Die Schwestern von Auschwitz - Heather Morris - E-Book
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Die Schwestern von Auschwitz E-Book

Heather Morris

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Beschreibung

Drei Schwestern – ein Versprechen für die EwigkeitAls Kinder versprechen die Schwestern Cibi, Magda und Livia zusammenzubleiben, egal was passiert. Als Livia 1942 nach Auschwitz deportiert wird, ist Cibi entschlossen, ihr beizustehen. Als schließlich auch Magda in das Vernichtungslager gebracht wird, geben sich die Schwestern ein weiteres Versprechen: dass sie überleben werden. Und ihr Zusammenhalt macht das Unmögliche möglich. Ihr Weg führt sie aus der Hölle des KZ durch das vom Krieg zerrissene Europa bis in eine Heimat, die keine mehr ist. So beschließen die Schwestern, in Israel neu anzufangen und nicht nur zu überleben, sondern zu leben.Die gebürtige Neuseeländerin Heather Morris ist die internationale Bestsellerautorin der beiden Holocaust-Romane »Der Tätowierer von Auschwitz« und »Das Mädchen aus dem Lager«. Nun wendet sie sich der unglaublichen Geschichte dreier Schwestern zu, die gemeinsam das Grauen des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau durchstanden haben und sich in Israel ein neues Leben aufbauten. Dafür traf sich die Autorin wiederholt persönlich mit den Zeitzeuginnen Livia Ravek und Magda Gutman sowie deren Nachfahren.

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Bei diesem Buch handelt es sich um ein fiktives Werk auf Grundlage der persönlichen Erinnerungen von Livia Ravek und Magda Guttman, der Schoah-Zeugenberichte von Cibi Lang, Livia und Ziggy Ravek sowie des Tagebuchs von Magda Guttman. Es wurde jeder realistische Versuch unternommen, die Fakten anhand verfügbarer Dokumente zu überprüfen. Dennoch wurden viele der Begebenheiten, Namen, Orte und Ereignisse entweder von der Autorin fiktiv ausgestaltet oder frei erfunden.

Übersetzung aus dem Englischen von Elsbeth Ranke

© Heather Morris, 2021

Titel der englischen Originalausgabe:

»Three Sisters« bei Zaffre, London 2021

© Piper Verlag GmbH, München 2022

Redaktion: Kerstin Kubitz

Fotos: privates Archiv der Familien Meller, Ravek, Lahav-Lang und Guttman

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: FAVORITBUERO, München

Coverabbildung: mauritius images / Keystone / STR und Shutterstock.com

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Widmung

Teil 1

Das Versprechen

Prolog

Vranov nad Topľou, SlowakeiOktober 1929

Kapitel 1

Vranov nad Topľou, SlowakeiMärz 1942

Kapitel 2

Im Wald außerhalb von Vranov nad Topľou, SlowakeiMärz 1942

Kapitel 3

Vranov nad Topľou, SlowakeiMärz 1942

Kapitel 4

Vranov nad Topľou, SlowakeiMärz 1942

Kapitel 5

Krankenhaus Humenné, SlowakeiMärz 1942

Kapitel 6

Vranov nad Topľou, SlowakeiMärz 1942

Teil 2

Die Tore der Hölle

Kapitel 7

AuschwitzApril 1942

Kapitel 8

Vranov nad Topľou, SlowakeiApril 1942

Kapitel 9

AuschwitzFrühjahr 1942

Kapitel 10

Auschwitz-BirkenauSommer 1942

Kapitel 11

Auschwitz-BirkenauHerbst/Winter 1942

Kapitel 12

Vranov nad Topľou, SlowakeiMärz 1943

Kapitel 13

Auschwitz-BirkenauFrühjahr 1943

Kapitel 14

Vranov nad Topľou, Slowakei1939

Kapitel 15

Auschwitz-BirkenauJuni 1943

Kapitel 16

Vranov nad Topľou, SlowakeiDezember 1943

Kapitel 17

Auschwitz-BirkenauDezember 1943

Kapitel 18

Vranov nad Topľou, SlowakeiJuli 1944

Kapitel 19

Auschwitz-BirkenauMärz–September 1944

Kapitel 20

Vranov nad Topľou, SlowakeiJuli 1944

Kapitel 21

Auschwitz-BirkenauOktober 1944

Kapitel 22

Auschwitz-BirkenauWinter 1944

Kapitel 23

Todesmarsch18. Januar 1945

Kapitel 24

DeutschlandMai 1945

Kapitel 25

DeutschlandMai 1945

Teil 3

Das Gelobte Land

Kapitel 26

BratislavaJuni 1945

Kapitel 27

BratislavaOktober 1948

Kapitel 28

HaifaFebruar 1949

Kapitel 29

Kfar Ahim1950

Kapitel 30

Rechovot1951

Kapitel 31

Rechovot1952

Kapitel 32

Rechovot1954

Epilog

RechovotDezember 2013

Anmerkungen der Autorin

Nachwort von Livia Ravek

Nachwort von Oded Ravek

Nachwort von Ayala Ravek

Nachwort von Yossi Lahav (Lang)

Bildteil

Dank

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Cibi, z’’l – Magda, z’’l – Livia

Danke für eure Kraft und die Hoffnung, an der ihr in der dunkelsten Stunde der Geschichte festgehalten habt – um in einem neuen Land ein Leben mit liebevollen Familien aufzubauen, eine Inspiration für uns alle.

Miško, z’’l – Jitzko, z’’l – Ziggy, z’’l

Ihr habt eure eigenen Überlebensgeschichten. Ihr habt eure eigenen Geschichten von Mut, Hoffnung, Liebe und Verlust der Familie. Ihr hattet die Liebe dreier wunderbarer Frauen und der Familien, die ihr mit ihnen gegründet habt.

Karol (Kari), Joseph (Yossi) – Chaya, Judith (Ditti) – Oded (Odie), Dorit

Ihr seid mit den Geschichten eurer Eltern aufgewachsen. Umso reicher seid ihr, dank ihrer Ausdauer, Resilienz, ihres Mutes und des Engagements, ihre Vergangenheit weiterzugeben, damit niemand von uns je VERGISST.

Randy, Ronit, Pam, Yossi, Joseph

Yehai, Amiad, Hagit – Noa, Anat – Ayala, Amir,

Ariela – Daniel, Ruth, Boaz – Lee-Or, Nogah

Pnina, Galil, Edan, Eli, Hagar, Dean, Manor, Alon, Yasmin

Shira, Tamar – Carmel, Albie – Maayan – Doron, Ofir,

Maor – Raphael, Ilan – Romi

UNDDIEKÜNFTIGENGENERATIONEN

Anmerkung: »z’’l« steht hinter den Namen von Verstorbenen, um sie zu ehren und ihrer zu gedenken. Es bedeutet zichrono livracha bzw. zichrona livracha – »möge sein/ihr Andenken zum Segen sein«.

Teil 1

Das Versprechen

Prolog

Vranov nad Topľou, SlowakeiOktober 1929

Die drei Schwestern Cibi, Magda und Livi hocken mit ihrem Vater in einem engen Kreis im kleinen Garten ihres Hauses. Der Oleander, den ihrer Mutter so hartnäckig hegt und pflegt, lässt in einer Ecke des kleinen Gartens trostlos die Blätter hängen.

Livi, mit ihren drei Jahren die Jüngste, springt auf die Füße: Stillsitzen liegt ihr nicht.

»Livi, bitte setz dich«, mahnt Cibi. Mit sieben ist sie die Älteste, und es gehört zu ihren Aufgaben, die Schwestern zu schelten, wenn sie ungezogen sind. »Du weißt doch, Vater möchte mit uns reden.«

»Nein«, erklärt die dreijährige Livi, hüpft weiter um die Sitzenden herum und gibt dabei jedem einen Klaps auf den Kopf. Magda, mit fünf die mittlere Schwester, zeichnet mit einem trockenen Oleanderzweig Fantasiegestalten in den Staub. Es ist ein milder, sonniger Herbstnachmittag. Die Küchentür steht offen, die Wärme dringt ins Haus, und gleichzeitig strömt der süße Duft von frisch gebackenem Brot in den Garten. Zwei Fenster, eines zur Küche, eines zu dem kleinen Schlafzimmer der Familie, haben schon bessere Tage gesehen. Auf dem Boden liegen Schuppen abgeblätterter Farbe: Der Winter hat dem Häuschen zugesetzt. Das Gartentor schwingt im Wind, schlägt zu. Der Riegel ist kaputt; noch etwas, was Vater reparieren muss.

»Komm her, Kätzchen. Setzt du dich auf mein Knie?«, lockt Vater sie.

Wenn die große Schwester sagt, was man tun soll, ist das eine Sache; aber wenn ihr Vater sie bittet, und dann noch so zärtlich, ist das etwas ganz anderes. Livi fällt in seinen Schoß, mit Schwung trifft ihr Arm ihn seitlich am Kopf. Sie merkt gar nicht, wie weh sie ihm damit tut.

»Geht es, Vater?«, fragt Magda besorgt, als sie ihn das Gesicht verziehen sieht, während sein Kopf wegzuckt. Sie fährt ihm mit den Fingern über die stoppelige Wange.

»Ja, Liebling. Es geht mir wunderbar. Ich bin bei meinen Mädchen – was könnte ein Vater mehr wollen?«

»Du hast gesagt, du möchtest mit uns reden.« Die immer ungeduldige Cibi kommt zum Zweck dieser kleinen »Sitzung«.

Menachem Meller sieht seinen hübschen Töchtern in die Augen. Sie sind ganz sorglos, ahnen nicht die harten Wirklichkeiten außerhalb ihres heimeligen Zuhauses. Harte Wirklichkeiten, die Menachem durchgemacht hat und mit denen er immer noch lebt. Die Kugel, die ihn im Weltkrieg nicht getötet hat, steckt immer noch in seinem Nacken, und jetzt, zwölf Jahre später, droht sie ihre Tat zu vollenden.

Die feurige Cibi, die starke Cibi … Menachem streichelt ihr übers Haar. Vom Tag ihrer Geburt an tat sie kund, dass die Welt sich besser in Acht nahm – sie war hier, und wehe dem, der sich ihr in den Weg stellte. Ihre grünen Augen blitzen gelb auf, wenn das Temperament sie überkommt.

Und Magda, die hübsche, liebe Magda, wie ist sie nur so schnell fünf Jahre alt geworden? Er fürchtet, ihr sanfter Charakter wird sie angreifbar machen für andere, die sie verletzen und ausnutzen. Ihre großen blauen Augen blicken ihn an, und er spürt ihre Liebe, ihr Wissen um seine labile Gesundheit. Sie ist reif für ihr Alter, das sieht er, und von einem Mitgefühl, das sie von ihrer Mutter und Großmutter geerbt hat, dazu die wilde Entschlossenheit, für andere zu sorgen.

Livi hört auf zu zappeln, als Menachem mit ihren weichen Locken spielt. Längst hat er zu ihrer Mutter gesagt, sie sei die Wilde von ihnen, diejenige, so fürchtet er, die mit den Wölfen laufen wird und umknicken wie ein junger Baum, wenn sie überrannt wird. Ihre stechend blauen Augen und ihre zierliche Gestalt erinnern ihn an ein Rehkitz, das leicht erschrickt und immer bereit ist zum Sprung.

Morgen wird ihm die wandernde Kugel aus dem Genick operiert. Warum konnte sie nicht einfach da bleiben, wo sie war? Endlos waren seine Gebete um mehr Zeit mit seinen Mädchen. Er muss sie begleiten, bis sie erwachsen sind, ihre Hochzeiten feiern, seine Enkel im Arm halten. Die Operation ist riskant, und wenn er sie nicht überlebt, ist dies vielleicht der letzte Tag, den er mit ihnen verbringt. Und wenn das so ist, dann mag das für diesen herrlichen Sonnentag noch so furchtbar sein, aber es muss jetzt gesagt werden.

»Und, Vater, was willst du uns sagen?«, drängt Cibi.

»Cibi, Magda, wisst ihr, was ein Versprechen ist?«, fragt er bedächtig. Er will, dass sie die Sache ernst nehmen.

Magda schüttelt den Kopf: »Nein.«

»Ich glaube schon«, sagt Cibi. »Das ist, wenn zwei Leute ein Geheimnis haben, oder?«

Menachem lächelt. Cibi wird es zumindest immer versuchen, genau das liebt er an ihr am meisten. »Nahe dran, Liebling, aber zu einem Versprechen können auch mehr als zwei Leute gehören. Ich möchte, dass dieses Versprechen euch dreien gehört. Livi wird es noch nicht verstehen, deshalb sollt ihr ihr immer davon erzählen, bis sie es auch versteht.«

»Aber ich verstehe es ja selbst nicht, Vater«, wirft Magda ein. »Du bist ganz durcheinander.«

»Es ist ganz einfach, Magda.« Menachem lächelt. Nichts macht ihm so viel Freude wie ein Gespräch mit seinen Mädchen. Es kribbelt in seiner Brust; er muss sich an diesen Augenblick erinnern, an diesen sonnigen Tag, die großen Augen seiner drei Töchter. »Ich möchte, dass ihr mir und euch gegenseitig versprecht, dass ihr immer aufeinander aufpasst. Dass ihr immer füreinander da seid, egal, was kommt. Dass ihr niemals zulasst, dass euch irgendwer voneinander trennt. Versteht ihr?«

Magda und Cibi nicken, und Cibi fragt plötzlich ganz ernst: »Ja, Vater, aber warum sollte uns jemand trennen wollen?«

»Ich sage ja nicht, dass das passiert, ich möchte nur, dass ihr mir versprecht: Wenn jemand versucht, euch zu trennen, erinnert ihr euch, worüber wir heute hier gesprochen haben, und tut alles, was in eurer Macht steht, damit das nicht passiert. Zusammen seid ihr drei stärker, das dürft ihr nie vergessen.« Menachems Stimme schwankt, er räuspert sich.

Cibi und Magda wechseln einen Blick. Livi sieht von einer Schwester zur anderen, dann zum Vater; sie merkt, dass es ein feierlicher Moment ist, aber sie begreift nicht, was das bedeutet.

»Ich verspreche es, Vater«, sagt Magda.

»Cibi?«, fragt Menachem.

»Ich verspreche es auch, Vater. Ich verspreche, auf meine Schwestern aufzupassen – ich lasse nicht zu, dass jemand ihnen etwas antut, das weißt du.«

»Ja, das weiß ich, meine liebe Cibi. Dieses Versprechen wird ein Pakt zwischen euch dreien und sonst niemandem. Erzählt ihr Livi von diesem Pakt, wenn sie alt genug ist, um es zu verstehen?«

Cibi nimmt Livis Gesicht in die Hände und dreht es zu sich, sieht ihr in die Augen. »Livi, sag ›versprechen‹. Sag ›Ich verspreche es‹.«

Livi mustert ihre Schwester. Cibi nickt, redet ihr zu, ihr die Worte nachzusprechen.

»Ich verspleches«, sagt Livi.

»Jetzt sag es zu Vater, sag ›Ich verspreche es‹ zu Vater«, weist Cibi sie an.

Livi dreht sich zu ihrem Vater, ihre Augen tanzen, das Glucksen in ihrer Kehle droht herauszubrechen, sein warmes Lächeln lässt ihr kleines Herz aufgehen. »Ich verspleches, Vater. Livi versplecht es.«

Er drückt seine drei Mädchen an die Brust, und über Cibis Kopf hinweg lächelt er dem anderen Mädchen in seinem Leben zu, der Mutter seiner Töchter, die in der Tür zum Haus steht mit glitzernden Tränen auf den Wangen.

Er hat zu viel zu verlieren; er muss überleben.

Kapitel 1

Vranov nad Topľou, SlowakeiMärz 1942

»Bitte sagen Sie mir, dass alles gut wird, ich mache mir solche Sorgen«, fleht Chaya, während der Arzt ihre achtzehnjährige Tochter untersucht.

Magda kämpft seit Tagen mit Fieber.

»Ja, Frau Meller, Magda wird wieder gesund«, beruhigt Dr. Kyselý sie.

In dem winzigen Zimmer stehen zwei Betten: In einem schläft Chaya mit ihrer Jüngsten, Livi; und das andere teilt Magda sich mit ihrer älteren Schwester Cibi, wenn sie zu Hause ist. An einer der Wände steht ein großer Schrank, vollgestopft mit dem kleinen persönlichen Besitz der vier Frauen im Haus. Auf dem Ehrenplatz: der kristallene Parfümzerstäuber mit smaragdgrünem Schlauch und Quaste und daneben ein körniges Foto. Ein gut aussehender Mann sitzt auf einem einfachen Stuhl, auf einem Knie ein Kleinkind, auf dem anderen ein älteres Mädchen. Ein noch älteres Mädchen lehnt links neben ihm. Zu seiner Rechten steht die Mutter der Mädchen, die Hand auf der Schulter ihres Mannes. Mutter und Töchter tragen weiße Spitzenkleider, und zusammen sind sie eine bildschöne Familie – zumindest waren sie das.

Als Menachem Meller auf dem OP-Tisch starb – die Kugel war endlich draußen, aber der Blutverlust zu groß –, wurde Chaya zur Witwe und die Mädchen vaterlos. Izák, Chayas Vater und der Großvater der Mädchen, zog in das Häuschen, um zu helfen, wo er konnte, und Chayas Bruder Ivan lebt im Haus gegenüber.

Chaya ist nicht allein, so allein sie sich auch fühlt.

Im Schlafzimmer sind die schweren Vorhänge zugezogen und schützen die mit Schüttelfrost daliegende Magda vor der hellen Frühlingssonne, die jetzt über die Vorhangstange hereinblitzt.

»Können wir im anderen Zimmer reden?« Dr. Kyselý fasst Chaya am Arm.

Livi, die mit übergeschlagenen Beinen auf dem anderen Bett sitzt, sieht zu, wie Chaya ein frisches feuchtes Tuch auf Magdas Stirn legt.

»Bleibst du bei deiner Schwester?«, bittet die Mutter, und Livi nickt.

Als die Erwachsenen den Raum verlassen, geht Livi hinüber zum Bett ihrer Schwester und legt sich neben sie; sorgsam wischt sie ihr mit einem trockenen Handtuch den Schweiß vom Gesicht.

»Du wirst wieder gesund, Magda. Ich lasse nicht zu, dass dir etwas passiert.«

Magda zwingt sich zu einem Lächeln. »Das ist mein Text. Ich bin deine große Schwester, ich passe auf dich auf.«

»Dann werde gesund.«

Chaya und Dr. Kyselý gehen die paar Schritte vom Schlafzimmer in den Wohnraum des kleinen Hauses. Der Eingang führt direkt in diesen gemütlichen Raum mit dem Kochherd an der Rückwand.

Am Spülstein steht Izák, der Großvater, und wäscht sich die Hände. Eine Spur aus Hobelspänen zeigt seinen Weg aus dem Garten an, und auf dem verblichenen blauen Filzteppich liegen noch mehr. Erschrocken fährt er herum, Wasser spritzt auf den Boden. »Was ist los?«, fragt er.

»Izák, ich bin froh, dass Sie da sind, kommen Sie, setzen Sie sich zu uns.«

In Chayas Augen steht Angst, als sie sich zu dem jungen Arzt umwendet. Dr. Kyselý lächelt und führt sie zu einem Küchenstuhl, zieht von dem kleinen Tisch einen anderen herüber, auf dem Izák sitzen kann.

»Geht es ihr sehr schlecht?«, fragt Izák.

»Sie wird wieder gesund. Sie hat einen Infekt, nichts, woran ein gesundes junges Mädchen zugrunde geht.«

»Warum dann das hier?« Chaya weist mit der Hand auf sich und den Arzt.

Dr. Kyselý holt einen dritten Stuhl und setzt sich. »Ich möchte Ihnen keine Angst machen mit dem, was ich Ihnen jetzt sage.«

Chaya nickt kaum; er soll endlich mit der Sprache herausrücken. Die Jahre seit Kriegsbeginn haben sie verändert: Ihre einst glatte Stirn ist faltig, und sie ist so mager, dass die Kleider an ihr herunterhängen wie nasse Lappen.

»Also, was ist?«, fragt Izák. Die Verantwortung für seine Tochter und die Enkelinnen hat ihn vorzeitig altern lassen, er hat keine Zeit mehr für lange Spielchen.

»Ich möchte Magda ins Krankenhaus einweisen …«

»Was? Gerade haben Sie gesagt, sie wird wieder gesund!«, fährt Chaya auf. Sie springt auf, umklammert den Tisch.

Dr. Kyselý hebt eine Hand, um sie zu beruhigen. »Nicht weil sie krank ist. Ich will Magda aus einem anderen Grund einweisen, und wenn Sie mir zuhören, erkläre ich es Ihnen.«

»Um Himmels willen, wovon reden Sie?«, fragt Izák. »Spucken Sie’s aus.«

»Frau Meller, Izák, ich höre Gerüchte, furchtbare Gerüchte – von jungen Juden, Mädchen und Jungen, die aus der Slowakei deportiert werden zum Arbeitsdienst für die Deutschen. Wenn Magda im Krankenhaus ist, ist sie in Sicherheit, und ich sorge dafür, dass ihr nichts zustößt. Versprochen.«

Chaya sinkt auf ihrem Stuhl zusammen, die Hände aufs Gesicht gepresst. Das hier ist viel schlimmer als Fieber.

Izák hat ihr abwesend über den Rücken gestrichen, aber jetzt horcht er genau auf jedes Wort, das der Arzt ihnen sagt. »Und weiter?«, fragt er, sieht dem Arzt in die Augen, drängt ihn, freiheraus zu sprechen.

»Wie gesagt, Gerüchte und Gerede, aber alles nichts Gutes für die Juden. Wenn sie eure Kinder holen, ist das der Anfang vom Ende. Ein Arbeitsdienst für die Nazis? Keine Ahnung, was das bedeutet.«

»Was können wir tun?«, fragt Izák. »Wir haben schon alles verloren – das Recht zu arbeiten, unsere Familien zu ernähren … Was können sie uns noch wegnehmen?«

»Wenn das, was ich höre, irgendeine Grundlage hat, wollen sie eure Kinder.«

Chaya richtet sich auf. Ihr Gesicht ist rot, aber sie weint nicht. »Und Livi? Wer schützt Livi?«

»Ich glaube, sie interessieren sich nur für Ältere. Livi ist fünfzehn, oder?«

»Sechzehn.«

»Also fast noch ein Baby.« Dr. Kyselý schmunzelt. »Ich glaube, Livi passiert nichts.«

»Und wie lange soll Magda im Krankenhaus bleiben?«, fragt Chaya. Sie wendet sich an ihren Vater. »Sie wird nicht gehen wollen, sie will Livi nicht allein lassen. Weißt du noch, Vater, als Cibi wegging, hat sie Magda das Versprechen abgenommen, dass sie auf ihre kleine Schwester aufpasst.«

Izák tätschelt Chaya die Hand. »Wenn wir sie retten wollen, muss sie gehen, ob sie will oder nicht.«

»Ich denke, ein paar Tage, vielleicht eine Woche, mehr brauchen wir nicht. Wenn die Gerüchte stimmen, passiert es bald, und danach bringe ich sie nach Hause. Und Cibi? Wo ist sie?«

»Sie kennen Sie, sie ist bei der Hachschara.« Chaya weiß nicht, was sie von der Hachschara halten soll – dort werden junge Menschen wie Cibi in Kursen auf alles vorbereitet, was sie für ein neues Leben in Palästina brauchen, weit weg von der Slowakei und dem Krieg, der in Europa wütet.

»Dann lernt sie immer noch, den Boden zu bestellen?«, scherzt der Arzt, aber weder Chaya noch Izák lächeln.

»Wenn sie auswandert, wird sie genau das vorfinden – jede Menge fruchtbares Land, das darauf wartet, bestellt zu werden«, sagt Izák.

Chaya dagegen bleibt stumm, in Gedanken verloren. Ein Kind im Krankenhaus, ein anderes jung genug, um den Klauen der Nazis zu entgehen. Und das dritte, Cibi, ihre Älteste, gehört jetzt zu einer zionistischen Jugendbewegung, deren Ziel es ist, eine Heimat für die Juden zu schaffen, wann immer es dazu kommen mag.

Längst haben sie alle begriffen, dass sie jetzt ein Gelobtes Land brauchen, und je eher, desto besser. Doch für den Moment, glaubt Chaya, sind ihre drei Kinder wenigstens in Sicherheit.

Kapitel 2

Im Wald außerhalb von Vranov nad Topľou, SlowakeiMärz 1942

Cibi duckt sich, als ein Stück Brot an ihrem Kopf vorbeifliegt. Vorwurfsvoll sieht sie zu dem jungen Mann hinüber, der es geworfen hat, aber das Zwinkern ihrer Augen sagt etwas anderes.

Cibi hat nicht gezögert, als der Aufruf kam; eifrig folgte sie dem Gedanken, in einem neuen Land ein neues Leben zu beginnen. Auf einer Lichtung mitten im Wald, weit weg von spähenden Augen, wurden ein paar Schlafhütten errichtet, dazu ein Gemeinschaftsraum und eine Küche. Jeweils zwanzig Jugendliche auf einmal lernen dort, autark zu sein, in einer kleinen Gemeinschaft zu leben und zu arbeiten, sich auf ein neues Leben im Gelobten Land vorzubereiten.

Verschafft hat ihnen diese Chance der Onkel eines der Jungen, der auch an dem Kurs teilnimmt. Jozef ist zwar zum Christentum konvertiert, aber trotzdem bekümmert ihn die Notlage der Juden in der Slowakei. Mit seinem Vermögen hat er im Wald vor den Toren der Stadt ein Stück Land erworben, einen sicheren Ort, an dem die Jungen und Mädchen sich für ihren Kurs versammeln können. Nur eine Regel hat Jozef aufgestellt: Jeden Freitagmorgen müssen alle nach Hause, vor dem Sabbat, und sie dürfen erst am Sonntag zurückkehren.

Seufzend sieht Jozef zu, wie Yosi in der Küche mit einem Stück Brot nach Cibi wirft. Für diese Gruppe laufen schon die Reisevorbereitungen – in zwei Wochen werden sie aufbrechen. Sein Ausbildungslager funktioniert: Acht Gruppen sind bereits nach Palästina unterwegs – und trotzdem machen sie hier noch Unfug.

»Wenn uns in Palästina nicht die Hitze umbringt, tut es dein Essen, Cibi Meller!«, ruft der Angreifer Cibi zu. »Vielleicht solltest du es dabei belassen, Essen anzubauen.«

Cibi springt auf den jungen Mann zu und legt ihm den Arm ums Genick. »Wenn du mich weiter mit Dingen bewirfst, wirst du es nicht mehr lebendig bis Palästina schaffen«, erklärt sie und drückt ein kleines bisschen zu.

»Gut jetzt, alle miteinander!«, ruft Jozef. »Jetzt esst auf und seht zu, dass ihr nach draußen kommt. In fünf Minuten beginnt die Übung.« Er bricht ab. »Cibi, brauchst du noch ein bisschen mehr Zeit in der Küche, um das Brotbacken zu üben?«

Sie lässt Yosis Nacken los und nimmt Haltung an. »Nein, Jozef, ich sehe da keine Verbesserung, egal, wie lange ich in der Küche stehe.«

Während sie noch spricht, rumpeln zwanzig Stühle über den Holzboden im improvisierten Speisesaal; zwanzig jüdische Jungen und Mädchen beenden eilig ihre Mahlzeit, ungeduldig, nach draußen zu kommen und weiterzuüben.

In krummen Reihen nehmen sie Haltung an, als ihr Ausbilder Jozef herankommt. Er strahlt vor Stolz auf seine tapferen Rekruten und ihre Bereitschaft, sich auf eine gefährliche Reise zu begeben, ihre Familien zurückzulassen, ihr Land, während rund um sie der Krieg und die NS-Besatzung wüten. Er ist älter und hat in weiser Voraussicht auf die Zukunft der Juden in der Slowakei die Hachschara ins Leben gerufen, weil er glaubt, dass das ihre einzige Chance ist, wenn sie das Bevorstehende überleben sollten.

»Guten Morgen«, sagt Jozef.

»Guten Morgen«, erwidern die jungen Leute.

»›An dem Tage schloss der Herr einen Bund mit Abram …‹?«, beginnt er, um ihre Kenntnis aus dem ersten Buch der Bibel zu testen.

»›Deinen Nachkommen gebe ich dies Land von dem Strom Ägyptens an bis an den großen Strom, den Euphrat‹«, entgegnet die Gruppe.

»›Und der Herr sprach zu Abram …‹?«

»›Geh aus deinem Vaterland und von deiner Verwandtschaft und aus deines Vaters Hause in ein Land, das ich dir zeigen will‹«, beenden sie den Vers.

Den feierlichen Moment unterbricht das Tuckern eines Lastwagens, der sich mühsam über die Lichtung kämpft. Er hält neben ihnen, ein Bauer klettert heraus.

»Yosi, Hana, Cibi«, ruft Jozef, »ihr seid heute die Ersten bei der Fahrstunde. Und Cibi, mir ist egal, wie gut du kochen kannst, aber du musst lernen, einen Lastwagen zu fahren. Geh es mit derselben Begeisterung an, wie du dich eben über Yosis Genick hergemacht hast, dann zeigst du bald schon den anderen, wie es geht. Ich will, dass jeder von euch eine Sache völlig beherrscht, damit ihr hier beim Üben helfen könnt. Verstanden?«

»Jawohl!«

»Und alle anderen rüber zur Scheune. Da stehen alle möglichen Ackergeräte, die lernt ihr zu benutzen und instand zu halten.«

Cibi, Hana und Yosi treten an die Fahrertür des Lastwagens.

»Dann mal los, Cibi, du zuerst. Aber versuch, ihn nicht kaputt zu machen, bevor Hana und ich an der Reihe sind«, stichelt Yosi.

Cibi stürzt sich auf Yosi, und wieder windet sie ihm einen Arm um das Genick.

»Ich fahre schon durch die Straßen von Palästina, wenn du noch nicht mal den ersten Gang findest«, schnaubt Cibi ihm ins Ohr.

»So, jetzt ist’s aber gut, ihr zwei. Cibi, rauf mit dir – ich setze mich auf die andere Seite«, mahnt der Bauer.

Als Cibi auf den Fahrersitz klettert, hilft Yosi von hinten mit einem kräftigen Schubser nach. Noch auf dem Trittbrett überlegt Cibi, wie sie reagieren soll. Sie beschließt, Yosi nachher genauso zu helfen, wenn er an der Reihe ist.

Yosi und Hana brüllen vor Lachen, als Cibi hinter dem Steuerrad mit lautem Knirschen den Motor in Gang bringt und den Weg hinunterholpert. Aus dem Fenster am Fahrersitz schiebt sich ein Arm, den Mittelfinger erhoben.

Kapitel 3

Vranov nad Topľou, SlowakeiMärz 1942

»Livi, schau nicht dauernd aus dem Fenster«, fleht Chaya. »Magda kommt nach Hause, wenn sie so gesund ist, dass sie aus dem Krankenhaus entlassen wird.« Sie fragt sich, ob es wirklich richtig war, Magda wegzuschicken. Wie immer wünscht sie, Menachem wäre da. Sie weiß, es ist eine absurde Vorstellung, aber sie hat das Gefühl, der Krieg, die Deutschen, die slowakische Kapitulation vor den Nazis – das alles wäre nicht passiert, wenn er noch leben würde.

»Aber, Mama, du hast gesagt, sie ist nicht so schlimm krank, warum ist sie dann immer noch im Krankenhaus? Seit Tagen schon.« Livi jammert, und Chaya möchte endlich einmal eine andere Frage hören. Diese hat sie schon zu häufig beantwortet.

»Du weißt, warum, Livi. Dr. Kyselý fand, wenn sie ein paar Tage Ruhe hat und nicht dauernd von dir erdrückt wird, wird sie schneller gesund.« Chaya erlaubt sich ein kleines Zwinkern.

»Ich habe sie nicht erdrückt!«, protestiert Livi. Schmollend rückt sie vom Fenster ab und lässt den Vorhang fallen, um eine Welt auszusperren, die immer verwirrender und bedrohlicher wird. Ihre Mutter lässt sie immer weniger gern aus dem Haus, nicht einmal zum Einkaufen oder zu ihren Freundinnen; sie redet auf Livi ein, die Augen der Hlinka-Garde sind überall und warten nur darauf, junge Jüdinnen wie sie aufzugreifen.

»Ich fühle mich wie im Gefängnis! Wann kommt denn Cibi nach Hause?« Livi beneidet Cibi um ihre Freiheit, um ihre Pläne, ins Gelobte Land zu gehen.

»In zwei Tagen kommt sie zurück. Bleib einfach nur vom Fenster weg.«

Bei dem lauten Klopfen an der Haustür kommt Izák aus der Küche gelaufen, wo er gerade aus einem Stück Holz einen Davidstern schnitzt. Als er der Tür zustrebt, hebt Chaya die Hand. »Nein, Vater, lass mich das machen.«

Vor der Tür stehen zwei junge Männer von der Hlinka-Garde. Es läuft ihr kalt den Rücken hinunter. Die regimetreue Truppe – schlimmer noch, das Fußvolk Adolf Hitlers – steht in bedrohlicher schwarzer Uniform vor ihr. Weder sie noch irgendeinen Juden in der Slowakei werden diese Leute beschützen.

»Ach, hallo, Visik, wie geht’s? Und deine Mutter, wie geht es Irena?« Chaya verbietet es sich, ihnen ihre Angst zu zeigen. Sie weiß, warum sie hier sind.

»Gut, danke …«

Der zweite Gardist tritt einen Schritt vor. Er ist größer, sichtlich verärgert und weitaus aggressiver als der junge. »Wir sind nicht hier, um Freundlichkeiten auszutauschen. Sie sind Frau Meller?«

»Das wissen Sie doch.« Das Herz klopft Chaya bis zum Hals. »Und, was kann ich für euch tun, Jungs?«

»Nennen Sie uns nicht Jungs.« Der ältere Gardist spuckt die Worte förmlich aus. »Wir sind die patriotische Hlinka-Garde in offiziellem Auftrag.«

Chaya weiß, dass das Unsinn ist: Patriotisch sind sie ganz bestimmt nicht. Diese Männer wurden von der SS ausgebildet und gehen gegen ihr eigenes Volk vor. »Tut mir leid, ich meinte das nicht despektierlich. Womit kann ich euch helfen?« Chaya bleibt ruhig, sie hofft, dass die beiden ihre Hände nicht zittern sehen.

»Sie haben Töchter?«

»Das wissen Sie.«

»Sind sie hier?«

»Sie meinen, jetzt im Moment?«

»Frau Meller, bitte sagen Sie uns, ob sie hier bei Ihnen leben, jetzt im Moment.«

»Im Moment lebt Livi, meine Jüngste, hier.«

»Wo sind die anderen?« Der zweite Gardist tritt noch einen Schritt näher.

»Magda ist im Krankenhaus. Sie ist sehr krank, und ich weiß nicht, wann sie nach Hause kommt, und Cibi … Tja, Visik, du weißt, was Cibi tut und warum sie nicht hier ist.«

»Bitte, Frau Meller, bitte hören Sie auf, mich beim Namen zu nennen, Sie kennen mich nicht«, fleht Visik, dem ihre Vertraulichkeiten vor seinem Kameraden peinlich sind.

»Dann hat sich Livi am Freitag um siebzehn Uhr an der Synagoge zu melden.« Der zweite Gardist späht, während er spricht, an Chaya vorbei ins Haus. »Sie kann eine Tasche mitbringen. Von dort wird sie zum Arbeitsdienst für die Deutschen gebracht. Sie muss allein kommen, niemand darf sie begleiten. Das ist ein Befehl, verstehen Sie?«

»Ich sagte es gerade!« Chaya ist plötzlich am Ende, ihre Augen brennen vor Angst. »Ihr könnt Livi nicht mitnehmen – sie ist erst sechzehn.« Chaya streckt die Hand nach Visik aus und sieht ihn flehentlich an. »Sie ist noch ein Kind.«

Beide Männer treten einen Schritt zurück, sie wissen nicht recht, wozu Chaya fähig ist. Der zweite Gardist greift nach der Waffe an seinem Gürtel.

Izák tritt heran und zieht Chaya nach hinten.

»Sie haben unsere Befehle – der Name Ihrer Tochter steht auf der Liste mit den Mädchen, die weggebracht werden.«

Visik beugt sich vor und zischt: »Es wird schlimmer für sie, wenn sie nicht auftaucht.« Er drückt die Brust heraus, um zu seiner Autorität zurückzufinden, und mit gerecktem Kinn und triumphierendem Grinsen durchquert er den Vorgarten.

Chaya sieht zu Livi, die jetzt in den Armen ihres Großvaters liegt. Izáks schmerzverzerrtes Gesicht kann nicht seine Wut verbergen und seine Scham, dass er seine jüngste Enkelin nicht schützen kann.

»Schon gut, Großvater. Mama, ich kann doch ruhig für die Deutschen arbeiten. Bestimmt dauert es nicht lange. Es ist ja nur Arbeit – wie schlimm kann das schon sein?«

Der Raum wird plötzlich dunkler. Die Sonne, die zuvor noch durch das Fenster schien, ist jetzt von dunklen Wolken verdeckt, die durch die vorgezogenen Vorhänge zu erkennen sind, ein Donner grollt, und kurz darauf trommelt kräftiger Regen aufs Dach.

Chaya mustert Livi, ihre kleine Kämpferin, deren blaue Augen und tanzende Locken nicht über ihre Entschlossenheit hinwegtäuschen können. Livi erwidert den Blick ihrer Mutter, doch die wendet sich schließlich ab und knetet den Stoff ihres Kleids: ein Zeichen, ihr Zeichen, dass es ihr das Herz zerreißt; der Schmerz in ihrer Brust ist ein Eingeständnis ihrer Machtlosigkeit.

Es gibt keine Worte. Auf dem Weg ins Schlafzimmer berührt Chaya im Vorbeigehen Livis Arm, ohne sie anzusehen. Livi und Izák hören, wie die Tür zufällt.

»Soll ich …?«

»Nein, Livi, lass sie. Sie kommt schon wieder, wenn sie fertig ist.«

Kapitel 4

Vranov nad Topľou, SlowakeiMärz 1942

»Was machst du da, Livi? Bitte nimm die Kerzen vom Fenster weg.«

Chaya wischt sich die mehligen Hände an der Schürze ab, während sie zu Livi tritt. Warum muss sie unbedingt am Fenster hängen? Vor zwei Tagen hat die Hlinka-Garde ihr gesagt, dass sie ihre jüngste Tochter hergeben muss. Heute ist ihr letzter Abend gemeinsam unter einem Dach. Chaya schließt die Augen und schilt sich selbst. Warum musste sie sie zurechtweisen? Warum hat sie die letzten Tage praktisch völlig stumm, in sich selbst versunken, mit Grübeln zugebracht, wo sie doch diese kostbaren Stunden damit hätte verbringen sollen, mit Livi zu reden, Livi zu lieben.

»Nein, Mama, ich muss sie im Fenster lassen. Ich leuchte Cibi den Weg nach Hause.«

»Aber du weißt doch, wir dürfen keine …«

»Das ist mir egal! Was können sie schon machen, etwa mich mitnehmen? Das tun sie morgen sowieso! Wenn das hier für die nächste Zeit mein letzter Abend zu Hause ist, möchte ich Kerzen im Fenster haben.«

Unterdessen ist Cibi beim Haus angekommen, unbemerkt von Mutter und Schwester. Jetzt stürmt sie durch die Haustür und ruft: »Kätzchen, wo bist du?«

Livi quietscht vor Freude und wirft sich Cibi in die Arme. Chaya versucht vergeblich, ihre Tränen zurückzuhalten.

»Habe ich da den leichten Schritt meiner ältesten Enkelin auf der Schwelle gehört?«, flötet Izák mit seiner typischen humorvollen Wärme.

Mit Cibi und Livi liegen sich nun auch Chaya und Isák im Arm.

»Mama, ich habe von der Straßenecke an dein Essen gerochen. Ich musste viel zu lange mein eigenes Essen verdrücken – ich sterbe vor Hunger.«

»Und doch bist du da und lebst noch«, witzelt Izák.

Chaya lässt Livi von Magdas Einweisung ins Krankenhaus erzählen und berichtet beschwichtigend von Dr. Kyselýs guter Prognose. Als Livi fertig ist, nickt Chaya Izák zu.

»Livi«, sagt er, »komm und hilf mir Feuerholz reintragen. Es gibt eine kalte Nacht, und wir wollen die Küche warm halten.«

»Muss ich? Cibi ist eben erst gekommen, und ich möchte nichts von ihren Abenteuern verpassen«, mault Livi.

»Dafür haben wir noch jede Menge Zeit. Jetzt komm, geh dem alten Mann zur Hand.«

Sobald Izák und Livi die Küchentür hinter sich zugemacht haben, wendet sich Cibi an ihre Mutter. »Also, was ist hier los?«

»Komm.« Chaya geht voraus ins Schlafzimmer und schließt hinter ihnen die Tür.

»Du machst mir Angst, Mama. Bitte.«

Chaya holt tief Luft. »Deine Schwester muss für die Deutschen arbeiten, die Hlinka waren da.« Chaya kann Cibi nicht ins Gesicht sehen, dann zwingt sie sich doch dazu. »Sie wurde für morgen zur Synagoge beordert. Ich weiß nicht, wo sie sie hinbringen, aber wir hoffen, dass es nicht lange dauert und dass … dass …« Chaya lässt sich aufs Bett fallen, aber Cibi bleibt stehen, den Blick starr auf die Stelle gerichtet, an der ihre Mutter eben noch stand.

»Aber das geht nicht. Sie ist noch ein Kind – was soll sie denn für die Deutschen tun?« Cibi redet mehr mit sich selbst als mit ihrer Mutter. »Kann Onkel Ivan uns nicht helfen?«

Chaya schluchzt in ihre Hände. »Niemand kann uns helfen, Cibi. Ich … ich konnte sie nicht aufhalten. Ich konnte nicht mal …«

Cibi setzt sich neben ihre Mutter und nimmt ihr die Hände aus dem Gesicht. »Mutter, ich habe versprochen, auf meine Schwestern aufzupassen. Hast du das vergessen?«

Die Mellers sitzen um den mit Kerzen geschmückten Tisch und teilen ein Mahl, und alle fragen sich, wann sie das wohl wieder tun werden. Sie beten für Magda; für den verstorbenen Vater; und für Izáks selige Frau, ihre Großmutter. Sie versuchen, miteinander zu spaßen wie immer, aber was vor ihnen liegt, wirft einen düsteren Schatten auf ihre Runde.

Als die Teller leer sind, greift Chaya nach Livis Hand. Cibi reicht eine Hand Izák neben ihr und die andere ihrer Mutter. Livi nimmt die Hand ihres Großvaters, den Blick über den Tisch auf Cibi gerichtet. Der Familienkreis hält zusammen. Cibi erwidert Livis intensiven Blick. Chaya sieht nicht auf, Tränen rinnen ihr über die Wangen, die sie nicht zu verbergen versucht. Erst als Chaya ihr Schluchzen nicht mehr zurückhalten kann, sehen die Mädchen zu ihrer Mutter. Izák löst den Kreis und umarmt sie.

»Ich decke ab«, erklärt Livi ruhig und steht auf.

Als sie einen Teller hochhebt, nimmt Cibi ihn ihr aus der Hand. »Lass nur, Kätzchen, ich mache das. Mach du dich ruhig schon fürs Bett fertig.«

Ohne einen Einwand von Chaya oder Izák verlässt Livi leise die Küche.

Cibi stellt den Teller zurück auf den Tisch. »Ich gehe mit ihr«, flüstert sie. »Sie ist das Nesthäkchen, sie kann nicht allein gehen.«

»Was sagst du da?« Izák verzieht verwirrt das Gesicht.

»Ich gehe morgen mit Livi. Ich passe auf sie auf, und dann bringe ich sie euch zurück. Ihr wird nichts passieren, solange ich atme.«

»Aber auf ihrer Liste steht nur ihr Name; vielleicht lassen sie dich gar nicht mit.« Chaya schnieft.

»Sie können mich nicht aufhalten, Mama, das weißt du. Was Cibi will, bekommt sie. Du passt auf Magda auf, bis wir zurück sind.« Cibi hebt das Kinn. Der Entschluss ist gefasst. Im Kerzenlicht leuchtet ihr rötliches Haar, und ihre großen grünen Augen blinken.

»Das können wir nicht von dir verlangen«, sagt Izák, der ruhig zur Schlafzimmertür hinüberblickt.

»Das braucht ihr auch nicht, ich gehe von selbst. Jetzt werden wir zwei Taschen packen müssen.«

Chaya steht auf und umarmt ihre Große; in ihre dicken Haare flüstert sie: »Danke, danke!«

»Habe ich etwas verpasst?« Livi steht an der Schlafzimmertür, doch sie traut sich nicht, näher zu kommen, denn die Spannung in der Luft ist spürbar. Izák führt sie sanft an den Tisch zurück und auf ihren Stuhl.

»Kätzchen, weißt du was, ich gehe morgen mit dir!« Cibi zwinkert ihrer Schwester zu. »Du dachtest doch nicht, dass ich dir den Spaß allein überlassen würde, oder?«

»Was heißt das? Sie haben doch gar nicht deinen Namen, nur meinen.« Livi blickt genauso verwirrt wie kurz zuvor noch Izák. Sie spürt, wie der Mut sie verlässt: Sie kämpft mit den Worten, schnieft, um jetzt nicht zu weinen.

»Lass das meine Sorge sein. Du musst nur wissen, dass wir das jetzt gemeinsam durchstehen. Wer soll dich sonst herumkommandieren, wenn du ungezogen bist?«

Livi sieht zu Mutter und Großvater. »Habt ihr ihr gesagt, dass sie mitkommen soll?«

»Nein, nein, Kätzchen, keiner hat das von mir verlangt – ich will es selbst. Ich bestehe darauf – weißt du noch unser Versprechen an Vater, dass wir immer zusammenbleiben? Magda ist krank, daran können wir nichts ändern, aber du und ich werden dieses Versprechen halten, und bald werden wir wieder zurück sein.«

»Mama?«

Chaya legt ihre Hände um Livis Gesicht. »Deine Schwester geht mit dir, Livi. Verstehst du? Du brauchst das nicht allein zu schaffen.«

»Wenn nur Menachem hier wäre, er wüsste, was zu tun ist, wie er seine Töchter schützen könnte«, bringt Izák mit tränenerstickter Stimme heraus.

Chayas, Cibis und Livis Blick liegt auf dem alten Mann, der jetzt zu weinen beginnt. Er fühlt sich so schuldig, machtlos, weil er diese Mädchen nicht schützen kann.

Die drei Frauen umarmen ihn.

»Großvater, du bist der einzige Vater, an den ich mich erinnern kann – du hast mich mein ganzes Leben lang beschützt, und ich weiß, dass du für Cibi und mich da bist, selbst wenn wir nicht mehr alle zusammen sind. Bitte, wein nicht«, bettelt Livi, »du musst hierbleiben und auf Mama aufpassen und auf Magda.«

»Wenn Menachem noch bei uns wäre, könnte er auch nichts tun, was du nicht getan hast, Vater«, ergänzt Chaya. »Du hast uns vor allem beschützt, seit er tot ist, das darfst du nicht vergessen.«

Dieses eine Mal weiß Cibi nichts zu sagen. Sie wischt Izák die Tränen von den Wangen, und diese Geste spricht die Worte aus, die sie nicht findet.

Livi löst die Spannung, indem sie von einem zum anderen schaut und dann zurück auf den Küchentisch. »Soll ich abräumen?«

Sofort fängt Izák an, die Teller zu stapeln. »Das mache ich. Ihr Mädchen ruht euch aus.«

Cibi kommt ins Schlafzimmer, macht aber keine Anstalten, sich auszuziehen.

»Alles in Ordnung?«, fragt Chaya vom Bett aus. Livi schmiegt sich an die Seite ihrer Mutter.

»Ist da noch Platz für mich? Ich möchte heute gern bei euch schlafen.«

Während Cibi sich umzieht, schiebt Chaya die Decke zur Seite, und dann kuscheln sich die drei Frauen für ihre letzte gemeinsame Nacht eng aneinander. Cibi sieht auf Magdas leeres Bett und malt sich aus, wie böse die Schwester sein wird, wenn sie feststellt, dass sie zurückgelassen wurde. Sie denkt an das Versprechen ihrem Vater gegenüber, dass sie zusammenhalten werden, aber was können sie schon tun?

Als ihre Töchter schlafen, setzt Chaya sich auf, die Arme gegen die Kälte um die Brust geschlungen. Die schweren Vorhänge sind heute offen geblieben, und das Mondlicht wirft scharfe Strahlen auf die Gesichter ihrer Töchter.

Kleine Haufen: Kleider, Pullover, dicke Strümpfe und Unterwäsche stapeln sich auf den Betten. Chaya nimmt ein Kleidungsstück nach dem anderen, mustert es, erinnert sich, wann es genäht oder angeschafft wurde, und dann legt sie es in einen der beiden kleinen Koffer. Mit Bedacht nehmen sie von allem nur das Zweitbeste – Chaya hat darauf bestanden, dass ihre guten Kleider im Schrank hängen bleiben für ihre Rückkehr. Trotzdem versucht sie zu packen, was ihre Töchter am liebsten mögen. Cibi zieht immer nur einfarbige Röcke und Blusen an – was Magda, die schließlich Cibis sämtliche Kleider erbt, immer zur Weißglut bringt, denn sie träumt eigentlich von hübschen Blumenkleidern mit passenden Tüchern. Auch Livi mag Kleider lieber, aber eher aus praktischen Gründen: Zwei Kleidungsstücke anzuziehen dauert länger, als in ein einziges Kleid zu schlüpfen – welche Zeitverschwendung. Für Livi kommen drei Kleider mit, dazu mehrere Tücher, um ihre widerspenstigen Haare zu bändigen.

Izák kommt herein, in den Händen mehrere Dosen Sardinen und unter dem Arm einen Kuchen, den Chaya für die heutige Sabbatfeier gebacken hat – doch weder Cibi noch Livi werden zum Sabbatmahl noch da sein. Er schiebt die Kleider zur Seite und legt das Essen auf das Bett.

»Großvater, nimmst du Livi mit raus? Sie würde bestimmt gern mit dir spazieren gehen. Das hier erledigen Mama und ich«, sagt Cibi.

»Kann ich nicht helfen?«, wendet Livi ein.

»Wir machen das, Kätzchen. Geh du nur mit Großvater.«

Angesichts des Kummers ihrer Mutter verkneift Livi sich den Widerspruch.

»Packt für mich nichts von diesem Kuchen ein – ihr wisst, ich mag den nicht besonders. Behaltet du und Großvater ihn.«

Cibi grämt sich zutiefst, dass sie die Hachschara verlässt, ohne Bescheid zu sagen, wohin sie geht. Am Sonntag werden sie sie im Lager zurückerwarten. Sie denkt an Yosi, seine lächelnden Augen … Wie lange wird sie fort sein? Palästina wird vorerst warten müssen, aber eines Tages wird sie hinfahren, mit ihren Schwestern, sogar mit ihrer Mutter und dem Großvater.

»Mama, so viel brauchen wir doch nicht! Und eher noch robustere Kleider – Hosen, falls es nachts kalt ist, und jede einen Mantel. Häng doch bitte die Kleider zurück.«

Bei all ihrem Elend muss Chaya unwillkürlich lachen. »Du bist wirklich clever, meine Cibi. Ich weiß, du schaffst es, deine Schwester zu beschützen.« Sie seufzt, dann fällt ihr ein, was sie Cibi noch sagen wollte: »Bitte tu, was sie dir sagen, wenn du weg bist – bei uns bist du dein Leben lang durchgekommen mit deiner Widerrede, aber ich glaube, jetzt ist nicht der Moment, immer zu sagen, was du denkst.«

»Ich weiß nicht, was du meinst«, erwidert Cibi und versucht, ein Kichern zurückzuhalten.

»Ich glaube, du weißt genau, worum ich dich bitte. Denk, bevor du redest, mehr ist es nicht.«

»Genügt es dir, wenn ich sage, dass ich mich bemühe?«

»Ja. Jetzt lass uns diese Koffer fertig machen. Wir müssen noch etwas zu essen unterbringen.«

»Aber wir werden doch wohl zu essen bekommen!«, ruft Cibi. »Wir brauchen auch Bücher; ich suche ein paar aus.« Sie geht ins Wohnzimmer und mustert die Bücher im Regal.

»Bring mir von dem Lindenblütentee!«, ruft Chaya. »Den könnt ihr auch kalt trinken, wenn es kein warmes Wasser gibt. Wenn es dir oder Livi nicht gut geht, tut der Wunder.«

Allein im Schlafzimmer, nimmt Chaya wieder jedes einzelne Kleidungsstück, vergräbt ihr Gesicht darin und atmet den so vertrauten Geruch ihrer Mädchen ein. Sie sagt sich, dass sie stark sein muss: Ihre Mädchen sind so tapfer, sie werden tun, was die Deutschen von ihnen verlangen, und dann kommen sie wieder nach Hause. Magda wird schon verstehen, warum sie sie wegschicken mussten. Der Krieg wird zu Ende gehen, und das Leben wird wieder normal werden. Vielleicht ja schon zu Chanukka.

Kapitel 5

Krankenhaus Humenné, SlowakeiMärz 1942

»Ich will mit Dr. Kyselý sprechen!« Magda sitzt auf der Bettkante und bedrängt die Schwester, die zwei Betten weiter eine alte Frau versorgt. Die zwölf Metallbetten in zwei Reihen sind alle voll belegt. Das Schnarchen, Husten, Weinen und Stöhnen macht jeden längeren Schlaf unmöglich. Magda hat herausgefunden, was es bedeutet, wenn um ein Bett eine der Stellwände aus stoffbespannten Holzrahmen gestellt wird: dann passiert einer Patientin etwas Unangenehmes. Auf dem kleinen Nachttisch steht ein Foto von Magdas Familie.

An der Schmalseite des Krankensaals steht ein kleiner Tisch, von dem aus die diensthabende Krankenschwester ihr Revier überblickt und Anweisungen erteilt. »Geh wieder ins Bett, Magda. Dr. Kyselý kommt bald zur Visite, dann kannst du mit ihm sprechen.«

»Ich will nicht wieder ins Bett, ich will nach Hause. Es geht mir gut.«

»Tu, was ich dir sage, oder ich sage Dr. Kyselý, dass du ungezogen warst.«

Mit dem ewig gleichen Verdruss des Backfischs schwingt Magda laut seufzend die Füße ins Bett zurück und setzt sich im Schneidersitz auf ihre Decke. Sie langweilt sich, sie kann einfach nicht begreifen, warum sie immer noch hier ist – ihr Fieber ist seit gestern abgeklungen –, und sie sehnt sich nach Mama, Großvater und Livi. Ihre Mutter hat sie noch nicht besucht, auch das steigert ihr Unbehagen: Irgendetwas stimmt nicht, aber was? Wieder wünscht sie, Mama hätte sie mit Cibi zur Hachschara gelassen, aber als stets gehorsames Mittelkind waren Magda und ihre Hilfe im Haus einfach unverzichtbar.

Sie ist immer noch in Gedanken versunken, als Dr. Kyselý in den Krankensaal kommt und zu seiner ersten Patientin tritt. »Dr. Kyselý!«, ruft Magda.

Die Schwester kommt gelaufen und zischt, sie soll gefälligst still sein und warten, bis sie an der Reihe ist.

Dr. Kyselý beobachtet den Wortwechsel, sagt ein paar Worte zu seiner Patientin und kommt herüber zu Magda. »Guten Morgen, Magda! Wie geht es dir heute?«

»Bestens, Herr Doktor. Es ist wirklich überhaupt nichts mehr los, und ich möchte jetzt nach Hause. Meine Mutter und mein Großvater brauchen mich.«

Dr. Kyselý nimmt sich das Stethoskop vom Hals und horcht Magdas Brust ab. Die Frauen in den Nachbarbetten recken die Hälse, sie wollen sehen und hören, was er sagt. Alle langweilen sich schrecklich im Krankenhaus.

»Tut mir leid, Magda, aber da ist immer noch ein kleiner Infekt in deiner Brust. Du kannst noch nicht nach Hause.«

»Aber mir geht es gut«, widerspricht Magda.

»Wirst du wohl auf den Doktor hören?«, schimpft die Schwester.

Dr. Kyselý setzt sich auf Magdas Bettkante und winkt sie heran. »Magda, du musst mir gut zuhören«, flüstert er. »Es ist einfach besser für dich und deine Familie, wenn du noch ein paar Tage hierbleibst. Ich wollte es dir nicht so sagen müssen, aber offenbar geht es nicht anders.«

Magda reißt vor Schreck die blauen Augen auf. Auf Dr. Kyselý wirkt sie viel jünger als achtzehn: In ihrem dünnen Nachthemd und mit den Zöpfen könnte sie auch erst vierzehn oder fünfzehn sein. Sie nickt, damit der Arzt weiterspricht; ihr Gefühl stimmte, da ist irgendetwas sehr Merkwürdiges im Gange.

»Ich will dir keine Angst machen, aber die Wahrheit ist die Wahrheit.« Seufzend betrachtet der Arzt das Stethoskop in seinen Händen, dann sieht er Magda wieder in die Augen. »Die Hlinka holen junge Jüdinnen ab und bringen sie zum Arbeitsdienst für die Deutschen. Ich will dich möglichst bei deiner Familie behalten, und wenn du im Krankenhaus bist, bist du in Sicherheit. Verstehst du?«

Magdas Augen hüpfen zwischen Arzt und Schwester hin und her. In ihren Gesichtern stehen Sorge und Aufrichtigkeit. Sie hat auch schon davon gehört, dass die Deutschen junge Leute brauchen, die für sie arbeiten, aber sie hatte noch nie daran gedacht, dass diese »jungen Leute« auch sie und ihre Schwestern sein könnten. Ihr Herz beginnt zu rasen. Ihre Schwestern! Ist Cibi noch sicher im Wald? Und Livi?

»Meine Schwestern!«, stößt sie hervor; die Angst setzt ihr so zu, dass ihre Stimme kaum hörbar ist.

»Es ist alles gut, Magda. Cibi ist nicht zu Hause, und Livi ist zu jung. Du brauchst nur wegzubleiben, bis die Gardisten genug junge Leute gefunden haben, die sie wegschicken können, und danach gehst du nach Hause. Du musst jetzt nur noch eine Zeit lang tapfer sein. Lass dich von den Schwestern hier versorgen. Denk dran, deine Mutter und dein Großvater waren einverstanden, also bitte enttäusche sie nicht, Magda.«

Die Schwester nimmt Magdas Hand und lächelt ihr aufmunternd zu, aber Magda ist nicht munter. Sie hat es ihrem Vater versprochen, mit ihren Schwestern einen Pakt geschlossen, und jetzt ist jede von ihnen an einem anderen Ort, und keine weiß, wie es den anderen geht.

Magda kann nur zustimmend nicken; sie wird im Krankenhaus bleiben. Sie legt sich in ihr schmales Bett und starrt an die Decke, während in ihren Augen Tränen der Wut aufsteigen, des Frusts – und der Angst.

Kapitel 6

Vranov nad Topľou, SlowakeiMärz 1942

»Sieh dich nicht um, Livi, bitte. Ich flehe dich an, sieh dich nicht um.« Cibi und Livi durchqueren den Vorgarten, dann treten sie auf die Straße. Auf der Türschwelle steht ihre Mutter, in den Armen des Großvaters, und schluchzt. Eben hat Livi, als sie das Gartentor schloss, doch einen Blick zurückgeworfen. Ihr Klagelaut über den Kummer der Mutter war wie ein Stich in Cibis Herz, aber sie muss stark sein, für Livi, für ihre Mutter.

Cibi richtet sich auf, nimmt ihren kleinen Koffer in die andere Hand und fasst Livi um die Taille; so gehen die beiden Schwestern mit festen Schritten davon. »Geh einfach weiter, ja, so, pass dich meinem Schritt an, gut machst du das, Livi. Wir kommen ganz bald wieder nach Hause.«

Es ist ein heller Frühlingsnachmittag. Die Luft ist frisch und klar, der Himmel tiefblau. Livis dunkelbraune Locken glänzen in der Sonne, während Cibis Schopf beim Gehen wippt, auf und ab, auf und ab. Sie bemerken die Nachbarn, die in den Vorgärten herumstehen und zusehen, wie die Schwestern und die anderen jüdischen Mädchen der Synagoge zustreben. Instinktiv, vielleicht aus Sturheit, blicken Livi und Cibi starr geradeaus.

Cibi weiß nicht, ob ihre tröstenden Worte Livi irgendwie erreichen. Ihre Schwester lehnt sich an sie, ein bisschen zittert sie. Wo kommen sie hin? Was machen sie mit ihnen? Doch Cibis bohrendste Frage dreht sich um Livi: Wird sie sie bei sich behalten dürfen?

Livi ist sechzehn und klein für ihr Alter, wie soll sie da allein zurechtkommen?

»Eigentlich sollte Magda auch da sein«, unterbricht Livi ihre Gedanken. »Sollten wir nicht immer zusammen sein?«

»Magda ist in Sicherheit, und das ist im Moment am wichtigsten. Du und ich, wir haben einander – wir tun unsere Arbeit, kommen nach Hause, und dann sind wir wieder zusammen.«

»Und unser Pakt, Cibi, dass wir uns nie trennen …?«

»Das können wir jetzt nicht ändern.« So scharf wollte Cibi gar nicht klingen – jetzt weint Livi.

»Versprich mir, Cibi«, schluchzt Livi, »versprich mir, dass wir nach Hause kommen, zu Magda, Mama und Großvater.«

»Mein Kätzchen, ich verspreche dir, bald werden wir andersrum über diese Straße gehen, nach Hause. Ich weiß zwar nicht, wann – aber ich werde dich beschützen bis zu meinem letzten Atemzug, und das heißt, noch sehr lange. Glaubst du mir das, Livi?«

»Natürlich.« Livis Tränen sind für den Moment versiegt. Sie drückt Cibis Arm. »Schließlich bist du Cibi. Nichts kann Cibi aufhalten, sie bekommt, was sie will.« Mit wässrigen Augen sehen die Mädchen einander an.

Cibi bemerkt die anderen jungen Mädchen mit kleinen Koffern wie ihre, sie gehen in dieselbe Richtung. Sie sieht die weinenden Mütter, die von verstörten Vätern zurück in die Häuser gezogen werden. Sie sind mitten in einem Albtraum. Einige der Mädchen sind allein, andere mit Schwestern oder Cousinen, aber keine überquert die Straße und geht mit ihren Freundinnen. Aus irgendeinem Grund wissen sie, dass sie diesen Weg allein gehen müssen.

»Livi, weißt du, warum hier keine Jungen sind?«, fragt Cibi.

»Vielleicht haben sie die schon geholt.«

»Das hätten wir doch mitbekommen.«

»Warum also nur Mädchen, Cibi? Was taugen Mädchen schon für harte Arbeit?«

Cibi lacht gezwungen auf, damit sich nur irgendwie die Spannung löst. »Vielleicht ist irgendwem aufgefallen, dass wir alles können, was Jungen können.«

Der Befehl war unmissverständlich: Sie haben sich am Sabbat um siebzehn Uhr bei der Synagoge zu melden. Zum Empfang sehen sie zu beiden Seiten der Tür zum Gemeindehaus neben der eigentlichen Synagoge Hlinka-Gardisten stehen. Im Gemeindehaus gibt es einen großen Schulsaal, wo die Mädchen seit frühester Kindheit Religionsunterricht erhielten. Cibi steht wie immer staunend vor der Synagoge, diesem hoch aufragenden Gebäude, in dem sie und ihre Familie nach dem Tod ihres Vaters und der Großmutter beteten und Trost fanden. Dieser Ort, an dem sie sich in der Gemeinschaft ihres Volks immer sicher und geborgen fühlten, kann diesen Trost heute nicht mehr bieten. Die Nazis haben ihn zerstört. Die Hlinka-Garde hat ihn zerstört.

Die Mädchen werden im Schulsaal zusammengetrieben, während die wenigen Eltern, die trotz des Verbots gekommen sind, angeschrien, mit Stöcken geschlagen und heimgeschickt werden.

»Warte hier«, sagt Cibi zu Livi, stellt ihren Koffer ab und lässt ihre Schwester stehen. Sie läuft nach draußen und greift nach einem jungen Mädchen, das an seiner Mutter hängt und sich nicht von ihr lösen will. Ein Gardist schlägt die Frau brutal auf den Rücken, aber sie lässt ihre Tochter nicht los. In entsetztem Schweigen sieht ein Häufchen Menschen diesem furchtbaren Spektakel zu.

»Ich halte dich, komm.« In diesem Moment ist Cibis Mut sichtbarer als ihre Angst.

Das Mädchen muss seine Mutter loslassen, als Cibi es wegzieht. Weinend, schreiend reckt sie wieder die Arme nach ihr, doch die Mutter wird von den Gardisten weggeschleppt.

»Ich habe sie, ich kümmere mich um sie, Frau Goldstein!«, ruft Cibi und drängt das Mädchen – Rút – nach drinnen.

Immer mehr Mädchen kommen herein, die Angst steht ihnen auf den tränennassen Gesichtern. Der ganze Saal ist voller Trauer und Verzweiflung.

»Rút, Rút! Hier!«, ruft eine Stimme.

Cibi sieht sich um – da steht Eva, ihre Nachbarin, und winkt Rút Goldstein zu.

»Das ist doch deine Cousine, oder?«, fragt Cibi, und Rút nickt.

»Es geht jetzt«, erklärt sie Cibi mit einem vagen Lächeln. »Sie gehört zu meiner Familie.«

Cibi geht zurück zu Livi. »Lass uns eine Stelle an der Wand suchen, da ist es bequemer«, sagt sie und führt Livi aus der Mitte des Saals weg.

Die Schwestern bleiben stehen und warten auf Anweisungen; immer mehr Mädchen werden in den Saal gescheucht. Trotz der Kälte draußen ist es hier stickig und außerdem laut, weil überall Mädchen einander rufen und durcheinanderjammern. Bisher war dies ein Ort der glücklichen Kindheitserinnerungen, aber jetzt starrt er vor Feindseligkeit.

Als es dunkel wird, leuchten an der Decke zwei kleine Glühbirnen auf, die ein dumpfes gelbes Licht in den Saal werfen.

Plötzlich und ohne Vorwarnung wird die Tür zugeschlagen, und die Mädchen werden noch ängstlicher.

»Ich habe Angst, Cibi! Ich will nach Hause!«, ruft Livi.

»Ja, ich auch, aber das geht nicht. Komm, wir setzen uns ein bisschen.« Sie sitzen mit dem Rücken an der Wand, und Cibi stellt sich Livis Koffer zwischen die Beine, dann ihren. »Du musst unbedingt auf deine Sachen aufpassen, verstehst du? Lass sie nicht aus den Augen.«

»Was passiert mit uns?«, fragt Livi.

»Ich denke, wir bleiben vielleicht über Nacht hier, also machen wir’s uns gemütlich.« Cibi legt Livi den Arm um die Schulter, zieht sie an ihre Brust, hält sie fest. »Hast du Hunger, Livi, mein Kätzchen?«

Weinend schüttelt Livi den Kopf.

»Dann mach einfach die Augen zu und schlaf ein bisschen.«

»Ich kann jetzt auf keinen Fall schlafen.«

Irgendwo aus ihrem Innersten steigen in Cibi die Worte des tschechischen Schlaflieds auf, das sie vor langer Zeit der kleinen Livi vorsang. Leise fängt sie an zu singen.

Schlaf, kleines Engelchen,

Hajej můj andílku,

Schlaf, kleines Engelchen, lieg und schlaf ein,

Hajej můj andílku hajej

a spi,

Mütterchen wieget ihr Kindchen so fein.

matička kolíbá děťátko svý.

Lieg in der Wiege, mein Kleines, schlaf süß,

Hajej dadej, nynej, malej,

Mütterchen wieget ihr Kindchen so fein.

matička kolíbá děťátko svý.

Schlaf, kleines Engelchen, lieg und schlaf ein,

Hajej můj andílku hajej a spi,

Mütterchen wieget ihr Kindchen so fein.

matička kolíbá děťátko svý.

Lieg in der Wiege, mein Kleines, schlaf süß,

Hajej dadej, nynej, malej,

Mütterchen wieget ihr Kindchen so fein.

matička kolíbá děťátko svý.

Cibi drückt Livi an sich. Nach ein paar Minuten hört sie sie regelmäßig atmen. Cibi legt all die Liebe für ihre kleine Schwester in das schlafende Kind. »Ich lasse nicht zu, dass dir jemand etwas antut«, flüstert sie in Livis duftende Locken.

Den Rücken an die Wand gelehnt, sieht Cibi zu, wie andere Mädchen nach Raum zum Sitzen suchen, um einen Rücken zum Anlehnen handeln, um ein Plätzchen an der Wand. Einige öffnen ihre Koffer und holen kleine Döschen heraus, Stücke Brot, Käse. Sie bieten es den Umsitzenden an. Cibi denkt an die Hachschara, an das, was die anderen im Lager vorhaben. Am Sonntag werden sie sich fragen, wo sie ist, warum sie nicht zurückkommt. Sie versucht, nicht an Mutter und Großvater zu denken, die bei einer mageren Suppe zu Hause sitzen. Werden sie überhaupt essen können? Ob es wohl Magda besser geht? Wenn sie doch nur hier wäre, aber vielleicht ist sie im Krankenhaus besser aufgehoben.

Getröstet von diesem Gedanken, schließt Cibi die Augen und erinnert sich an bessere Tage.

»Wie ihr schlaft, sehen wir morgen, wenn wir wissen, wie viele von euch bleiben und den Kurs absolvieren wollen, um Teil der Hachschara zu werden. Jetzt sucht euch erst mal ein Plätzchen und versucht, ein bisschen zu schlafen. Versprochen, morgen bekommt ihr alle Betten, Matratzen, Decken und Kissen.«

»Wo sind denn die ganzen Jungen?«, ruft eines der Mädchen. Cibi fällt ihr vorlautes Grinsen auf, ihre blinkenden Augen.

»In einem anderen Teil des Lagers. Und bevor ihr loszieht, um sie zu suchen: Es ist weit bis dahin.«

»Ich bin Cibi, wie heißt du?«, fragt Cibi das vorlaute Mädchen. Sie liegen nebeneinander auf dem Holzboden und ziehen die Mäntel enger um sich, um sich vor dem Wind zu schützen, der durch die Schlitze in den Zeltwänden dringt.

»Alica. Nett, dich kennenzulernen, Cibi. Woher kommst du?«

»Aus Vranov. Und du?«

»Aus Bardejov, aber nicht mehr lange. Ich kann es gar nicht erwarten, nach Palästina zu kommen.«

»Das verstehe ich. Ich kann gar nicht glauben, dass ich wirklich hier bin.« Cibi kichert nervös.

»Meint ihr, wir haben den Kurs mit den Jungs zusammen?«, fragt Alica in den Raum.

»Bist du etwa nur deshalb hier? Um Jungs kennenzulernen?« Das Mädchen neben ihnen setzt sich auf.

»Nein, ich will nach Palästina«, erwidert Alica.

»Also, ich bin nur wegen der Jungs hier!«, ruft eine Stimme von hinten.

»Hände hoch, wer hier ist, um nach Palästina zu gehen!«, kräht Cibi so laut, dass alle sie hören können.

Alle Mädchen im Raum setzen sich auf, und alle heben die Hand.

»Und jetzt Hände hoch, wer hier ist, um Jungs kennenzulernen!«, ruft Cibi weiter.

Die Mädchen wechseln Blicke, kichern, und wieder gehen alle Hände hoch.

Statt zu schlafen, reden die Mädchen und witzeln, tauschen Namen aus, Heimatstädte, Pläne.

Cibi ist unbändig stolz auf ihren Entschluss, hier bei all diesen Fremden zu sein, die in ihrem Ziel vereint sind. Ihr Opfer, die Familie zu verlassen und ihrem Traum nachzugehen, in einem neuen, gelobten Land anzufangen, wird sich lohnen. Sie wird hart arbeiten, um es nach Palästina zu schaffen, und dann wird sie nach ihren Schwestern, nach Mama und Großvater schicken. In diesem kleinen Raum ohne Betten, aber voll Abenteuergeist, bei all dieser Kameradschaft gedeiht Cibis drängender Wunsch, so schnell wie möglich mit der Hachschara zu beginnen.

Sie ist jedenfalls eine von denen, die morgen ein Bett bekommen werden.

Alica steht auf. »Warum sind wohl die Jungs hier?«, ruft sie.

Wie aus einer Kehle schreien die Mädchen zurück: »Um nach Palästina zu gehen UNDUMMÄDCHENKENNENZULERNEN!«

Cibi schreckt aus dem Schlaf hoch.

»Ich will zu meiner Mama! Ich will zu meiner Mama!« Das Wimmern eines Mädchens hallt durch den Saal.

Livi bewegt sich, ächzt leise im Schlaf. Cibi flüstert ihr besänftigende Worte zu, und Livi beruhigt sich wieder.

Als die Frühlingssonne durch die hohen Fenster blinzelt, erwachen die Mädchen, stehen auf und strecken sich. Wieder fragen sie einander: Wo kommen wir hin? Was wollen sie von uns? Es gibt keine Antworten, und schon bald wird es still im Saal; die Mädchen lassen sich auf den Boden zurückfallen und warten. Einige essen von dem Proviant in ihren Koffern. Wenigstens wirkt der Saal in der Sonne weniger trostlos, erinnert mehr an früher.

»Wach auf, Livi. Es ist Zeit zum Aufwachen.« Sachte rüttelt Cibi ihre Schwester, deren Kopf in ihrem Schoß liegt.

Livi setzt sich auf, sieht sich verschlafen im Saal um, scheint verwirrt.

»Möchtest du etwas essen, Livi?«, fragt Cibi.

»Ich habe keinen Hunger«, erwidert Livi, den Blick auf die Mädchen gerichtet, von denen manche weinen.

»Du musst etwas essen. Wir wissen nicht, wie lange wir noch hierbleiben.«

Cibi öffnet ihren Koffer, sucht nach dem Essen zwischen ihren Kleidern. Sie nimmt den Kuchen, den ihre Mutter für das Sabbatmahl gebacken hat. Als sie ihn aus dem schmerzlich vertrauten Geschirrtuch wickelt, riecht sie den Duft von Mamas Gebäck. Sie bricht ein kleines Stück ab und reicht es Livi.

»Ich will nicht, du weißt doch, ich hasse diesen Kuchen«, beschwert sich Livi und schiebt Cibis Hand weg.

»Egal, wir müssen ihn essen. Er hält sich nicht gut, und wir müssen uns die Dosen aufheben. Ist es dir denn völlig egal, dass Mama ihn mit ihren eigenen Händen gebacken hat?« Mit einem verschmitzten Grinsen hält Cibi ihrer Schwester noch einmal den Kuchen hin.

Widerwillig nimmt Livi ihn und fängt an, daran zu knabbern, verdreht bei jedem Bissen die Augen und tut, als müsste sie ihn mühsam hinunterwürgen. Cibi zwingt sich ihre Portion hinein – ihr Mund ist trocken, der Kuchen schmeckt wie Asche.

»Ich habe Durst, ich brauche etwas, um den Geschmack loszuwerden.« Livi kommt ins Jammern, und plötzlich spürt Cibi ihre Erschöpfung. Am liebsten würde sie auch losheulen.

»Da wirst du warten müssen. Bestimmt bekommen wir gleich etwas.«