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Auf einer Geschäftsreise entdeckt der junge Grafikdesigner Chris die Statue eines Terrakotta-Kriegers in einer schummrigen Nische seines Hotelflurs. Obwohl es sich wahrscheinlich nur um eine kunstvolle Replik handelt, wird er von einem unerklärlichen Gefühl der Verbundenheit überwältigt. In einem impulsiven Moment hält er mit einer symbolischen Geste einen Eiswürfel an die steinernen Lippen des Soldaten, um dessen Durst zu löschen.
In Sydney, Australien, träumt der Teehändler und Taijiquan-Lehrer James von einem mitfühlenden Wesen in der Gestalt eines Bären, das ihm erfrischendes Quellwasser anbietet. Berührt von der Intensität seiner Gefühle bespricht er diesen Traum mit seiner Ehefrau Beth, die sich selbst als Trägerin prophetische Kräfte sieht. Obwohl James den Glauben seiner Frau an Magie und Seelenwanderung eher skeptisch betrachtet, folgt er ihren Ratschlägen, solange sie seinen eigenen Plänen nicht im Weg stehen. Beth vermutet, dass es eine Verbindung zwischen James und dem Bären gibt und drängt ihn, sich auf die Suche nach seinem Seelengefährten zu begeben. Aber James empfindet eine tiefe Zuneigung zu Beth, mit der er eine platonische Ehe führt, und möchte ihr Arrangement nicht beenden.
Das Schicksal findet jedoch einen grausamen Weg, ihm die Entscheidung abzunehmen.
Der Roman DIE SEELE DES TERRAKOTTA-KRIEGERS erzählt von der beschwerlichen Reise zweier verlorener Seelen aufeinander zu. Werden sie erneut zueinander finden und wird ihre Liebe wie einst erblühen? Oder lastet die Bürde der Gegenwart und längst vergangener Tage zu schwer auf ihnen?
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Veröffentlichungsjahr: 2025
DIE SEELE DES TERRAKOTTA-KRIEGERS Rose Lee Wayne Edition Rosalee
Gähnend trat Chris Morgenstern aus dem Hotelfahrstuhl und schlurfte hinter seinem besten Freund und Geschäftspartner Benjamin her. Heimlich amüsierte sich Chris darüber, dass Benjamin in den Spiegeln des Lifts noch einen letzten, bewundernden Blick auf sich selbst geworfen hatte. Der Koffer rollte schwerfällig über den unvorteilhaft gemusterten Flurteppich und Chris hielt ihn gut fest, damit er nicht umfiel. Trotz der Müdigkeit, die seine Augenlider schwer wie Blei erscheinen ließ, versuchte er, den Zeitplan der nächsten Tage für die jeweiligen Events des YouTube Meet and Greets in seinem Kopf Revue passieren zu lassen.
„Wir hätten wirklich ein gemeinsames Zimmer buchen sollen“, maulte Benjamin mit einem Anflug von Frustration in der Stimme und sah sich mit gerunzelter Stirn um. „Dadurch hätten wir eine Menge Geld gespart.“
„Ich möchte deinem Liebesleben nicht im Weg stehen“, entgegnete Chris ironisch. „Als wir uns bei der letzten Geschäftsreise ein Zimmer teilten, verbrachte ich die halbe Nacht in der Lounge und wartete, bis du mit deinem Beau fertig warst.“
„Hättest ja mitmachen können.“
„Nein danke! Ich gehe nie bei der ersten Verabredung mit einem Mann ins Bett.“
Benjamin lachte, ein helles Geräusch, das durch den Flur hallte und für einen Moment die Monotonie des Hotelkorridors durchbrach. „Das war ja keine Verabredung, sondern ein Spontanfick. Du bist viel zu wählerisch. Dabei solltest du mit deiner Figur ...“ Er brach abrupt ab und räusperte sich verlegen. „Sorry!“
Chris spürte einen stechenden Schmerz in seiner Brust bei Benjamins Worten. Seine blauen Augen, die normalerweise so lebhaft und strahlend waren, umwölkten sich und Chris schloss eilig die Augenlider mehrmals, um die Tränen zu verbergen, die sich zu sammeln drohten. Ohne sich anmerken zu lassen, wie sehr Benjamin ihn verletzt hatte, schlug er sich selbstironisch auf seinen rundlichen Bauch und sagte: „I’m not fat I’m just easy to see.“ Diesen Spruch hatte Chris vor einiger Zeit beim Scrollen durch TikTok aufgeschnappt und er verwendete ihn seitdem wie einen humorvollen Schild, mit der er gerne unbedachte Äußerungen über seine Körperform konterte.
Beide schmunzelten sie darüber, doch das Lachen klang für Chris hohl und unvollständig. Bevor seine Gedanken in das übliche Selbstmitleid abdrifteten, jener dunkle Schatten, der ihn stets überkam, sobald er auf sein Gewicht angesprochen wurde, zuckte er zusammen und blieb abrupt stehen. „Da lauert jemand in dieser Nische“, wisperte er Benjamin zu, seine Stimme kaum mehr als ein flüsterndes Beben. Beide schauten sie genauer hin.
„Das ist eine Nachbildung eines Terrakotta-Kriegers“, erkannte Chris plötzlich mit ehrfürchtigem Respekt in der Stimme und sein Herzschlag beruhigte sich wieder. Ein Gefühl der Nostalgie überkam ihn und er erinnerte sich an den großen Auftrag gleich am Anfang ihrer Karriere, eine Zeit, in der die Welt voller Möglichkeiten erschien. „Du weißt schon, die faszinierenden Soldaten-Statuen aus Ton, die das riesige Grab des ersten Kaisers von China bewachen. Wir haben mal eine Reihe von Grafiken für einen Influencer gestaltet, der darüber ein Video drehte.“
Chris betrachtete den Wächter genauer. Er war erstaunlich detailreich ausgearbeitet. Mehrere Schichten seiner Rüstung waren sorgfältig modelliert, um den Eindruck von robusten Platten zu erwecken. Diese Platten waren mit feinen Gravuren versehen, die das Licht in sanften Schattierungen einfingen und die Illusion von Metall verstärkten.
„Hm“, bestätigte Benjamin abgelenkt und strebte weiter zum Ende des Flurs, auf der Suche nach ihren Zimmernummern. Dort blieb er kurz stehen, um das an der Wand angebrachte Hinweisschild zu studieren, ein verwirrendes Durcheinander aus Zahlen und Pfeilen, das den Hotelgast in die richtige Richtung leiten sollte. Das Schild schien schwer zu lesen zu sein, denn Benjamin neigte den Kopf erst nach rechts, dann nach links und wieder nach rechts. Endlich entschied er sich für eine Seite und entschwand aus Chris‘ Sichtfeld, der noch immer bei der lebensgroßen Statue stand und sie gerne weiter angesehen hätte. Nur hatte er das Gefühl, mit Benjamin Schritt halten zu müssen.
In diesem Moment fühlte Chris eine überwältigende Mischung aus Einsamkeit und Sehnsucht, die wie ein schwerer Schleier über ihm lag. Während Benjamin voller Zuversicht und Lebensfreude voranschritt, blieb Chris gebremst von seinen eigenen Gedanken und Unsicherheiten, die ihn wie unsichtbare Fesseln zurückhielten. Die Welt um ihn herum verschwamm für einen Augenblick; nur die Statue des Kriegers stand still da, als würde sie ihm Mut zusprechen, ein stummer Wächter inmitten seiner inneren Turbulenzen.
„Hello!“, grüßte Chris den Terrakotta-Krieger mit einem schüchternen Lächeln und nickte ihm höflich zu. Doch der Krieger antwortete nicht. Er war gefangen in seiner ewigen Stille und seine Augen schienen in die Ferne zu blicken, als ob sie durch die Mauern dieses Gebäudes hindurch und über die große Distanz hinweg seine Heimat bewachten. Trotz seiner starren Erscheinung wirkte er, als ob er nur darauf wartete, zum Leben zu erwachen und seine jahrtausendealte Pflicht wieder aufzunehmen. Nach einem kurzen Moment der Besinnung eilte Chris fort, um Benjamin einzuholen.
Ihre Zimmer lagen nebeneinander und hatten wie bestellt eine Verbindungstür. Jeder öffnete den für ihn bestimmten Raum. Das spärliche Licht vom einzigen Fenster fiel sanft auf die einfachen Möbel, die in warmen Holztönen gehalten waren und es trotz ihrer augenscheinlichen Hotel-Funktionalität schafften, etwas Gemütlichkeit auszustrahlen. Chris steckte die Schlüsselkarte in den Mechanismus für die Aktivierung des Lichts und im Zimmer wurde es hell. Nachdem er sich das kleine Hotelzimmer mit Bad angeschaut hatte, wusch er sich in aller Ruhe die Hände und schnupperte am angenehmen Duft der Seife mit den Kräuteraromen. Damit gönnte er sich etwas Normalität in einer Geschäftsreise voller Ungewissheit. Dann öffnete er auch schon die Verbindungstür auf seiner Seite. Die von Benjamin stand bereits offen. Kurz lugte Chris in dessen Zimmer. Die Räume waren praktisch baugleich, doch in Benjamins Unterkunft schien eine andere, lebendigere Energie zu herrschen.
„Ich habe ein Kabuff gesehen, in dem eine Eiswürfelmaschine steht“, rief Benjamin begeistert, während er geschäftig seinen Laptop auspackte und auf den Schreibtisch stellte. Als selbständige Grafikdesigner arbeiteten sie auch auf Reisen in ihren Hotelzimmern und gönnten sich zwischen den Treffen mit den YouTube-Creators, für die sie tätig waren oder die sie auf sich aufmerksam machen wollten, nur wenige Pausen.
Ihr Auftragsbuch war gut gefüllt – noch. Doch immer häufiger kamen Anfragen nach AI-generierten Bildern und Preisnachlässen, weil die Gestaltung von Grafiken heutzutage ja so einfach sei; eine Fehleinschätzung, die das Potenzial hatte, Künstler zu ruinieren! Diese Vorstellung der Mühelosigkeit schien sich jedoch hartnäckig in den Köpfen der Leute zu verankern. Benjamin und Chris wussten nicht, ob ihre kleine Agentur in fünf Jahren noch existieren würde. Diese Unsicherheit nagte an ihnen wie ein ungebetener Gast.
Aber an mangelnder Kontaktpflege würde ihr Geschäft jedenfalls nicht scheitern. Sie reisten regelmäßig zu YouTube-Veranstaltungen, Buchmessen und Industrie-Ausstellungen, überall dorthin, wo Menschen und Firmen zusammentrafen, die Grafikdesigner benötigten.
„Wo sind die Eiswürfel?“, fragte Chris neugierig.
„Beim Terrakotta-Krieger, ihm gegenüber“, antwortete Benjamin prompt.
Chris wusste nur zu gut, wie gerne Benjamin seine Cola mit Eiswürfeln trank und bot daher an: „Ich hole die Eiswürfel, du packst meinen Laptop aus und stöpselst ihn ein.“ Heimlich plante er, sich bei dieser Gelegenheit die Statue in Ruhe anzuschauen und ein Gefühl für das Geschick der Künstler und Handwerker zu bekommen, die diese Kunstwerke erschaffen und ihnen ihr Aussehen gegeben hatten.
„Gebongt!“ Benjamin war der technisch Versiertere von beiden und erledigte solche Aufgaben nur allzu gerne mit einer Leichtigkeit, die Chris oft bewunderte.
Also schnappte sich Chris die Zimmerkarte, vorsichtshalber ein leeres Glas und machte sich auf die Suche nach der Eiswürfelmaschine, die er schnell fand. Er schob die Tür auf und stellte das mitgebrachte Glas unter den Eiswürfelspender. Da er sich dabei halb herunterbeugen musste, fiel ihm eine blonde Haarsträhne ins Gesicht und kitzelte auf der Haut. Daher wischte er sie ungeduldig fort. Er hätte vor der Reise nach London in Berlin doch noch zum Friseur gehen sollen. Ein Moment des Ausprobierens verging, während er mit einem leichten Stirnrunzeln den Knopf drückte. Es dauerte einige Sekunden, bis ihm dämmerte, dass die Maschine so lange Eiswürfel ausspuckte, wie er ihn gedrückt hielt. Klirrend und rhythmisch klappernd fielen die Würfel in das Glas, ein fröhlicher Klang, der für einen kurzen Moment seine Sorgen zu vertreiben schien. Während das Geräusch des fallenden Eises durch den Raum hallte, dachte Chris daran, dass selbst kleine Freuden manchmal genug sein konnten, um einen Funken Hoffnung zu entfachen wie ein Lichtstrahl in der Dunkelheit.
Mit seiner kalten Ernte kehrte er in den Flur zurück und wandte sich dem Terrakotta-Krieger zu: „Du Ärmster!“, wisperte er mit einem Hauch von Mitgefühl. „Stellen sie dich hier direkt gegenüber einer Wasserstelle und geben dir nichts zu trinken.“ Verstohlen schaute sich Chris nach links und nach rechts um wie ein Kind bei einem heimlichen Streich, als wollte er sicherstellen, dass niemand ihn beobachtete. Dann fischte er mit den Fingern einen Eiswürfel aus dem Glas. Die Kälte prickelte auf seiner Haut. Er berührte mit dem Würfel in einer Art symbolischer Geste sanft die Unterlippe des tönernen Kriegers.
„Ihr wurdet damals in der chinesischen Antike realen Personen nachgebildet“, wisperte er dem Krieger ehrfürchtig und kaum vernehmbar zu. „Das weiß ich von den Recherchen für eine Grafik. Ich habe mich oft gefragt, welche Geschichten hinter euch stehen und welche Träume und Wünsche ihr hattet. Wurden sie zerstört, als der Kaiser euch in den vielen Kriegen, die er führte, gefangen nahm und ihr zum Bau des Grabmals zwangsverpflichtet wurdet? Hat er euch einen Teil eurer Seele entrissen und in diesen Tonkriegern eingekerkert?“ Ein Gefühl der Traurigkeit überkam ihn bei diesem Gedanken. Es war fast so, als würde er die Last der Geschichte spüren, die auf diesen stummen Figuren lastete. „Klar, du bist nur eine Kopie, dennoch ...“ Chris ließ den Eiswürfel sanft zurück in das Glas fallen und nickte dem Krieger noch einmal respektvoll zu und schlenderte fort. Als er um die Ecke zu seinem Zimmer bog, warf er dem starren Wächter der Vergangenheit einen letzten Blick zu. In diesem Moment fühlte er eine seltsame Verbindung zu ihm. Das leise Klirren des Eises im Glas holte Chris in die Gegenwart zurück. Er schmunzelte über sich selbst und setzte den Weg zum Zimmer fort.
In Australien, in einem Vorort von Sydney, träumte der australische Teehändler James Wu von einem majestätischen Bären, dessen überraschend helles, cremefarbenes Fell im sanften Licht des erwachenden Morgens schimmerte. Mit jedem Windhauch bewegte es sich in fluffigen Wellen, als würde die Natur eine Melodie darauf spielen. Der Duft von frischem Gras lag in der Luft. Die Augen des Tiers funkelten wie blaue Fliederblüten und schienen voller Mitgefühl zu sein. Der Bär tauchte eine hölzerne Schale in das glasklare Nass, und das Wasser plätscherte hinein mit einer leisen Tonfolge, die nur für James bestimmt war. Mit einer sanften Geste hielt der Bär die Schale an dessen Mund. James war unfähig, die dargebotene Erfrischung zu schlucken. Einige Tropfen blieben kühl auf seiner Unterlippe hängen und verdunsteten schließlich wie flüchtige Gedanken. In diesem Traum schien der Bär nicht nur ein Tier zu sein, sondern ein Freund aus längst vergangenen Zeiten, der über ihn wachte und ihm die schmerzende Mühsal des Tages erträglich machte.
Mit einem Zucken erwachte James aus diesem seltsamen Traum und rieb sich müde über das Gesicht. Er fuhr mit der Hand über die Nachttischlampe, deren warmes Licht ihm im sanften Morgengrauen ein Gefühl von Geborgenheit schenkte. Im Teekännchen war noch Flüssigkeit übrig und er goss sie in die daneben stehende Tasse. Mit gemessenen Schlucken trank er und der vertraute Geschmack der herben Kräutermischung rann ihm wohltuend über die Zunge. Als er in sich hineinhorchte, stellte er fest, dass er den Durst nicht körperlich fühlte. Weshalb also schickte ihm sein Unterbewusstsein solche lebhaften Bilder? Verwirrung breitete sich in ihm aus und drohte, das Behagen zu überlagern, das der Traum ihm geschenkt hatte.
James legte sich zurück auf das Kissen, faltete die Hände und meditierte über den Traum, der ihn so tief berührt hatte. Friedlich empfand er ihn. Vor dem Bären hatte er keine Angst empfunden. Vielmehr hatte dieser wie ein langjähriger Gefährte gewirkt, eine Präsenz voller Trost und Stärke.
Um dem Rätsel auf den Grund zu gehen, stand James auf und ging in den Nebenraum, wo er eine Kerze entzündete. Das Flackern der Flamme tanzte im Dunkel des Raumes und warf zarte Schatten an die Wände. Er machte es sich auf dem Kissen davor bequem und konzentrierte sich darauf, wie die Hitze das Kerzenwachs nach und nach schmolz – ein langsamer Prozess, der ihn beruhigte.
Seit Jahren hatte er keinem Traum mehr so viel Aufmerksamkeit geschenkt wie diesem. Es war fast so, als würde er darin gerufen werden.
Was unterschied diesen von den anderen? Mitten in der Nacht aufzustehen, um in einer Meditation nachzuspüren, was sein Unterbewusstsein ihm einflüsterte, war für ihn völlig neu. Normalerweise ließ er negative Reaktionen auf einen unruhigen Schlaf bei seinen morgendlichen Entspannungsübungen hinter sich. Doch dieses Mal war alles anders. Der Bär und das Wasser hatten etwas in ihm geweckt, vielleicht eine Sehnsucht nach Klarheit.
James schloss die Augen und ließ die Gedanken kommen und gehen wie Wolken am Himmel. In diesem Moment spürte er: Es gab Antworten zu finden – in den Bildern der Nacht und auch in seinem eigenen Herzen.
Beth, seine Frau, meditierte oft nach ihren Träumen und gab ihm Ratschläge beim Frühstück. Sie glaubte fest an ihre Intuition und hatte ihm geraten, die Einladung zu einem Influencer-Treffen in London anzunehmen.
Obwohl James seinen YouTube-Kanal mit 1,5 Millionen Followern längst zum Erfolg geführt hatte, war er in erster Linie Teehändler. Die Firma seines Vaters Feng Wu steckte in Schwierigkeiten, und James kämpfte darum, sie zu retten. Sein Vater erwartete von ihm, ja forderte regelrecht, eigenes Geld zu investieren – ein Druck, der mit jedem Tag größer wurde und der schwer auf seinen Schultern lastete. Daher hatte er derzeit weder Zeit noch Geduld, um als Meditations-Influencer nach London zu reisen und dort andere Creator zu treffen.
Feng Wu verachtete die YouTube-Aktivitäten und bezeichnete sie als kindisches Hobby. Dennoch erkannte er deren finanziellen Wert und beanspruchte das eingenommene Geld für das Familienunternehmen. Vater argumentierte, dass James die Firma nach seinem Tod ohnehin erben würde. Daher sei er verpflichtet, darin zu investieren. Feng Wu befahl und James hatte zu gehorchen. So stellte der Alte es sich jedenfalls vor.
Vor zehn Jahren hätte James möglicherweise nachgegeben. Damals hatten seine Eltern darauf bestanden, eine traditionelle chinesische Heiratsvermittlung zu arrangieren. Nach langen und ermüdenden Diskussionen durfte er seine Braut schließlich selbst wählen. Beth kannte er bereits aus Kindertagen und er mochte ihre Eltern, Jade, eine Hongkong-Chinesin mit einem exzellenten Sinn für Humor, und ein irischer Hüne namens Clive, der sich trotz aller Gutherzigkeit nicht die Butter vom Brot nehmen ließ. Ihre Familien bewegten sich im gleichen gesellschaftlichen Umfeld. Allerdings zeigten James‘ Eltern ihm gegenüber unverhohlen ihr Missfallen, dass er ausgerechnet eine Verbindung mit Beth anstrebte, obwohl sie aus einer Familie mit gemischtem kulturellen Hintergrund stammte. Nach vielen Diskussionen hatten sie zugestimmt, da Beths Großeltern Jack Chan und Míng Lau mächtige Personen in Hongkong waren.
Beth und James verband eine tiefe Freundschaft. Sie respektierten einander zutiefst trotz unterschiedlicher sexueller Orientierungen. In ihrer Ehe hatten sie nur zweimal Geschlechtsverkehr gehabt – um ihre beiden Kinder zu zeugen.
Beth arbeitete als seine Assistentin und hielt sich für asexuell, während James schwul war. Bei der Empfängnis hatte Beth Horoskope konsultiert – beide Male mit Erfolg.
Jetzt waren ihre Tochter Maeve sechs und ihr Sohn Shàn acht Jahre alt. James hatte geschworen, ein besserer Vater zu sein als sein eigener, und trotz seiner zahlreichen geschäftlichen Verpflichtungen fand er täglich Zeit für sie.
Mit dem festen Vorsatz, beim Frühstück mit Beth über seinen Traum zu sprechen und ihren Rat einzuholen, beendete James die Meditation, entfaltete seinen Körper und blies die Kerze aus. Müde reckte und streckte er sich und machte einige Lockerungsübungen.
Zurück im Bett kuschelte er sich in seine Lieblingsposition und schloss die Augen. Unbemerkt schlängelte sich aus dem Docht der erloschenen Kerzenflamme ein dünner Rauch und waberte zielstrebig durch den Spalt der nur angelehnten Tür in Richtung Bett. Kurz, bevor James einschlief, glaubte er, einen angenehmen Blütenduft zu schnuppern, der seine Sinne erfreute. Deshalb atmete er tief ein und seufzte glücklich. Für diesen einen Moment fühlte er sich komplett und eins mit sich und seinem Schicksal. Sein leises Schnarchen wisperte von der Realität und rückte die Welt wieder ins Hier und Jetzt.
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Die durch das Küchenfenster strahlende Morgensonne verhieß einen freundlichen Tag. Wie an jedem Wochentag verabschiedeten Beth und James die Kinder mit einer herzlichen Umarmung. Die beiden kleinen Energiebündel, fröhlich mit ihren Kindermädchen plaudernd, sprudelten vor Aufregung, während sie die Küche verließen, um sich auf den Weg zu ihrer Privatschule zu machen. Beth und James setzten sich an den Tisch zurück, wo der verlockende Duft der frisch zubereiteten Hühnerbrühe ihn verführte, sich noch etwas davon aufzutun. Als er zur goldenen Brühe die zarten Stückchen Fleisch in seine Schale gab, stieg der Dampf sanft empor. Zufrieden beobachtete James dabei das Spiel des Lichts auf den Fettaugen.
Konzentriert tippte Beth mit einer Hand auf ihrem Tablet, während sie mit der anderen die Tasse zum Mund hob und genüsslich an ihrem Milchkaffee nippte. Ein leises Klirren erklang, als sie die Tasse absetzte, um mit beiden Händen zu tippen, und James blickte das feine Porzellan mit einem kleinen Stich des Neids an. Beth konnte normale Milch genießen, ohne die unangenehmen Folgen zu fürchten, die ihn dabei plagen würden. Laktosefreie Milch war für ihn ein Kompromiss, der ihm nie ganz zusagte. Dennoch gönnte er sich nachmittags oft einen Milchkaffee damit. Morgens jedoch war Tee sein treuer Begleiter.
„Ich möchte mit dir über einen Traum reden“, begannen sie beide gleichzeitig, hielten verdutzt inne und schmunzelten einander an.
„Du zuerst“, meinte Beth mit diesem intensiven Funkeln der Faszination in den Augen, das James nur zu gut kannte und sich zeigte, wenn sie den Einfluss der magischen Welt auf die Realität vermutete. James erzählte ihr so ausführlich wie möglich von seinem Traum und versuchte, die lebhaften Bilder und tiefen Gefühle, die dieser ausgelöst hatte, in Worte zu fassen. Währenddessen suchte sie im Internet nach irgendwas. Ganz am Anfang ihrer Ehe hatte ihn das irritiert, nur wusste er mittlerweile, dass sie damit auf seine Erzählung reagierte und ihm bald das Ergebnis ihrer Recherche präsentieren würde.
Sie hörte ihm aufmerksam zu und nickte gelegentlich, während ihr Blick auf das Tablet gerichtet blieb, als würde sie dort die Antworten auf seine Fragen finden. Als ihm schließlich kein Detail aus dem Traum und seinen Aktivitäten danach mehr einfiel, schwieg er und wartete geduldig auf Beths Reaktion. Sie blickte auf und drehte das Tablet um: „So ein Bär?“, fragte sie und ihre Augen leuchteten jetzt von innen heraus eine Spur heller, als hätte jemand an einem Dimmer das Licht höher gedreht. Dieses Phänomen faszinierte James seit seiner Kindheit und trat immer dann auf, wenn Beth in prophetischer Stimmung war.
„Hm“, brummte er nachdenklich. „Das sieht aus wie eine Zeichnung für ein Siegel. Der Bär in meinem Traum war echt, vielleicht ein Braunbär nur mit einem helleren Fell.“
„Hatte dein Bär rote Krallen?“
James schüttelte den Kopf. „Ich habe nicht auf die Krallen geachtet. Eventuell finde ich eine Antwort darauf, wenn ich heute Nachmittag meditiere.“
Beth nickte verständnisvoll und lächelte ihn sanft an. In diesem Moment fühlte sich alles richtig an. Die Verbindung zwischen ihnen war stark genug, um selbst die geheimnisvollsten Bilder der Nacht miteinander zu teilen.
„Und dein Traum?“, fragte James gespannt.
„Mir ist im Schlaf ein Braunbär erschienen, der auf unserem Anwesen lebt. Die Kinder und ich hatten keine Angst vor ihm und er wohnte im Gästehaus. Mir fiel auf, dass er rote Krallen hatte.“
„Wir träumten also beide von einem Bären“, überlegte James. „Was bedeutet das? Hat es überhaupt etwas zu bedeuten?“
Mit hochgezogener Braue musterte Beth ihn und sie bedachte ihn mit einem amüsierten Lächeln. Er hob entschuldigend die Hände.
„Ich werde das Horoskop befragen“, teilte sie ihm mit.
„Und? Erzählst du mir mehr über diese Zeichnung?“
„Das ist der Berliner Bär.“
„Berlin?“
„Die Hauptstadt von Deutschland.“ Beth kommentierte seine Unkenntnis durch süffisantes Augenrollen.
„Unsere Schulzeit ist schon eine Weile her“, grummelte er defensiv und spürte einen Anflug von Unbehagen für sein mangelndes Wissen.
„Außerdem hast du dich immer mehr für Ozeanien und Asien interessiert“, merkte Beth an.
„Und du mehr für Europa.“
„Weil die Familie meines Vaters aus Irland stammt. Wir sollten darauf achten, dass unsere Kinder sich in Erdkunde umfassender bilden, als wir es getan haben“, überlegte Beth und runzelte nachdenklich die Stirn.
James grinste. „Wir wurden umfassend ausgebildet, Beth, meine Liebe. Allerdings merkten wir uns nur die Dinge, die wir jeweils spannend fanden. Was uns langweilte, lernten wir nur für die Prüfungen und entließen das Wissen dann in die Freiheit.“
„Stimmt!“ Beth lachte über seine Formulierung.
„Berlin, Berlin ...“, murmelte James und spielte nachdenklich mit dem Suppenlöffel, bis ihn der helle Klang selber nervte, den er dabei fabrizierte. Er legte den Löffel in die Schale zurück. „Jetzt erinnere ich mich. Ich glaube, unser Versandhandel Calming Your Soul liefert regelmäßig Tee und Gewürze an einige Berliner Kunden. Ob mein Traum etwas damit zu tun hat?“
Beth tätschelte ihm die Hand. „Es ist bewundernswert, dass du dir als Eigentümer und Geschäftsführer einer erfolgreichen Teefirma wie der unseren noch die Mühe machst, die Kundenliste einzusehen.“
„Schon vergessen? In unserer Studienzeit haben wir beide die Pakete selbst gepackt und verschickt.“ Ein Gefühl der Wehmut durchströmte James. Er dachte gerne an diese unbeschwerte Episode in seinem Leben zurück. Trotz des vollen Stundenplans und der vielen Arbeit für die neu gegründete Teefirma hatte er sich damals in seiner ersten kleinen eigenen Wohnung frei gefühlt und unbeobachtet von den strengen Augen seiner Eltern.
„Und jetzt haben wir Angestellte dafür“, wandte Beth belustigt ein. James Blick wanderte kurz zum Fenster und er sog die freundliche Stimmung des hellen Morgens in sich hinein. Dennoch dämpfte das Unbehagen über die plötzlich auf ihn einströmende Kindheitserinnerung seine Laune. Er zuckte mit den Schultern und ein Anflug von Ehrgefühl gemischt mit Trotz lag in seiner Haltung. „Ich will nicht wie mein Vater werden, jemand, der sich einen Dreck um die Belange seiner Angestellten kümmert und am liebsten mit Geschäftspartnern golfen geht.“
„Na um den Golfplatz machst du gerne einen großen Bogen“, amüsierte sich Beth. In der Familie war sie diejenige, die die Golfplatzfreundschaften pflegte.
„Das stimmt“, gab James zu und lächelte vage. „Ich habe nie wirklich den Reiz des Golfens verstanden. Während andere sich auf dem Platz mit ihren Schlägern austoben, finde ich meine Freude eher in der Stille eines Teegartens oder in den sanften Bewegungen des Taijiquan. Es ist einfach nicht mein Stil, einem kleinen weißen Ball hinterherzujagen, während ich mir wünsche, dass ich stattdessen einen ruhigen Nachmittag mit einer Tasse Tee verbringen könnte.“
Beth nickte verständnisvoll und sah ihn an, als würde sie in seine Seele blicken. „Und das ist auch gut so“, sagte sie sanft. „Du bist anders als dein Vater und du hast ein anderes Verständnis von Erfolg und Zufriedenheit. Du schaffst es, das Leben in seiner Tiefe zu genießen, anstatt nur nach dem nächsten Geschäftserfolg zu streben.“
James lächelte sie dankbar an. Ihre Worte waren wie Balsam für seine Seele. Ihre Verbindung ging weit über das Materielle hinaus. Sie teilten eine gemeinsame Vision von einem erfüllten Leben, geprägt von Liebe und Achtsamkeit.
Für die Wu’s Tea Time, die traditionsreiche Familienfirma, drehte James gerade ein Video von einer Teezeremonie mit einer neuen Teesorte, die erst vor Kurzem in das Sortiment aufgenommen worden war. Während er die sanften Bewegungen der Zeremonie ausführte und die daraus resultierenden Klänge den Raum erfüllten, spürte James, wie sich ein schwerer Schatten über seine Gedanken legte. Der Tee konnte nichts für die anhaltenden Streitigkeiten zwischen Vater und Sohn. Der Graben zwischen ihnen wurde mit der Zeit immer größer und bald unüberwindbar. James fühlte sich verantwortlich für die langjährigen Mitarbeiter des alteingesessenen Unternehmens, deren Loyalität und Hingabe ihm oft als Anker dienten, und ihn zögern ließen, dort zu kündigen. Aber auch seine Geduld hatte Grenzen.
Vor einer halben Stunde hatte sich Beth entschuldigt und den Drehort verlassen, um ein wichtiges Telefongespräch zu führen. James vermisste ihre strategische Unterstützung und ihren klaren Blick auf die Dinge. Sie hatte die Fähigkeit, selbst in den chaotischsten Momenten einen kühlen Kopf zu bewahren. Mit ihr in der Nähe lief alles glatter und geordneter. Sein Team war kompetent, aber mit Beth an seiner Seite blühte es auf.
Die Zeremonie funktionierte auf Anhieb kameratauglich ohne kleine oder größere Patzer. Auch die Statisten machten alles richtig. Ihre Gesichter strahlten eine ehrliche Freude aus, während der Tee serviert wurde. Trotzdem drehten sie zwei weitere Runden, bis James und das Kamerateam zufrieden waren.
Ein Gefühl der Erleichterung durchströmte ihn, als er den Anwesenden dankte. Er überließ seinen Leuten das Aufräumen. Aus dem für ihn reservierten Schrank holte er sich sein Phone und schickte Beth eine SMS. Kurz darauf antwortete sie: „Bin in meinem Büro.“ Beth hatte zwei Arbeitszimmer, eines im Geschäftsgebäude und eines in ihrer privaten Villa. Das in ihrem Zuhause nannte sie liebevoll Bibliothek, denn dort sammelte sie Bildbände und Bücher über Tee und Gewürze, die wie kleine Schätze in den Regalen standen.
Entschlossen verließ James das Teehaus. Ein angenehmer Windhauch kühlte seine Haut. Er schlenderte in Richtung der Villa, die ihnen als Geschäftsgebäude diente und auch als Studio und Filmkulisse fungierte. Zwei aneinandergrenzende Grundstücke gehörten ihm und Beth. Das erste war geprägt von der dekorativ gestalteten Villa mit dem charmanten Teehaus und der sorgfältig gepflegten Grünfläche. Es vermittelte den Eindruck eines harmonischen Zusammenspiels von moderner Eleganz mit traditionellen asiatischen Elementen. Die Architektur des Anwesens spiegelte die Ästhetik klassischer chinesischer Baukunst wider, mit geschwungenen Dächern und kunstvollen Holzschnitzereien, die Geschichten aus der reichen Vergangenheit Chinas erzählten. Um den Besuchern ein unvergessliches Erlebnis zu bieten, waren einige dekorative Elemente bewusst verspielter gestaltet, ein Hauch von Kitsch, der dem Ort eine besondere Note verlieh und ihn zu einem beliebten Fotomotiv machte. In diesem Garten gab James Taijiquan-Kurse und er war so angelegt worden, dass er eine Atmosphäre des Friedens ausstrahlte. Der kleine, plätschernde Brunnen darin unterstützte diese Wirkung und er bot den Vögeln auch einen Platz, an dem sie ihren Durst stillen und baden konnten.
Auf dem Privatgrundstück hingegen herrschte eine schlichte Schönheit vor. Subtile Details erzählten Geschichten von Traditionen und Erinnerungen, die tief verwurzelt waren. Die großen Bäume darin wirkten alt, was den Eindruck der Beständigkeit verstärkte. In Wirklichkeit stammten sie aus einer Baumschule und waren hierher versetzt worden. Dank der unermüdlichen Bemühungen der Gartenbaufirma gediehen sie und hatten ihre Wurzeln jenseits des Ballens geschlagen, in dem sie angeliefert worden waren. James fühlte Stolz über das, was er und Beth gemeinsam aufgebaut hatten, ein Leben voller Geschmack, Kultur und unvergesslicher Momente.
Die Empfangsdame grüßte James mit einem respektvollen, warmen Lächeln. Er nickte ihr und den anderen Mitarbeitern zu, denen er auf dem Weg in den ersten Stock begegnete. In seinem eigenen Büro suchte er hastig das Bad auf, um sich kurz zu erfrischen. Er ließ kaltes Wasser über seine Handgelenke fließen, spritzte sich etwas davon ins Gesicht und trocknete sich mit einem flauschigen Händehandtuch ab. Danach trat er durch die offene Verbindungstür in Beths Raum, die ihn sogleich zu sich winkte, während sie telefonierte. James lauschte aufmerksam ihren Worten und spürte ein leichtes Unbehagen in seiner Magengegend. Weshalb feilschte sie gerade Preise für verschiedene Teesorten, die sie bei der Calming Your Soul verwendeten, um ihre Blends zu mischen? Musste er sich Sorgen machen? Bald würde er es erfahren.
Sein Magen knurrte laut und erinnerte ihn daran, dass er noch nichts gegessen hatte. Kurzentschlossen öffnete er Beths Kühlschrank, in dem wie immer Sandwiches lagen. Der Anblick der sorgfältig eingewickelten Weißbrote ließ ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen. Er nahm sich eines heraus und hielt es sehnsüchtig vor ihr hoch. Sie rollte mit den Augen, nickte aber mit einem nachsichtigen Lächeln. Ja, sie war es gewohnt, dass er ihr die Sandwiches klaute. Dabei sorgte die Kantine dafür, dass auch in seinem Kühlschrank stets eine Auswahl lag.
Mit gutem Appetit vertilgte er das Eiersalatsandwich und genoss den Geschmack des Eis gemischt mit der leicht scharfen Creme aus Mayonnaise und Senf. Der vertraute Genuss bot Komfort und er dachte sich: Welche Hiobsbotschaft ihn auch immer erreichen würde, gut gespeist ließ sie sich bestimmt besser verkraften. Für James war das Essen nicht nur eine Notwendigkeit, sondern auch ein Moment der Ruhe inmitten seines hektischen Lebens.
Endlich beendete Beth die Verbindung und nahm das Headset ab.
„Gurkensandwich!“, wies sie ihn an und ohne zu zögern erhob er sich, um ihr das Geforderte zu holen. Er warf es ihr zu. Sie fing es geschickt mit einer schnellen und präzisen Bewegung auf, wickelte es aus der raschelnden Papierfolie und verschlang es gierig. Danach nahm sie einen tiefen Zug aus ihrem Wasserglas und rülpste ungeniert, eine Handlung, die für Außenstehende allzu zwanglos anmutete, aber für James war es einfach Beth in ihrer ungeschminkten Ehrlichkeit.
Niemals würde sie das vor den Kindern oder anderen Erwachsenen tun. Diese Freiheit erlaubte sie sich nur in seiner Gesellschaft. Lächelnd erinnerte sich James an einen bestimmten Tag voller Lachen und kindlicher Unbeschwertheit, den sie miteinander erlebt hatten. Als halbwüchsige Schüler hatten sie einen Rülpswettbewerb veranstaltet und deshalb fühlte sie sich frei genug in seiner Gegenwart, diese Erinnerung an ihre gemeinsam verbrachte Schulzeit gelegentlich mit ihm zu teilen.
Mit dem Schmunzeln noch auf den Lippen trat James zur Espressomaschine und bereitete sich einen Milchkaffee zu. Wie üblich zischte die Maschine, als das heiße Wasser durch das Kaffeepulver gepresst wurde. Der Kaffeeweißer in der entsprechenden Kapsel war pflanzlichen Ursprungs.
„Du auch einen?“, fragte er sie über seine Schulter hinweg, doch Beth schüttelte den Kopf und machte einige hastige Aufzeichnungen auf ihrer Papier-Schreibtischunterlage zum Abreißen. Beth liebte es, während ihrer Telefonate darauf zu kritzeln oder wichtige Informationen und Gedanken zu notieren. Am Ende des Tages gab sie das Blatt ihrer Assistentin, die die handschriftlichen Notizen dann ins Digitale übertrug. Arbeitete Diana im Homeoffice, schickte Beth ihr Fotos von der Unterlage.
Geduldig wartete James, bis Beth aufsah und tief seufzte. Eine spürbare Anspannung lag jetzt in der Luft.
„Matthew Kaufman, der Geschäftsführer, den dein Vater dir bei der Wu’s Tea Time vor die Nase gesetzt hat, kam auf die glorreiche Idee, die Rohstoffpreise für Calming Your Soul zu erhöhen. Ab dem nächsten Ersten bekommen wir keinen Familienrabatt mehr und sollen die normalen Großhandelspreise wie jede andere Firma zahlen. Unser Einkauf hat mich aufgeregt angerufen, ob wir das so vereinbart hätten.“
Ihre Worte legten sich wie ein schwerer Stein auf sein Herz und gleichzeitig stieg ein Sturm aus Ärger und Frustration in James auf. Er sprang abrupt vom Stuhl auf und eilte zum Fenster, wo er die Balkontür öffnete und hinaustrat. Die frische Luft umhüllte ihn wie eine belebende Umarmung, während er mehrmals tief ein- und ausatmete und dabei einen leichten Blütenduft wahrnahm. Allmählich beruhigte sich sein Herzschlag. Er zupfte einige welke Blätter von den Balkonpflanzen, nahm bewusst die Schönheit der Blüten in sich auf und ließ seinen Blick über die blühenden Pflanzen schweifen – ein kleiner Trost inmitten des Chaos.
Zwei Loris, die an einer Vogeltränke in der Nähe ihren Durst stillten, hielten in ihrem Tun inne und grüßten ihn mit schrillen Lauten, als würden sie seine Unruhe spüren. Er winkte ihnen zu und sie hüpften fröhlich auf und ab, Sie schienen sich zu freuen, ihn zu sehen, was ihm einen Moment der Leichtigkeit schenkte. Das Männchen breitete stolz die Flügel aus und nahm ein Bad in der Tränke. Das Wasser darin spritzte und die Tropfen funkelten von den Sonnenstrahlen, die sie einfingen. Währenddessen flog das Weibchen zum Balkon und streckte James sein Köpfchen zum Kraulen entgegen, ein Angebot, das er gerne annahm. Diese zutraulichen Wildvögel waren Teil ihrer kleinen Oase – sie wurden zwar offiziell nur mit Wasser versorgt und nicht gefüttert, doch schlau wie sie waren, stibitzten sie gelegentlich Früchte von den Tellern der Angestellten und Gäste.
Das Vogelweibchen schüttelte sich und flog zurück zu seinem Partner. James‘ zornige Reaktion auf die Nachricht war gewichen und er fand langsam seine innere Gelassenheit wieder.
Im Bad wusch er sich kurz die Hände, atmete tief durch und kehrte dann zu Beth zurück. „Mit wem hast du telefoniert?“
Beth grinste schlau. „Mit Mahomes Tee4Two. Und ich kann dir sagen, dass Patrick sich bei den Preisen sehr entgegenkommend gezeigt hat.“
James strich sich nachdenklich über das Kinn, um das Gehörte zu verarbeiten. Ja, Beth und er besaßen die Calming Your Soul zu gleichen Anteilen. Dennoch hätte sie besser vorher sein Okay eingeholt, bevor sie sich mit einem Konkurrenzunternehmen der Wu’s Tea Time in Verbindung setzte und dem Eigentümer dort steckte, dass es bei den Wus innerfamiliäre Streitigkeiten gab.
Als ob sie seine Gedanken lesen konnte, wandte Beth ein: „In der Branche ist es doch sowieso ein offenes Geheimnis, dass du und dein Vater völlig unterschiedlicher Meinung darüber seid, wie man einen Teehandel führt. Welcher Vater, der stolz auf seinen Sohn ist, speist ihn schon mit dem Titel Marketingchef ab und lässt das Finanzwesen von einem seiner Speichellecker führen?“
Indigniert erwiderte James: „Meine Marketingmaßnahmen sind der Grund, weshalb es die Wu’s Tea Time überhaupt noch gibt.“
„Absolut!“, pflichtete Beth ihm bei. „Dein Vater ist zu stolz und kurzsichtig, um das zuzugeben. Damit reißt er die Firma in den Abgrund.“
Ein schweres Schweigen legte sich zwischen die beiden Eheleute und unausgesprochene Gedanken schwebten im Raum – Sorgen um das Erbe der Familie Wu.
„Falls es dich beruhigt“, begann Beth nach einer Weile mit Bedacht in ihrer Stimme. „Ich habe Pat gesagt, dass ich erst mit dir über die Sache reden muss. Sein Angebot steht für 48 Stunden. Danach müssten wir neu verhandeln. Ich glaube, er hat sich so sehr darüber gefreut, dass die Wus sich miteinander streiten, dass er uns ein besonders gutes Angebot gemacht hat. Wir sollten den Deal machen, bevor er es sich anders überlegt.“
James nippte an seinem mittlerweile abgekühlten, lauwarmen Milchkaffee und der bittere Geschmack versetzte ihm einen weiteren Stich. „Mit anderen Worten: Pat wirft mit seinem Angebot noch Holz in die Flamme, um das Feuer des Zwists zwischen Vater und mir zu schüren.“
„Als gäbe es da noch etwas zu schüren“, meinte Beth mit ironischer Stimme, in der auch ein Hauch Mitgefühl für ihn und seine familiäre Situation mitschwang. „Dein Vater weigert sich, dir Firmenanteile zu verkaufen, damit dein Geld die Firma saniert. Und du weigerst dich zu Recht, dein Geld ohne Sicherheiten zu investieren. Den Vorschlag unseres Anwalts, einen Erbvertrag aufzusetzen, der dir die Übergabe der Firma in zehn Jahren garantiert, hat dein Vater entrüstet ausgeschlagen. Er verbitte sich die Einmischung in seine geschäftlichen Entscheidungen. Absoluter Unsinn! Erst sagt er, dass du sowieso sein Erbe bist und dann weigert er sich, das schriftlich festzuhalten.“
Mit Mineralwasser spülte James den strengen Geschmack des Kaffees aus seinem Mund. Die Situation zwischen ihm und seinem Vater war festgefahren und in einer Sackgasse gelandet. Lange genug hatte sich James von ihm gängeln lassen. Jetzt stand er an einem Scheideweg und musste sich entscheiden. Nahm er das Angebot von Pat Mahomes an, führte das unweigerlich zu einem Bruch mit seinem Vater, einem Mann, der ihm weder Liebe gezeigt hatte noch ein Mindestmaß an Zuneigung. Kein halbwegs wirtschaftlich denkender Kreditgeber ließ sich ohne Sicherheiten auf ein Geschäft ein. Gab James seinem Vater das Geld aus familiärer Verbundenheit, kam das dem Grunde nach einem Geschenk gleich, ahnte er. James murmelte:
„Hätte unser Wirtschaftsprofessor nicht so viele Beispiele mit uns durchgesprochen, in denen die Erben immer wieder hingehalten wurden, und der Inhaber die Firma dann am Ende doch verkauft oder eine familienfremde Person zum Geschäftsführer gemacht hat, würde ich vielleicht einknicken.“
„Wir verschleudern unser sauer verdientes Geld nicht“, erwiderte Beth entschieden und runzelte die Stirn. Ihre Augen funkelten vor Entschlossenheit und einer leichten Irritation über James‘ Zögern.
„Nein, das tun wir nicht“, bestätigte er mit fester Stimme. „Wir geben es mit Bedacht aus. Unser Studium der Betriebswirtschaft und der Rechtswissenschaften hilft uns dabei, die richtigen Entscheidungen zu treffen.“
„Ganz genau! Was soll ich jetzt Pat sagen?“
„Ist sein Angebot wirklich so gut?“
„Besser!“
Entschlossen und ohne weiteres Zögern erklärte James: „Okay, wir machen es! Und wenn wir das angehen, dann richtig. Frag Pat, ob er Lagerfläche übrig hat, in der wir für ein Jahr ein Teekontor führen können. Bis dahin haben wir hier unser eigenes Teekontor aufgebaut.“
Beth sprang vom Stuhl und jubelte vor Freude. Ihre aparten Züge strahlten vor Begeisterung. „Ja! Endlich!“
Die Pläne für ein eigenes Teekontor lagen seit ungefähr drei Jahren in der Schublade. Sie hatten den Bau nie verwirklicht, weil die Miete für die Räume bei der Wu’s Tea Time so unschlagbar günstig war. Einige Schritte zur Baugenehmigung hatte ihr Projekt bereits durchlaufen. Sie wussten, welche behördlichen Auflagen sie zu erfüllen hatten.
Plötzlich flog die Tür des Büros mit Wucht auf und prallte mit einem lauten Knall an die Wand. Hinein stürmte ihr Finanzchef.
„Ja?“, fragte Beth kühl. Ihr Stirnrunzeln verriet James jedoch ihre innere Anspannung, ein Gefühl, das auch in ihm anstieg, nachdem er es kurz zuvor überwunden hatte.
„Die Miete für das Teekontor wurde verzehnfacht. Das ist Wucher! Für diesen Preis bekommen wir ja Räume in Sydney in allerbester Lage.“
Beth und James sahen sich an und brachen dann in schallendes Lachen aus, das die Anspannung in ihnen fortwischte. „Wir sprachen gerade über die Anmietung eines neuen Lagers“, sagte James schließlich mit einem breiten Grinsen. „Ich denke, wir sollten so schnell wie möglich ein Meeting anberaumen, um den Umzug unserer Ware zu planen.“
In diesem Moment spürten Beth und James eine Welle der Aufregung und Hoffnung. Sie wussten, dass sie ein neues, spannendes Kapitel für ihre gemeinsame Teefirma Calming Your Soul aufschlugen.
Ein Jahr später hielt sich die kleine Zweimann-Grafikdesignagentur von Chris Morgenstern und Benjamin Neltner nur mühsam über Wasser, die sie in einem ehemaligen Laden eines charmanten Berliner Altbaus betrieben. Das Licht fiel durch das Ladenfenster auf ihre Schreibtische. Die Wände waren mit Postern vergangener Projekte geschmückt. Ihr Einkommen stammte hauptsächlich aus der Gestaltung von Buchcovern und Industriedesigns. Doch das Geschäft mit den YouTube Creators war signifikant eingebrochen. Zahlreiche Influencer-Kunden setzten jetzt auf AI-Grafiken für ihre Thumbnails, wodurch traditionelle gestalterische Handarbeit, die Erfahrung und das Können von Künstlern und Grafikdesignern im YouTube-Umfeld zunehmend in den Hintergrund gedrängt wurde.
Um ihre angespannte finanzielle Lage zu verbessern, filmten Benjamin und Chris nebenbei amüsante YouTube-Tutorials über Aquarellmalerei. Damit gewannen sie einige tausend Follower. Ben, dessen Herz für die Malerei schlug und der ein tiefes Wissen darüber hatte, übernahm in den Videos die Rolle des Lehrers, während Chris den eifrigen Schüler mimte. Die komödiantischen Elemente kamen beim Publikum gut an, dennoch blieben die Werbeeinnahmen aus dem Kanal eher dürftig. Immerhin flossen sie regelmäßig, was ihnen ein kleines finanzielles Polster verschaffte.
Das Sponsoring brachte ihnen zusätzlich etwas mehr Geld ein.
Lange hatten sie darüber diskutiert, bei welcher Art von Sponsor sie sich bewerben wollten. Skillshare? Nein! Die Vertragsbedingungen dieses Anbieters waren für die Nutzer so undurchsichtig, dass man sie erst nach der Anmeldung entdeckte.
Squarespace? Gab es wirklich so viele Zuschauer, die sich für einen Webspace-Anbieter interessierten? Probehalber hatten Benjamin und Chris sich beworben, doch das Angebot war am Ende nicht überzeugend gewesen.
„Es fällt mir schwer, nachzuvollziehen, weshalb wir unsere Homepage migrieren sollen“, sagte Chris eines Abends frustriert zu Ben, während er eine Fritzchen-Kola öffnete und den kühlen Sprudel auf seiner Zunge prickeln ließ. „Für ein paar Kröten gebe ich unsere Unabhängigkeit nicht auf.“ Er und Benjamin waren stolz darauf, als Grafikdesigner genug Ahnung von Webgestaltung zu haben, um ihre eigene Homepage zu pflegen.
Schließlich schrieben sie den Getränkehersteller Fritzchen-Kola an und ergatterten einen kleinen Sponsoring-Vertrag. Sie hätten einen höheren Betrag eingestrichen, wenn sie zugestimmt hätten, ausschließlich Fritzchen-Getränke in ihren Videos zu zeigen. Aber für einen Exklusivvertrag war das Geld einfach zu wenig gewesen.
Nun ließen sie sich also von der fritzchen-kola GmbH dafür bezahlen, dass sie deren Getränke werbegerecht in ihren Videos tranken. Das fiel ihnen leicht, da sie beide das Produkt mochten. Allerdings hatte die Sache einen Haken. Die Marke war nur im deutschsprachigen Raum bekannt. Wollten sie ihre Videos auch auf Englisch für ein internationales Publikum präsentieren, brauchten sie einen anderen Sponsor.
Chris hatte eine große, australische Teefirma namens Mahomes Tee4Two gefunden, die ihre Produkte weltweit exportierte. Fragen kostet nichts, hatten die beiden Freunde sich gedacht und sich um ein Sponsoring beworben.
Ohne auf ihr Anlegen einzugehen, hatte eine Frau namens Beth O’Heart Wu per E-Mail nach ihrer Preisliste für Grafikdesign-Dienstleistungen gefragt. Natürlich hatten sie ihr sofort das PDF geschickt. Seit drei Wochen warteten sie auf Antwort und jeden Tag wurde die Hoffnung kleiner. In dieser Zeit spürten Chris und Benjamin den Druck des finanziellen Überlebens. Die Unsicherheit nagte an ihrem Selbstvertrauen als Kreative. Sie arbeiteten mit Feuereifer an ihren Tutorials, tauchten dabei in eine Welt aus Farben und versuchten, das Beste aus ihrer Situation zu machen.
An der Tür ihrer beiden Firmenräume klingelte es. Chris schlurfte dorthin und lugte vorsichtig über den Sichtschutz der Glastür hinweg. Vor ihm stand Ulf, ihr regulärer Paketbote, der mit einem freundlichen Lächeln auf sie wartete. Chris schloss auf und wechselte ein paar Worte mit ihm.
„Hallo Chris! Unter die Teetrinker gegangen?“, fragte er mit einem schelmischen Grinsen.
„Hm?“, antwortete Chris verwirrt.
„Das Paket kommt von einer Teefirma!“
Ulf schob mit dem Fuß das große Paket in Richtung Chris, der sich bemühte, es anzuheben. „Uff! Schwer!“
„Lass mal einen richtigen, starken Mann ran“, meinte der Bote und hob die Last mühelos hoch. Seine Muskeln spannten sich unter dem Stoff seines Hemds. Ulf zwinkerte Chris zu und stellte es ab.
„Und was bin ich dann?“, wollte dieser wissen und versuchte, seine Männlichkeit zu verteidigen, indem er mit möglichst tiefem Timbre sprach. „Dass du kräftiger als ich bist, das gebe ich gerne zu.“
„Ein Sahneschnittchen, weißt du doch“, antwortete Ulf mit breitem Grinsen. „Ein männliches Sahneschnittchen“, fügte er mit einem Augenzwinkern hinzu, als Chris die Stirn runzelte. Das erheiterte Chris augenblicklich und er zwinkerte zurück: „Na, wenn das nicht das schönste Kompliment des Tages ist! Du weißt, wie man jemanden erröten lässt.“
„Wie immer ein Schmeichler, unser lieber Ulf“, rief Benjamin von seinem Schreibtisch aus und ließ dabei seinen Stift klappernd auf den Tisch fallen.
Währenddessen unterschrieb Chris auf dem Gerät, hörte das leise Piepen und fischte eine Flasche Fritzchen-Kola aus dem in der Nähe stehenden Kasten als Trinkgeld für Ulf. Seit Fritzchen-Kola sie sponsorte, gab es bei ihnen einen Überfluss an diesen Getränken. Die monatliche Lieferung an Fritzchen-Produkten gehörte zum Vertrag dazu.
Ulf linste neugierig in eine der Getränkekisten. „Kann ich stattdessen so eine Brause bekommen? Die wollte mein Freund immer schon mal probieren, aber bisher suchten wir sie vergeblich im Handel. Ich wäre sein Held.“
Ben, der nun herangeschlendert gekommen war, händigte ihm sofort die entsprechende Flasche aus. „Viel Spaß damit“, meinte er mit einem warmen Lächeln. Ulfs Wangen erröteten leicht vor Freude.
Chris stieß Benjamin spielerisch mit dem Ellbogen in die Rippen und spürte dabei eine angenehme Leichtigkeit in der Luft – ein Moment des Zusammenhalts zwischen Freunden und Geschäftspartnern.
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Die neuen Eigentümer der Mahomes Tee4Two, James Wu und Elizabeth O’Heart Wu, produzierten anlässlich des Besitzerwechsels eine Werbekampagne und ließen einige Grafiken durch Chris und Benjamin designen. Wie sich herausstellte, war Mrs Wu auf YouTube auf die beiden aufmerksam geworden, weil ihre Tochter Maeve so begeistert die lustigen Aquarellvideos schaute. Zwar sprach Mrs Wu kein Deutsch, aber sie ließ durchblicken, dass ihre Kinder mehrsprachig aufwachsen würden.
„Typisch überehrgeizige chinesische Eltern halt“, hatte Benjamin schulterzuckend gesagt, während er mit Schwung durch die Unterlagen blätterte und das Rascheln des Papiers eine hektische Unruhe verbreitete. Geduldig ließ Chris ihn gewähren. Er konnte das Material nachher noch selbst gründlich studieren „Wie gut, dass wir unsere Agentur-Homepage auf dem Kanal verlinkt haben“, meinte Benjamin.
Innerlich schüttelte Chris den Kopf über Bens herablassenden Kommentar. Nur weil den Kindern der Wus durch das Vermögen ihrer Eltern mehr Chancen geboten wurden, hieß das noch lange nicht, dass sie in irgendeiner Weise überfordert waren.
„Wo bleibt dein Respekt, Ben? Bei der blöden Bemerkung vermisse ich ihn. Wir hegen nur freundliche und positive Gedanken über unsere Kunden, bis ...“
„... sie uns ihre weniger professionelle Seite zeigen“, vervollständigte Benjamin den Satz. „Ich bin und bleibe eben ein Spötter.“
Gemeinsam sichteten er und Chris die Unterlagen, die ihnen aus Australien zugesandt worden waren. Chris las laut aus der Broschüre vor:
„Der bisherige Eigner Patrick Mahomes setzt sich zur Ruhe, um in Zukunft mit seiner Frau Gwen eine Weltreise zu machen. Das hat er ihr bei der Heirat versprochen. Seine Tochter Emma ist Modedesignerin und seine Tochter Claire strebt das Kapitänspatent an. Beide lieben Tee, wollen aber nicht in den Handel damit einsteigen. In den neuen Eigentümern James und Beth Wu hat der Senior eine fachkundige Nachfolge gefunden. James Wu wurde in die Teehändlerfamilie Wu geboren und hat sich bereits in seiner Studentenzeit mit Calming Your Soul einen eigenen Tee- und Gewürzhandel aufgebaut, tatkräftig und kompetent unterstützt von seiner Gattin. Patrick Mahomes ist hocherfreut, die beiden als seine Nachfolger gewonnen zu haben. James und Beth Wu werden die Mahomes Tee4Two in eine neue Ära führen und ganz sicher an den Erfolg der letzten Jahre anknüpfen.“
Als Chris das Foto von James Wu studierte, breitete sich ein warmes Gefühl in seiner Körpermitte aus. Was er sah, gefiel ihm – sogar zu gut, wenn man es recht bedachte. Der Teehändler strahlte eine Aura von Selbstbewusstsein und Charme aus, sein Lächeln war einladend und zugleich geheimnisvoll. „Schade, dass dieser sexy Mann verheiratet ist“, murmelte Chris leise vor sich hin.
Geschäftig flogen Benjamins Finger über die Tastatur seines Computers. „Wow, der Mann ist Geschäftsführer mehrerer Teefirmen. Und als Meditations- und Fitnessinfluencer hat er über zwei Millionen Follower auf YouTube.“
„Kanalname?“, wollte Chris wissen und er räusperte sich in der Hoffnung, den Eifer in seiner Stimme zu kaschieren.
„James Wu Meditation.“
„Schlicht“, meinte Chris.
„Funktioniert“, konterte Benjamin selbstbewusst. Sie hatten lange darüber diskutiert, wie sie ihren Aquarellkanal nennen wollten, und sich am Ende für Malen mit Ben und Chris entschieden. Die englischsprachige Version lautete: Painting with Ben und Chris. Auf dem Zweitkanal gab es bisher noch nicht viele Videos.
Chris rief den Kanal von James Wu auf und das Video auf der Startseite begann, automatisch zu spielen. Eigentlich empfand Chris diese Funktion als nervig und überflüssig. Sie war ihm oft zu lästig. Aber dieses Video sah er sich mit immer größer werdenden Augen an. Was er sah, fesselte ihn und ließ ihn gebannt auf den Bildschirm starren. Die sanfte Musik im Hintergrund verstärkte seine Faszination für den charismatischen Influencer vor ihm. „Der Mann ist fit!“, raunte er Benjamin zu.
„Den würde ich nicht von der Bettkante stoßen“, erwiderte Ben mit einem breiten Grinsen.
„Familienvater!“, erinnerte Chris ihn barsch und in ihm regte sich Eifersucht. Allein die Vorstellung, dass Ben an James Wu seinen Charme versuchte, bereitete ihm Übelkeit.
„Pah! Oft geht trotzdem was“, entgegnete Benjamin unbeeindruckt.
Innerlich zuckte Chris bei dieser Bemerkung zusammen, empfand er sie doch als grenzüberschreitend. Es ärgerte Chris, dass Benjamin sich so vorwitzig über James Wu äußerte. Um seine eigenen Gefühle zu kaschieren, sagte er: „Na dich braucht er bestimmt nicht, um die Freuden des Gay-Sex zu genießen. Der kann sich aus seiner Fitnessgemeinde bestimmt die Sahnestücke raussuchen.“
Benjamin streckte ihm provokant die Zunge raus und damit hakten sie das Thema sexy Meditations-Influencer ab. In Chris’ Innerem brodelte es weiterhin – eine Mischung aus Bewunderung für den charismatischen Influencer und dem nagenden Gefühl der Unsicherheit gegenüber seinem besten Freund.
Abends lümmelte Chris auf dem Sofa in seinem gemütlichen Wohnzimmer und ließ sich von der sanften Wärme seiner Siamkater Shadow und Sunny umhüllen, die sich behaglich auf seinem Schoß zusammengerollt hatten.