, zog Wanja Krahl sich einen freien Stuhl heran und setzte sich neben sie. «Ich könnte wetten, Sie haben ein tolles Gespür für Rhythmus und Takt.»

«Im Moment esse ich, wie Sie sehen», sagte sie, «und das am liebsten ungestört.»

Taps, der weiße Familien-Westie, inzwischen ein älterer Herr, knurrte kurz, als habe er Silvie genau verstanden, machte gleich danach aber wieder folgsam neben dem Tisch Platz, weil vielleicht ja doch etwas für ihn abfallen würde.

Silvies Hand zitterte kaum merklich beim Schneiden des Schnitzels. Sie konnte nur hoffen, dass es diesem Schauspieler nicht auffiel, aber vielleicht sah er es, so drängend, wie er sie anstarrte.

«Sie lügen», sagte er leise. «Aber Sie lügen schlecht. Und das wiederum gefällt mir.»

Sie schaute auf. Ihre Blicke verhakten sich ineinander, dann blickte Silvie erneut auf ihren Teller.

Berühr mich, dachte sie zu ihrer eigenen Überraschung. Streichle meine Hand. Oder meinen Nacken. Löse die Klammern, und fahr mit den Fingern durch mein Haar. Deine Haut an meiner Haut, das genau ist es, was ich spüren will.

Er tat nichts von alldem.

Sie schob den Teller beiseite und hatte plötzlich Lust auf eine Zigarette, obwohl sie nur ganz selten rauchte.

Er ließ ein silbernes Etui aufschnappen, als hätte er ihre Gedanken erraten. «Gitanes», sagte er fast entschuldigend. «Die einzigen, die ich ertrage. Wenn man allerdings nicht daran gewöhnt ist …»

Silvie nahm eine der Filterlosen und ließ sich von Wanja Krahl Feuer geben. Das starke schwarze Kraut versengte fast ihren Rachen, aber sie würde auf keinen Fall husten.

«Scheußlich», sagte sie nach dem zweiten Zug und drückte die Zigarette wieder aus.

Er nickte, als habe er nichts anderes erwartet. «Zeigen Sie mir jetzt die Villa? Ich habe gehört, sie soll ganz wunderbar dekoriert sein!»

«Weshalb sollte ich? Ich kenne Sie doch kaum.»

So aus der Nähe hatten seine Eisaugen einen irritierenden blauen Rand, der ins Petrol ging.

«Weil ich einfach alles über Sie wissen muss.» Er stand so abrupt auf, dass sein Stuhl umfiel. «Wo Sie schlafen. Wovon Sie träumen. Was Sie wütend macht oder verzweifeln lässt, alles, verstehen Sie, einfach alles! Ich habe auf Sie gewartet, vielleicht schon mein ganzes Leben lang. Und jetzt stolzieren Sie einfach so daher, in Ihrer aufregenden schwarzen Witwenkluft, die einem den Atem verschlägt. Denken Sie vielleicht, ich könnte Sie wieder vergessen?» Jetzt schrie er fast.

Ein paar Köpfe flogen zu ihnen herum, aber die Band spielte gerade lauter, was Silvie nur recht sein konnte.

«Was für ein drolliges Schülertheater», sagte sie und stand auf. «Wenn Ihr Schiller nicht um Klassen besser ist, werden Sie allerdings Schiffbruch erleiden, fürchte ich.» Ihr Tonfall wurde mütterlich. «Wie alt waren Sie gleich noch einmal, Wanja?»

«Vierundzwanzig», stieß er hervor. «Aber was zum Teufel hat das mit …»

«Dachte ich mir.» Sie ging Richtung Haus, drehte sich aber noch einmal zu ihm um. «Ich habe zwar Erfahrung mit jüngeren Brüdern, aber einer davon reicht mir vollkommen.»

Er sah sie mit funkelnden Augen an, dann wandte er sich um und lief zum Gartentor, und sie fühlte sich beraubt, noch bevor er das Grundstück verlassen hatte.

 

Bitte nicht, dachte Silvie, während sie sich in der kleinen blaugestrichenen Gästetoilette kaltes Wasser über die Innenseite der Handgelenke laufen ließ, um ihren aufgeregten Puls wieder zu beruhigen. Bitte keinen, den ich bis zum Wahnsinn küssen möchte. Keinen, der mich garantiert um den Verstand bringen wird. Und erst recht keinen aufgeblasenen Möchtegern, der noch nicht einmal ahnt, wer er ist! Einen Polen auf Abruf hatte ich schon, danach einen jüdischen Freund, dem ich niemals genügen konnte, weil ich keine Jüdin bin, und schließlich einen linientreuen Kommunisten mit zwei Kindern, für den eine Scheidung aus Gewissengründen unvorstellbar war – das müsste als Lektion in Sachen Dornenliebe doch eigentlich genügen! Kann ich mich nicht wenigstens einmal im Leben in einen grundsoliden Mann verlieben, der mich auf Händen trägt und einem anständigen Beruf nachgeht?

Sie konnte es nicht.

Silvie wusste es in dem Moment, als sie die Tür öffnete und Wanja an der gegenüberliegenden Wand in der Diele lehnen sah.

«Krahl kommt übrigens aus dem Sorbischen und bedeutet König», sagte er leise. Das Haar hing ihm wirr in die Stirn. Sein Gesicht war blass. Er sah aus wie ein Junge, der nachts aufgewacht ist und Angst hat. «Schon mal gehört?»

Silvie nickte.

Dann ging sie auf ihn zu, legte den Kopf leicht in den Nacken, schloss die Augen und bot ihm ihre Lippen zum Kuss – doch der blieb aus. Stattdessen spürte sie eine Berührung am Haaransatz, so zart, dass sie es sich vielleicht auch nur eingebildet hatte.

Verblüfft schlug sie die Lider wieder auf.

Inzwischen hatte er sich ein ganzes Stück von ihr entfernt, als habe er sich gerade noch in Sicherheit gebracht.

«Brennen muss es», sagte er, «bluten und sich anfühlen, als würde man barfuß auf Glasscherben laufen, dann und nur dann ist Liebe echt. Davon träume ich. Immer schon. Und du doch auch. Oder hast du das alles schon hinter dir?»

Er verschwand in den Garten.

Bleib mir bloß vom Leib, dachte Silvie, als sie wieder nach draußen auf die Terrasse ging, und musste im gleichen Moment gegen Tränen der Enttäuschung kämpfen. Einer wie du hat mir in meiner Sammlung gerade noch gefehlt!

«Alles in Ordnung mit dir, Silvie?» Die Stimme ihres Cousins Gregor, der plötzlich neben ihr stand, klang besorgt.

«Klaro», sagte sie schnell. «Es sind bloß diese verdammten Pumps, die mich halb um den Verstand bringen. Lauf du mal stundenlang auf solchen Mörderabsätzen herum und lächle noch dabei!»

«Dann zieh sie doch einfach aus. Barfuß tanzt es sich ohnehin viel besser!»

«Gute Idee!» Silvie streifte die lästigen Schuhe ab, nahm seine Hand und ließ sich von ihm auf die provisorische Tanzfläche ziehen, die schon von einigen Paaren bevölkert war. Morgen würde Claire garantiert wegen ihres verdorbenen Rasens lamentieren, heute jedoch wurde erst einmal gefeiert! Gregor bewegte sich zum Boogie-Woogie der Band so geschmeidig, dass sie nur staunen konnte.

Was wusste sie eigentlich von ihm? So gut wie nichts!

Als Kind war er extrem zurückhaltend gewesen, wahrscheinlich, weil er verstecken wollte, dass er anders war. Seit Jahren waren er und Hotte ein Paar – auch wenn das geltende Gesetz ihnen das bei Strafandrohung untersagte. Die beiden lebten jetzt in Schöneberg, offiziell als Brüder, die sich eine winzige Zweizimmerwohnung in einem Rückgebäude teilten, eine Lüge, die ihnen gegenüber der Nachbarschaft jede Menge Verstellungskunst abverlangte. Gregor war beherrscht und rational, der würde das auf Dauer wohl eher hinbekommen, aber was den sprunghaften, durch und durch emotionalen Hotte betraf, so hatte Silvie durchaus Bedenken. Hotte tat meistens unbekümmert kund, was ihm gerade auf der Zunge lag. Silvie betrachtete ihren tanzenden Cousin. Wieso durfte er nicht offen leben, wie er wollte? Das konnte Menschen doch nur unglücklich machen.

Aus einem plötzlichen Impuls spurtete Silvie zu dem weißen Sonnenschirm, unter dem Hotte bei einer Berliner Weißen saß, und griff nach seiner Hand.

«Komm tanzen!» Sie zog ihn hoch.

«Zu dritt?», sagte er grinsend, ohne sich zu wehren.

«Warum nicht? Die Polizei wird uns ja nicht gleich festnehmen, oder?»

Ein schneller Song folgte nun auf den anderen, als sei es Paul eine besondere Freude, seinen Bruder so ausgelassen zu sehen, und auch Silvie drehte sich immer wilder. Irgendwann musste sie aber doch eine Pause einlegen, weil sie kurz vorm Verdursten war, und dass die beiden Männer mutig zusammen weitertanzten, gefiel ihr über alle Maßen.

Aus den Augenwinkeln sah sie, wie Elsa und Rike am Rande der Tanzfläche ganz vertraut zusammenstanden, die alten Freundinnen, die im Spätherbst beide Mutter werden würden, die eine bereits zum dritten Mal, ihre Schwester als Erstgebärende. Als Dritte im Bunde gesellte sich noch die braunhaarige Hebamme Lou Berger dazu, die mit den beiden die Schulbank gedrückt hatte. Von ihr hatte Silvie damals die Adresse des Arztes erfahren, der ihren Schwangerschaftsabbruch vorgenommen hatte, fachmännisch, aber natürlich illegal – und der alte Schmerz meldete sich zurück.

Kein Mann. Kein Haus. Kein Kind.

Würde sie diesen unseligen Spruch, der sie inzwischen fast wie ein Fluch verfolgte, denn niemals wieder loswerden?

Erst der kalte Sprudel, den Silvie in sich hineinschüttete, ließ sie langsam wieder ruhiger werden. Mein Leben ist eben anders, dachte sie trotzig, während sie auf Weißwein umstieg, weil es ja schließlich ein Hochzeitsfest war, wilder, unstet. Und dennoch hielt sich hartnäckig in ihr eine Sehnsucht nach ruhiger, sicherer Kontinuität, die sie womöglich niemals erleben würde.

Nach dem ersten Glas fiel ihr ein Mann auf, den sie niemals hier erwartet hätte: Werner Brahm. Blass und inzwischen fast vollkommen kahl, saß er am Tisch neben Oskar. Er hatte sich die Aktion Lumpenkleider einfallen lassen, die im zerbombten Nachkriegsberlin für Furore gesorgt hatte. Friedrich und Rike waren eine Zeitlang seine Teilhaber gewesen, doch dann musste etwas passiert sein, vom dem sie bis heute nichts wusste, denn die Geschäftsverbindung war geplatzt. Papa erwähnte ihn niemals mehr, und Rike schaute inzwischen voller Abscheu drein, sobald Brahms Name irgendwo auftauchte. Sie wäre sicher alles andere als begeistert, ihn unter den Gästen zu entdecken – was zum Teufel hatte dieser Kerl also ausgerechnet auf ihrem Hochzeitsfest zu suchen?

Mit dem Weinglas in der Hand, schlenderte sie langsam zu den beiden Männern.

«Das schöne Fräulein Thalheim, welche Freude», begrüßte Brahm sie schleimig. «Barfüßig, aber unwiderstehlich wie eh und je!»

«Ich störe doch nicht?» Sie setzte sich zu ihnen, obwohl ihr Oskars betretene Miene verriet, dass sie alles andere als erwünscht war.

«Sie? Niemals!»

Eine glatte Lüge, wie sie sofort spürte, gleichzeitig war sie heilfroh, dass es zum «Du» zwischen ihnen niemals gereicht hatte.

«Die Geschäfte laufen?» Sie ließ Brahm nicht aus den Augen und spielte mit ihrem Glas.

Erst kürzlich hatte er in Wilmersdorf ebenfalls einen Laden eröffnet, bei näherem Hinsehen eine dreiste Kopie des Modekaufhaus Thalheim, dem allerdings die Klasse fehlte. Doch seine Preise lagen deutlich niedriger, davon hatte sich Silvie, getarnt mit Hut und Sonnenbrille, mit eigenen Augen überzeugt – und gut besucht war das erstaunlich weitläufige Geschäft auch gewesen. Brahm hatte Verkaufen eben im Blut und wusste ganz genau, wann er was wem andrehen konnte, das musste man ihm lassen.

«Ich kann nicht klagen. Im Moment sind die Kundinnen noch hungrig auf unsere Läden mit ihrem vielfältigen Angebot, nicht wahr, Oskar?» Ein Schulterzucken. «Aber wer weiß schon, was sie morgen wollen? Oder gar übermorgen? Und darauf kommt es doch letztlich an: Nur wer heute schon die Trends von übermorgen im Blick hat, kann auf Dauer wirklich erfolgreich sein!»

Oskar nickte, und Silvie spürte, wie sie langsam sauer wurde.

Die beiden duzten sich, was bedeutete, dass sie sich näher kannten. Darüber hatte ihr Bruder kein Wort verloren. Bis heute hatte sie nicht einmal gewusst, dass sie sich jemals begegnet waren.

«Feiner Kerl übrigens, Ihr Zwillingsbruder!» Werner Brahm klopfte Oskar auf die Schulter. «Und verdammt clever dazu. Da braucht Friedrich seine sture Älteste ja gar nicht mehr so dringend in der Geschäftsführung. Und nun, wo sie in anderen Umständen ist, wird sich das Blatt ja ohnehin bald wenden.»

«Es ist besser, wenn Sie gehen.» Silvies Stimme war leise und scharf.

Er stand auf, lächelte unverbindlich und beugte sich dann zu Oskar.

«Wir bleiben in Verbindung?», sagte er.

«Aber immer», bekräftigte der. «Du hörst von mir.»

Silvie konnte sich gerade noch beherrschen, bis Brahm den Garten verlassen hatte, dann fuhr sie zu Oskar herum.

«Und jetzt will ich auf der Stelle wissen, was du mit diesem Schmierlappen zu schaffen hast! Und warum er hier auf Rikes Hochzeit auftaucht!», herrschte sie ihn an.

«Er hat sich doch nur für eine halbe Stunde zu mir gesetzt. Ich bin ihm zufällig begegnet, als ich Zigaretten holen war, und da habe ich ihn auf ein Glas Wein eingeladen, ist doch nichts dabei», erwiderte Oskar. «Und außerdem ist Werner Brahm ein hochangesehener Geschäftsmann.»

«So hoch angesehen, dass Papa und Rike jede Verbindung mit ihm abgebrochen haben.»

«Ihre Sache.» Oskars Unterlippe schob sich nach vorn, wie immer, wenn er sich ärgerte. «Ich hatte bislang keinerlei Anlass, ihm zu misstrauen.»

«Dann heckt ihr tatsächlich zusammen etwas aus?»