Ein verhängnisvolles Wiedersehen - Junia Swan - E-Book

Ein verhängnisvolles Wiedersehen E-Book

Junia Swan

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Beschreibung

Es hat Jahre gedauert, bis Jane White die Erinnerungen an jenen Mann abschütteln konnte, der ihr Leben komplett zerstört hat. Doch plötzlich steht James Winterthorne, der Earl of Kingstone Oak, vor ihr und bittet sie um Hilfe. Schweren Herzens und mit der Sicherheit, dass jener Mann sich nicht an sie erinnern kann, gestattet sie ihm, in ihrem Waisenhaus zu arbeiten. Während er seine inneren Dämonen bekämpft, fühlt er sich zu der abweisenden Frau immer stärker hingezogen. Er ahnt instinktiv, dass sie der Mensch ist, der ihn aus seiner inneren Hölle befreien kann. Allerdings hat Jane ihr Herz vor ihm verschlossen und ist nicht willens, ihm jemals zu vertrauen. Da ersinnt er einen listigen Plan, um die junge Frau für immer an sich zu binden. Teil 2 der Reihe "Verhängnisvoll". Jeder Band ist in sich abgeschlossen und kann unabhängig gelesen werden.

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Über dieses Buch:
Über die Autorin:
Prolog
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
Epilog
Bereits in der Reihe „Verhängnisvoll“, erschienen:
Buchrelease im Frühling 2021:
Weitere Bücher der Autorin:
Außerdem erschienen:
Leseprobe „Das Lied der Engel“
Vorwort
Prolog
eins
zwei
drei
vier
fünf
sechs

Ein verhängnisvolles Wiedersehen

von

Junia Swan

Roman

Über dieses Buch:

Es hat Jahre gedauert, bis Jane White die Erinnerungen an jenen Mann abschütteln konnte, der ihr Leben komplett zerstört hat. Doch plötzlich steht James Winterthorne, der Earl of Kingstone Oak, vor ihr und bittet sie um Hilfe. Schweren Herzens und mit der Sicherheit, dass jener Mann sich nicht an sie erinnern kann, gestattet sie ihm, in ihrem Waisenhaus zu arbeiten. Während er seine inneren Dämonen bekämpft, fühlt er sich zu der abweisenden Frau immer stärker hingezogen. Er ahnt instinktiv, dass sie der Mensch ist, der ihn aus seiner inneren Hölle befreien kann. Allerdings hat Jane ihr Herz vor ihm verschlossen und ist nicht willens, ihm jemals zu vertrauen. Da ersinnt er einen listigen Plan, um die junge Frau für immer an sich zu binden.

Über die Autorin:

Junia Swan entdeckte schon als Kind ihre Leidenschaft, sich Geschichten auszudenken und diese aufzuschreiben. Heute erfüllt sie sich ihren Kindheitstraum Tag für Tag.

Sie wohnt in einer historischen Kleinstadt mit italienischem Flair, in der Nähe ihrer Geburtsstadt Salzburg. Das war nicht immer so. Nach sechzehn Jahren in unterschiedlichen Städten wie Wien, Heidelberg und Leipzig, kehrte sie vor einigen Jahren in ihre Heimat zurück. Auf dem Weg wurde sie Ehefrau, Mutter von drei Kindern und Frauchen eines Dackels. Nun lebt sie in einem Haus mit romantisch verwildertem Garten. In einem versteckten Zimmer hinter dem gefüllten Bücherregal schreibt sie ihre bewegenden Liebesromane mit Tiefgang.

Jedes ihrer Bücher hat eine besondere Entstehungsgeschichte. In ihrem Alltag kommt sie mit Themen in Kontakt, die sie zutiefst bewegen. Oft lassen sie Begegnungen mit Menschen in unterschiedlichen Lebenssituationen nicht mehr los.

Für die Autorin macht eine gute Geschichte eine Handlung aus, welche die Komplexität der Beziehungen und Situationen spiegelt und lebensnahe ist.

Sie träumt davon, eines Tages an einem Strand entlang zu gehen und jemanden zu sehen, der eines ihrer Bücher liest.

Impressum

e-Book-Ausgabe Dezember 2017

Titelbild: Princess Dimples

© 2017 Junia Swan, Salzburg

GardenCity, c/o Junia Swan, Salzachtalstr. 1, 5400 Hallein

Prolog

Sein Blick folgte ihr. Auch wenn sie versuchte, unsichtbar zu sein, er bemerkte sie immer. Es gab keinen Weg an ihm vorbei, kein Versteck, das er nicht finden würde. Mit schrecklicher Gewissheit ahnte Jane, dass sie ihm nicht würde entkommen können, wenn er den Entschluss gefasst hatte, endgültig zuzuschlagen. Alles in ihr zog sich ängstlich zusammen, in Erwartung dessen, was er tun würde. Derweil war es nicht immer so gewesen. Jahrelang hatte James Winterthorne sie keines Blickes gewürdigt, geschweige denn zur Kenntnis genommen, dass sie existierte. Dann war er auf ein Internat geschickt worden und wochenlang nicht heimgekehrt. Wenn er nach Hause zurückkam, war es nur für kurz gewesen. Bei diesen Gelegenheiten war Jane aufgefallen, dass sich der Ausdruck seiner Augen verändert hatte, als gäbe es nichts mehr, was sie nicht schon gesehen hätten. Seine Haltung strahlte Langeweile aus und die Themen, die er besprach, drehten sich um Pferderennen und Frauen. Nicht, dass Jane davon viel mitbekommen hätte, doch hin und wieder verirrte sich ein Wortfetzen in ihre Richtung. Er war ihr mit jeder Begegnung unsympathischer geworden und sie mied ihn, so gut es ging.

Die Jahre waren vergangen, Jane hatte ihren siebzehnten Geburtstag begangen und der Sohn ihres Dienstherren verbrachte die meiste Zeit in London, um Ausschweifungen jeglicher Art zu frönen. Wenn er nicht da war, fühlte sie sich erleichtert. Sie befürchtete, er würde ihre Abneigung bemerken und dies zu Komplikationen führen.

Nun hatte der Sommer Einzug gehalten und die Herrschaftsfamilie beging einen Teil der heißen Monate auf ihrem Anwesen in Dover. In knapp einer Woche wurde sie in Cornwall erwartet. Mitten in die Vorbereitungen für die Ankunft des Earls und seiner Familie, wehte James Winterthornes Stimme von den Stallungen her in Richtung des Kräutergartens, in dem Jane gerade Unkraut jätete. Ihr Herz stockte und sie versteifte sich. Wieso war er schon hier? Die Köchin rief und Jane eilte ins Haus, um von dieser in der Küche herumgehetzt zu werden.

„Der junge Herr ist da und will sicherlich etwas Ordentliches essen“, murmelte die Küchenvorsteherin und rannte wie ein aufgescheuchtes Huhn von einem Regal zum nächsten. In dem Moment betrat die Haushälterin den Raum und befahl Jane, das Zimmer des jungen Winterthorne zu richten. Eine innere Unruhe breitete sich in ihr aus, doch sie wagte nicht, die Anordnung zu verweigern. Wenn sie sich beeilte, würde sie sicherlich mit der Arbeit fertig sein, bevor er seine Räumlichkeiten betrat. So schnell sie konnte, packte sie Lappen und Putzmittel zusammen und eilte in den ersten Stock. Mit beeindruckender Geschwindigkeit zog sie die Schondecken von den Möbeln, schüttelte das Bett auf, bezog es neu und kehrte den Boden. Sie riss die Fenster auf, damit frische Luft ins Innere dringen konnte und die abgestandene Luft vertrieb. Panisch staubte sie die Möbel ab und sortierte die alkoholischen Getränke auf der Kredenz. Dann schaute sie sich prüfend um, entdeckte, dass einer der Stühle einen dunklen, hässlichen Wasserfleck auf der Sitzfläche hatte und griff eilig nach der Politur. Gerade, als sie ihre Arbeit beenden wollte, wurde die Tür geöffnet und jemand betrat den Raum. Sie wusste, wer es war, ohne in seine Richtung sehen zu müssen. Wie es die Höflichkeit verlangte, sprang sie auf, senkte den Kopf und knickste. Es war still im Zimmer, als er sie musterte.

„Wie war noch einmal dein Name?“, fragte Winterthorne mit tiefer Stimme.

„Jane, Mylord.“

„Ach ja, ich erinnere mich, die kleine Jane Whiting. Die gute Tat meines Vaters.“

Die Ironie, die in seinen Worten mitschwang, war nicht zu überhören. Er schlenderte zu einem der Stühle und ließ sich darauf nieder. Ohne ihn anzusehen, wusste sie, dass er sie nicht aus den Augen gelassen hatte.

„Wie geht es deiner Familie?“, wollte er nun wissen.

„Ich höre nicht oft von ihnen, Mylord. Als ich das letzte Mal einen Brief erhalten habe, erfreuten sie sich bester Gesundheit.“

Er lachte leise.

„Du drückst dich überaus gewählt aus, für eine einfache Dienstmagd“, spottete er und ihr schoss Röte in die Wangen.

„Ich bin keine einfache Dienstmagd, wie Ihr wisst!“, entgegnete sie und Wut ballte sich in ihrem Inneren zusammen. Sie hob den Blick und starrte ihn zornig an. Er lachte noch immer und ließ seine Augen aufreizend langsam über ihren Körper wandern. Jane erschauerte vor Unbehagen und senkte erneut den Kopf.

„Hmmm, Lady Jane, lass mich nachdenken“, meinte er und erhob sich. Langsam ging er auf sie zu. „Wie war das noch gleich? Verarmter Adel, derart mittellos, dass die Familie auf der Straße landete und nur, dank freundlich gesinnter Mitmenschen, einen Platz in verschiedenen Haushalten fand. Als, hm, lass mich nachdenken? Ach ja, ich erinnere mich, gemeine Dienstboten.“

Er war ihr nun wirklich nahe und sie konnte seine Präsenz fast körperlich fühlen.

„Ich wundere mich darüber, dass du nach all den Jahren, während derer du nun schon in unseren Diensten stehst, deine Stellung in der Gesellschaft noch immer nicht begriffen hast.“

Mit einer Hand umfasste er ihr Kinn und hob ihren Kopf zu sich empor. Es war als würde ihre Haut durch die Berührung seiner Hände verletzt. Sie hatte keine Möglichkeit, ihm zu entkommen, musste seinen Blick ertragen, der sie bis in ihr Innerstes zu erforschen suchte. Jane erwiderte nichts. Was hätte sie auch sagen sollen? Sie hatte ihn unnötig herausgefordert.

„Du hast dich zu einem reizenden Mädchen entwickelt, Mylady“, fuhr er fort, ohne sie freizugeben. „Wie du sicherlich bereits erfahren hast, weiß ich schöne Frauen zu schätzen und wenn ich dich so betrachte, muss ich feststellen, dass du auch zu einer herangereift bist. Komm heute Nacht zu mir, Jane!“

Empört versuchte sie sich loszureißen.

„Sicher nicht! Wie könnt Ihr es wagen!“

Er ließ sie los und sie wich, schwer atmend, zurück.

„Ich werde dich bekommen, Mylady. Du hast keine Wahl!“

Plötzlich wandte er sich ab und machte eine abwehrende Geste. „Und jetzt geh! Hast du nichts zu erledigen?“

In großer Hast sammelte Jane all ihre Sachen zusammen und stürzte aus dem Raum. Doch seine Worte und die darin ausgesprochene Drohung, konnte sie nicht mehr abschütteln.

Mit jedem Tag der verging, wuchs ihr Unbehagen. Jane wusste, dass es ihm ernst war und er bekommen würde, was er wollte. Sie räumte gerade die letzten Töpfe an ihren Platz, als die Haushälterin die Küche betrat.

„Seine Lordschaft wünscht ein Bad zu nehmen. Kümmere dich darum, Jane!“

Die Schlinge um ihren Hals zog sich mit einem Ruck zusammen. Trotzdem griff sie nach dem Kessel, füllte und erwärmte ihn. Als das Wasser kochte, rief sie nach einem der Hausdiener und bat ihn, dieses in die Gemächer des jungen Herren zu bringen. Dann eilte sie voraus, um die weiteren Vorbereitungen zu treffen. Sie legte Badetücher und Seife bereit und überwachte das Einschütten des Wassers. Der Diener holte einen weiteren Eimer mit kaltem Wasser und Jane prüfte die Temperatur. Als alles bereit war, klopfte sie an die Tür seiner Gemächer. Er forderte sie auf einzutreten und sie kam seiner Aufforderung zitternd nach. Erschrocken stellte sie fest, dass er bereits entkleidet war und nur noch einen Morgenmantel trug. Unbehaglich sog sie den Atem tief in ihre Lungen.

„Euer Bad ist gerichtet, Mylord.“ Artig knickste sie.

„Ich werde deine Hilfe benötigen.“

Mit einem Blick, der sie zutiefst verängstigte, umfing er ihre Gestalt.

„Das ist nicht meine Aufgabe, Mylord. Ich schicke nach Eurem Kammerdiener.“

Unwillig knurrte er.

„Wenn ich sage, dass es nun deine Aufgabe ist, dann ist dem so.“

Noch bevor sie sich zurückziehen konnte, hatte er ihren Oberarm umfasst und zog sie mit sich in das Badezimmer. Er drückte sie neben der Wanne auf die Knie, dann entledigte er sich des letzten Stückes seiner Kleidung. Jane wandte den Kopf ab, als seine Beine in ihr Blickfeld gerieten. Sie hörte, wie er sich ins Wasser gleiten ließ. Plötzlich fühlte sie seine Finger, die ihr Handgelenk umfassten und ihre Hand ins Wasser tauchten. Er drückte ihr eine Seife in die Hand.

„Wasche mich, Jane!“

Verzweifelt schluckte sie und ihre Kehle schnürte sich vor Kummer zu. Doch sie tat, was er von ihr verlangte.

„Heute, Mylady, wirst du bei mir bleiben“, befahl er, während sie ihm bebend Seife in die Haare einmassierte, um sie zu waschen. „Diese Nacht brauche ich dich.“

„Nein, das werde ich nicht!“

Er machte sich nicht die Mühe, zu antworten. Mit zitternden Händen goss sie Wasser über seinen Kopf, um die Seife auszuspülen. Als sie den Kübel zur Seite gestellt hatte, griff er erneut nach ihr und zog sie näher zu sich heran. Der Wannenrand schnitt ihr unangenehm in die Rippen. Ängstlich erwiderte sie seinen Blick und bemerkte, dass seine Wimpern feucht zusammenklebten – seine Augen wirkten dadurch größer, als sonst. Nässe tropfte von seinem Haar auf seine Schultern und er richtete sich etwas auf, glitt bis zum Bauch aus dem Wasser heraus. Noch bevor sie verstand, was geschah, hatte er sie zu sich in die Wanne gezogen und auf den Schoß gesetzt. Sie kreischte entsetzt auf. In Sekundenschnelle hatte sich ihr Kleid mit Wasser vollgesogen und sie versuchte, sich aus seinen Armen zu befreien, die er um sie geschlungen hatte. Sein Lachen brannte sich in ihr Gedächtnis ein.

„Du bist ganz nass!“ Er rief dies und mimte den Überraschten. „Du solltest dich ausziehen, bevor du dich erkältest!“

„Niemals!“ Jane schnaubte und bemühte sich, das Wasser aus dem Gesicht zu wischen, das bei ihrem Gerangel aufgespritzt war. Plötzlich erhob er sich und ließ sie tiefer in die Wanne sinken. Hoch ragte er neben ihr empor und sie schrie verzweifelt auf, als sich das Zeichen seiner Erregung in ihr Blickfeld drängte. Strampelnd versuchte sie, sich aufzurichten, um aus dieser Falle entkommen zu können. Währenddessen stieg er aus der Wanne und griff nach einem Handtuch. Während er sich abtrocknete, beobachtete er sie dabei, wie sie sich tropfend aufrichtete.

„Du machst ja alles nass“, stellte er, gespielt empört, fest. Dann griff er nach ihr und riss ihr die Kleider vom Leib. Jane wusste, dass sie ihm nicht würde entkommen können, trotzdem kämpfte sie verbissen gegen ihn an. In jener Nacht raubte er ihr nicht nur die Unversehrtheit ihres Körpers, nein, er nahm ihr auch den Seelenfrieden. Die Welt würde von nun an nie wieder die gleiche für sie sein, alles hatte sich mit seinem schrecklichen Übergriff geändert.

Am nächsten Tag, als sie ihm wieder begegnete, tat er, als wäre nichts geschehen. Er machte keine Anstalten mehr, sie noch einmal in sein Bett zu zerren. Es schien, als hätte er sie längst vergessen und Jane war dankbar dafür.

Einige Tage später traf die restliche Familie ein und es gab jede Menge zu tun. Jane war froh, dass die Arbeit sie von ihrem Schmerz ablenkte. Der Sommer verging, die Herrschaft machte sich auf den Weg nach London, um die Saison dort zu verbringen. Übelkeit peinigte Jane und als diese nicht nachließ, schwante ihr, dass sie guter Hoffnung war. Als sie diese schreckliche Neuigkeit verdaut hatte, wusste sie, dass sie nicht länger auf Winterthorne Abbey bleiben konnte. Deswegen verstaute Jane all ihre Ersparnisse sowie die wenigen Habseligkeiten die sie besaß, in einer alten Tasche und verließ am frühen Morgen den Ort ihrer Pein. Sie warf keinen Blick zurück und verdrängte die Gedanken an jene schreckliche Nacht in den hintersten Winkeln ihres Gedächtnisses.

1. Kapitel

14 Jahre später

„Miss White! Miss White!“ Die Stimmen mehrerer Kinder schallten über die Wiese und ließen Jane anhalten. Sie drehte sich in ihre Richtung und lächelte. Ungefähr fünf Kinder zwischen sechs und neun Jahren rannten in ihre Richtung. „Nimm uns mit!“, „Wir wollen mitkommen!“, „Was machst du?“, „Wohin gehst du?“

Fragen über Fragen stürzten auf sie ein und sie konnte nicht anders, als zu lachen.

„Ich wollte für das Abendessen noch ein paar Beeren sammeln“, erklärte sie. „Ihr könnt mich gerne begleiten!“

Sie nahm eines der Kinder bei der Hand und reichte einem der älteren einen kleinen Korb. Ihr Leben und das ihrer Schützlinge hatte sich vor drei Jahren grundlegend verbessert, als Rose Townsend, die Countess of Hawthorne Hall, in dem Waisenhaus, dem sie als Leiterin vorstand, um Unterschlupf gebeten hatte. Ihre Kutsche hatte einst einen Schaden erlitten und musste repariert werden und das Waisenhaus von Plymouth war das einzige Gebäude im Umkreis von 3 Meilen. Während des Aufenthalts der Countess, hatte diese angesichts der Armut und des katastrophalen Zustands des Gebäudes, beschlossen ihr zu helfen. Sie hatte das Haus renovieren lassen und die Kinder sowie die Erzieherinnen, während der Arbeiten auf ihrem Landsitz in der Nähe von Par beherbergt. Als wäre das noch nicht genug gewesen, öffneten die Countess und ihr Mann, ihr Anwesen Hawthorne Hall jeden Sommer als Feriendomizil für alle Waisenkinder und ihre Erzieherinnen. Gerade verbrachte Jane mit ihren Zöglingen den Urlaub hier in den schönen Breiten von Gloucestire. Mit jedem Jahr wuchs die Anzahl der Feriengäste, denn Lady Townsend hatte es sich auf die Fahnen geschrieben, das Elend der heimat- und elternlosen Kinder in ganz England zu verbessern und deren Leid zu mildern.

Jane atmete tief durch, sie liebte die warmen Tage im Freien, erfreute sich an der wunderschönen Natur.

„Miss White, ich habe Brombeeren entdeckt!“, hörte sie eines der Kinder rufen und alle machten sich sofort auf den Weg zu dem Finder. Nachdem sie alle reifen Beeren gepflückt hatten, spazierten sie weiter. Plötzlich durchbrachen laute Hufschläge die Stille und sie konnten in geringer Entfernung einen Reiter erkennen, der in halsbrecherischem Tempo zwischen den Bäumen hindurch galoppierte. Jane blieb erschrocken stehen und verfolgte den wilden Ritt, unwillkürlich legte sie eine Hand über ihr Herz. Im nächsten Moment hörten sie einen dumpfen Aufschlag, danach das Brechen eines Astes und einen Aufprall, gefolgt von einem kurzen Schrei, der in ein Stöhnen überging. Dann war es still. Die Kinder blickten Miss White mit großen Augen an. Sie benötigte zwei Sekunden, um sich zu fassen, dann rannte sie los. Das Pferd war nirgendwo mehr zu sehen, es hatte den Reiter abgeworfen, der mit blutendem Kopf bewusstlos auf dem Boden lag.

„Lauft schnell zum Haus und holt Hilfe! Lord Townsend ist sicher nicht weit. Wir brauchen mindestens einen starken Mann!“

Während die zwei älteren Kinder augenblicklich in Richtung Haus davon schossen, ging Jane neben dem Verletzten – seiner Kleidung nach zu urteilen ein Adliger – in die Knie und beugte sich über ihn. Mit einer Hand suchte sie seinen Puls.

„Könnt Ihr mich hören, Mylord?“, fragte sie leise, doch der Mann rührte sich nicht. Zum Glück schlug sein Puls regelmäßig. Vorsichtig tastete sie den Kopf ab. Auch hier meinte sie keinen Bruch zu entdecken, allerdings musste die Platzwunde genäht werden und würde eine Narbe hinterlassen. Sanft schlug sie mit einer Hand auf seine Wange.

„Mylord, wacht auf! Könnt Ihr mich hören?“

Seine Lider flatterten und er öffnete die Augen. Sein Blick war trüb, ein wenig verschleiert, klarte aber etwas auf, als er ihr Gesicht über dem seinen gewahrte. Diese Augen hätte sie unter tausenden erkannt. Ein Leben lang hatten sie Isabel bis in ihre Albträume verfolgt. Niemals hatte sie diese vergessen können.

„Ein Engel“, flüsterte er, „ich bin im Himmel.“

Dann sank er wieder zurück in die Bewusstlosigkeit. Jane zog ihre Hand zurück und starrte wie gelähmt auf den Mann vor sich. Es konnte nicht möglich sein … Was sollte ausgerechnet er an einem Ort wie diesem machen? Eisschauer rannen über ihren Rücken, während sie ihn ungläubig anblickte. Nein, sie musste sich irren …

Endlich hörte sie ein Pferd in ihre Richtung reiten und hob den Kopf.

„Hier sind wir!“, rief sie, erhob sich und winkte. Auch die Kinder schrien, um die nahende Hilfe auf sich aufmerksam zu machen.

Brent Townsend zügelte sein Pferd, sprang ab und hob das Kind aus dem Sattel, das vor ihm gesessen war und ihm den Weg gezeigt hatte. Er reichte die Zügel des Pferdes dem ältesten Buben und ging ebenfalls neben dem Verletzten in die Knie. Auch er befühlte Puls und Kopf.

„Winterthorne ... ich frage mich, was ausgerechnet er hier macht!“ Dies sagte er mehr zu sich, dann blickte er zu Jane, die ein paar Schritte zurückgewichen war.

„Ich werde seine Kopfwunde im Haus nähen. Wir müssen ihn nur irgendwie dorthin bringen. Meinen Sie, wir können ihn zu zweit auf mein Pferd heben?“

Jane zuckte zweifelnd mit den Schultern.

„Wir sollten es probieren.“

Brent packte den Mann unter den Achseln und hob ihn an. Mit vereinten Kräften bugsierten sie ihn über den Pferderücken. Nun hing er wie ein Sack Mehl über dem Tier.

„Für seinen Kopf ist das sicherlich nicht gut, aber irgendwie müssen wir ihn transportieren“, stellte der Earl fest und übernahm die Zügel. Langsam führte er das Pferd auf den Weg zurück und wies zwei der Kinder an, die Diener über den Vorfall zu informieren, damit in der Zwischenzeit die nötigen Vorkehrungen getroffen werden konnten. Jane folgte in kurzem Abstand, verstört von dem Eindringen des gehassten Mannes in ihre friedliche Welt. Endlich hatte sie es geschafft und ihr Leben verlief in ruhigen Bahnen – leider schien dieser Frieden nur von kurzer Dauer gewesen zu sein. Vielleicht gelang es ihr, Winterthorne aus dem Weg zu gehen und einfach so weiterzumachen, als wären die letzten Minuten nicht geschehen.

Rose Townsend kam ihnen beim Eingang schon entgegengelaufen und beobachtete, wie ihr Mann sowie drei Diener, den Bewusstlosen vom Pferd zogen und in Richtung Haus trugen. Sie beugte sich über Winterthorne und Jane sah, dass der Earl tadelnd die Stirn runzelte.

„Ich werde mich um ihn kümmern, Rose“, sagte er bestimmt. „Deine Hilfe wird im Moment nicht benötigt.“

Lady Townsend errötete und wich sogleich zurück.

„Miss White, dafür würde ich mich über Ihre Hilfe sehr freuen.“

Jane, die gehofft hatte, sich zurückziehen zu können, nickte. „Natürlich, Mylord.“

Nachdem sie Winterthorne auf einem Bett abgelegt hatten, eilte Brent, um Nadel und Faden zu holen. Jane blieb in einer Ecke des Zimmers stehen, so weit entfernt von dem Verletzten, wie möglich. Nachdem Brent zurückgekommen war, winkte er sie an seine Seite.

„Halten Sie seinen Kopf.“ Er rümpfte angewidert die Nase. „Himmel, er riecht, als hätte er das komplette Wirtshaus leergesoffen!“

Der Geruch war Jane ebenfalls in die Nase gestiegen und sie nickte zu den Worten des Earls. Gleichzeitig legte sie zögernd die Hände auf Winterthornes Schläfen, um ihn zu fixieren. Erinnerungen zuckten bei dieser Berührung durch ihre Gedanken und sie musste sich beherrschen, um nicht schreiend aus dem Raum zu laufen. Sie schloss die Augen und schluckte unbehaglich.

„Geht es Ihnen gut, Miss White?“, hörte sie die besorgte Stimme des Earls.

Jane nickte.

„Dann werde ich jetzt beginnen.“

Als er mit der Nadel in die Haut stach, zuckte Winterthorne schmerzvoll zusammen und Jane öffnete die Augen, um ihn besser umfassen zu können. Sie benötigte alle Kraft, um ihn festzuhalten. Er stöhnte und riss die Augen auf, blickte sie direkt an.

„Engel“, stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, „wieso quälst du mich so?“

„Ihr habt eine Wunde auf dem Kopf“, erwiderte sie, „und müsst genäht werden.“

Schweiß trat ihm auf die Stirn und er schloss erneut die Augen. Soweit sie es beurteilen konnte, war er die restliche Zeit bei Besinnung. Er musste jeden Stich fühlen.

Endlich beugte sich Brent zurück und atmete tief durch.

„Geschafft“, stellte er fest.

Er flößte dem Mann noch etwas ein und erhob sich. Dabei machte er Jane ein Zeichen, ihm zu folgen.

„Wir haben uns ein Abendessen nun redlich verdient, meinen Sie nicht?“

„Ja, Mylord. Ich werde mich noch kurz frisch machen und pünktlich im Salon erscheinen.“

Der Earl nickte in Gedanken versunken und schlug die Richtung zu seinen Gemächern ein.

Als sie einander eine knappe Stunde später beim Abendessen gegenüber saßen, wollte die Countess wissen, wie es dem Verunglückten ging. Der Earl sah sie warnend an und Rose senkte den Blick.

„Ich denke, er hat noch einmal Glück gehabt, Rose“, erwiderte er unwillig auf ihre Frage. „Allerdings hat er eine Gehirnerschütterung erlitten und muss die nächsten Tage unbedingt das Bett hüten.“

„Ich werde mich natürlich um ihn kümmern“, meinte Rose hilfsbereit.

„Ich denke, das wirst du nicht tun. Miss White wird die Aufgabe der Krankenpflegerin übernehmen. Nicht wahr, Miss White?“

Rose errötete ein weiteres Mal und wandte den Blick ab während sich Jane bemühte, die Panik niederzukämpfen, die sie bei seinen Worten befallen hatte.

„Ehrlich gesagt, Mylord, denke ich nicht, dass ich für diese Aufgabe geeignet bin.“

Brent lächelte, legte beiläufig eine Hand über die seiner Frau, drückte diese zärtlich und meinte in Janes Richtung: „Diesbezüglich habe ich keine Bedenken. Sie scheinen mir die geborene Krankenschwester zu sein. Wenn Sie also so freundlich wären? Ich würde meine Frau nur ungern in der Gegenwart dieses Mannes wissen.“

Es schien, als wollte die Ladyschaft etwas sagen, unterdrückte den Drang jedoch und schwieg.

„Selbstverständlich, Mylord, wenn Ihr es wünscht, werde ich nach seiner Lordschaft sehen.“

Ein paar Minuten lang hing jeder seinen Gedanken nach.

„Ich frage mich ernsthaft, was Winterthorne ausgerechnet hier macht“, unterbrach der Earl die Stille.

„Nun, vielleicht wollte er uns besuchen. Ich weiß nicht, weshalb du ihn ...“ Rose brach ab. „Wir werden ihn fragen, wenn es ihm besser geht. Ich nehme an, er hat einen Grund.“

„Ich hoffe für ihn, dass es einen triftigen Anlass gibt ...“, brummte Brent. „Der Ruf dieses Mannes wirft ein überaus schlechtes Licht auf uns.“

„Ach, mach dir keine Sorgen“, munterte ihn Rose auf. „Er hat sich bisher überaus korrekt mir gegenüber verhalten.“

Brent schnaubte auf und Jane musterte das Paar für einige Sekunden interessiert. Es schien, als hätten die Herrschaften bereits früher nähere Bekanntschaft mit Winterthorne gemacht …

Er nannte sie Engel, immer wenn er erwachte und sie sah. Natürlich erinnerte er sich nicht an sie. Sie war eine von Tausenden gewesen, wenn es stimmte, was man sich von ihm erzählte und sie glaubte jedes Wort davon. Es hieß, Winterthorne wäre unersättlich, was die Befriedigung seiner Gelüste anging, keine Frau erregte für längere Zeit sein Interesse. Selbst sein Vater hätte ihn am liebsten enterbt, wäre er nicht sein einziger Sohn gewesen. So hatte Winterthorne mit Mitte dreißig das Erbe seines Vaters angetreten und dessen Titel übernommen. Doch auch die große Verantwortung, die nun auf seinen Schultern lastete, schien keinen Sinneswandel bei dem Mann herbeigeführt zu haben. Jane war überzeugt davon, dass er eine verloren Seele war. Nichts würde ihn jemals zur Umkehr bewegen!

Jane zögerte ihre Visite immer so weit hinaus, wie es ihr möglich war. Sie hoffte, dass er schlief, wenn sie am späten Abend nach ihm sah. An diesem Tag jedoch hatte sie Pech, er öffnete die Augen, als sie ins Zimmer trat.

„Mein Engel“, begrüßte er sie. „Wieso kommst du so spät? Ich habe dich bereits vermisst.“

„Mein Name ist White, Mylord. Ich würde es begrüßen, wenn Ihr mich Miss White nennt.“

Er machte eine abfällige Handbewegung.

„Du bist meine Retterin. Ich sehe nicht ein, dass ich dich nenne soll, wie all die anderen.“

Langsam hob er eine Hand und streckte sie ihr entgegen. In seine Augen war ein verführerischer Glanz getreten. Jane ignorierte die Hand und seinen Blick.

„Ich muss Euren Verband wechseln, wenn Ihr gestattet.“

Er ließ seine Hand fallen.

„Ich gestatte es“, meinte er huldvoll und lächelte amüsiert.

Sie musste sich überwinden, um weiter auf ihn zu zutreten. Als sie ihn erreicht hatte, hob sie die Hände zu den Leinenbinden. Ihre Brüste waren auf seiner Augenhöhe und sie wusste, dass er darauf starrte.

„Engel“, sagte er, „meinst du nicht, du könntest mehr für mich tun, als mir den Verband zu wechseln?“

Jane errötete und wich zurück.

„Ich weiß nicht, weshalb Ihr denkt, dass Ihr die Erfüllung der Träume sämtlicher Mädchen seid. Für mich seid Ihr das jedenfalls nicht. Im Gegenteil: Ich pflege Euch nur, weil mich der Earl darum gebeten hat. Deswegen lautet meine Antwort: Nein. Ich werde nicht mehr für Euch tun, als ich muss. Je früher Ihr genesen seid, desto eher reist Ihr ab und dies ist mein Begehr!“

Nun lachte er herzlich.

„Ausgezeichnet, Engel, welch eine großartige, keusche Rede! Ich könnte mir einbilden, dass mein Verlangen nach dir, soeben um das Doppelte angeschwollen ist, im wahrsten Sinne des Wortes.“

Jane lief nun dunkelrot an. Wie konnte er es wagen, in ihrer Gegenwart von Verlangen und derlei Dingen zu sprechen. Sie ließ den Verband fallen und trat zurück.

„Wenn Ihr nicht augenblicklich schweigt, werde ich gehen und Eure Wunde nicht säubern.“

Winterthorne lächelte noch immer, doch er nickte.

„Kein Wort wird mehr über meine Lippen kommen“, versprach er und sie begann, die Wunde zu reinigen.

„Ich frage mich, ob wir einander schon einmal begegnet sind“, meinte er nach einer halben Minute.

„Wo sollte das gewesen sein?“, erwiderte sie. „Ihr habt, abgesehen davon, versprochen still zu sein!“

Als sie fertig war, räumte sie alles auf und wandte sich der Tür zu.

„Gute Nacht“, wünschte sie und wollte schnell entschwinden.

„Moment! Ich kann ohne Gutenachtkuss nicht einschlafen“, rief er ihr hinterher, doch sie drehte sich nicht noch einmal zu ihm um und knallte die Tür hinter sich zu.

Jane kämpfte einen erbitterten Kampf in ihrem Inneren. Am liebsten wäre sie abgereist und hätte alles, insbesondere Winterthorne, hinter sich gelassen. Doch sie konnte ihre Kinder nicht hier zurücklassen, abgesehen davon wären diese über eine verfrühte Abreise schrecklich enttäuscht. Diese Kleinen hatten in ihrem kurzen Leben schon so viel durchmachen müssen, dass sie ihnen weiteren Kummer um jeden Preis ersparen wollte. Die einzige Hoffnung, die ihr blieb war, dass der Earl of Kingstone Oak, bald genesen war und das Townsendsche Anwesen verließ. Als sie ihn wenige Tage später im Salon erblickte, war ihre erste Reaktion, auf dem Absatz umzukehren. Dies hätte sie auch gemacht, wenn der Earl sie nicht bereits entdeckt und „Mein Engel“, in ihre Richtung gerufen hätte. Jane setzte ein gezwungenes Lächeln auf und fügte sich in ihr Schicksal. Zum Glück betraten in diesem Moment der Earl und die Countess den Raum und lenkten Winterthorne ab. Tief beugte er sich über Roses Hand. „Mylady, es ist mir eine Ehre. Ihr könnt nicht ahnen, wie sehr ich mich nach dieser Begegnung gesehnt habe.“

Rose lächelte ein wenig verhalten und warf Brent einen beschwichtigenden Blick zu. Dieser tat einen Schritt nach vorne.

„Winterthorne, wie ich sehe, seid Ihr genesen. Vielleicht könnt Ihr uns heute über den Grund Eures überraschenden Besuchs unterrichten.“

„Oh, aber natürlich kann ich das“, lächelte Winterthorne. Alle drei schienen Janes Anwesenheit vergessen zu haben. Diese nutzte die Gunst der Stunde, sich langsam in Richtung Tür zurückzuziehen.

„Einerseits wollte ich mich nach dem Wohlergehen der werten Countess erkundigen“, erklärte der Earl of Kingstone Oak.

„Zu gütig“, murmelte Rose.

„Das Euch nicht das Geringste zu interessieren hat“, stellte Brent kühl fest, doch Winterthorne ignorierte seinen Einwand.

„Wie Ihr wisst, suche ich Ausschweifungen jeglicher Art, je ausgefallener, desto besser. Ich habe mich an unser letzte Gespräch erinnert.“

Jane hatte dir Tür fast erreicht und warf einen schnellen Blick in Richtung der Herrschaften. Die Countess war rot angelaufen.

„Das war ein Missverständnis!“, stieß Rose entsetzt hervor.

„Auch, dass Ihr noch nie so wundervoll geküsst worden seid, wie von mir?“

„Ja, auch das! Ich wollte meinen Mann ärgern. Das ist auch schon alles. Es war ein unerfreuliches Ereignis und wir sollten es nicht wieder erwähnen!“

„Meine Frau hat recht“, mischte sich nun auch der Earl ein. „Die Vorlieben, die Ihr habt, sind uns ein Gräuel. Wir möchten weder etwas damit zu tun haben, noch davon wissen. Ich verbiete, dass in Anwesenheit der Frauen, über derlei Themen geredet wird.“

Als der Earl von den Frauen gesprochen hatte, war nun die Aufmerksamkeit zu Jane zurückgekehrt, die mutlos die Luft aus den Lungen weichen ließ. Fast hätte sie es geschafft.

„Miss White, bitte verzeihen Sie die Themenwahl unseres Gastes“, entschuldigte sich nun Townsend bei ihr. Jane nickte nur und machte eine abwehrende Geste.

„Wollen wir nun zum Essen schreiten?“

Lord und Lady Townsend gingen voran, Winterthorne bot Jane seinen Arm. Mit größtem Vergnügen hätte sie diesen abgelehnt, doch die Höflichkeit stand in Widerstreit zu ihren Wünschen. So ließ sie sich von dem Mann ihrer Albträume zur Tafel geleiten.

Wenn Jane es bis zu diesem Moment nicht begriffen hätte, wäre ihr während des Essens klar geworden, dass Winterthorne kein gern gesehener Gast auf Hawthorne Hall war. Allerdings schien ihn das nicht zu stören, er verteilte seinen Charme großzügig unter den Frauen und ignorierte Townsends finstere Miene. Alle sehnten den Tag herbei, an dem er das Anwesen endlich wieder verlassen konnte.

Jane saß mit zweien ihrer Mädchen auf einer Lichtung und band Blumenkränze, als Winterthorne aus dem Dunkel des Waldes trat und auf sie zuging. Als sie den Mann erkannte, erhob sie sich schnell und befahl den Mädchen, zum Haus zurückzulaufen. Unter keinen Umständen wollte sie die Kinder in der Nähe dieses Wüstlings wissen.

„Mein Engel“, sagte er und ging direkt auf sie zu. „Ich bin hier, um mich zu verabschieden.“

Erleichtert atmete Jane aus. Endlich!

„Auf Wiedersehen!“, sagte sie und wollte sich von ihm abkehren, um ebenfalls zum Gutshaus zurückzugehen. Doch seine Hand, die sich plötzlich auf ihre Schulter gelegt hatte, hielt sie zurück. Erschrocken zuckte sie zusammen und wandte sich um. So schnell, dass sie nicht begriff wie ihr geschah, hatte er sie zu sich herumgedreht und in seine Arme gezogen.

„Zumindest einen Abschiedskuss“, flüsterte er und presste seine Lippen auf die ihren. Bilder der Vergangenheit überlagerten die der Gegenwart: Sein Mund, der versucht hatte, den Lebenssaft aus ihr zu saugen, die Hände, die jeden Zoll ihres Körpers mit Feuer versengt, seine Augen, die ihren Anblick in sich aufgenommen hatten, als wollten sie Jane verschlingen, seine Begierde, die ihre Unschuld geraubt hatte. Es war unbeschreiblich, doch sie konnte, damals wie heute, seine Unersättlichkeit spüren, dieses fordernde Ziehen einer Sucht nach der Erfüllung seiner Lust. Es war nicht sie, die er küsste, sie war nur das Gefäß, das er brauchte, um seine Sehnsüchte zu befriedigen. So fest sie konnte, stieß sie ihn von sich. Mit gerunzelter Stirn und schwer atmend, gab er sie frei.

„Ihr widert mich an“, spukte sie aus und verzog abfällig den Mund. „Es ekelt mich vor Euch, Mylord. Ihr seid kein Mann mehr, sondern ein Wilder, ergeben Euren dunklen Gelüsten. Man kann es in Eurem Kuss schmecken und in Euren Augen sehen. Ein Tier nur seid Ihr, in Menschengestalt. Wagt es nie wieder, in meine Nähe zu kommen, noch mich zu berühren!“

Ohne ihn noch einmal anzusehen, fuhr sie herum und stürzte von ihm fort. Er starrte ihr nach. Das erste Mal seit langer Zeit war er wirklich sprachlos. Das erste Mal seit mindesten zwanzig Jahren spürte er einen Stich in seinem Inneren, der ihm bewies, dass er noch lebte. Mit ihren Worten hatte Jane einen Ort getroffen, von dem er nicht mehr angenommen hatte, dass er noch existierte.

Zum Glück war Winterthorne abgereist, ohne ihr noch einmal zu begegnen. In Jane stieg Erleichterung auf, ihm entkommen zu sein und ihn nie mehr wieder sehen zu müssen. Der restliche Sommer verging angenehm und entspannt auf Hawthorne Hall. Mit neuer Kraft kehrte sie mit ihren Schützlingen nach Plymouth zurück. Dank der Unterstützung von Lord und Lady Townsend, hatte das Schuljahr nun auch Einfluss auf den Rhythmus im Waisenhaus. Einige der älteren Kinder verbrachten einige Wochen in London, um dort in unterschiedlichen handwerklichen Fertigkeiten unterwiesen zu werden. Sie kehrten mit leuchtenden Augen und neuer Hoffnung zurück und Jane fühlte tiefe Dankbarkeit in sich aufsteigen. Ja, vielleicht gelang es sogar, einigen dieser Kinder eine Existenz zu sichern!

Je mehr Zeit verging, desto besser konnte sie die Begegnung mit Winterthorne vergessen und die Erinnerungen an ihn tief in ihrem Inneren verschließen. An jenem Ort, der schon anderes Vergangene beheimatete, die Erlebnisse, die zu schmerzhaft waren, um an sie zu denken.

Weihnachten kam und ging, das neue Jahr brach an, Schnee bedeckte Wiesen und Wälder. Das Meer war kristallklar und schon sein Anblick ließ einen frösteln. Trotzdem genoss Jane den Winter. Sie liebte das lodernde Feuer im Kamin, das die Kälte verdrängte und eine behagliche Atmosphäre schuf. Die Wangen der Kinder waren rot, wenn sie von draußen ins Innere kamen und die Kälte abschüttelten, die sich an sie geklammert hatte. Ja, ihr Leben hatte sich zum Guten gewendet!

2. Kapitel

Jane kontrollierte, ob alle Türen versperrt waren, legte einen letzten Scheit Holz in den Kamin und schickte sich an, in den ersten Stock zu steigen, um in jedes der Kinderzimmer einen Blick zu werfen und sich zu vergewissern, dass alles in Ordnung war. Sie hatte ungefähr die Hälfte der Treppe erreicht, als heftig gegen die Tür geklopft wurde, was sehr ungewöhnlich für diese Uhrzeit war. Unbehaglich raffte sie ihr Wolltuch enger um ihre Schultern und stieg wieder in das Erdgeschoß hinab.

„Ja?“, fragte sie durch die geschlossene Tür.

„Ich suche Miss White. Ist sie hier?“

Jane erkannte die Stimme und ein eisiger Schauer ließ ihren Körper frösteln. Winterthorne.

„Wer ist da?“

„James Winterthorne, Earl of Kingstone Oak. So öffnen Sie doch! Ich brauche dringend Ihre Hilfe.“

Die Gedanken rasten in ihrem Kopf. Was wollte er von ihr? Weshalb konnte er sie nicht einfach in Ruhe lassen?

„Habt Ihr einen Termin, Mylord?“

Durch die Tür konnte sie ihn erbittert auflachen hören.

„Hören Sie, wer auch immer Sie sind, es geht um Leben und Tod! Miss White muss mich empfangen!“

Um Leben und Tod? Nun, diese Ankündigung beunruhigte Jane doch ein wenig. Zögernd drehte sie den Schlüssel im Schloss und stieß die Tür auf. Winterthorne lehnte am Türrahmen, Schneeflocken wirbelten im Hintergrund und legten sich auf seine rechte Schulter, die keinen Platz unter dem Dach gefunden hatte.

„Das wurde aber auch Zeit! Habe ich es mir doch gedacht, dass Sie es selbst sind.“ Ohne darauf zu warten, dass sie ihm Platz machte, trat er ein, was sie zu einem schnellen Rückzug veranlasste. Nachdem er die Tür hinter sich zugezogen hatte, rieb er sich die Hände und blickte sie an.

„Also, Mylord, was gibt es Wichtiges, das nicht warten kann?“

Er schenkte ihr ein charmantes Lächeln.

„Könnten Sie mir wohl eine Tasse Tee anbieten? Ich bin recht erfroren.“

Unwillig stemmte Jane die Hände in die Hüften.

„Wir sind keine Herberge, sondern ein Waisenhaus. Da Ihr das Alter derjenigen, denen hier Schutz gewährt wird, bei Weitem überschritten habt, sehe ich keinen Grund, Euch zu bewirten.“

Das Lächeln schwand aus seinem Gesicht und er sah sie ernst an.

„Sie haben recht. Es tut mir leid, dass ich Sie zu so später Stunde überfalle. Der Grund ist … Ich muss dringend mit Ihnen sprechen.“

Er blickte sich in dem dunklen Gang um. Jane bemerkte, dass er müde und erschöpft wirkte und dies stimmte sie etwas milder.

„Vielleicht gibt es einen Ort, der besser für ein, sagen wir, persönliches Gespräch geeignet ist?“

Jane versuchte das Plaid noch enger um ihren Körper zu schlingen. Erst jetzt wurde ihr bewusst, welch große Angst sie davor hatte, mit ihm allein zu sein.

„Miss White?“

Ihre Aufmerksamkeit kehrte zu ihm zurück.

„Folgt mir, bitte. Wir können uns in den Aufenthaltsraum setzen.“

„Danke.“

Schweigend schritt er hinter ihr den Gang entlang. Es schien, als wäre all sein künstliches Gebaren von ihm abgefallen. Jane öffnete die Tür und ließ ihn eintreten, dann ging sie zum Kamin, legte einen weiteren Scheit nach und entzündete eine Öllampe. Winterthorne öffnete seinen schweren Mantel und legte ihn über einen Stuhl und sie deutete ihm, sich zu setzen. Dann verließ sie den Raum, um ihm in der Küche einen Tee zuzubereiten. Ihre Hände zitterten, als sie das Wasser aufgoss. Was hatte ihn wohl dazu bewogen, sie aufzusuchen? Alles in ihr wollte fliehen. Alles stehen und liegen lassen und verschwinden, so, wie sie es schon einmal gemacht hatte. Doch fünfundzwanzig Kinder vertrauten ihr und konnten nicht einfach zurückgelassen werden. Sie seufzte tief und kehrte in den Aufenthaltsraum zurück. Winterthorne hatte sich in der Zwischenzeit einen Stuhl ans Feuer gezogen und die Ellbogen auf die Knie gestützt. Regungslos blickte er in die Flammen. Als er ihre Schritte hörte, wandte er sich zu ihr um und ein erfreutes Lächeln teilte seine Lippen.

„Danke!“, sagte er und nahm die Teetasse entgegen.

Jane rückte ebenfalls einen Stuhl näher, allerdings war sie besorgt darauf bedacht, genug Abstand zu ihm zu wahren.

„Nun, Mylord, wie kann ich Euch helfen? Ich hatte gehofft, mich klar ausgedrückt zu haben, was weitere Zusammentreffen zwischen uns anbelangt.“

„Keine Sorge, das haben Sie. Mir ist bewusst, dass Sie nicht sonderlich erfreut über mein Auftauchen sind.“

Er hob den Kopf und blickte ihr direkt in die Augen.

„Ich habe versucht, Ihre Worte zu vergessen. Sie zu vergessen, doch Sie gehen mir nicht aus dem Kopf. Niemals zuvor in meinem Leben, hat mir jemand derlei Dinge an den Kopf geworfen.“

Jane zuckte mitleidlos mit den Schultern.

„Nun ja, Ihr habt sie verdient. Trotzdem sehe ich keinen Grund, weshalb Ihr nun hier seid. Wenn Ihr möchtet, lasse ich mir weitere Wahrheiten, Eure Person betreffend, einfallen.“

Ihre Worte zauberten erneut ein Lächeln auf sein Antlitz, das die Lachfältchen um seine Augen zur Geltung brachte. Wüsste sie nicht, wer er war, würde er fast sympathisch wirken. Er hob abwehrend die Hände.

„Halt, halt, meine liebe Miss White. Ich weiß nicht, ob ich so viele schonungslose Offenbarungen meine Person betreffend, im Augenblick ertragen kann. Doch wenn Sie so gütig wären, sie mir in geringen Dosen zu verabreichen, bin ich dieser Kur gegenüber nicht abgeneigt.“

Er wartete auf eine Antwort, doch Jane schwieg beharrlich. Winterthorne drehte sich von ihr fort und starrte wieder in die Flammen, dann räusperte er sich.

„Der Grund, weshalb ich hier bin ist folgender ...“ Mit gespreizten Fingern strich er sich fahrig durchs Haar. Jane bemerkte, dass seine Hand zitterte. Verwundert fragte sie sich, was einen Mann wie ihn dazu brachte, Schwäche zu zeigen. Wieder hob er den Kopf und suchte ihren Blick. Qual flackerte in seinen Augen.

„Ich brauche Ihre Hilfe, Miss White.“

„Das habt Ihr bereits gesagt. Ich frage mich, wobei.“

„Es fällt mir schwer, darüber zu sprechen ...“

Nun lachte sie ungläubig auf.

„Mylord, ich bitte Euch! Ihr habt alles bekommen, was Ihr jemals haben wolltet. Welcher Aspekt Eures Lebens war jemals schwer?“

Kurze Verblüffung zeichnete sich in seinen Gesichtszügen ab.

„Sie kennen mich überraschend gut. Woher?“

Jane errötete und erhob sich von ihrem Stuhl.

„Über keinen anderen Mann wird so viel gesprochen, wie über Euch.“

Sinnend folgte er ihrer Bewegung, als sie sich ein paar Schritte von ihm entfernte.

„Ich hätte nicht gedacht, dass Sie auf derlei Geschwätz etwas geben.“

„Oh, da habt Ihr recht – nicht einen Pfifferling! Würden sich meine Erfahrungen mit dem Gerede nicht decken. Aber, zurück zu Euch. Was wollt Ihr? Sagt es gerade heraus, so wie Ihr es bisher immer gemacht habt. Seit wann interessieren Euch Kollateralschäden?“

Ein weiteres Mal runzelte er überrascht die Stirn.

„Meine Güte, Engel, was haben Sie zum Abendessen getrunken?“

Sie wusste, dass er einen Scherz machen wollte, doch sie fand nichts an dieser Situation witzig.

„Mylord, wenn Ihr nicht sprechen wollt, ist es mir einerlei. Ich bitte Euch nur, dieses Haus zu verlassen, damit ich mich zur Ruhe begeben kann.“

„Schon gut.“ Er erhob sich, ging ein paar Schritte und stellte sich vor das Fenster. Er blickte hinaus, obwohl er sicherlich nicht viel erkennen konnte. Fenster waren in solchen Situationen überaus praktisch – man wirkte nicht allzu blöd, wenn man ins Leere starrte.

„Da Sie mich so gut zu kennen scheinen, dürfte Ihnen nicht verborgen geblieben sein, dass ich ...“

Er brach ab und wandte sich zu ihr um.

„Es ist wie ein Fieber. Es hat mich befallen, als ich vierzehn Jahre alt war und nie mehr losgelassen. Es ist, als wollte es mich verschlingen. Wenn ich tue, was es verlangt, wird es umso schlimmer. Wenn ich nicht nachgebe, quält es mich bis zur Besinnungslosigkeit. Ich weiß mir nicht mehr zu helfen, verstehen Sie?“

Jane blickte ihn an, als hätte er den Verstand verloren.

„Nein, ich verstehe kein Wort. Wenn Ihr Fieber habt, solltet Ihr einen Arzt ...“

„Ich sagte, wie ein Fieber“, unterbrach er sie ungeduldig. „Sie müssen mir zuhören! Da hilft kein Arzt, keine Arznei. Alles, was ich brauche ist ...“

Jane blickte ihn mit großen Augen fragend an.

„Oder besser gesagt, es sind – Plural – Frauen, Frauen, Frauen. Immer mehr Frauen. Die ganze Zeit. Ich denke nur an sie. Nein, ich denke an ihre Körper und wie ich sie berühre ...“

„Mylord!“

Jane errötete heftig und wandte sich ab. Sie konnte ihn nicht länger ansehen.

„Verzeihen Sie, dass ich in Ihrer Gegenwart so unverblümt spreche. Doch ich muss es tun, damit Sie verstehen, was ich meine. Bitte, Engel, sehen sie mich an!“

Es bereitete ihr fast körperliche Schmerzen, sich ihm nun zuzuwenden.

„Es ist eine Krankheit, ich bin davon überzeugt. Sie frisst mich auf. Die ganze Zeit denke ich daran. Auch jetzt: Ich überlege, wie ich Ihnen die Kleider vom Körper reiße und Sie sich mir entgegenstrecken ...“

„Aus! Schweigt! Sofort! Ich kann das nicht mehr hören! Es interessiert mich nicht und ich will damit nichts zu tun haben! Verschwindet, Ihr besessener ...“

Mit zwei langen Schritten war er bei ihr und packte sie bei den Oberarmen. Er drehte sie zu sich und zwang ihren Blick in seinen.

„Ja, das ist es, ich bin besessen und das zerstört mich! Ich möchte mich davon abwenden und bitte Sie, mir dabei zu helfen!“

In seinen Augen spiegelte sich blanke Verzweiflung.

„Wieso kommt Ihr zu mir? Ich kann Euch nicht helfen!“

Jane versuchte, sich aus seinem Griff zu winden, doch er ließ sie nicht los.