Die Smartphone-Waisen 2: Die Insel der Smartphone-Waisen - Salah Naoura - E-Book

Die Smartphone-Waisen 2: Die Insel der Smartphone-Waisen E-Book

Salah Naoura

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Beschreibung

Ein unglaubliches Ferienabenteuer!  Urlaub am Meer! Was könnte es für Tara, Bodhi, Bhavani, Kalli, Leo und Artschie Schöneres geben? Voller Vorfreude reisen die sechs Kinder samt Waisenhaus-Chefin Marla und Katze Madame in das beschauliche Costello. Doch mit diesem Badeort scheint irgendetwas nicht zu stimmen. Viele Häuser sind unbewohnt, ihr Hotel ist die reinste Bruchbude, und dann werden sie auch noch in einen millionenschweren Betrugsfall verwickelt und legen sich mit der knallharten Violetta Vendetta und ihren drei finsteren Söhnen an – echte Gangster, mit denen nicht zu spaßen ist ... Enid Blyton meets James Bond: spannende Urlaubslektüre für Kinder ab 8

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Salah Naoura – Die Insel der Smartphone-Waisen

Mit Bildern von Kai Schüttler

Ein unglaubliches Ferienabenteuer!

Urlaub am Meer! Was könnte es für Tara, Bodhi, Bhavani, Kalli, Leo und Artschie Schöneres geben? Voller Vorfreude reisen die sechs Kinder samt Waisenhaus-Chefin Marla und Katze Madame in das beschauliche Costello. Doch mit diesem Badeort scheint irgendetwas nicht zu stimmen. Viele Häuser sind unbewohnt, ihr Hotel ist die reinste Bruchbude, und dann werden sie auch noch in einen millionenschweren Betrugsfall verwickelt und legen sich mit der knallharten Violetta Vendetta und ihren drei finsteren Söhnen an – echte Gangster, mit denen nicht zu spaßen ist ...

Enid Blyton meets James Bond: spannende Urlaubslektüre für Kinder ab 8

Wohin soll es gehen?

Buch lesen

Viten

Für Lily

1.

Der alte Khan

Manche Dinge kann man einfach nicht vergessen. Christoph Kolumbus, der Entdecker, vergaß nie den Tag, an dem er Amerika entdeckte. Elly Beinhorn, die Fliegerin, erinnerte sich ihr Leben lang daran, wie sie in einem kleinen Holzflugzeug von Berlin nach Afrika geflogen war.

Und du? Bestimmt hast du auch schon mal etwas unvergesslich Tolles erlebt. Stopp! Sag nichts, und lass mich raten! Hm … Vielleicht hat letzte Woche ein Alien vor deinem Fenster in der Luft geparkt und dich zu einem Rundflug in seinem Raumschiff eingeladen? Nein? Schade. Ah, ich weiß: Du hast neulich eine Flasche Limonade gekauft, und beim Öffnen kam ein Flaschengeist heraus, der dir drei Wünsche erfüllt hat. Auch nicht? Dann hast du dir die falsche Flasche ausgesucht! (Man muss nämlich immer die ganz hinten im Regal nehmen, da sind die meisten Geister drin.)

Aber leider gibt es ja auch schlimme Dinge. Und manchmal kann es vorkommen, dass sie sich in deinem Kopf ein Nest bauen und einfach frech dort sitzen bleiben.

Genau so war es dem Waisenmädchen Tara ergangen. Sie wohnte in einem Waisenhaus mitten in Berlin, und bei ihr war das unvergesslich Schlimme der Tag gewesen, an dem sie eine Waise wurde. Ihren Vater hatte Tara nie kennengelernt, und ihre Mutter arbeitete als Tierpflegerin im Berliner Zoo.

Tara erinnerte sich noch genau an den Tag, als es geschah. Im Klassenraum war es mucksmäuschenstill gewesen, weil sie gerade eine Mathearbeit schrieben. Frau Zupke war hinter dem Lehrerpult fast eingeschlafen, und Tara fühlte sich ziemlich unbehaglich in ihrer Haut, weil sie zum allerersten Mal in ihrem Leben etwas gestohlen hatte. Nämlich den Abguckzettel von Ramona, die zwei Sechsertische weiter vorne saß. Ramona hatte bei jeder Arbeit einen Abguckzettel dabei, das wussten alle, weil sie es überall herumerzählte. Und weil Tara leider erst in der großen Pause begriffen hatte, dass sie gleich Mathe schrieben, war sie ein kleines bisschen früher als die anderen in den Klassenraum zurückgegangen und hatte Ramona den Abguckzettel aus ihrem Mäppchen geklaut.

Nun wartete sie auf einen günstigen Moment, um ihn hervorzuholen.

Die große Uhr, die über der Tafel hing, tickte.

Frau Zupke fielen alle zwei Sekunden die Augen zu.

Und alle anderen Kinder in der Klasse lasen sich die Aufgaben auf ihren Arbeitszetteln durch.

Jetzt vielleicht?

Ramona schien die Gelegenheit ebenfalls günstig zu finden, denn Tara hörte, wie sie den Reißverschluss ihres Mäppchens aufzog und leise fluchte.

Genau in diesem Moment klopfte es an der Tür. Frau Zupke zuckte zusammen und schlug die Augen auf, und herein kamen zwei Polizisten.

»Tara O’Connor?«, fragte der erste Polizist. »Wer von euch ist Tara O’Connor?«

Tara packte ihre Sachen zusammen und stand auf. »Es tut mir leid, dass ich den Zettel geklaut habe«, sagte sie. »Verhaften Sie mich.«

Die Polizisten guckten ein bisschen verdutzt. »Was denn für einen Zettel?«, fragte der zweite.

»Verhaften Sie sie! Los, verhaften Sie sie!«, kreischte Ramona. »Sie ist eine ganz gemeine Diebin!«

»Also, hier wird niemand verhaftet«, stellte Frau Zupke klar, und da erst fiel Tara ein, dass die Polizisten ja vielleicht aus einem ganz anderen Grund gekommen waren. Woher sollten sie überhaupt etwas von Ramonas Abguckzettel wissen? (So ist das nämlich, wenn man ein schlechtes Gewissen hat! Man kann gar nicht mehr klar denken. Wie dieser Bankräuber, der auf seiner Flucht vergaß, den linken Blinker auszuschalten. Und als ein freundlicher Verkehrspolizist ihn deswegen anhielt, rief der Räuber: »Ich ergebe mich! Das Geld ist hinten im Kofferraum!«)

Aber die beiden Polizisten waren nicht gekommen, um Tara zu verhaften, sondern weil ihre Mutter, die Tierpflegerin, an diesem Morgen leider den Tigerkäfig betreten hatte. Vorher hatte sie sich durch die Gitterstäbe eine Weile mit ihrem Lieblingstiger Khan unterhalten. Wie bitte?, denkst du nun sicher. Wer kann sich denn mit Tieren unterhalten? Niemand kann das, so ein Unsinn! Aber da irrst du dich, denn Taras Mutter stammte aus einem sehr alten und weisen irischen Feenvolk, und irische Feen können sich sehr wohl mit Tieren unterhalten. Tara konnte es, und ihre Mutter hatte es ebenfalls gekonnt. Doch bei dem Gespräch mit Khan hatte es unglücklicherweise ein Missverständnis gegeben.

»Khan hat gesagt, ich soll ein Selfie von uns beiden machen!«, hatte Taras Mama den Zoobesuchern zugerufen. Und dann hatte sie ihren Schlüssel gezückt und war vor den Augen der entsetzten Zuschauer zu dem Tiger in den Käfig gestiegen, berichteten die beiden Polizisten.

Der alte Khan war wirklich ein sehr nettes, geduldiges und freundliches Tier, aber er mochte keine Menschen in seinem Gehege, und Selfies mochte er schon gar nicht und hatte auch ganz sicher keins bestellt, da war Taras Mutter wohl ein Irrtum unterlaufen.

Khan wedelte nur kurz mit seiner Pranke, wie ein Riese, der eine lästige Fliege verscheucht. Und eine Tigerpranke hat viel Kraft – für eine Fee zu viel, denn Feen sind ja sehr, sehr zarte Wesen. Deswegen überlebte Taras Mutter das Prankenwedeln leider nicht.

Dieser schlimmste Tag in Taras Leben war nun fast zwei Jahre her, und seither dachte sie die ganze Zeit darüber nach, was damals wohl passiert war. Wie konnte es nur sein, dass ihre Mutter diesen alten Tiger dermaßen schlecht verstanden hatte?

Doch alles Grübeln half nicht weiter. Deswegen beschloss Tara eines Tages, selber in den Zoo zu gehen und Khan einfach zu fragen. An einem schönen Sonntagmorgen in den Sommerferien stand sie extra ganz früh auf, um die erste Zoobesucherin zu sein.

Das Außengehege wurde von den Tierpflegern gerade gereinigt, also ging Tara schnurstracks in das Raubtierhaus hinein und setzte sich auf den kleinen Hocker vor dem Tigerkäfig. Der Hocker war der Lieblingsplatz ihrer Mutter gewesen, deswegen hatten die anderen Tierpfleger ihn dort stehen lassen, zur Erinnerung.

Taras Herz klopfte bis zum Hals, und sie fühlte sich alles andere als wohl, als sie die gestreifte Riesenkatze sah. Doch sie hatte sich fest vorgenommen, mit Khan zu reden – also tat sie es.

»He, Khan!«, rief sie in Gedanken, denn Feen unterhalten sich per Gedankenübertragung mit Tieren. »He, Khan! Komm doch mal her!«

Der alte Tiger, der in dem Käfig vor sich hin gedöst hatte, hob tatsächlich den Kopf und blickte zu ihr herüber.

»Na komm!«

Khan erhob sich schwerfällig, wie sehr alte und sehr müde Tigerherren es zu tun pflegen, und trottete ans Gitter.

»Ich bin Tara O’Connor, die Tochter von Keela O’Connor. Erinnerst du dich noch an sie?«

Sofort hörte Tara die Stimme des Tigers in ihrem Kopf. Sie erschrak, denn es klang wie lautes Donnergrollen kurz vor einem Gewitter. Stell dir vor, du gehst nichts ahnend bei blauem Himmel über eine Wiese, und plötzlich kommt eine kleine, gemeine Gewitterwolke angesaust, die genau über deinem Kopf stehen bleibt und zu dröhnen beginnt wie ein kaputter Motor!

»WOOOOOAAAAAR, KROOOAAR, GROAAAR!«, gurgelte Khan tief in seiner Tigerkehle.

Tara verstand kein Wort.

»Wie bitte?«

»KROOOAR, BROOOAR!«

Hm, dachte Tara. Dieser Tiger ist wirklich nicht sehr gut zu verstehen.

»GROOOAR?«, fragte Khan und legte den Kopf schief.

Tara überlegte gerade, ob sie wieder nach Hause gehen sollte – da hörte sie eine sehr feine, wohlklingende Stimme.

»Dürfte ich Ihnen vielleicht behilflich sein?«

Die Stimme klang sehr vornehm. Wie eine elegante Dame, die sich an einem heißen Tag mit ihrem Fächer kühle Luft zuwedelt.

Tara blickte sich um, aber in dem Raubtierhaus war weit und breit niemand zu sehen. Keine Frau, kein Mann und kein Kind.

»Hier unten!«

Sie senkte den Blick und zuckte erschrocken zusammen. Zu ihren Füßen saß eine Katze, die vorn und hinten gestreift war wie ein Tiger und in der Mitte Flecken hatte wie ein Jaguar. Ihr Schwanz zuckte hin und her, und ihre hellgrünen Augen starrten nach oben.

»Hilfe!«, rief Tara, denn das Tier sah aus wie eine Raubkatze, die aus einem Käfig ausgebrochen war. Allerdings war sie kaum größer als eine Hauskatze, und ihre Gedankenstimme klang ausgesprochen nett und höflich.

»Keine Angst. Ich beiße nicht. Aber Sie haben Glück, denn zufällig verstehe ich den Dialekt von Bengalischen Tigern, daher kann ich Ihnen gerne übersetzen, was er sagt … Übrigens ist er sehr alt und nuschelt, weil ihm ein paar Zähne fehlen. Möchten Sie, dass ich mal mit ihm rede?«

»Du kannst mich gerne duzen«, antwortete Tara. »Ich bin erst zehn.«

Die Katze schloss vor lauter Empörung ihre Augen. Als müsste sie sich zwingen, sehr, sehr geduldig zu sein, weil Tara etwas un-glaub-lich Dummes gesagt hatte!

»Was für eine grauenvolle Vorstellung! Ich bin eine Bengal-Katze, und wir Bengal-Katzen duzen nicht einmal unsere Kinder … Mein Name ist Madame.«

»Verzeihung, Madame«, entschuldigte sich Tara. »Das wusste ich nicht. Und ich wäre wirklich froh, wenn Sie mir übersetzen könnten, was der Tiger sagt.«

Offenbar hatte der alte Khan viel zu erzählen. Tara hörte ihn ziemlich lange knurren, murren, sabbern und schlabbern, und die Katze übersetzte, dass der Tiger Taras Mutter sehr vermisste. Die beiden waren beste Freunde gewesen, und er hatte ihr bestimmt nicht wehtun wollen. Allerdings hatte er sich damals sehr erschrocken, als sie das Foto machte – da war ihm kurz die Pranke ausgerutscht. Eigentlich wollte er das Smartphone treffen. Was geschehen war, tue ihm ganz furchtbar leid.

Tara spürte einen dicken Kloß im Hals. Sie sprang auf und rannte aus dem Raubtierhaus, und draußen rannte sie einfach weiter, Richtung Ausgang.

Kurz vor dem Tor blieb sie keuchend stehen und rang nach Luft.

»Mein Beileid«, sagte eine Stimme hinter ihr, und als Tara sich umdrehte, saß dort wieder die Bengal-Katze und blickte sie mit ernsten Augen an. Im Gegensatz zu Tara schien sie kein bisschen außer Atem zu sein.

»Danke«, schniefte Tara und holte dreimal hintereinander ganz tief Luft. Danach ging es ihr schon wieder etwas besser. »Ich muss jetzt nach Hause. Wohnen Sie hier im Zoo, Madame?«

»O nein«, erwiderte die Katze. »Ich bin auf Wohnungssuche. Allerdings haben mir die Wohnungen, die mir bisher gezeigt wurden, allesamt nicht zugesagt. Es ist heutzutage wirklich nicht sehr leicht, das Richtige zu finden.«

»Was wäre denn das Richtige?«, fragte Tara.

Die Katze schien eine ganze Weile nachzudenken.

»Ein Schloss«, sagte sie schließlich. »Ja, ich denke, ein Schloss wäre ganz passend.«

2.

Schlechte Karten

Unglaublich, was für Zufälle es manchmal gibt! Man muss nur im richtigen Moment die richtigen Leute treffen, dann kommt das Glück von ganz allein. Madame, die vornehme Katze, hatte Lust, in einem Schloss zu wohnen, und Tara, das Waisenmädchen, wohnte zufällig in einem Schloss! Das kommt bei Waisen wirklich nicht so oft vor, aber Tara und die anderen Kinder waren gerade erst in das kleine Stadtschloss eingezogen. Es gehörte einer netten alten Dame und lag versteckt in einem riesengroßen Innenhof, umgeben von Mietshäusern, mitten in Berlin. Den Hof betrat man durch den hohen Bogengang eines prächtigen alten Vorderhauses an der Hauptstraße. Und dann, als wäre man durch eine magische Tür gegangen, befand man sich plötzlich in einem Park mit hohen Bäumen, alten Gaslaternen und knirschenden Kieswegen. In der Mitte standen Bänke um einen runden Springbrunnen. Wenn man dort saß und dem Geplätscher lauschte, war vom Straßenlärm nichts mehr zu hören. In den Baumwipfeln zwitscherten Vögel, und weiter hinten schimmerte zwischen grünen Blättern das Schloss hervor.

Am Eingang hing ein großes Schild aus Messing, auf dem in schnörkeliger Schrift zu lesen stand:

Alle Kinder dieses Waisenhauses hatten entweder ihre Mütter, ihre Väter oder sogar beide durch einen unglücklichen Zwischenfall mit einem Smartphone verloren – genau wie Tara.

»Recht nett«, sagte Madame. »Ich denke, das könnte mir gefallen.«

Mister Gordon, der Butler, öffnete ihnen das Tor. »Ist dieses Tier dort aus dem Zoo ausgebrochen?«, fragte er mit erhobener Augenbraue.

»Keine Sorge, Mister Gordon, diese Katze ist sehr nett und heißt Madame … Ich kann mich mit ihr unterhalten!«

»Aha. Und was sagt sie?«

»Der Garten ist ja ziemlich klein«, sagte Madame, und Tara übersetzte es. »Und hätten Sie vielleicht ein Zimmer mit Balkon? Dann würde ich mich vielleicht dazu bereit erklären hier einzuziehen …«

Mister Gordon hob auch noch die zweite Augenbraue, was sehr selten vorkam, und dann atmete er ein bisschen lauter aus als normalerweise und erwiderte: »Dies hier ist nur der Vorgarten, Madame, aber vielleicht besprechen Sie diese Angelegenheit besser mit der Schlossherrin: Hermine van Heuden.«

Mister Gordon führte Tara und Madame ins Schloss hinein und eine Wendeltreppe hinauf und dann durch den berühmten langen Korridor mit dem roten Teppich, der zum Großen Salon führte. Rechts fiel durch die hohen Fenster helles Sommerlicht herein, und links standen in Reih und Glied die vielen Ritterrüstungen, deren Helmköpfe an manchen Tagen geradeaus und an anderen Tagen zur Seite blickten. An diesem Morgen schauten sie Richtung Wendeltreppe, als würden sie jeden Neuankömmling ganz genau beobachten.

Weil Mister Gordon so langsam lief, hatte Tara sehr viel Zeit, sich die Rüstungen anzusehen. Seine Schritte waren dermaßen würdevoll, dass die beiden langen Stoffteile, die am Rücken seiner schwarzen Pinguinjacke nach unten hingen, kein bisschen wippten. Tara wäre am liebsten gerannt, aber das war mit Hermines Butler nicht zu machen. Völlig unmöglich. Wenn man mit Mister Gordon unterwegs war, bestimmte Mister Gordon das Tempo und kein anderer. Also schritt er feierlich voran, und hinter ihm schritt mit hoch erhobenem Kopf genauso feierlich Madame, und hinter ihnen her trippelte, ziemlich ungeduldig, Tara.

Als sie sich fast schon sicher war, dass man mit dieser Geschwindigkeit niemals und nirgendwo ankommen konnte, standen die drei bereits vor Hermines Flügeltür.

Hermine van Heuden, die Besitzerin des Schlosses, war gerade dabei zu frühstücken und saß, wie immer, in ihrem geliebten Rennrollstuhl. Den brauchte sie, weil sie wegen ihrer kaputten Hüften nicht mehr richtig laufen konnte.

»Aber natürlich«, sagte sie, als Tara ihr von Madames Wohnungssuche erzählte. »Du kannst gerne hier wohnen, liebe Madame.«

»Äh, Sie!«, verbesserte Tara hastig. »Bengal-Katzen muss man nämlich siezen – sie duzen nicht mal ihre eigenen Kinder …«

Mister Gordon hob schon wieder eine Augenbraue.

»Ach so. Sie können gerne hier wohnen, Madame. Dieses Schloss ist wirklich groß genug, und ich freue mich über jeden neuen Mitbewohner.«

Das stimmte. Bis vor Kurzem hatte Hermine nämlich noch fast ganz allein in diesem Schloss gewohnt, nur mit ihrem Butler, der Köchin und dem Gärtner. Dann aber waren die Waisenkinder bei ihr eingezogen, und außerdem noch zwei Erwachsene: nämlich Marla, die Gründerin des Kinderheims, und Marlas Oma, die Babett hieß und ebenfalls im Rollstuhl saß. (Fast jeden Morgen veranstalteten Hermine und Babett gleich nach dem Frühstück ein Rollstuhlwettrennen durch den langen Schlosskorridor … Und meistens gewann Babett.)

»Hm. Wie sieht es mit einem Balkon aus?«, erkundigte sich Madame, und Tara übersetzte es.

»Der Große Salon hier ist das einzige Zimmer mit Balkon, aber wir können es uns gerne teilen«, schlug Hermine vor.

»Nun«, sagte Madame, »ich denke, ich könnte es in Betracht ziehen, hier zu wohnen. Dies scheint mir ein wirklich angenehmer Ort zu sein. Vor allem diese himmlische Ruuu…«

Genau in dieser Sekunde flogen die beiden Türflügel auf, und herein stürmten lärmend und lachend die anderen fünf Waisenkinder: Artschie, Kalli, Leo, Bodhi und Bhavani.

Madame zog erschrocken den Kopf ein.

»Morgen, Oma! Morgen, Mister Gordon!«, rief der starke Artschie, was an ein Wunder grenzte, denn Artschie war noch nicht sehr lange nett und freundlich. Früher hatte er mindestens zwei Wutanfälle pro Tag gehabt und möglichst viel gestänkert und beleidigt. Ja, so ist das mit den Menschen, wenn sie unglücklich sind – sie bekommen schlechte Laune. Und Artschie war sehr unglücklich gewesen, seit seine Eltern nicht mehr lebten. Aber zum Glück hatte er eine herzensgute Großmutter, nämlich Hermine van Heuden. Und seit er zusammen mit den anderen Waisenkindern bei seiner Oma im Schloss wohnte, ging es ihm schon viel, viel besser.

Ein schmaler Junge mit Brille und sorgfältig gescheitelten Haaren tippte Tara von hinten auf die Schulter. Das war Kalli. »He, Tara! Wo warst du denn heute Morgen? Wir wollten doch ganz früh aufstehen, um Ufos zu beobachten!« Kalli interessierte sich sehr für Wissenschaft und Forschung, besonders für Außerirdische und Werwölfe. Er war überzeugt davon, dass feindliche Aliens schon sehr bald auf der Erde landen könnten. Inzwischen war ihre Technik nämlich so modern, dass sie mit ihren Raumschiffen durch jene Zeittunnel fliegen konnten, die die Wissenschaftler als Wurmlöcher bezeichnen. Das sind Abkürzungen im Weltraum, mit denen man viele Milliarden Kilometer spart, sehr praktisch.

»Entschuldige, Kalli«, sagte Tara. »Ich musste dringend was erledigen.«

»Aber wir waren doch verabredet, und … Huch! HILFE!« Kalli hatte die Bengal-Katze als Erster bemerkt, was nicht sehr überraschend war, weil er stets versuchte, allen Gefahren aus dem Weg zu gehen. Er fürchtete sich nicht nur vor feindlichen Aliens und Werwölfen, sondern auch vor gefährlichen Krankheiten und tödlichen Tieren. Daher sprang er sicherheitshalber auf den nächsten Stuhl, als er Madame entdeckte.

»Oooh, ein Tiger!«, rief der kleine Bodhi begeistert. »Übrigens sind Tiger in Indien heilig.«

Seine große Schwester Bhavani verdrehte die Augen. Sie gehörte zu der Sorte älterer Schwestern, die sich automatisch für klüger halten, einfach weil sie älter sind. »Mann, Bodhi! Was redest du denn da? Es ist ein Leopard.«

»Aber er hat Streifen!«

»Er hat Flecken!«

»Er hat Streifen!«

»Er hat Flecken!«

»Sie hat beides«, sagte der lange Leo, der immer ganz genau hinguckte. »Tolles Muster.« Leo strickte gern und liebte Muster über alles. Für ihn bestand die ganze Welt aus Mustern. Sein Lieblingsbuch war ein Fotoband mit Drohnenaufnahmen aller Länder. Einige davon hatte er schon nachgestrickt.

Hermine und Tara erklärten schnell, dass es sich um eine sehr freundliche und absolut ungefährliche Katze namens Madame handele (Kalli stieg erleichtert vom Stuhl) und dass sie ab sofort bei ihnen im Schloss wohnen würde.

Die Kinder freuten sich, und am meisten freute sich der kleine Bodhi, der Tiere ganz besonders gerne mochte. »Soll ich dir hier mal alles zeigen, Madame?«, fragte er.

Oje, denkst du nun sicher, das gefällt Madame aber ganz bestimmt nicht. Wenn Bodhi zu dieser vornehmen Katze einfach so »du« sagte, war sie ja wahrscheinlich gleich beleidigt!

Dasselbe dachte auch Tara. Aber manchmal gibt es einfach völlig unerwartete Überraschungen, besonders wenn man überhaupt nicht damit rechnet. So wie wenn deine Eltern dir schon drei Millionen Mal gesagt haben, dass abends nicht mehr ferngesehen oder am PC gespielt wird, aber dann haben sie vielleicht mal einen richtig guten Tag gehabt und das Wetter war so schön und die Arbeit nicht so anstrengend, und sie fühlen sich einfach viel zu gut und entspannt, um etwas zu verbieten … Und daher erlauben sie es beim dreimillionenersten Mal dann doch!

Bei Tieren ist es genauso. Madame hatte bislang noch niemandem erlaubt, sie zu duzen, keiner Katze, keiner Maus und keinem Menschen. Aber bei Bodhi machte sie einfach eine Ausnahme. Und warum? Weil sie sich auf Anhieb Hals über Kopf in ihn verliebte. Sie konnte einfach nichts dagegen tun, sie fand diesen kleinen indischen Jungen so unglaublich nett und toll, dass sie ihm schnurrend um die Beine strich, ob nun mit Du oder Sie, war ihr vollkommen egal.