Die Sehnsucht des Prinzen - Junia Swan - E-Book

Die Sehnsucht des Prinzen E-Book

Junia Swan

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Beschreibung

Was passiert, wenn alles, was du gibst, nicht genug ist? Leonard of St. Ives hat alles bekommen, woraufhin er sein Leben lang hingearbeitet hat: Einen Titel, ein Herzogtum und Reichtum. Doch eines scheint unerreichbar zu sein: Isabels Liebe. Sie ist nicht nur die Frau seinen Bruders Rick, sondern verabscheut Leonard außerdem von ganzem Herzen. Als Rick bei einem Jagdunfall stirbt, bricht für Isabel eine Welt zusammen. Sie ist davon überzeugt, dass Leonard für seinen Tod verantwortlich ist. Doch Ricks letzter Wille bindet die beiden aneinander und Leonard muss beweisen, dass mehr in ihm steckt, als ein verantwortungsloser Beau. In ihrem größten Schmerz kämpft Isabel unterdessen nicht nur um den Ruf ihres verstorbenen Mannes, sondern aus Liebe zu ihm auch für die Zukunft seines Bruders. Denn Rick hat Leonard geliebt und ihm vergeben. Nun verlangt er das gleiche von Isabel.

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Prolog
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
Epilog
In dieser Reihe erschienen:
Das Geheimnis des Prinzen
Vorankündigung Frühling 2022:
Showdown der Liebe in Diggers Creek
Neuerscheinungen
Das Lied der Engel
Weitere Bücher der Autorin
Ein unbelehrbarer Captain
Die venezianische Schwester
Vor den Toren Jerusalems

Die Sehnsucht des Prinzen

Sammelband

Junia Swan

Roman

Über dieses Buch:

Leonard of St. Ives hat alles bekommen, woraufhin er sein Leben lang hingearbeitet hat: Einen Titel, ein Herzogtum und Macht. Doch eines scheint unerreichbar zu sein: Isabels Liebe. Sie ist nicht nur die Frau seinen Bruders Rick, sondern verabscheut Leonard außerdem von ganzem Herzen. Als Rick bei einem Jagdunfall stirbt, bricht für Isabel eine Welt zusammen. Sie ist davon überzeugt, dass Leonard für seinen Tod verantwortlich ist. Doch Ricks letzter Wille bindet die beiden aneinander und Leonard muss beweisen, dass mehr in ihm steckt, als ein verantwortungsloser Lebemann. In ihrem größten Schmerz kämpft Isabel unterdessen nicht nur um den Ruf ihres verstorbenen Mannes, sondern aus Liebe zu ihm auch für die Zukunft seines Bruders. Denn Rick hat Leonard geliebt und ihm vergeben. Nun verlangt er das gleiche von Isabel.

Über die Autorin:

Junia Swan entdeckte schon als Kind ihre Leidenschaft, Geschichten aufzuschreiben. Heute lebt sie ihren Kindheitstraum Tag für Tag. Nach sechzehn Jahren in unterschiedlichen Städten, kehrte sie vor einiger Zeit in ihre Heimat zurück und wohnt nun in einer historischen Kleinstadt in der Nähe ihrer Geburtsstadt Salzburg. In einem versteckten Zimmer, hinter dem gefüllten Bücherregal, schreibt sie ihre bewegenden Liebesromane. Jeder von ihnen hat eine besondere Entstehungsgeschichte. In ihrem Alltag kommt sie mit Themen in Kontakt, die sie zutiefst bewegen. Für die Autorin macht eine gute Geschichte eine Handlung aus, welche die Komplexität der Beziehungen und Situationen spiegelt. Sie träumt davon, eines Tages an einem Strand entlang zu gehen und jemanden zu sehen, der eines ihrer Bücher liest.

e-Book-Ausgabe April 2018

Titelbild: Motiv von Pixabay unter pixabay.com

© 2018 Junia Swan, Salzburg

Prolog

Mit hoch erhobenem Kopf stand Isabel einige Meter von ihnen entfernt inmitten eines Menschenspaliers. Leonard Prime, Prinz of St. Ives, entdeckte sie noch vor seinem Bruder Hendrick, der neben ihm stand und ihr den Rücken kehrte. Unwillkürlich beschleunigte sich Leonards Herzschlag bei ihrem Anblick. Nicht nur, weil er sie seit langem das erste Mal wiedersah – seit dem Tag, da er erkannt hatte, dass er sie liebte – sondern auch wegen des zerschnittenen Kleides, das sie an diesem Abend trug. In Fetzen hing es an ihrem Körper herab und erlaubte geradezu skandalöse Einblicke auf die Haut ihrer wohlgeformten Beine. Was hatte sie sich nur dabei gedacht, derart gekleidet auf diesem Ball zu erscheinen? Leonards Lächeln erlosch. Nur kurz verweilte ihr Blick bei ihm, dann ließ sie ihn weiter zu Hendrick gleiten, ihrem Mann, seinem Bruder. Rick musste Leonards Entsetzen gespürt haben, denn er drehte sich in Isabels Richtung und erstarrte im nächsten Augenblick. Leonard konnte es deutlich fühlen. Er spürte geradezu, wie Rick sich in sich selbst zurückzog und als er ihm einen schnellen Seitenblick zuwarf, sah er, dass sich sein Bruder von seiner Frau abwandte.

„Hör zu“, flüsterte Leonard und rempelte Rick an. „Geh zu ihr! Tue so, als wäre alles in Ordnung! Zeige ihr unter keinen Umständen, was du empfindest!“

„Sie demütigt mich schlimmer vor diesen schrecklichen Menschen, als es jemand jemals zuvor getan hat!“

Wie oft hatte er Rick während des letzten Jahres gesagt, dass er nicht so schnell aufgeben sollte? Würde er es denn nie lernen? Leonard lüpfte spöttisch eine Augenbraue.

„Schlimmer? Es ist nur ein Kleid, keine sexuelle Verirrung, über die man sich nun das Maul zerreißt.“

Rick atmete tief durch. Leonard hatte recht. Es war nur ein Kleid, kein gehässiges Gerücht über seine angeblichen perversen Vorlieben.

„Los! Geh!“, forderte Leonard erneut.

Mit einem Ruck drehte sich Rick um und setzte ein höfliches Lächeln auf, während er seiner Frau entgegenging. Leonard blickte ihm sehnsüchtig nach. Er hatte alles versucht, um Isabels Herz zu gewinnen, doch sie hatte sich für Hendrick entschieden. Oder besser gesagt, sie war vor ihm und ihrem Mann geflohen, doch es war offensichtlich, dass sie diesen noch immer liebte. Trotz all der Fehler, die sein Bruder in der Vergangenheit gemacht hatte. Leonard wusste, dass die einzige Möglichkeit, Isabel glücklich zu machen, darin bestand, sie wieder mit Rick zu vereinen. Trotzdem zerriss es ihn innerlich, den beiden dabei zu helfen, wieder zueinander zu finden. Aber für Isabels Glück würde er alles tun. Davon war er überzeugt.

Es war vollkommen still im Saal, keiner wollte auch nur ein Wort von dem verpassen, was nun gesagt wurde.

„Mylady, wie überaus bezaubernd! Euer neuer Stil? Amerikanisch?“, drang Ricks Stimme an seine Ohren.

Wie es schien, kam Rick nun bestens mit der Situation zurecht und Leonards Mundwinkel zuckten amüsiert. Er konnte aus der Ferne beobachten, wie Isabels herausfordernder Blick innerer Verunsicherung wich und das würdevoll gereckte Kinn ein wenig nach unten sank. Als Rick sie erreichte, verbeugte er sich galant und bot ihr seinen Arm.

„Ich nehme an, Ihr wollt tanzen. Genug Beinfreiheit habt Ihr immerhin.“

Als die gaffende Menge erkennen musste, dass es zu keinem Eklat zwischen dem unkonventionellsten Ehepaar Englands kam, wandte man sich wieder anderen Dingen zu und die Musik setzte ein.

Leonard richtete unnötigerweise seine Manschetten und straffte die Schultern, dann wandte er sich wieder seinem Gesprächspartner zu. Trotzdem verfolgte er die beiden aus dem Augenwinkel, bis sie schließlich ins Freie verschwanden.

Während des ganzen Abends sah er sie nicht wieder und Leonard war sicher, dass das Paar seine Probleme würde klären können und einer gemeinsamen Zukunft nichts mehr im Wege stand. Hätte ihm vor etwas mehr als einem Jahr jemand gesagt, dass er sich in die Frau seines Bruders verlieben würde, hätte er denjenigen für verrückt erklärt. Doch die Reinheit ihres Herzens sowie Isabels Mut hatten ihn tief beeindruckt und ihn das erste Mal seit langer Zeit etwas fühlen lassen. In all den Jahren hatte er nicht eine der vielen Frauen geliebt, die seinen Weg kreuzten. Ausgerechnet an die Frau, die für ihn unerreichbar war und ihn verabscheute, hatte er sein Herz verloren. Ironie des Lebens, dachte Leonard und schüttelte den Kopf. Selbstlose Liebe. Das erste Mal handelte er ohne Hintergedanken für das Glück eines anderen Menschen. Nicht nur das, seine Bemühungen trieben die Frau seiner Sehnsucht sogar noch fort von ihm und in Ricks Arme zurück. Über den neuen Leonard konnte er nur staunen. Er hatte sich verändert, davon war er überzeugt. Doch es gab niemanden, mit dem er diese Veränderung teilen konnte, denn der einzige Mensch, den er an seinem neuen Wesen Anteil nehmen lassen wollte, gehörte zu einem anderen.

1. Kapitel

Isabel blickte unruhig aus dem Fenster in Richtung der breiten Zufahrt ihres Anwesens Old Owl Wood. Jeden Augenblick erwartete sie ihren Mann Rick an der Seite seines Bruders Leonard zurück. Während sie sich angespannt auf die Unterlippe biss, strich sie mit einer Hand unbewusst über ihren leicht gerundeten Bauch. Eine kleine Bewegung ließ sie kurz innehalten und lächeln. Ihr viertes Kind strampelte vergnügt in ihrem Leib, dieses Mal würde es ein Bub werden, dessen war sie sich absolut sicher. Nach drei Mädchen war es nun wirklich Zeit für ein weiteres männliches Wesen in ihrem Haushalt! Obwohl Rick seine Töchter abgöttisch liebte, wusste Isabel doch, dass er sich auch einen Sohn wünschte. Natürlich würde er auch eine weitere Tochter herzlich willkommen heißen, trotzdem sah sie seinen sehnsüchtigen Blick, wenn er einen Vater mit seinem Sohn beobachtete. Isabel seufzte und blickte zu der großen Standuhr, die an der Wand ihr gegenüber platziert war und laut tickte. Bald würde es dunkel werden. Wo blieben die beiden nur? Wahrscheinlich waren sie in einem Gasthof eingekehrt, um eine erfolgreiche Jagd zu feiern und hatten dabei die Zeit übersehen. Es sei ihnen vergönnt, dachte sie mit einem ungeduldigen Seufzen, als sie eine Bewegung am Ende der Allee sah und ein Auto erkannte, das auf das Anwesen zurollte. Sofort beschleunigte sich Isabels Herzschlag und sie eilte vor die Tür, um ihren Mann zu erwarten. Mehrere Tage waren vergangen, seit er sie mit den Kindern zurückgelassen hatte, um an seines Bruders Seite das Jagdrevier zu durchforsten. Endlich war Rick zurück! Endlich! Sie hatte ihn so sehr vermisst! Jede Sekunde, die er nicht an ihrer Seite war, schien für sie verloren zu sein. Ach, wie sehr liebte sie ihn! Den Ausdruck seiner Augen, wenn er sie liebevoll musterte, die Wärme seiner Hände, wenn er sie berührte, die Freundlichkeit seiner Worte, wenn er mit ihr sprach, die Sicherheit seiner Präsenz, wenn er bei ihr war. An seiner Seite wurde sie mutiger, stärker und zu einem besseren Menschen. Sie mochte sich selbst, wenn er bei ihr war, denn nicht nur seine Blicke vermittelten ihr, wie er sie sah. Welcher Mensch sie in seinen Augen war. Oh, sie war nicht halb so gut, wenn sie nicht in seiner Nähe war!

Das Auto hielt und Isabel wartete darauf, dass Rick endlich die Tür öffnete, seine Arme ausbreitete, sie darin auffing und an sich zog. Doch sekundenlang rührte sich nichts. Deswegen bückte sie sich ein wenig, um ins Innere spähen zu können. Just in diesem Moment wurde die Tür aufgestoßen und der beschuhte Fuß eines Mannes kam zum Vorschein und stellte sich auf den Boden. Im nächsten Moment erkannte sie ihren Schwager Leonard, der sich zu seiner vollen Größe aufrichtete. Nur flüchtig nickte sie ihm zu und erwartete, dass Rick ihm folgen würde. Verwirrt beobachtete sie, dass Leonard die Tür hinter sich zuschlug. Zögernd kehrte sie mit ihrem Blick zu ihrem Schwager zurück. In diesem Augenblick entdeckte sie eine Anspannung in Leonards Miene, die sie besorgt die Stirn runzeln ließ. Noch einmal sah sie in Richtung des Autos und eine dunkle Vorahnung ließ sie den Atem anhalten und ihren Puls rasen.

„Wo ist Rick?“, fragte sie leise.

Leonard griff nach ihrem Arm und wollte sie ins Innere führen, doch Isabel riss sich los.

„Wo ist Rick? Was habt Ihr mit ihm gemacht?“

Die Verzweiflung, die von ihr Besitz ergriffen hatte, ließ ihn tief Luft holen.

„Gehen wir in den Salon, Isabel! Ich muss mit Euch reden!“

Ihre Augen blitzten feindselig auf, als sie ihn erneut taxierte.

„Ich möchte nicht mit Euch sprechen, sondern mit Rick! Wo ist mein Mann?“

Wieder griff er nach ihr.

„Kommt mit mir in den Salon! Ich werde Euch sofort berichten.“

Alle Farbe wich aus Isabels Antlitz und sie schwankte. Schnell legte Leonard stützend einen Arm um ihre Taille. Sie versuchte sich ihm zu entwinden, doch er zog sie unbarmherzig mit sich ins Innere. Bevor er die Salontür hinter sich schloss, gab er sie frei.

„Setzt Euch aufs Sofa!“

Mittlerweile zitterte sie.

„Bitte, Euer Gnaden, sagt mir, dass es Rick gut geht! Dass ihm nichts passiert ist!“

Leonard wich ihrem Blick aus und fuhr sich durchs rabenschwarze Haar. Wie sollte er ihr erklären, was geschehen war? Wie sollte er ihr jemals sagen, was sich vor wenigen Stunden zugetragen hatte?

Während der langen Fahrt zurück nach Old Owl Wood hatte er sich den Kopf darüber zerbrochen, wie er ihr das Unfassbare erklären könnte. Mit seinem Bericht würde er ihre Welt zum Einsturz bringen, ja, er würde sie aus den Angeln reißen und sie würde explodieren. Nichts wäre mehr so wie zuvor. Wenn doch nur jemand anderer diese Aufgabe übernehmen könnte!

Wie gerne würde er nun zur Bar gehen und sich einen Drink einschenken! Sein Mitgefühl verbot es ihm jedoch, Isabel länger auf die Folter zu spannen. Mit den Augen suchte er die ihren, welche weit aufgerissen waren und ihn flehentlich anstarrten. Als erwartete sie bereits die schreckliche Nachricht, bat aber darum, dass er sie ungeschehen machte.

„Es sind keine guten Neuigkeiten, die ich Euch überbringen muss“, presste er schließlich mit rauer Stimme hervor, während sein Gesicht hart wurde.

Unwillkürlich hob Isabel ihre Hände. Eine ans Herz, die andere vor den Mund. Die ersten Tränen schimmerten in ihren Augen.

„Rick hatte einen Unfall.“

„Nein!“

Es war ein dumpfer Aufschrei und doch dem Laut eines verwundeten Tieres ähnlich. Panisch sprang sie auf. Er wusste nicht, wie er es sagen sollte, deswegen machte er es kurz: „Er ist tot.“

Mitten in der Bewegung hielt sie inne, dann stürzte sie zu ihm und rüttelte ihn.

„Das kann nicht sein! Ihr lügt! Was habt Ihr mit ihm gemacht? Wo ist er? Wieso seid Ihr so grausam ...“

„Isabel.“

Alle Liebe legte er in ihren Namen und griff nach ihren Händen, die sich in sein Hemd gekrallt hatten.

„Hört mich an! Rick ist tot! Es tut mir so leid, aber wir konnten nichts mehr für ihn tun ...“

„Nein“, stammelte sie, „nein! Ich kann das nicht glauben! Ich will auf der Stelle zu ihm! Bringt mich zu ihm!“

„Man wird seinen Leichnam morgen früh hierher überführen.“

Die Fäuste unter seinen Handflächen verloren an Kraft und sie suchte seinen Blick. Forschend und ungläubig. Diesmal wich er ihrer Musterung nicht aus und musste beobachten, wie schreckliches Entsetzen sie packte, während sie die Wahrheit erkannte. Dann schrie sie auf, laut und animalisch. Ein Schrei so schmerzlich, wie ihn nicht einmal Tiere im Todeskampf ausstießen. Es war ein Laut, der Leonard in seiner Hoffnungslosigkeit durch Mark und Bein fuhr und ihn mehr quälte als jede Folter. Dann brach sie zusammen und er fing sie im letzten Moment auf, hielt sie in seinen Armen und wollte sie tröstend an sich drücken. Doch sie stieß ihn weg.

„Lasst mich los! Ihr Teufel! Ihr habt ihn getötet! Ihr habt meinen Rick getötet!“

„Nein, Isabel! Es war ein Unfall!“

Rückwärts wich sie vor ihm zurück, die Arme abwehrend erhoben. Im nächsten Moment sackte sie zusammen und landete auf den Knien. Er wollte herbeieilen, um ihr beizustehen, doch er wagte es nicht. Alles, was ihm zu tun blieb, war, sie bei ihrem Todeskampf zu beobachten. Er wurde Zeuge, wie ihr Herz brach, wie sie sich zusammenkrümmte und laut schluchzte. Bekümmert stellte er fest, dass es nichts gab, womit er ihr helfen konnte.

„Isabel“, bat er nach einer Weile und war sich nicht sicher, ob sie ihn überhaupt hörte, „lasst mich Euch trösten!“

„Niemals! Ich hasse Euch!“

Ihre Worte ließen ihn innerlich zusammenzucken, obwohl er sich über ihre Gefühle nicht wunderte. Seit jenem Tag, da sie ihm vollkommen ausgeliefert gewesen war, mied sie ihn. Leonard war nicht stolz darauf, dass er sie einst kaltherzig erpresst hatte, eine Nacht mit ihm zu verbringen. Er hatte sich ein teuflisches Spiel ausgedacht sie zu verführen, obwohl sie mit Hendrick verheiratet war.

Er hatte sie geküsst, zärtlich und lange, danach wollte er von ihr die Wahrheit wissen. Wollte wissen, ob ihr seine Liebkosung gefallen hatte. Er hatte ihr versprochen, sie gehen zu lassen, wenn ihr sein Kuss nicht angenehm gewesen wäre. Für den Fall, dass er ihr unangenehm wäre, hatte er ihr zugesagt, sie gehen zu lassen, doch wenn er ihr gefallen würde, müsste sie die Nacht bei ihm verbringen und das Bett mit ihm teilen. Er hatte nicht an seinem Erfolg gezweifelt, zu genau wusste er, wie er sich verhalten musste, damit Frauen in seinen Armen schmolzen wie Schokolade in der Sonne. Sie hatte keine Chance und er hätte seine Freude daran gehabt, sie für ihre Lüge, die er unzweifelhaft erwartete, zu bestrafen und nicht gehen zu lassen. Doch Isabel hatte ihn überrascht. Mit Tränen in den Augen hatte sie ihm gestanden, dass ihr sein Kuss gefiel und sie sich dafür schämte. Dieser Moment, als sie ihm die Wahrheit beichtete, obwohl sie damit ihre Freiheit verlor und sich ihm damit auslieferte, veränderte alles in ihm. Er konnte sie nicht mehr berühren. Sie hatte etwas in ihm zum Schwingen gebracht. Deswegen hatte er sie fortgeschickt, ohne sich ihr noch einmal zu nähern. Es war für Leonard nicht verwunderlich, dass sie ihm bis heute nicht traute und ihm nicht vergeben hatte. Seine Gedanken kehrten in die Gegenwart zurück und er bemerkte, dass Isabel nun so heftig weinte, dass ihr ganzer Körper wie von unsichtbaren Händen geschüttelt wurde. Leonard hätte sich zurückgezogen, würden Hendricks Worte, die er kurz vor seinem Unfall zu ihm gesagt hatte, nicht in seinen Gedanken mit unendlichem Echo widerhallen. Ricks Stimme in ihm machte Leonard benommen und er ließ sich auf einen Stuhl sinken.

„Rick wollte, dass ich mich Eurer annehme, ich musste es ihm versprechen!“, stieß er schließlich hervor und hoffte, dass sie ihn hörte, doch sie ignorierte ihn.

Nun erhob er sich doch und trat zu ihr. Neben ihr ging er in die Hocke.

„Möchtet Ihr erfahren, was passiert ist?“

Ihr Weinen wurde leiser und sie hob ihr Haupt und suchte seinen Blick. Ihr Gesicht war geschwollen und die Augen rot unterlaufen, ihre Lippen bebten und Tränen rannen unaufhörlich über ihre Wangen. Mit den Handflächen versuchte sie diese wegzuwischen, doch es kamen ständig neue nach. Entmutigt ließ sie die Hände in ihren Schoß sinken.

„Es war nur ein kleiner Hügel“, murmelte Leonard, nachdem er tief Luft geholt hatte. „Vielleicht zweihundert Meter hoch, allerdings mit steil abfallenden Felswänden. Rick hatte einen Fasan getroffen, doch leider lebte das Tier noch. Um es nicht entkommen zu lassen, folgte er ihm und wurde unachtsam. Er rutschte aus, Isabel, und stürzte über die Felskante, fiel zweihundert Meter in die Tiefe!“

Isabel wimmerte und vergrub den Kopf in ihren Händen.

„Ich bin so schnell es mir möglich war zu ihm gelaufen. Er hat noch gelebt, als ich ihn erreichte.“

Leonard umfasste ihre Handgelenke und zog ihre Arme tiefer.

„Seht mich an, Isabel“, bat er sanft und sie gehorchte zögernd.

Sein Blick war eindringlich, als er fortfuhr: „Rick bat mich, Euch auszurichten, dass er Euch über alles liebt. Dass Ihr das größte Geschenk gewesen seid, ein Wunder, auf das er niemals zu hoffen gewagt hatte.“

Schluchzend schloss Isabel die Augen.

„Isabel, das war noch nicht alles.“

Ihre Wimpern flatterten, als sie sich ihm erneut stellte.

„Rick hat mir ein Versprechen abgenommen.“

Während sie ihn anstarrte, zuckte ihr Körper als hätte sie Schluckauf und jedes Atemholen hörte sich an, als würde sie niemals mehr genug Luft bekommen, um am Leben zu bleiben. Was gäbe er darum, den letzten Tag ungeschehen machen zu können! Leonard räusperte sich. Er ahnte, dass sie die nächsten Worte nicht gerne hören würde.

„Ich musste ihm versprechen, mich um Euch und die Kinder zu kümmern.“

Ungläubig runzelte sie die Stirn und er konnte an der Art, wie sie ihr Kinn anspannte, Wut aufsteigen sehen.

„Ihr lügt! Das ist nicht wahr! Das hätte er niemals gefordert!“

Sie kämpfte gegen seinen Griff an und er gab sie frei.

„Ihr habt ihn gehasst! Weshalb sollte er uns unter Euren Schutz stellen?“

Vorsichtig ließ er sich auf die Knie nieder.

„Wir waren keine Feinde mehr, Isabel. Ihr wisst, dass wir vor Jahren Freunde geworden sind.“

Heftig schüttelte die junge Frau den Kopf.

„Ihr habt das alles geplant! Hinterhältig geplant! Wahrscheinlich habt Ihr meinen Mann über den Felsen gestoßen.“

Ihre Anschuldigung traf Leonard mit voller Wucht. In ihm fühlte es sich an, als würde sich ein Vakuum ausdehnen, so geschockt war er. Man konnte ihm viel vorwerfen und das zurecht – doch dass ihm seine Schwägerin einen Mord zutraute, machte ihn fassungslos. Er fühlte einen Schmerz in seiner Brust, als hätte sich ein Speer tief hineingebohrt.

Er wusste nicht, was er antworten sollte. Es gab nichts, was sie von seiner Unschuld überzeugen würde. Wie in Trance beobachtete er, dass sie sich aufrichtete. Im nächsten Moment sprang sie in seine Richtung und rammte ihn, sodass er das Gleichgewicht verlor und nach hinten stürzte. Er landete unsanft auf seiner Kehrseite, doch im nächsten Moment fiel sie auf ihn, weshalb er sich zurückfallen ließ. Sie stützte sich auf seinem Brustkorb ab, rappelte sich zitternd ein wenig auf, sodass sie rittlings auf seiner Hüfte saß und er konnte unbändigen Zorn in ihrem Blick flackern sehen. Plötzlich holte sie aus und schlug auf ihn ein. Er schloss die Augen und konzentrierte sich darauf, sich nicht zu wehren, hob seine Hände und legte sie um ihre Taille, um nicht in Versuchung zu kommen sich zu verteidigen. Erst als die Kraft ihrer Schläge nachließ, umfasste er ihre Oberarme und zog ihren Rumpf wieder näher an seinen. Mit Schwung rollte er sie herum und kam auf ihr zu liegen. Er hielt sie unter sich fest und blickte sie forschend an. Mit Tränen in den Augen starrte sie zurück. Ihre Brust hob und senkte sich schwer.

„Ich hasse Euch! Ich hasse Euch so sehr! Wieso hat es nicht Euch an seiner Stelle treffen können?“

Das hatte er sich ebenfalls bereits gefragt und er seufzte müde. Die ganze Zeit hatte er sich überlegt, was er hätte tun können, um dieses Unglück zu verhindern.

„Ihr müsst mir glauben. Wenn ich sein Leben gegen meines hätte tauschen können, ich hätte es getan!“

„Oh, Ihr redet groß und heldenhaft daher, jetzt, da Ihr in Sicherheit seid!“

Unaufhaltsam rannen Tränen über ihre Wangen, so als wollten sie niemals mehr versiegen. Mit den Händen umfasste er ihr Gesicht und versuchte mit den Daumen ihre Wangen zu trocknen. Sie wollte sich ihm entwinden, doch er hielt sie umfangen. Er schluckte und räusperte sich.

„Es ist einerlei, ob Ihr mir glaubt oder nicht. Ich habe Rick versprochen, für Euch und die Kinder zu sorgen. Ich werde dieses Versprechen halten! Ob Ihr es wollt oder nicht.“

In der nächsten Sekunde stemmte er sich in die Höhe und kam auf die Füße, wobei er sich unauffällig über das Steißbein strich, das durch den Sturz ein wenig in Mitleidenschaft gezogen worden war. Um ihr aufzuhelfen, streckte er ihr eine Hand entgegen, doch sie drehte sich von ihm weg.

„Lasst mich in Ruhe! Ich will Euch nicht mehr sehen!“

„Kommt mit mir, Isabel! Ich bringe Euch auf Euer Zimmer. Denkt an das Kind, das Ihr erwartet!“

Unbewusst legte sie eine Hand über ihren Bauch, dann begann sie erneut zu weinen und krümmte sich zusammen. Der Gedanke daran, dass Rick sein Kind niemals würde kennenlernen, war zu viel. Besorgt beugte sich Leonard über sie.

„Darf ich Euch nach oben tragen? Bitte, lasst mich Euch helfen!“

„Nein, nein“, wehrte sie ab und krümmte sich noch mehr zusammen.

Ratlos betrachtete er seine Schwägerin und ihm kamen Worte in den Sinn, die er einst zu Rick gesagt hatte: Frage nicht, sondern mach einfach! Leonard kam es so vor, als würde sein Bruder nun mit ihm sprechen. Entschlossen bückte er sich und hob Isabel auf seine Arme und als sie zu kämpfen begann, drückte er sie enger an sich und fing ihre Hände ein.

„Ruhig“, flüsterte er tröstend an ihrer Wange. „Ruhig! Ich bringe Euch nur in Euer Zimmer.“

Als sie bemerkte, dass ihre Abwehr nichts half, gab sie auf. Sie ließ ihren Kopf erschöpft gegen seinen Brustkorb sinken. Doch alles in ihr rebellierte gegen seine Nähe und als er sie in ihrem Gemach aufs Bett legte, wich sie vor ihm zurück. Dabei fiel ihr Blick auf Ricks Seite, seine Decke, sein Kissen und erneut zuckte unsäglicher Schmerz durch ihren Körper. Niemals mehr würde ihr Mann neben ihr liegen. Nie mehr ihre Lippen küssen und ihr des Nachts Wärme spenden. Wenn sie ihre Hand nach ihm ausstreckte, war er nicht mehr da! Zögernd setzte sich Leonard auf die Bettkante.

„Nicht“, flüsterte sie, doch er schüttelte den Kopf.

„Ich mache mir Sorgen um Euer ungeborenes Kind“, erklärte er mit ernstem Blick. „Ihr dürft Euch nicht dermaßen gehenlassen!“

Ungläubig starrte Isabel ihr Gegenüber an. Sie konnte nicht fassen, was er soeben gesagt hatte!

„Wie könnt Ihr es wagen ...“

„Denkt an das Kind!“

„Tue ich!“, schrie sie außer sich. „Rick wird es niemals kennenlernen!“

„Ihr vielleicht auch nicht, wenn Ihr so weitermacht!“

Empört schnappte sie nach Luft.

„Ihr verbietet mir zu trauern?“

„Nein.“ Er legte eine Hand über ihre, doch sie entzog sich seiner Berührung. „Aber versucht, Eure Emotionen im Griff zu behalten.“

Während sie den Kopf schüttelte, schwand die Wut aus ihrem Blick.

„Wie soll ich das nur tun?“, wimmerte sie. „Ich liebe ihn doch so sehr! So über alle Maßen! Er war alles für mich! Bitte, sagt, dass es nicht wahr ist! Dass Ihr nur einen üblen Scherz mit mir treibt.“

Leonard schloss für einen Moment die Augen. Als er sie wieder öffnete, holte er tief Luft und sagte mit fester Stimme: „Nicht einmal ich würde mir einen solchen Scherz erlauben. Es tut mir sehr leid, Isabel, Rick wird nicht mehr zurückkommen.“

Schluchzend griff sie nach einem Kissen und vergrub den Kopf darin.

„Geht jetzt“, bat sie mit gedämpfter Stimme und Leonard erhob sich.

Nach einem letzten sorgenvollen Blick in ihre Richtung, verließ er den Raum.

Annabelle, seine achtjährige Nichte, erwartete ihn mit verständnislosem Blick auf dem Gang.

„Was ist mit Mutter?“

Das zarte Stimmchen klang überaus beunruhigt. Leonard seufzte ratlos. Er hatte keinen blassen Schimmer, was er zu dem Kind sagen sollte, wie er es trösten konnte.

„Deine Mutter ist etwas erschöpft und braucht Ruhe. Ich bin sicher, morgen wird es ihr bessergehen.“

Annabelle nickte nachdenklich und fuhr herum, als die Stimme des Kindermädchens nach ihr rief. Mit zusammengezogenen Augenbrauen sah er ihr nach, dann starrte er auf die Tür zu Isabels Gemächern. Sicherheitshalber sollte er das Zimmer neben ihr beziehen. Allerdings hatte er Skrupel, Ricks Räumlichkeiten zu nutzen. Doch er musste jederzeit hören, wie es der Trauernden erging. Wenn irgendetwas passierte und er nicht in ihrer Nähe wäre, würde er sich das ein Leben lang nicht verzeihen. Deswegen gab er sich einen inneren Ruck und öffnete nach wenigen Schritten die Zimmertür seines Bruders. An der Schwelle hielt er inne. Der Raum wirkte, als hätte Rick ihn gerade erst verlassen. Sein Geruch hing noch in der Luft. Mit schwerem Herzen trat er ein und schloss die Tür hinter sich. Unwillkürlich dachte er an die letzten Jahre zurück, bis er dann bei jenem schrecklichen Ereignis innehielt. Jahre, in denen sie sich einander angenähert hatten.

Dank Isabel hatte Leonard den Neid auf seinen älteren Bruder ablegen können. Ursprünglich wäre Rick der Erbe des Herzogtums St. Ives gewesen, doch durch Leonards Ränke war fast der gesamte Besitz auf Leonard übergegangen. Alles, was Rick geblieben war, war das Anwesen Old Owl Wood und eine monatliche Rente. Trotzdem wusste Leonard, dass Rick ihm vergeben hatte. In den letzten Jahren waren sie so etwas wie Freunde geworden. Hin und wieder machten sie einen gemeinsamen Jagdausflug oder ritten für mehrere Tage durch das Land.

Leonard kam wieder der Fasan in den Sinn, den Rick angeschossen hatte, ebenso wie Ricks Wut über sein eigenes Versagen. Diese Versagensängste waren immer etwas gewesen, mit denen sein Bruder zu kämpfen gehabt hatte, doch Leonard meinte, dass er diese in den letzten Jahren eigentlich in den Griff bekommen hätte. Selten hatte er Rick derart wütend wie bei diesem Vorfall erlebt. Und das wegen einer Bagatelle wie dieser.

Leonard starrte auf ein Bild, das an der Wand hing. Merkwürdige bunte Farbkleckse verschmolzen in diesem außergewöhnlich modernen Gemälde. Irritiert schüttelte der Prinz den Kopf. Er hatte nicht gewusst, dass Rick einen Hang zu derlei dadaistisch angehauchten Werken hatte.

Es war ein wirklich befremdliches Gefühl, sich hier zwischen seinen Habseligkeiten zu bewegen. Noch vor wenigen Tagen war Rick selbst hier gestanden, hatte gesehen, was er nun sah, gerochen, was er nun roch, und gewusst, dass Isabel nur durch eine Wand von ihm getrennt war. Wie hatte er sich wohl gefühlt? Was hatte er gedacht? Was hatte ihn bewegt? Verdammt, was war ihm nur durch den Kopf gegangen? Hatte er an seine Töchter gedacht? An Annabelle, Victoria und die kleine Lizzy?

Leonard ging unruhig auf und ab. Er hatte kein Recht, hier zu sein!

Als sich die Verbindungstür öffnete, fuhr er ertappt herum. Isabel trat in den Raum und erstarrte, als sie ihn erkannte.

„Was macht Ihr hier? Ihr habt hier nichts zu suchen!“

Er überlegte, ob er zu ihr gehen und sie stützen sollte, da sie nicht sehr sicher auf den Beinen wirkte. Als hätte sie seine Gedanken erraten, klammerte sie sich an den Türrahmen.

„Ich denke, es wäre das Beste, wenn ich mich hier einrichte. Solltet Ihr Hilfe brauchen, bin ich gleich zur Stelle.“

Heftig schüttelte Isabel den Kopf.

„Wagt es ja nicht!“, drohte sie. „Das sind Ricks Räume und Ihr habt hier nichts verloren, Euer Gnaden! Ich möchte, dass Ihr geht!“

Leonard verschränkte die Arme vor der Brust.

„Ich werde bleiben und diese Anrede könnt Ihr getrost ad acta legen. In Anbetracht der Umstände wäre es passend, wenn Ihr mich mit meinem Vornamen anredetet.“

„Ich archiviere nicht, Euer Gnaden“, fauchte sie. „Abgesehen davon kann ich keine Umstände erkennen, die mich dazu veranlassen würden, Euch mit Leonard anzusprechen. Alles, was ich mir wünsche, ist, dass ihr verschwindet! Lasst mich in Ruhe hier sein! Es ist Ricks Zimmer!“

Nun stieß sie sich doch vom Türrahmen ab und durchquerte den Raum. Da er sich nicht bewegte, versuchte sie, ihn zu ignorieren. Schließlich öffnete sie die Tür zum Ankleidezimmer. Er beobachtete, wie sie diese hinter sich zuzog. Verständnislos runzelte er die Stirn und wartete, dass sie zurückkehrte. Doch nichts bewegte sich. Es war, als hätte die Ankleide Isabel verschluckt. Unruhig setzte er sein Auf- und Abgehen fort, dabei fiel sein Blick erneut auf das Bild mit den Farbklecksen. Er trat näher, um herauszufinden, wer es gemalt hatte. Als er sich zu der Leinwand beugte, entdeckte er einen Riss, der sich von einer Seite auf die andere zog. Überrascht hob er das Bild von der Wand und drehte es um. Vorsichtig ließ er eine Fingerspitze entlang des Risses gleiten. Er hatte den Eindruck, dass jemand mit dem Messer hineingestochen haben musste. Den daraus entstandenen Spalt hatte er dann mit den Fingern vergrößert. Er zuckte zusammen, als Isabel wieder in den Raum trat. Sie hielt eines von Ricks Hemden in ihren Händen und starrte ihn nun erschrocken an.

„Hängt es wieder an die Wand!“

„Es ist kaputt.“

Zornig kam sie auf ihn zu und entriss ihm das Gemälde.

„Das geht Euch nichts an!“

Dann blickte sie auf den Riss und er konnte sehen, wie sie schmerzlich zusammenzuckte. Im nächsten Moment begann sie wieder zu weinen.

„Isabel ...“

Schluchzend ließ sie das Bild einfach auf den Boden fallen und floh zurück in ihre Gemächer, Ricks Hemd fest umklammert.

Leonard hängte das Gemälde wieder an seinen Platz, dann begab er sich in Ricks Arbeitszimmer. Er musste dringend eine Nachricht schreiben und nach London schicken. Eigentlich hatte er geplant, in der folgenden Woche zu einer einjährigen Weltreise aufzubrechen. Er sah keine Möglichkeit, diese nun antreten zu können. Woher sollte er wissen, wie lange er hier gebraucht wurde?

Gegenüber dem Schreibtisch hing ein Bild von Isabel, auf dem sie fröhlich lachte. Ein ungewöhnliches Motiv für ein Portrait, doch Leonard konnte sofort nachvollziehen, warum sein Bruder es hierher gehängt hatte. Isabel war wunderschön und sprühte vor Lebensfreude. Allein dieser Anblick genügte, um einen jegliche Sorgen vergessen zu lassen.

Als er den Brief versiegelt hatte, erhob er sich und trat näher zu dem Gemälde. Er hatte sofort erkannt, dass es von Luca Romano, dem größten Maler dieser Zeit, gemalt worden war. Auch von Leonard selbst hingen zahlreiche von Romano gemalte Porträts an unterschiedlichen Orten.

Eine Unebenheit veranlasste ihn dazu, sich näher zu beugen und er sog überrascht Luft in seine Lungen, als er erkannte, dass auch dieses Gemälde von einem Riss verunstaltet wurde. Zum Glück fiel dieser Mangel nur bei näherer Betrachtung auf! Doch es war eine Schande! Wer machte so etwas? Wenn es Isabel besserging, wollte er sie danach fragen.

2. Kapitel

Früh am nächsten Morgen erwartete Leonard den Bestatter mit dem Sarg. Er hatte sehr schlecht in Ricks Bett geschlafen. Außerdem war es ihm schwergefallen, das Schluchzen aus dem Nebenzimmer zu ignorieren. Erst im Morgengrauen war Isabel wohl vor Erschöpfung eingeschlafen.

Er hörte den Motor eines Autos und erhob sich. Sein Herz pochte angestrengt. Er hatte den Dienstboten aufgetragen, einen der kleineren Salons für die Aufbahrung vorzubereiten. Dorthin führte er wenige Minuten später den Bestatter und seine Träger.

Als der Sarg auf seinem Platz stand, hoben sie den Deckel ab und stellten ihn zur Seite. Dann vereinbarten sie, am folgenden Tag zu kommen, um den Sarg wieder abzuholen. Als sie gegangen waren, wagte Leonard einen ersten Blick auf den Leichnam. Es war nicht mehr sein Bruder, der da vor ihm lag, obwohl diese leere Hülle eines Menschen ihm auf eine merkwürdige Weise ähnlich sah. Doch alles, was Rick ausgemacht hatte, war nicht mehr hier. Leonards Herz zog sich zusammen und er trat noch einen Schritt näher. Der Bestatter hatte gute Arbeit geleistet und die schweren Kopfwunden gekonnt kaschiert.

„Rick“, sagte er leise, doch der Fremde vor ihm rührte sich nicht. „Ich werde jetzt Isabel holen.“

Isabel lag, nur mit einem von Ricks Hemden bekleidet, auf dem Bett, den Kopf unter einem Kissen vergraben, die Beine hatten sich von der Decke freigestrampelt. Leonard atmete tief durch und beugte sich über sie. Sanft berührte er sie an der Schulter. Am liebsten würde er sie schlafen lassen, doch er wusste, dass sie zu Rick wollte und es ihm nachtragen würde, wenn er sie nicht weckte.

Mit einem Ruck fuhr sie in die Höhe, während das Kissen zur Seite fiel. Im ersten Moment starrte sie ihn verwirrt an, doch in der nächsten Sekunde kehrte der Schmerz in ihren Blick zurück.

„Was wollt Ihr?“, fragte sie feindselig.

„Der Bestatter hat Rick gebracht.“

Mit einem Satz sprang sie aus dem Bett und eilte zur Tür.

„Ihr solltet etwas überziehen, Isabel!“

Sie hielt inne, nur um fahrig nach einem Morgenmantel zu greifen und hineinzuschlüpfen. Während sie ihn zuband, verließ sie den Raum. Verdattert sah er ihr einige Sekunden lang nach, dann folgte er ihr.

Im Salon brannten Kerzen und es herrschte eine Stille, die nicht von dieser Welt zu sein schien. Isabel stand noch immer in der Tür, als Leonard sie einholte, als wagte sie nicht weiterzugehen. Doch dann straffte sie die Schultern und setzte einen wackligen Schritt vor den anderen. Als sie den Toten endlich erreichte, knickten ihre Knie ein und sie klammerte sich an den Sarg, um nicht zu fallen. Er war weg! Rick war weg! Erst jetzt wurde ihr die Endgültigkeit dieser Tatsache mit allen Konsequenzen bewusst.

„Liebster“, schluchzte sie und hob eine Hand.

Ganz zart strich sie über seine kalte Wange, die sich so anders anfühlte als früher. Leonard schloss leise die Tür und wartete daneben ab. Dann sah er, wie sie sich über ihren Mann beugte und einen Kuss auf seinen Mund hauchte. Auch die kalten Lippen fühlten sich auf ihrem Mund fremd an.

„Er schläft doch nur, Prinz Leonard, nicht wahr? Er schläft nur.“

Die Verzweiflung in ihrer Stimme schnürte ihm den Hals zu. Er machte einen Schritt in ihre Richtung. Nur kurz hatte sie zu ihm gesehen, jetzt drehte sie sich wieder zu Rick.

„Ihr müsst mir helfen“, flehte sie plötzlich und wandte ihm erneut ihr Antlitz zu.

„Wobei?“

„Ich möchte mich noch einmal zu ihm legen.“

„Das ist vollkommen unmöglich!“

Tränen schimmerten in ihren Augen.

„Bitte! Ein einziges Mal!“

„Ihr könnt Euch doch nicht einfach zu ihm in den Sarg legen!“

„Ich brauche Eure Hilfe. Hebt mich hoch und lasst mich zu ihm!“

Alles in Leonard sträubte sich gegen diesen verrückten Wunsch.

„Bitte! Ich muss ihn noch einmal fühlen! Ein letztes Mal will ich meinen Kopf an seine Schulter betten und meine Hand auf sein Herz legen! Bitte!“

Tränen rannen über ihre Wangen und er konnte sie nicht abweisen. Ohne von der Sache überzeugt zu sein, ging er etwas in die Knie und hob sie auf seine Arme. Es war das erste Mal, dass sie sich nicht gegen seine Nähe wehrte. Dann trat er neben den Sarg und zögerte.

„Bitte!“, flüsterte Isabel und er spürte, dass sie zitterte.

Ganz vorsichtig bettete er sie auf den Toten und zog seine Arme zurück. Isabel schloss die Augen und schmiegte ihr Wange an Ricks Halsbeuge. Eine ihrer Hände legte sie auf seine Brust. Leonard sah, dass sie weinte.

„Es fühlt sich nicht mehr an wie früher“, wimmerte sie und Leonard wusste nicht, was er darauf antworten sollte.

Da öffnete sie die Augen und suchte seinen Blick. Zögernd streckte sie eine Hand nach ihm aus und er kam ihrer Aufforderung sofort nach und hob sie wieder empor. Sie schloss die Augen, vergrub den Kopf an seinem Hals und legte eine Hand an seine Brust. Er wagte nicht, sich zu bewegen, während sie seinem Herzschlag lauschte und das beruhigende Pulsieren unter ihren Fingerspitzen pochen fühlte. Er senkte seinen Kopf ein wenig und sein Kinn streifte ihre Stirn. Ihr Atem kitzelte die Haut seines Halses. Mit den Lippen verharrte er an ihrem Haaransatz, ohne sich zu bewegen, gefangen von ihrer zerbrechlichen Gegenwart. Irgendwann hob sie den Kopf.

„Rick“, flüsterte sie, „Rick!“

Ihre Lippen öffneten sich und Leonard starrte darauf. Es war eine süße, langersehnte Einladung, doch an einen anderen gerichtet. Er räusperte sich.

„Isabel, was haltet Ihr davon, eine Kleinigkeit zu essen? Damit das Kind nicht verhungert?“

Blinzelnd öffnete sie die Augen und sah ihn an. Es wirkte, als würde sie von weither zu ihm zurückkehren. Sofort wich sie etwas vor ihm zurück und er stellte sie vorsichtig auf den Boden.

„Wieso fühlt Ihr Euch mehr an wie Rick als er selbst?“

„Isabel, Rick ist tot!“

„Ich weiß“, fauchte sie wütend, „haltet Ihr mich für dämlich? Er ist tot! Ich weiß es, zum Kuckuck! Ich weiß es! Und Ihr, mein größter Feind, seid hier und seht ihm so ähnlich, dass es wehtut!“

Er konnte ihren schmerzlichen Blick nicht ertragen und wandte den Kopf ab.

„Nicht so laut! Denkt an den Toten!“

Isabel lachte auf und es klang erschreckend bitter.

„Wieso? Glaubt Ihr, es stört ihn? Glaubt Ihr, Rick macht das noch etwas aus?“

Sie fuhr herum, trat wieder neben den Sarg und ballte eine Hand zur Faust. Damit schlug sie dem Verstorbenen, nicht sonderlich fest, mehr wie eine symbolische Handlung, auf die Brust.

„Wieso hast du mich allein gelassen? Wieso bist du einfach gegangen?“

Nun schrie sie. Da trat Leonard hinter sie, umfasste sie an der Taille und zog sie von dem Leichnam fort.

„Schluss, Isabel!“

Doch sie strampelte in seinen Armen, woraufhin er seinen Griff verstärkte.

„Lasst mich los!“, kreischte sie.

„Beruhigt Euch, ich bitte Euch!“

Sie atmete schwer, hörte aber auf, gegen ihn anzukämpfen. Zögernd stellte er sie auf die Beine.

„Wir werden etwas essen gehen. Ich bestehe darauf, dass Ihr mich begleitet!“

Feindselig fixierte Isabel ihr Gegenüber.

„Ich möchte bei Rick bleiben.“

„Ihr könnt nachher hierher zurückkommen, doch zuvor müsst Ihr etwas essen!“

„Wer hat Euch das Recht gegeben, mich herumzukommandieren?“

„Rick.“

„Pah!“

Noch bevor sie etwas sagen konnte, umschloss Leonard ihren Oberarm und führte sie aus dem Raum in Richtung Speisezimmer. Erschöpft ließ sie es geschehen, ihr Kopf hämmerte schmerzhaft und sie wollte nichts lieber tun, als sich ins Bett zu legen und nie wieder aufzuwachen.

Mit Argusaugen beobachtete er sie und drängte sie, ausreichend zu essen und zu trinken. Isabel wirkte gänzlich verloren, als sie geistesabwesend kaute. Ihr Morgenmantel stand ein wenig offen und Ricks Hemd blitzte darunter hervor. Ihr Haar hing wirr um ihren Kopf, als hätte sie vor Wochen das letzte Mal eine Bürste hindurchgleiten lassen. Wenn Rick sie so sähe, würde er Leonard die größten Vorwürfe machen, nicht besser auf sie Acht zu geben. Leonard verdrängte den Gedanken an ihn. Er war nicht mehr hier.

„Wir müssen es den Kindern sagen“, meinte er leise, bevor sie den Teller endgültig von sich schob.

Ihre Hand zerknüllte die Stoffserviette, die neben dem Teller lag.

„Ich kann das nicht“, flüsterte sie mit brechender Stimme.

„Wir werden es gemeinsam machen.“

Sie hob den Kopf, um ihn regungslos zu mustern und er fragte sich, was in ihr vorging.

Während Isabel versuchte, in ihm zu lesen, meinte sie, das erste Mal so etwas wie Erleichterung in sich aufsteigen zu fühlen. Leonard war hier und würde ihr beistehen. Sie musste nicht alles allein durchkämpfen. Um ihm nicht zu zeigen, was sie bewegte, senkte sie ihr Haupt und starrte auf ihre Hände.

„Sollen wir?“, fragte er und erhob sich.

Isabel nickte und folgte ihm aus dem Speisezimmer. Hinter ihm stieg sie die Treppe in den ersten Stock hinauf.

„Vielleicht solltet Ihr Euch vorher ankleiden?“, schlug er vor, als sie sich in Richtung der Kinderzimmer wandte.

Isabel sah an sich herunter und plötzlich erkannte sie, wie nachlässig sie sich vor ihrem Schwager gezeigt hatte. Erschrocken hob sie den Kopf und errötete. Mit den Händen fuhr sie durch ihr Haar.

„Himmel!“

Statt einer Antwort öffnete er die Tür zu ihren Gemächern und sie huschte an ihm vorbei und knallte ihm die Tür vor der Nase zu.

Eine halbe Stunde später klopfte sie an die Verbindungstür und trat ein. Leonard saß auf einem Stuhl, ein leeres Glas in der Hand.

„Ihr trinkt bereits am frühen Morgen?“

„Nur zu besonderen Anlässen.“

Er erhob sich und stellte das Glas auf einen Beistelltisch. Sie sollte nicht merken, wie hilflos und unsicher er sich fühlte, nun, da er vor drei kleine Kinder treten musste, um ihnen zu erklären, dass ihr Vater nicht mehr zurückkehren würde. Wieso, Rick, hast du mir das angetan? Ich bin kein Vater, ich habe überhaupt keine Ahnung, was ich sagen soll!

Entschlossen straffte er die Schultern und warf Isabel einen schnellen Blick zu. Sie beobachtete ihn aus vom Weinen geröteten Augen.

„Ich weiß nicht, wie ich es ihnen vermitteln soll“, gestand sie mit rauer Stimme, genauso hilflos und überfordert mit der Situation wie er.

„Wir werden ihnen sagen, dass Rick eine lange Reise angetreten ist. Irgendwann werden sie nicht mehr nachfragen.“

Isabel nickte.

„Ja, so werden wir es machen.“

Sie wartete, bis Leonard die Tür geöffnet hatte, dann folgte sie ihm.

Niemals zuvor schien ihr der Weg zu den Zimmern ihrer Kinder so weit. Als sie die Tür zum Kinderzimmer öffnete, schwappte Kindergeschrei und Lachen in ihre Richtung und Isabel atmete tief durch.

„Mutter und Onkel Leonard!“, rief Victoria und stürzte in ihre Richtung. „Onkel Leonard, bist du zu Besuch? Hast du Vater mitgebracht?“

Sie umschlang sein rechtes Bein und er tätschelte unbeholfen ihren Kopf. Das Kindermädchen drückte Isabel die kleine Lizzy in die Arme und diese hauchte ihrer Tochter zärtliche Küsse auf die Wangen. Es fiel ihr schwer, die Kinder anzusehen, ein jedes erinnerte sie an ihren Verlust. Annabelle kam mit einem Buch in ihre Richtung und bat ihren Onkel, es ihr vorzulesen. Der Situation nicht gewachsen, warf er Isabel einen hilflosen Blick zu. Diese reichte Lizzy zerstreut gerade dem Kindermädchen zurück, dann küsste sie Annabelle und Victoria, drehte sich um und verließ mit abwesendem Blick den Raum. Nun richteten sich zwei große Augenpaare auf ihn, ihre Gesichtchen zwei riesige Fragezeichen.

„Was ist mit Mutter? Wo ist sie hingegangen?“

Leonard räusperte sich unbehaglich.

„Vielleicht will sie eurem Vater einen Brief schreiben. Er ist nämlich auf Reisen gegangen und wird sehr lange nicht mehr hierher zurückkommen.“

Enttäuscht sahen ihn seine Nichten an.

„Aber warum hat er sich denn nicht verabschiedet?“, wollte Annabelle wissen.

„Das hat er doch! Erinnert ihr euch nicht daran, als ich ihn abgeholt habe? Es ist schon ein paar Tage her. Ich habe mit eigenen Augen gesehen, dass er jedem von euch einen Kuss gegeben hat und ich meine mich zu erinnern, dass er euch bat, brav zu sein.“

„Stimmt“, stellte Annabelle fest. „Er hat sich verabschiedet.“

Sie blickte auf das Buch in ihren Händen, dann sah sie wieder zu ihrem Onkel empor.

„Liest du mir die Geschichte jetzt vor?“

„Gut“, gab er sich geschlagen und befreite sich aus Victorias Umklammerung.

Unsicher hob er sie auf seine Arme und ging mit ihr zu einem gemütlichen Lehnstuhl. Vorsichtig setzte er Victoria auf einen seiner Oberschenkel, während Annabelle auf den anderen kletterte. Vertrauensvoll reichte sie ihm das Buch und Beklemmung machte sich in ihm breit. Diese kleinen Menschen zählten auf ihn, schenkten ihm ihr ganzes Vertrauen. Es war ein ungewohntes Gefühl, so dringend gebraucht zu werden. Bisher hatte er es vermeiden können, doch nun … Es machte ihm Angst. Das alles hier war ihm eine Nummer zu groß. Er hatte kein Problem damit, das Herzogtum zu verwalten, vielleicht auch deswegen, weil die größte Last noch auf den Schultern seines Vaters ruhte. Doch das hier, diese Abhängigkeit seiner Nichten und vielleicht auch seiner Schwägerin von ihm, machte ihn komplett unruhig. Es war einfach zu viel: Sein Bruder lag tot einen Stock tiefer in einem engen Sarg, die Liebe seines Lebens weinte sich die Augen aus dem Kopf und seine Nichten forderten seine Aufmerksamkeit ein. Zum Glück hatte er den Bestatter damit beauftragt, die traurige Nachricht zu verbreiten. Er rechnete damit, dass die Verwandtschaft bald anreisen würde. Ob Isabel bedachte, dass sich Old Owl Wood bald in einen Taubenschlag verwandeln würde?

Nachdem sich Leonard endlich aus den Fängen der Kinder befreit hatte, fühlte er sich, als hätte er seit Tagen nicht mehr geschlafen und es wäre bereits weit nach Mitternacht. Dabei war es noch nicht einmal Mittag!

Der Butler meldete ihm die Ankunft Pater Pauls. Ein Glück, der Geistliche wüsste vielleicht, wie man Isabel helfen konnte! Wo war sie überhaupt? Er klopfte an ihre Gemächer, doch sie reagierte nicht. Deswegen suchte er weiter und fand sie im Salon neben seinem aufgebahrten Bruder. Sie stand neben ihm und starrte auf ihn herab, mit ihren Gedanken weit weg. Gut, sie stellte im Moment keine unmöglichen Dinge an, deswegen konnte er ohne Sorge zu Pater Paul gehen.

Nachdem sie einander begrüßt hatten, wollte der Pater wissen, wie es Isabel ging.

„Sehr schlecht“, erwiderte Leonard. „Vielleicht können Sie ihr helfen?“

Pater Paul zuckte mit den Achseln. „Mylady ist sehr stark. Ich bin überzeugt, dass sie ihr Leben bald wieder im Griff hat. Doch ich würde ihr gern Worte des Trosts vermitteln.“

„Sie ist bei dem Verstorbenen. Es wäre schön, wenn Sie eine Totenmesse halten könnten.“

„Natürlich.“

„Ich bringe Sie zu Lady Isabel.“

Sie hatte sich in den letzten Minuten nicht bewegt und zuckte zusammen, als Pater Paul ihr eine Hand auf die Schulter legte. Als sie ihn erkannte, lächelte sie müde.

„Pater! Seht nur! Jetzt ist es geschehen!“

Der Angesprochene drehte den Kopf in Ricks Richtung. Es war unerträglich zu sehen, wie reglos er nun hier lag, dieser starke Mann, dem er jahrelang Unrecht getan hatte. Voller Entsetzen erinnerte er sich an jenen Tag, da Rick unter seinen Händen fast gestorben wäre, wenn Isabel nicht für ihn gekämpft hätte.

„Nun geht es ihm gut, immerhin ist er bei unserem Herrn!“

Pater Paul malte ein Kreuz auf die Stirn des Toten.

„Aber er sollte hier sein! Hier wird er dringender gebraucht als im Himmel!“

„Gottes Wege sind unergründlich. Habt Vertrauen, Mylady!“

Isabel wandte sich ab und entdeckte Leonard, der noch immer neben der Tür stand und vor sich auf den Boden starrte. Trotzdem entging ihm nicht, dass sie zusammenzuckte, als sie ihn sah.

„Meine Güte, könnt Ihr die Haare nicht anders tragen? Ich denke jedes Mal, er ist es, wenn ich euch sehe!“

Leonard blickte sie an und fuhr sich mit den gespreizten Fingern durchs Haar.

„Tut mir aufrichtig leid“, bedauerte er, dann sah er zu dem Geistlichen. „Pater Paul wird eine Messe für Rick abhalten.“

„Vielen Dank“, sagte Isabel und ließ sich auf einen Stuhl an der Wand sinken.

Am späten Nachmittag zog Leonard Isabel von Ricks Seite fort und in den großen Salon.

„Ich muss dringend mit Euch sprechen“, erklärte er.

„Worüber? Es gibt nichts, was wir miteinander zu bereden hätten.“

„Das Kind in Eurem Leib. Wann habt Ihr es das letzte Mal gespürt?“

Entgeistert starrte sie ihn an.

„Mein Kind?“

Statt einer Antwort nickte Leonard.

„Ich weiß es nicht, ich habe nicht mehr darauf geachtet.“

„Gestattet Ihr? Darf ich fühlen, ob es sich bewegt?“

Verwirrt suchte sie seinen Blick.

„Aber wozu? Ich spüre selbst, wenn es sich bewegt und im Moment tut es das nicht.“

„Warum nicht?“

„Vielleicht schläft es?“

Überrascht lüpfte er die Augenbrauen. „Kinder schlafen im Mutterleib?“

„Ich denke schon, was sollen sie denn sonst die ganze Zeit machen?“

„Einleuchtend.“

Prinz Leonard starrte noch immer auf ihren Bauch.

„Ich mache mir diesbezüglich Sorgen.“

Isabel atmete tief durch.

„Das müsst Ihr nicht. Ricks Sohn ist stark.“

„Sagt mir Bescheid, wenn Ihr es das nächste Mal spürt.“

Unwillig runzelte Isabel die Stirn, doch sie sagte nichts.

„Ich habe die Haushälterin angehalten, die Gästezimmer zu richten“, berichtete Leonard nach einer kurzen Pause.

„Wozu das?“

„Ich rechne damit, dass in den nächsten Stunden die ersten Trauergäste eintreffen werden.“

Isabel wurde blass.

„Trauergäste?“, flüsterte sie.

„Natürlich. In zwei Tagen findet die Beerdigung statt.“

„Schon in zwei Tagen? Das ist viel zu früh! Vorgestern hat er noch gelebt!“

Leonard seufzte schwer.

„Ihr müsst ihn gehen lassen. Wir können ihn nicht ewig hier bei uns behalten.“

„Es spricht keiner von einer Ewigkeit. Nur ein paar Tage mehr.“

„Der Bestatter wird ihn morgen holen.“

Sie wurde noch blasser und Tränen stiegen in ihre Augen.

„Morgen schon? Bitte, lasst ihn noch länger bei mir!“

„Das geht nicht. Sein Körper verfällt, Isabel.“

Verzweifelt vergrub sie ihr Gesicht zwischen den Händen.

„Das ist zu schlimm! Sie bringen ihn von seinem Zuhause weg! Und dann wollen sie ihn in diese kalte Erde legen. Euer Gnaden, ich will nicht, dass er dort bei den Würmern liegt! Bitte! Ich will das nicht!“

Hilflos musterte Leonard die junge Frau.

„Das ist nun einmal der Lauf der Dinge“, meinte er sachlich. „Besser Ihr findet Euch damit ab!“

Sie ließ die Hände sinken und blitzte ihn wütend an.

„Mehr als Phrasen dreschen könnt Ihr nicht? Behaltet Eure abgeschmackten Redewendungen für Euch und verschont mich mit diesem widerwärtigen Sermon! Der Lauf der Dinge! Vielen Dank auch!“

Diese Frau war ein Vulkan, stellte Leonard unbehaglich fest und war froh, dass er über ein relativ dickes Fell verfügte. Deswegen konnte er ihre Worte an sich abprallen lassen. Doch eine Stimme in ihm fragte ihn, ob das wirklich die Frau war, die er liebte. Ob er sich seine Gefühle für sie nicht vielleicht eingebildet hatte.

Als er sie betrachtete, wie sie mit vor Zorn geröteten Wangen vor ihm stand, stellte er überrascht fest, dass die Gefühle, die ihn sonst in ihrer Nähe immer befallen hatten, verschwunden waren. In ihm war es still, als er seinen Blick über ihren Körper gleiten ließ. Keine Sehnsucht, kein Verlangen, keine Liebe mehr, die ihn quälte. Kein Bedürfnis, sie in die Arme zu ziehen und zu küssen.

Sie musste die Überraschung in seinen Augen gesehen haben, denn sie musterte ihn fragend. Er räusperte sich.

„Rick wird morgen abgeholt und übermorgen beerdigt. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen.“

Da er ihre Anwesenheit im Augenblick nicht länger ertrug, wandte er sich ab und verließ den Raum.

Eine Dienerin meldete Isabel die Ankunft ihrer Eltern und diese Nachricht versetzte sie in Panik. Das letzte, was sie im Moment brauchte, waren andere Menschen. Schlimm genug, dass Leonard ständig um sie herumschwirrte! Aber dass jetzt auch noch ihre Eltern da waren, empfand sie als nahezu unerträglich. Trotzdem begab sie sich nach unten.

„Mein liebstes Kind“, rief die Countess of Sussex und umarmte ihre Tochter erfreut. „Weshalb schaust du so traurig? Sei froh, dass du den Teufel endlich los bist! Der schlechte Ruf deines verstorbenen Mannes hat auch auf unsere Familie ein ungünstiges Licht geworfen, wie du weißt. Abgesehen davon sitzt du nun nicht mehr hier in dieser schrecklichen Einöde fest! Ich will gar nicht daran denken, was du unter ihm erdulden musstest.“

Die Worte trafen sie mit einer Wucht, die sie fast zu Boden schmetterte und sie befreite sich aus dem Griff ihrer Mutter.

„Wie kannst du so etwas sagen?“

Das Lächeln erstarb auf den Lippen der anderen Frau.

„Sag bloß, du bist traurig? Aber mein Kind, es ist sicherlich besser so! Das denken alle!“

„Es ist nicht besser so!“, schluchzte Isabel auf und sah zu ihrem Vater, der neben dem Sofa stand und sich bis jetzt nicht gerührt hatte.

„Marian, lass es gut sein! Es ist der falsche Zeitpunkt für derlei Gespräche! Meine liebe Tochter, ich möchte dir mein aufrichtiges Beileid aussprechen.“

Isabels Augen füllten sich mit Tränen.

„Ich war sehr glücklich mit Rick“, flüsterte sie. „Ich habe ihn von ganzem Herzen geliebt!“