Geschichten der Hoffnung - Heather Morris - E-Book

Geschichten der Hoffnung E-Book

Heather Morris

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Beschreibung

Von der Autorin des internationalen Bestsellers "Der Tätowierer von Auschwitz" In diesem inspirierenden Handbuch für das Leben präsentiert Heather Morris die Geschichten der bemerkenswerten Menschen, denen sie auf ihrem Weg begegnet ist, und die Lektionen, die sie für uns bereithalten. Sie erzählt von der Weisheit ihres Großvaters, der Neugier ihrer Kinder und der unendlichen Güte von Lale Sokolov, dem »Tätowierer von Auschwitz«. Es ist ihr bisher persönlichstes Buch, in dem sie von den prägenden Erlebnissen ihres Lebens erzählt, und wie sie gelernt hat, denen, die sich ihr anvertrauen, wirklich zuzuhören – eine Fähigkeit, die wir ihrer Meinung nach alle lernen können.

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Aus dem Englischen von Elsbeth Ranke

Für mein Rudel.Und die ganze Herde.

Die Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel Stories of Hope bei Manilla Press, ein Imprint von Bonnier Books UK, London

© Heather Morris, 2020

Für die deutsche Ausgabe:

© Piper Verlag GmbH, München 2021

Covergestaltung: FAVORITBUERO, München, nach einem Entwurf von Nick Stearn

Covermotiv: Shutterstock.com

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Widmung

Einleitung

1 Der Weisheit der Alten lauschen

2 Lale zuhören

3 Zuhören – aber wie?

Aktives Zuhören

Sich verletzlich machen

Noch einen draufsetzen

Die richtige Frage stellen

4 Unseren Kindern zuhören

5 Sich selbst zuhören

Ians Geschichte

6 Wege in ein Narrativ der Hoffnung oder dem Narrativ gerecht werden

7 Cilkas Schicksal – auf die Geschichte hören

8 Der Preis des Zuhörens

Nachwort

Livias Geschichte

Dank

Leseempfehlungen

Liebe Leserin, lieber Leser,

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Literaturverzeichnis

Für Christopher Charles Berry, meinen Urgroßvater, der mir als Erster beibrachte zuzuhören.

Allen Rettungskräften weltweit, die so tapfer für unsere Sicherheit kämpfen und uns während dieser Pandemie Hoffnung auf eine hellere, bessere Zukunft geben.

Den Mitarbeitenden, Patienten und ihren Angehörigen, mit denen ich in meiner Zeit im Monash Medical Centre in Melbourne arbeiten durfte. Sie brachten mir bei, für andere zu sorgen.

Einleitung

1. Januar 2020. Ein neuer Tag, ein neues Jahr, ein neues Jahrzehnt. Ein leises Gefühl von Hoffnung, für uns Einzelne und für uns als Mitglieder der globalen Gemeinschaft, dass es ein »gutes Jahr« wird. Oder wie Lale Sokolov sagte, mein lieber Freund, dessen unglaubliche Geschichte ich im Tätowierer von Auschwitz erzählt habe: »Wenn du am Morgen aufwachst, ist es ein guter Tag.« Gute Vorsätze, neue und alte aus den letzten Jahren, werden gefasst, vielleicht unseren Nächsten, unseren Liebsten zugeflüstert. Wenn wir unsere Hoffnungen und Wünsche für das Jahr formulieren, so heißt es, dann ist es wahrscheinlicher, dass sie sich erfüllen.

Das Feuerwerk von letzter Nacht, egal ob wir es am Nachthimmel oder vor dem Fernseher verfolgt haben, ist erloschen, die Partys sind zu Ende, alle möglichen Hausmittel gegen Kater kommen zum Einsatz. Ich wohne in Melbourne an der Ostküste von Australien. Bei uns wurde dieses Jahr zurückhaltend gefeiert, an vielen Orten gab es kein Feuerwerk. Trotzdem formulierten wir unsere Wünsche, Hoffnungen und Träume, aber auch die waren zurückhaltend. Wir alle sorgten uns wegen der Waldbrände, die vor etwa einer Woche ausgebrochen und noch längst nicht unter Kontrolle waren. Nein, sie wüteten immer schlimmer. Viel schlimmer.

In den folgenden Wochen wurden Städte ausgelöscht, Menschen verloren ihr Leben, ihre Häuser, ihre Nachbarschaft. Die Folgen für Flora und Fauna waren verheerend. Es gingen Bilder um die Welt, auf denen die beiden bekanntesten Symbole Australiens – Kängurus und Koalas – zu Symbolen der Zerstörung und Verzweiflung wurden. Neuseeland, Kanada und die USA schickten Feuerwehrleute zur Unterstützung in dieser schon bald nationalen Katastrophe. Drei von ihnen kehrten nicht heim zu ihren Familien – sie starben, als bei einem Einsatz ihr Löschflugzeug abstürzte.

Prominente aus der ganzen Welt spendeten hohe Summen für die Betroffenen. Kleine Kinder verzichteten auf ihre Sommerferien und verkauften auf der Straße Kekse, um irgendwie Geld zu sammeln. Vom britischen Königshaus trafen gute Wünsche und Gebete ein. Aus der ganzen Welt kamen Künstler nach Australien und veranstalteten das größte Livekonzert, das es hier je gegeben hatte. Viele Millionen Dollar gingen an die Einsatzkräfte und an die Hilfsorganisationen, die sich um die Betroffenen kümmerten.

Mehrere Wochen lang schien es, als könnte nichts diese ungeheuerliche Feuersbrunst stoppen, zu der sich kleinere Brände vereint hatten und die aus den Bergen auf die Küste zuhielt. Das Schlimmste erwarten, das Beste hoffen. In diesem Fall war das Beste sintflutartiger Regen. Alle beteten wir um Regen. Und am Ende kam er. Der Himmel öffnete sich, und tagelang regnete es – eine große Hilfe beim Löschen vieler Feuer. Die Wassermassen richteten auf den ausgetrockneten Böden weitere schlimme Schäden an, es kam zu Erdrutschen, wo das Gelände durch den Verlust stabilisierender Bäume brüchig geworden war. Jetzt überflutete das Wasser kleine Städte, ertränkte Vieh, zerstörte noch mehr Häuser.

Die Ereignisse, die Australien im Januar 2020 heimsuchten, fanden weltweit Beachtung, nicht etwa, weil so etwas sonst nirgends vorkommt, sondern weil Australien wegen des Sommers auf der Südhalbkugel das einzige Land war, das am Anfang dieses neuen Jahrzehnts in Brand stand. Die nördliche Halbkugel erholte sich noch von ihrem eigenen Höllensommer. Dabei stand das Schlimmste noch bevor. Genau in dieser merkwürdigen Zeit der Verunsicherung hörten wir zum ersten Mal das Wort Coronavirus oder Covid-19.

Seither hat sich die Welt über alle Maßen, über allen Glauben, ja über jedes Verständnis hinaus verändert. Wir alle erleben eine Pandemie ungekannten Ausmaßes; niemand, der heute auf der Welt ist, hat so etwas schon einmal mitgemacht. Für uns als Einzelne und als Gemeinschaft ist das Stressniveau wie nie zuvor gestiegen. Jobverluste. Scheidungen. Eine Krankheit, von der viele sich nur langsam oder auch gar nicht erholen werden. Tod. In unseren klassischen und sozialen Medien werden jeden Tag neue tragische Geschichten erzählt. Rund um die Uhr sind sie verfügbar, und wir wenden uns ab und sehen doch wieder hin, so groß ist unser Bedürfnis, bei solchen Katastrophen Zuschauer zu sein. Wir sind zusammengerückt, aber leider sind wir auch auseinandergerückt. Vielleicht können einige von uns das emotionale, gesundheitliche und ökonomische Leid auch nur eingerollt in der Embryonalhaltung ertragen.

Seitdem versuchen wir, füreinander zu sorgen. Schließlich sind wir Herdentiere, brauchen menschliche Verbindungen und Kontakt. Wir suchen das Positive in unserem neuen Leben. Das Lächeln eines kleinen Kindes, das den Überlebensschmerz vergisst, kann in einem emotionalen Tief ein gewaltiger Antrieb sein. Aufzustehen, weil ein Haustier auf sein Futter wartet, bringt viele von uns durch den ganzen Tag. Isolierung wirkt sich auf viele von uns verheerend aus. Wo ist meine Herde? Wo ist mein Stamm? Erinnern wir uns: Sie sind da, wie wir selbst, und warten auf den Tag, an dem wir sagen können: »Wir haben das gemeinsam durchgestanden. Jetzt sind wir stärker.« Die vielen Memes, die uns daran erinnern, dass unsere Großväter für uns einen Krieg ausgefochten haben, während von uns lediglich verlangt wird, auf dem Sofa zu sitzen und Netflix zu schauen, verharmlosen das echte Trauma, das es für so viele Menschen bedeutet, sich gezwungenermaßen isolieren zu müssen. Lale sagte immer: »Man braucht einfach nur morgens aufzuwachen.« Vielleicht sind wir heute aufgefordert, in mehr als einer Hinsicht aufzuwachen.

Könnte es sein, dass unsere Erde uns auffordert, das Tempo zu drosseln? Fleht sie uns nicht seit Jahrzehnten an, uns besser um sie zu kümmern? Wie oft muss sie uns noch warnen, bis wir anfangen, ihr zuzuhören? Viele tun das längst. In fast jedem Land streiten Regierungen und Wissenschaftler in den letzten Jahren immer heftiger über die Auswirkungen des Klimawandels. Bewundernswerte, inspirierende Aktivisten, Jung und Alt schließen sich dem Anliegen an und erklären den Mächtigen, erklären uns allen, dass es höchste Zeit ist, den Mund zu halten und unserer Erde zuzuhören.

Covid-19 ist ein gemeinsamer Feind, der keinen Unterschied macht zwischen Religion, Politik, sexueller Orientierung, Hautfarbe oder Alter, und seine Auswirkungen sind weltweit spürbar. Angesichts dieses unbekannten, neuen Feindes machen wir Dinge anders, und das hat unerwartete, positive Folgen. Nach nur wenigen Wochen in dieser Krise berichteten China und viele europäische Städte von saubererer Luft und weniger Verschmutzung. Während wir uns drinnen verschanzten, wurde der Himmel heller, die Flüsse sauberer. Wir konnten sehen, was uns draußen erwartete.

Von meinem Schreibtisch aus sehe ich durchs Fenster auf die Straße. Heute sehe ich da keine Autos und Lieferwagen, sondern Menschen. Männer und Frauen jeden Alters, allein, zusammen, viele mit kleinen Kindern, noch mehr mit Hunden. Sie spazieren über die Straßen, sie reden miteinander, ich höre sie bis hier. Sie hören einander zu. Ihre Hunde bellen andere Hunde an, die sich hinter Holzzäunen verstecken, aber doch präsent sind. Sie halten Abstand, sie nehmen einander wahr. Viele bleiben für einen kleinen Plausch stehen. Was sagen mir diese Interaktionen? Zum ersten Mal seit Menschengedenken haben wir ein gemeinsames Ziel. Einen gemeinsamen Feind, den wir besiegen werden, wenn wir alle unseren Beitrag dazu leisten.

Mitten im Lockdown beobachtete ich einmal einen Lieferwagen, der vor einem Nachbarhaus parkte; ein junges Mädchen holte eine Kiste voller Lebensmittel aus dem Laderaum. Unwillkürlich musste ich lächeln, denn mit dem Baguette, das oben herausragte, wirkte die Szene fast hollywoodreif. Ich sah zu, wie das Mädchen an die Tür klopfte, die Kiste auf die Veranda stellte und einen Schritt zurücktrat. Die ältere Dame, die in dem Haus wohnt, hatte sie wohl kommen sehen, denn die Tür ging augenblicklich auf. Ich hörte, wie sie sagte: »Danke, danke«, wieder und wieder. Ich hörte das Zittern in ihrer Stimme. Hätte ich in diesem Moment sprechen müssen, hätte ich keinen Ton herausgebracht. Mit einem breiten Lächeln und einem »Sehr gerne, dann bis übermorgen!« hüpfte das Mädchen zu ihrem Wagen zurück.

Wenn ich später an diese Szene zurückdachte, ging mir nicht die ältere Frau durch den Kopf, sondern das junge Mädchen. Hatte sie sich für diesen Dienst gemeldet, weil sie ihren Job verloren hatte? Studierte sie, hatte aber gerade keine Seminare? Woher stammten die Lebensmittel, die sie lieferte? Waren es Spenden, oder hatte sie sie selbst bezahlt?

Wir können nie wissen, was im Leben anderer Menschen los ist – außer es geht um unsere Familie und Freunde. Was bringt jemanden dazu, mitleidig und großzügig zu handeln? Was bringt jemanden dazu, verbal aggressiv oder handgreiflich zu werden oder sogar jemanden anzupöbeln, der ihm helfen möchte? Bei meiner Arbeit im Krankenhaus ist mir diese Reaktion oft begegnet. Und meine Tochter und mein Schwiegersohn, beide Polizisten, erleben sie nur allzu häufig. Wieder einmal werde ich daran erinnert, dass wir niemals über andere urteilen sollten, bevor wir nicht eine Meile in ihren Schuhen gelaufen sind. Ende Mai löste die brutale Ermordung von George Floyd durch einen Polizisten in den USA eine Welle der Wut aus und stärkte weltweit die Forderungen nach Anerkennung des Grundsatzes »Black lives matter«. Mich erinnert das an etwas, was Lale einmal zu mir sagte: »Es ist nicht wichtig, welche Farbe deine Haut hat, welches deine Religion, deine Ethnie, deine sexuelle Orientierung ist. Wir bluten alle in derselben Farbe.« Er brachte es auf den Punkt. Wir sind alle Menschen.

Zurzeit ist es sogar schwierig, freiwillige Hilfe anzubieten, weil wir überall Abstand halten müssen. Viele wollen gerne, vielen ist es ein Bedürfnis zu helfen, wo sie können. Für Menschen, die alleine leben, ist die Isolierung besonders hart, bis zu dem Zeitpunkt, an dem das junge Mädchen, das ich beobachtet habe, das Haus der älteren Dame wieder betreten darf, ihr beim Auspacken und Einräumen der Lebensmittel helfen und vielleicht bei einer Tasse Tee noch mit ihr plaudern darf. Auf physischen Kontakt verzichten zu müssen, ist besonders schwer zu ertragen – Menschen brauchen Berührung, eine Umarmung oder einen Kuss von einer Freundin, einem Verwandten, einem Enkelkind.

Wir werden in den nächsten Monaten oder vielleicht Jahren alle einen Schritt zurücktreten müssen, bis die Auswirkungen von Covid-19 verarbeitet sind. Arbeitslosigkeit und die damit verbundenen Probleme stellen bereits jetzt alle Länder vor große Herausforderungen. Einige Karrieremöglichkeiten kehren vielleicht nicht zurück, man wird nach neuen Formen von Ausbildung und Arbeit suchen müssen. Auch in den Familien werden die Auswirkungen immens sein, wir kennen das von der Weltwirtschaftskrise. Andererseits wissen wir, dass wir anpassungsfähig sind, dass wir uns für ein anderes Leben entscheiden können. Vielleicht ist es nicht so wie vorher, vielleicht ist es sogar besser. Unser Blick auf die Welt wird sich möglicherweise eine Zeit lang auf die Gemeinschaft und die Nachbarschaft beschränken, in der wir leben. Das muss nicht unbedingt schlecht sein. Indem wir uns zusammenschließen und unsere Geschichten teilen, wie wir persönlich durch die Pandemie gekommen sind, können wir zuhören und lernen, und wir werden lachen und weinen. Es wird eine neue Welt sein und häufig eine dunklere Welt, aber vielleicht wird es auch eine bessere. Wir müssen jetzt akzeptieren, was vor uns liegt, wir dürfen nicht der Nostalgie verfallen, sondern müssen offen sein für die unvermeidlichen Veränderungen, die vor uns allen liegen.

Ja, wenn wir Covid-19 hinter uns haben, fährt die Industrie wieder hoch, und dann brauchen wir viele schlaue Menschen, die für uns sicherstellen, dass alles läuft. Aber können wir mit der sauberen Luft um die Nase nicht überlegen, wie unsere Industrie sich digital umstellen, die Emissionen verringern und sie irgendwann ganz zurückfahren könnte? Wenn wir so schlau sind, Covid-19 zu bekämpfen, sollten wir auch so schlau sein, diese Gelegenheit zu ergreifen und für einen sauberen Planeten zu kämpfen. Wie stark sich Covid-19 wirklich auf den Klimawandel auswirkt, wird momentan immer sichtbarer, und in kürzester Zeit wird uns gerade bewusst, wie schnell wir eine sauberere, sicherere Umwelt schaffen können. Vielleicht sollten wir wirklich alle einmal innehalten und horchen, was unsere Erde uns gerade vorführt. Sie kann sich regenerieren, aber sie kann es nicht alleine: Wir, ihre Bewohner, müssen mithelfen. Wir müssen unserer Erde zuhören.

In Geschichten der Hoffnung geht es ums Zuhören; wie wir, indem wir anderen zuhören, Inspiration im Alltagsleben der Menschen um uns herum finden können.

Als ich Lale Sokolov ein paar Wochen nach dem Tod seiner Frau zum ersten Mal begegnete, sagte er mir, er hoffe, er werde noch lang genug leben, um mir seine Geschichte erzählen zu können. Aber eigentlich wollte er nicht bei mir sein, sagte er jedes Mal, wenn ich vor seiner Tür stand, er wollte bei Gita sein. Das sagte er mir jeden Tag, bis er dann irgendwann hoffte, er werde zumindest noch so lange leben, dass er reden und ich zuhören konnte, um seine Geschichte aufzuschreiben.

Vorbereitet war ich darauf nicht. Was ich aber mitbrachte, ohne dass ich damals darüber nachgedacht hätte, war meine Gabe zum Zuhören. Zum echten, aktiven Zuhören. Tag für Tag ging ich zur Arbeit in den sozialen Dienst eines großen Melbourner Krankenhauses. Dort hatte ich mit Patienten zu tun, mit Angehörigen, Pflegerinnen und anderem Krankenhauspersonal: Sie redeten, ich hörte zu. Häufig wussten sie nicht, was sie sagen sollten oder wie sie sagen konnten, was sie dachten, fühlten – ja, eher fühlten als dachten. Aber das war nicht wichtig. Indem ich ganz ruhig blieb und ihnen vermittelte, dass ich nicht weggehen würde, dass ich da war und zuhörte und helfen würde, wenn ich konnte, fanden sie häufig die nötigen Worte. Es war ein Privileg, der Mensch zu sein, mit dem ein Fremder plötzlich redete, und gelegentlich sogar in seiner tragischen oder traumatischen Lebenssituation etwas Kleines bewirken zu können.

Inzwischen wird mir dieses Privileg, Geschichten hören zu dürfen, durch die Zuschriften von Lesern des Tätowierers von Auschwitz und des Mädchens aus dem Lager zuteil. Staunend und dankbar empfange ich die tiefen Emotionen, die mir entgegengebracht werden, und es berührt mich, dass mein Erzählen von Lales und Cilka Kleins Geschichten so viele Menschen angesprochen hat, dass die Lektüre ihrer Geschichten sich umfassend ausgewirkt hat auf Männer und Frauen, Alte und Junge überall in der Welt, dass sie ihnen in einem dunklen Moment ihres Lebens geholfen hat. Ich hoffe aufrichtig, dass ich, wenn sie mir schreiben und mir von ihrer Hoffnung berichten, am nächsten und übernächsten Morgen wieder aufzuwachen, weiterhin etwas Kleines bewirke. Ich habe keinen physischen Kontakt zu meinen Leserinnen, aber oft stelle ich mir ihre Gesichter vor, male mir sie und das Umfeld, das sie beschreiben, aus. Und indem ich die Briefe der Menschen lese, höre ich ihnen auch zu.

Inzwischen ist mir klar, dass Zuhören eine Kunst ist; und ich habe die Hoffnung, dass Sie, angeregt durch die Lektüre dieses Buchs, vielleicht auch beschließen, dies aktiver zu betreiben. Ich verspreche Ihnen, wenn Sie das tun, werden die Geschichten, die Sie zu hören bekommen, Sie verändern – und zwar zum Guten. Nur wenn wir die Geschichten der anderen hören, können wir Empathie für sie empfinden, ihnen eine Stimme sowie die Hoffnung geben, dass jemand anderem etwas an ihnen liegt. Wir müssen ihrem Mut mit Offenheit und ihrer Verletzlichkeit mit Mitgefühl begegnen, und wir müssen sie ermuntern, es wieder zu tun.

In diesem Buch werde ich erzählen, was es für mich bedeutet hat, meinem geliebten Urgroßvater zuzuhören, und wie lehrreich und lustig es sein kann, unseren Alten zuzuhören. Ich werde berichten, wie wichtig es ist, Kindern zuzuhören. Ich bin Mutter und Großmutter, und wenn ich auch nicht behaupten kann, eine perfekte Mutter gewesen zu sein (wie meine Kinder sicher bestätigen würden!), so denke ich doch, dass ich das eine oder andere gelernt habe, indem ich meinen Kindern zugehört und den Wert ihrer Gedanken und Gefühle anerkannt habe, egal wie klein oder trivial sie damals wirken mochten. Ich werde Sie an ein paar weiteren Geschichten über meine Zeit mit Lale teilhaben lassen und erzählen, was ich gelernt habe, indem ich diesem einzigartigen Menschen zugehört habe und auch den vielen anderen, die den Mut hatten, mir aus äußerst persönlichen und emotionalen Phasen in ihrem Leben zu berichten. Und ich werde Ihnen von allen Lektionen, die ich gelernt habe, die schwierigste mitgeben: dass man vor allem sich selbst zuhören muss.

Ich möchte Ihnen in diesem Buch ein paar Gedanken dazu anbieten, wie aktives Zuhören aussehen kann. Durch Zuhören und Lernen kommt man womöglich selbst in die Lage, anderen Hoffnung zu geben. Es gibt keinen Anfang und kein Ende im Kreislauf des Hörens und Weitergebens dieser Geschichten. Sie gehören niemandem, und niemandes Lebenserfahrungen sind gültiger als die eines anderen. Sie sind einzigartig, individuell, aber indem wir sie anhören, können wir alle ein bisschen klüger werden, ein bisschen mehr Mitgefühl und Verständnis entwickeln, und wir können unser eigenes Leben mit dem bereichern, was andere uns über ihr Leben zu erzählen haben.

Außer meiner Lebenserfahrung qualifiziert mich nichts dazu, anderen Ratschläge zu geben, wie sie ihr Leben leben sollen oder für welchen Weg sie sich entscheiden sollen, wenn mehr als einer vor ihnen liegt; auch schließe ich mich keinem Glauben und keiner Religion an. Was ich anbieten kann, ist nur, was ich aus meinem persönlichen Glück gelernt habe, dass andere bereit waren, mir ihre Geschichten zu erzählen – und aus meiner Bereitschaft, ihnen zuzuhören. Kinderleicht? Ja, tatsächlich. Probieren Sie es einfach.

1 Der Weisheit der Alten lauschen

 

Hören Sie auf den Rat der Alten, nicht weil sie immer recht haben, sondern weil sie mehr Erfahrung darin haben, sich zu irren.

 

Girly. Er nannte mich Girly. Er war mein Urgroßvater, und er hat mir beigebracht zuzuhören. Nicht nur ihm oder anderen Menschen, sondern auch den Geräuschen um uns herum: Tieren, Vögeln, Maschinen – oder einfach dem Nichts. Manchmal ist im Leben nichts angenehmer als der Klang der Stille. Wenn Sie ihn zulassen, finden Sie vielleicht eine Mitte, Ruhe, Zufriedenheit darin, wer und wo Sie gerade sind, in Zeit und Ort. Manche nennen das Meditieren; heute spricht man von Achtsamkeit.

Ich bin im ländlichen Neuseeland in einer großen Familie aufgewachsen. Das hatte Vor- und Nachteile, für mich aber war es einfach die Realität, meine Kindheit, alles, was ich kannte. Meine Urgroßeltern wohnten zwei Obstgärten weg von dem Haus, in dem ich mit meinen Eltern und vier Brüdern lebte. Ich war das zweite Kind, zwei Jahre und zwei Tage jünger als mein großer Bruder. Die drei kleineren Jungs betrachtete ich als Ärgernis, das ich am besten ignorierte. Pirongia, meinen Heimatort, kann man nicht als Stadt bezeichnen, ja nicht einmal als Dorf. Über uns herrschte der Berg, nach dem die Gegend benannt war, seine Hänge, Wälder, Bäche und Flüsse waren mein Rückzugsort. Dorthin flüchtete ich, oft zusammen mit meinem großen Bruder. In der Gegend gab es vor allem Milchwirtschaft, die Kühe beherrschten unser Leben. Das zweimalige Melken am Tag, das Kalben, alles, was mit Kühen zu tun hatte, lag uns im Blut. Bis heute sind sie meine Lieblingstiere. Für unsere komplette Ernährung sorgten wir selbst; was wir nicht anbauten, hatte ein Nachbar, und dann tauschten wir. Auch die Arbeitskraft wurde mit den Nachbarn geteilt. Zu meinen liebsten Erinnerungen gehört es, wenn ich bei Nachbarn war, während mein Vater zusammen mit den anderen Männern aus der Gegend das Heu einfuhr oder bei der Aussaat war – kurz, bei dem half, wo er gebraucht wurde.

Als ich Jahre später den Film Der einzige Zeuge sah, der bei den Amischen in den USA spielt, fühlte ich mich mit einem Schlag in meine Kindheit zurückversetzt. Es war genau dasselbe. Nachbarn halfen Nachbarn, nur ohne die religiöse Bindung. Es war ganz normal, dass wir in allen Schulferien zu Verwandten fuhren und ihnen bei der Arbeit halfen. Ich hatte einen Onkel und eine Tante, die etwa zwei Stunden entfernt wohnten, eine Schafzucht betrieben und fünf Töchter hatten. Geschlecht bedeutete hier gar nichts, wir Mädchen packten genauso an wie die Männer. Zu Pferd trieben wir kilometerweit verteilte Schafe zusammen, scheuchten sie zu den Becken mit Insektiziden, in die sie getaucht wurden, bevor sie zum Scheren in die Pferche kamen.

Mein anderer Fluchtraum war die Schule. Es gab nur vier Klassenzimmer und weniger als fünfzig Schüler in den sechs Grundschulklassen; die Auswahl an Freunden war begrenzt, das Geschlecht spielte dabei keine Rolle. Da die meisten Kinder Buskinder waren, war es unmöglich, nach der Schule mit Freunden zu spielen. Meine Brüder und ich gingen zu Fuß zur Schule; auf unserer Strecke gab es keinen Bus. Ich liebte den Schulweg im Winter, wenn die Pfützen an der schlecht geteerten Straße vereist waren. Mit dem Absatz meines Schuhs zerhackte ich das Eis, weshalb ich dann den übrigen Tag häufig in nassen Schuhen und Strümpfen herumlief.

Männer waren Männer. Frauen waren, nun ja, Frauen, aber nicht solche Frauen, wie ich eine werden wollte. Es spricht nichts dagegen, Hausfrau und Mutter zu werden, wenn man das möchte. Doch in den 1950er- und 1960er-Jahren beschwerten sich Frauen wie meine Mutter, meine Tanten und andere Bekannte immer nur über ihr Schicksal. Sie beneideten ihre Männer, aber ich weiß gar nicht, worum eigentlich – sie arbeiteten rund um die Uhr und wirkten genauso traurig und unerfüllt wie die Frauen. Der einzige Unterschied bestand, soweit ich mich erinnere, darin, dass sie sich nicht einmal beklagten. Noch einmal: Ich lebte im ländlichen Neuseeland, ich weiß nicht, wie es den Neuseeländerinnen in großen Städten ging.

Ich bin sehr stolz auf Neuseeland. Es war das erste Land der Welt, das das Frauenwahlrecht einführte, und seit 1997 regieren dort drei Premierministerinnen in Folge: eine großartige Leistung. Jenny Shipley und Helen Clark bereiteten den Weg für die derzeitige Amtsinhaberin Jacinda Ardern. Jacinda verkörpert alles, was ein Anführer braucht, besonders in dieser Zeit der Pandemie. Ihr Mitgefühl, ihre Empathie und die Art, wie sie ihren Landsleuten zuhört, zieht den Neid vieler anderer Länder auf sich: Sie wird gesehen, sie wird angehört, sie hört zu.

Kinder sollte man sehen und nicht hören. Das war der Spruch meiner Kindheit. Nur nicht bei einem: meinem Urgroßvater. Wenn ich darüber nachdenke, wollte leider kein anderes Familienmitglied uns Kinder hören und uns ganz bestimmt nicht zuhören, wenn wir etwas sagen wollten; sie nahmen sich nie viel Zeit, um mit uns zu sprechen, und schon gar nicht, um uns praktischen Rat oder gar Lebensweisheiten mitzugeben. Nur mein Urgroßvater – und wenn man ihn allein erwischte und er in der richtigen Stimmung war, gelegentlich auch mein stiller, nachdenklicher Vater.

Und dann war da meine Mutter. Man sagt, alle Mutter-Tochter-Beziehungen sind schwierig. Die zu meiner Mutter würde ich als praktisch inexistent bezeichnen. Außer um mir zu sagen, dass ich etwas tun sollte, sprach sie selten mit mir. Zuneigung gab es nicht, und ich mochte es nicht, wenn ich meinen Brüdern nachräumen oder ihre Pausenbrote vorbereiten sollte. Ich hatte im Haus mitzuhelfen, und zwar ohne zu murren. Sie folgte darin ihrer Mutter und meiner verwitweten Großmutter, die direkt auf der anderen Straßenseite wohnte. Auch Cousinen, Onkel und Tanten wohnten in der Nähe. Eine ausgedehnte Familie, überall in dem kleinen Dorf verstreut.

Seit ich etwa zehn war, musste ich auf dem Heimweg von der Schule bei meinen Urgroßeltern vorbeigehen und fragen, ob sie etwas brauchten. Meine Mutter war dann immer schon dort gewesen und hatte ihnen ein Abendessen zum Aufwärmen gebracht. Ich traf meine Urgroßmutter immer im Haus an, entweder rumorte sie in der Küche oder lag, als es später gesundheitlich bergab ging, im Bett. Sie hatte mir nie viel zu sagen. Sie warf mir einen mitleidigen Blick zu, den ich auch von meiner Großmutter und meiner Mutter kannte. Ich war ein Mädchen. Meine Mutter hatte mir oft gesagt, wie leid es ihr tat, dass sie mich hatte, als Mädchen sei ich verdammt zu einem Leben mit harter Arbeit und wenig Freiheit. Meine Brüder dagegen hatten Glück, sie würden in die Welt hinausziehen und Entscheidungen treffen können, die mir nicht zustanden.

Ich erinnere mich, dass meine Mutter, als ich Teenager war, manchmal Bemerkungen zu ein oder zwei Jungen aus dem Dorf machte, mit denen ich aus ihrer Sicht mehr Zeit verbringen sollte. Ich begriff nicht, was sie meinte – ich sah sie, so oft ich wollte. Sie waren ganz in Ordnung, um einen Tag mit ihnen zu verbringen, aber am nächsten wollte ich nichts mehr mit ihnen zu tun haben. Einmal sagte sie mir, ich sei zum Abendessen bei einem Nachbarn eingeladen. Wir gingen nie zum Essen aus. Manchmal, wenn die Männer auf einer Nachbarfarm arbeiteten, versammelten die Familien sich dort und aßen zusammen; aber als ich gesagt bekam, ich würde allein zu einem Abendessen gehen, war das etwas völlig Neues. Als ich sie fragte, warum, hieß es, ich sollte etwas Zeit mit einem der Söhne verbringen und die Familie besser kennenlernen. Ich kannte sie schon mein Leben lang, was sollte ich da besser kennenlernen? Da hieß es, ich sollte eben hingehen, Punkt. Ich vertraute mich meinem großen Bruder an, der eng mit dem Jungen befreundet war, und fragte ihn, was er wusste. In seiner gewohnten Offenheit erzählte er mir, dass unsere Mütter befunden hatten, wir sollten zusammenkommen; es wäre für unsere Familien sehr passend, wenn wir heiraten würden. Ich tat, was mir gesagt wurde, und ging zur Familie des Jungen zum Abendessen. Seine Mutter kochte besser als meine.

Doch im Lauf des nächsten Jahres floh ich, sowie mein Erspartes reichte, nach Australien. Ich war noch nicht ganz achtzehn. Bis ich schließlich heiratete und ihr ein Enkelkind gebar, kam meine Mutter in meinem Leben nicht vor. Es war hilfreich, dass ich im Ausland war. Selbst nachdem ich ihr zwei weitere Enkel geschenkt, auf dem zweiten Bildungsweg ein Studium abgeschlossen und einen guten Job gefunden hatte, schrieb sie mir weiterhin als Mrs (Vorname meines Mannes) Morris. Es gab nie irgendwelche emotionalen oder persönlichen Gespräche. Im Rückblick weiß ich, welches Glück ich hatte, als junges Mädchen einen Menschen im Leben gehabt zu haben, der mit mir sprach: Gramps, mein Urgroßvater.

Bei jedem Wetter fand ich Gramps auf der hinteren Veranda in seinem gemütlichen Armstuhl, die Füße auf einen kleinen Hocker vor ihm gelegt. Neben ihm stand Grandmas Stuhl, aber ich sah sie nur selten darauf sitzen – vielleicht tat sie das tagsüber, wenn ich in der Schule war.

Wenn ich aus der Küche auf die Veranda trat, wandte er beim Schlagen der Fliegentür den Kopf. Wissen Sie, immer, wenn er mich sah, hellte sich sein Gesicht auf, und er klopfte auf Grandmas Stuhl, das Zeichen, dass ich mich setzen sollte. Es vergingen Minuten, bis er zu sprechen anfing. Wir sahen beide in den Garten, den riesigen Kastanienbaum rechts, den Gemüsegarten links, daneben die Koppel mit der grasenden »Hauskuh«, die Nebengebäude, Schuppen, Garage ganz hinten, sowie das Tor und den Weg, auf dem ich die zwei Obstgärten bis nach Hause durchqueren würde. Neben der Kastanie machte ein sehr geschätzter Kaki-Baum seinem Nachbarn Konkurrenz. Wenn sich die Blätter verfärbten und vom Ende des Sommers kündeten, wurden die Kaki reif. Die Kakifrucht ist nur genießbar, wenn man sie so reif pflückt, dass sie schon fast faulig ist – sonst wird beim Essen der Mund ganz pelzig.

Kakis waren die Lieblingsfrüchte meiner Urgroßmutter, und Gramps hatte dafür zu sorgen, dass sie genug davon bekam. Allerdings waren die Früchte auch bei den heimischen Vögeln sehr beliebt. Wenn es also wieder so weit war, dass die Früchte reiften, band Gramps mehrere Schnüre an sorgfältig ausgewählte Äste und befestigte an jeder eine Kuhglocke. Das andere Ende der Schnüre lief über etwa hundert Meter durch den ganzen Garten und wurde an die Armlehne seines Verandastuhls gebunden. Ich kann nur vermuten, dass er mehrere Wochen lang den ganzen Tag dort sitzen musste, während zwischen ihm und den Vögeln die Schlacht um die Kakis tobte. Wenn ich nach der Schule bei ihm saß, wurden unsere Gespräche vom Gebimmel der Kuhglocken untermalt, denn er zog an seinem Schnurende, sobald ein Vogel beim Vorbeifliegen auch nur ein bisschen langsamer wurde. Häufig bat er mich, an einer bestimmten Schnur zu ziehen, und wir lachten uns scheckig, wenn ich das Läuten so lange hinauszögerte, bis der Schwarm eine unsichtbare Linie am Himmel überquerte und dann auseinanderstob. Das war echte Präzisionsarbeit. Natürlich taten wir bei unserer Kaki-Schutzmission keinem Vogel etwas zuleide, und ich war glücklich auf meinem Platz neben Gramps.

Er war der einzige Mensch, der mich fragte: »Wie war es in der Schule, hat es sich gelohnt hinzugehen?« Häufig antwortete ich dann: »Nein, habe heute nichts Neues gelernt«, ob das stimmte oder nicht. Ich wollte nicht über meinen Tag sprechen, ich wollte zuhören, egal, welche Geschichte er mir erzählen würde. Gleichzeitig war ich aber immer dankbar, dass er fragte, weil es mir zeigte, dass es ihm wichtig war. Reglos blieb ich sitzen, hielt die Luft an und wartete, bis er anfing zu reden, bis der Zauber begann.

Häufig gingen diese nachmittäglichen Erzählstunden von etwas Konkretem aus. Er hatte einen Gegenstand bei sich, etwas, wovon er mir erzählen wollte. Das eine Mal war es eine kostbare Postkarte mit Goldrand und verblasster Schrift, die er aus dem Burenkrieg in Südafrika mitgebracht hatte. Das andere Mal hatte er einen Speer, eine Zulu-Waffe, wie er sagte; er zeigte mir, wie man ihn benutzte, die Spitze war immer noch scharf und gefährlich. Während ich ihn in der Hand hielt, staunend, dass ich darüber mit der Geschichte verbunden war und einem Ort, der so weit weg war von dieser Veranda, wurde Gramps still und starrte hinüber auf die Koppel. Und ich hielt die Waffe, bis er zu mir zurückkam, lächelte und sie wieder an sich nahm. Meine Fragen, wie und wo er dazu gekommen war, wischte er mit den Worten weg: »Das war eine schreckliche Zeit. Krieg ist etwas Furchtbares.«

Gesprächiger war er bei anderen Gegenständen, die mit unserer Geschichte zu tun hatten, unserer Vergangenheit mit den Maori. Diese Gegenstände waren Geschenke. Sehr gerne erzählte er, wann und von wem er sie bekommen hatte. Ich wusste, welche Ehre es war, die wertvollen Dinge, von denen er erzählte, anvertraut zu bekommen, und ich hielt sie vorsichtig, drehte sie, während er sprach, nach allen Seiten. Es war absolut fesselnd. Viele dieser Gegenstände wurden später dem Heimatmuseum gespendet, und ich erinnere mich, wie ich sie als junge Erwachsene dort sah, mit dem kleinen Pappschild daran, auf dem stand, es handle sich um Leihgaben seiner Familie – das war ich, denn ich war seine Familie.

Niemand sonst in der Familie vertraute mir irgendetwas Wertvolles an. Als meine Urgroßmutter gebrechlich und bettlägerig wurde, machte ich, das brave Mädchen, auf dem Weg zur Schule bei ihr halt und las ihr die Schlagzeilen aus der Lokalzeitung vom Vortag vor. Auf ihrer Frisierkommode lagen mehrere Schmuckstücke, eine oder zwei Broschen, ein paar Glasperlen und in einer kleinen Schatulle eine doppelreihige Perlenkette. Wenn ich von ihrer Bettkante aufstand, ließ ich gerne die Perlen durch meine Finger gleiten, bevor ich langsam den Raum verließ. Sie beobachtete mich mit Adleraugen und sagte jeden Tag dasselbe: »Fass meine Perlen nicht an.« Und jeden Tag tat ich es trotzdem. Es war wie ein Spiel zwischen uns. Als sie ein paar Jahre später starb, gab meine Großmutter mir eines Tages eine Schatulle und sagte: »Hier, das solltest du bekommen.« Es war die Schatulle mit den Perlen. Ich habe sie immer noch. Ich habe sie neu auffädeln lassen und trage sie nach wie vor.

Heute weiß ich, dass es Teil unserer Kultur ist, materiellen Gegenständen Bedeutung und Wert beizumessen. Wenn wir klein sind, wird ein Teddybär oder eine Schmusedecke zum Übergangsobjekt – eine gegenständliche Repräsentation einer Bezugsperson, die mit einem Gefühl der Sicherheit aufgeladen ist und als Ersatz für die abwesende Bezugsperson dient, sodass das Kind etwa allein einschlafen oder von zu Hause weg sein kann. Später erinnern Gegenstände uns alle intensiv an einen Ort oder eine Zeit. Sie können unglaublich tröstliche Erinnerungen an positive Erfahrungen in uns hervorrufen – an Menschen, Orte, Erlebnisse. Ich habe die Perlen meiner Urgroßmutter. Allerdings erinnern sie mich weniger an sie als an meinen Urgroßvater. Mit der Zeit werden sie zu einer Brücke zurück in die Vergangenheit. Mit Gramps hatte ich eine Art Codesprache – wortlos gab er mir den Gegenstand, und ich wusste, dass er gleich davon erzählen würde; er brauchte gar nicht erst zu sagen: »Soll ich dir von damals erzählen …?« Und weil er so war, wie er war, schüchtern und zurückhaltend, wusste ich, dass ich nicht drängen oder zu speziell nachfragen durfte, sondern ihm dahin folgen musste, wohin er von sich aus ging. Diese Gegenstände waren wertvoll, heilig und gleichzeitig traumatisch – irgendwie wusste ich also, dass er bereit sein musste, um über etwas Bestimmtes zu sprechen, und ich konnte nur hoffen, dass ich zu sehen bekäme, was mich interessierte. Instinktiv wusste ich, dass ich auf den richtigen Moment warten musste, damit er den richtigen Weg fand.

Bis heute erinnere ich mich ganz deutlich an diese Gegenstände. Es gab eine breite Maori-Axt aus Jade, toki in ihrer Sprache, und einen Maori-Federumhang. Beide hatte er von einem benachbarten Kākahu-Häuptling bekommen. Pirongia, wo wir wohnten, hieß früher Alexandra. Ganz in der Nähe waren die Neuseelandkriege ausgetragen worden (der Konflikt um Landbesitz zwischen britischer Krone und den Maori). Die Beziehung zwischen Pakeha (weißen Siedlern) und Maori blieb über Jahrzehnte hinweg schwierig. Nicht so für Gramps – er freundete sich mit Maori an, arbeitete in ihren Gemeinschaften und lebte dort. Der gegenseitige Respekt war eine Grundlage seines Verständnisses von der Maori-Kultur und seiner Verbindung zu ihr, und die teilte er mit mir. Ich war ein häufiger und willkommener Gast im benachbarten Marae, Mātakitaki Pā.