Die Spur der Schwefelhölzer - Volker Streiter - E-Book

Die Spur der Schwefelhölzer E-Book

Volker Streiter

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Beschreibung

Dänemark 1847. Hans Christian Andersen, Dänemarks berühmtester Dichter, ist auf Schloss Augustenborg Gast des Herzogs von Schleswig-Holstein. Als im Schlosspark ein Mädchen erstochen daliegt wie die Prinzessin auf der Erbse, fürchtet Andersen um seinen Ruf und flieht. Ihm zur Seite der Diener Johann. Überall da, wo sie Station machen, erleben sie ein neues Märchen, mörderisch inszeniert. Warum nur? Andersen beginnt, den Verstand zu verlieren, während sein Diener versucht, den Mörder zu finden. Doch wer jagt hier wen? Als Prinzessin Luise, Tochter des Herzogs, ihrem Lieblingsdichter zu Hilfe eilt, droht ihr, als Kleine Meerjungfrau zu enden.

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Seitenzahl: 777

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Volker Streiter

Die Spur der Schwefelhölzer

Hans Christian Andersen mörderisch verwickelt

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Inhaltsverzeichnis

Augustenborg September 1847

Ankunft

Julia

Dämmerung

Apenrade

Frühstück

Rotes Haar

Brundlund

Tagelöhner

Die Zeitungen

Schauspieltruppe

Ein Stück Gans

Pastorenbesuch

Nikolaikirche

Ursula

Rapunzel

Ein blaues Kleid mit Punkten

Die Alte Apotheke

Von der Liebe

Gazellen und Schwan

Schweinefuß und Lorbeer

Pension Todsen

Blutsuppe und Vorzeichen

Die Galoschen des Glücks

Des Wikingers Beute

Mads

Ein brauner Mädchenstiefel

Gut Trøjborg

Theaterdirektor Möller

Aufbruch zur Küste

Röm

Erholung und Misstrauen

Neuankömmlinge

Acht Austern

Das türkisene Kleid

Letzte Hoffnung

Justitia

Fesseln und Zucker

Endgültige Worte

Personenverzeichnis

Anmerkungen

Bibliografie

Der Autor

Impressum neobooks

Inhaltsverzeichnis

Karten

Karte Augustenborg und Apenrade 1

Karte Tondern und Insel Röm 1

Die Spur der Schwefelhölzer

Hans Christian Andersen mörderisch verwickelt

Volker Streiter

Nun bekommst du keine Küsse mehr, denn sonst küsse ich dich tot.

H.C. Andersen

Augustenborg September 1847

Klagendes Wiehern drang hinauf zu den Fenstern der Beletage, ein Leiterwagen rumpelte und Pferdehufe setzten disharmonisch aufs Pflaster. Graf Holck, eben noch im Gespräch mit der Baronin von Petersdorff, blickte hinaus, sah das aufgerissene, weiß leuchtende Auge des Pferdes, den Schaum um die Trense und den erhobenen Stock eines Knechtes. Lächelnd trat er so nahe an die Scheibe, dass sie beschlug. Seine Hand fuhr durchs Haar.

Da sauste der Knüppel nieder und zeitgleich, als wären sie ein Wesen, durchzuckte es Holck, während die Kreatur sich aufbäumte. Seine Hände verkrampften sich zu Fäusten. Als weitere Schläge folgten, stockte ihm der Atem, seine Augen glänzten, eine Röte überzog das von Natur aus wachsfarbene Antlitz. Er schien sich vom Anblick des Pferdes, eingespannt und leidend, nicht trennen zu können.

»Graf, wie ist Ihnen?« Die Baronin schaute auf sein erhitztes Gesicht, nur langsam lösten sich seine Finger, das Atmen verflachte.

»Es ist nichts, liebste Freundin, vielleicht der Kreislauf.«

»Dass sie die Tiere immer so schinden müssen.« Beiläufig sah sie auf die Straße hinunter.

»Tiere, Menschen, Leben heißt Leiden. Da zeigt sich die wahre Macht.« Ruckartig fuhr er herum, sah suchend im Saal umher und räusperte sich. »Lässt der Herzog seine Gäste stets warten? Mir ist der Hals ganz trocken.«

»Seine Gnaden werden sich gewiss noch mit Geschäften befassen oder sind in die Landespolitik verstrickt.« Fröstelnd rieb sich die Baronin die freien, etwas zu speckigen Unterarme, die eine scharfe Hautfalte derart von ihren kleinen Händen trennte, dass man sie für Puppenglieder halten konnte. Anlassgemäß hatte sie auf ein wärmeres Kleid aus feiner Wolle zugunsten eines weit ausgeschnittenen aus Seide verzichtet. Doch die späte Sonne gelangte kaum durch die dicken Mauern von Schloss Augustenborg. »Es ist nun mal eine anstrengende Welt, in der wir leben. Selbst hier auf Alsen, so abgelegen die Insel auch sein mag, wird sich der Herzog den Bedrängnissen der Zeit nicht entziehen können. Aber Geschäft und Politik, das sind nun wirklich ermüdende Themen. Mein Freund, immerhin sind wir geladene Gäste und keine Bittsteller. Geduld, der Zuneigung unseres Gastgebers dürfen wir gewiss sein.«

Graf Holck verzog das Gesicht. »Morgen ein Dîner und ein Vorleseabend. Mir ist nach einer schneidigen Jagd. Hirsch, Wildsau und Fasan, das wäre was Rechtes. Oder ein Faustkampf. Es dürften sich doch Knechte und Diener genug finden, die bereit wären, sich für etwas Geld blutig zu schlagen. Aber Seine Gnaden schont lieber, wer ihm untertan ist. Vorleseabend! Mir schwant Übles.«

»Es soll ja dieser Andersen sein. Er tingelt nun schon seit Jahren durch die bessere Gesellschaft, von Sommerhaus zu Sommerhaus. Ich finde, er hat etwas von einem trällernden Waisenkind, das man herumreicht. Hoffentlich bleiben wir noch heute Abend von der Jahrmarktsgestalt verschont. Ich wüsste nicht, wie ich mich geben sollte.«

Holcks Blick ging gegen die Stuckdecke, eine schöne Arbeit, doch seine Langeweile blieb. »Freundlich zugeneigt, will ich meinen, immerhin liest er auch Königin Caroline vor und König Christian hat ihm eine geringe Leibrente ausgesetzt. Sehr großzügig. Er darf sogar mit den Majestäten in die Sommerfrische.«

»Nach Föhr, ich weiß. So mancher von Adel ist neidisch. Baden in der See, auch so eine modische Torheit. Sind wir Robben oder Fische? Ins Meer geht nur, wer damit sein Brot verdient oder todessüchtig ist.«

»Ganz Europa hängt dem Dichter an den Lippen, liest seine Märchen. Bei den Romanen gibt es schon mehr Kritik, von den Theaterstücken ganz zu schweigen. Zweimal gespielt, und die Kopenhagener setzen sie wieder ab, die kennen sich halt aus. Was will man machen, liebe Freundin, auch wenn der Zeitgeschmack Ihnen grässlich zusetzt, der Mann ist berühmt.«

Baronin von Petersdorff machte eine wegwerfende Bewegung. »Zeitgeschmack, Sie sagen es. Für mich ist der Kerl zersetzendes Gift.«

»Ich verstehe gar nicht, wie man sich wegen dieses Emporkömmlings derart echauffieren kann, Leute wie er kommen und gehen. Wenn der Nation mehr der Sinn nach wahren Gefühlen steht, nach nationaler Größe, Heldentum und Opfermut, wird sein Ruhm verblassen.«

»Ja haben Sie nie seine Märchen gelesen? Im Feuerzeug wirft ein Hund das Königspaar durch die Luft und tötet es, nur damit die Tochter willfährig die Hand des Thronräubers nimmt. In Die wilden Schwäne will ein König eine Stumme zur Königin machen, die auf Friedhöfen Brennnesseln sammelt, um daraus Hemden zu weben. Und sowas soll erbaulich sein? Und der Pastor in der Geschichte ist ein Widerling. Ich bitte Sie! Andersen vergreift sich am Königtum von Gottes Gnaden und der Kirche, schlägt sich auf die Seite des Straßenpöbels und zeichnet gierige Herrscher ohne jede Majestät.«

»Das sind Märchen. Sie sollen den Kindern gefallen.«

»Genau das ist die nächste Festung, die er unterminiert. Statt den Kleinen wahre Werte beizubringen, Moral und Ehrfurcht, feiert er das Ursprüngliche, die ungezügelte Fantasie, den unverstellten Blick. Denken Sie nur an Des Kaisers neue Kleider: ‚Er hat ja gar nichts an!‘ Sein Geschreibe tut unserem Staat nicht gut. Mir scheint, es sind mehr die Erwachsenen, die seinen Schund lesen und den Parvenü verehren. Überhaupt, da Sie eben noch von Heldentum und Nation sprachen, ist er nun Däne oder doch ein Deutscher?«

»Wie?« Abrupt fuhr Holck herum. »Ist er nicht aus Odense auf Fünen?«

»Na ja, er wird jenseits der Grenze früher verlegt als im Königreich Dänemark und soll im vergangenen Jahr wahre Triumphe dort gefeiert haben. Warum erscheint dieses Jahr seine zweite Biografie zuerst auf Deutsch? Uns Dänen zeigt er die kalte Schulter.«

»Oder wir ihm?«

»Auch da unten gibt es Könige, die ihren Kopf nicht verlieren wollen, lieber Graf. Auch dort gefährdet er die Ordnung. Oder zielt seine sogenannte Kunst allein gegen uns? Schreibt er gezielt seine Tücke ins dänische Herz, dieses Land zu schwächen? Herrgott, warum müssen wir hier so lange warten, das gehört sich nicht!«

»Ich kann meinen Leibdiener bitten, Johann wartet draußen auf dem Gang.«

»Damit, liebe Tante, tauche ich in dieser Geschichte auf, ich, der Diener Johann Stokkebro. Hätte ich damals gewusst, was ich mit Herrn Andersen erleben musste, lieber hätte ich mir ein Bein gebrochen.

„Ja, und warum erzählst du mir dann von diesem Grafen und der Baronin? Ich dachte, die ganze Sache dreht sich um den Dichter.« Die Frau schob ihre Hand mit den dreckigen Fingernägeln in den Ausschnitt und kratzte sich. Verbitterung lag in ihrem Gesicht, das dauernde Ringen um Brot oder Feuerholz nagten an ihr. Das Mondlicht glitt silbern in die niedrige Kammer und legte den Schatten des Fensterkreuzes über ein Kinderbett, in dem der jüngste Sohn der Familie fieberte, es waren die Masern. Immer wieder betupfte sie die Stirn des Kleinen. Der Erzähler, Johann Stokkebro, hielt ein Buch einem Talisman gleich, in den Händen. »Dein Onkel sagt ja, dieser Hans Christian Andersen sei ein Mörder. Wollen wir mal hoffen, dass du dem nicht geholfen hast. Ganz Dänemark weiß über die Mordserie Bescheid.«

»Ich will dir berichten, wie es wirklich war. Immerhin bin ich dem wahren Mörder selbst auf die Spur gekommen. Bei euch kann ich nicht bleiben, ich sollte, obwohl unschuldig, hier von Aarhus nach Göteborg übersetzen, ins Schwedische. Was für ein Zufall, dass Andersen auch hier gelandet ist, allerdings im Irrenturm. Ihn hat das alles sehr mitgenommen. Aber er kommt als Mörder nicht infrage, ich dagegen sehr wohl, immerhin habe ich ihn überallhin begleitet, war da, wo die Morde geschahen.«

»Zeig mal!« Die Hand seiner Tante schnappte nach dem Buch, abschätzig las sie laut: «Märchen meines Lebens, von Hans Christian Andersen«, und warf es angewidert zurück in seine Hände, als hätte es etwas Ansteckendes. »Also doch. Immer noch hält er dich in seinem Bann. Du bleibst sein Mordgehilfe.«

»Aber nein! Ich will ihn durch das Buch nur besser kennenlernen. Der arme Mann. Er hofft so sehr darauf, bald wieder in der guten Gesellschaft zu sein.«

»Weißt du, die Zeitungen haben recht. Doch das Gericht klagt ihn nur nicht an, weil er so berühmt ist.«

»Willst du nun über Andersen die Wahrheit hören? So nah wie durch mich wirst du ihr nie wieder kommen. Und die wenigen Lücken meiner Kenntnis werde ich ganz nach dem Charakter des großen Dichters füllen und so, wie ich ihn kennengelernt habe.«

Seine Tante erhob sich müde und ließ sich ächzend in den Lehnstuhl in der Kammerecke fallen. »Dann leg mal los, wo waren wir?«

»Im Schloss Augustenborg, bei dem Gespräch zwischen der Baronin und dem Grafen, er sprach über mich, seinen Diener.«

»Er wird Ihnen etwas Erfrischendes besorgen«, bot Holck der Baronin an, »sollte uns der Herzog vergessen haben. Dabei ...«, er kicherte leise, »Johann ist Schleswiger. Also auf irgendeine Art deutsch. Nicht, dass er Ihnen Gift in den Trank träufelt.«

Baronin von Petersdorff nickte Holck zu. »Wenn er welches hat, wäre das wunderbar. Ein gutes doch wohl, eins ohne Geruch und Bitterkeit? Nicht für mich natürlich, aber einen Adressaten hätte ich.«

»So weit müssen wir nicht gehen. Um den Märchenkünstler zu Fall zu bringen, wird uns schon etwas einfallen. Das könnte kurzweilig werden.« Die Baronin sah ihn fragend an. »Eine Art Experiment. Andersen soll, wie ich höre, gegenüber Kritik sehr empfindlich sein und schon mal das Land gen Deutschland und Italien verlassen, wenn die Zeitungen nicht gleich Beifall klatschen. Da ließe sich doch was draus machen, meinen Sie nicht? Vielleicht treiben wir ihn diesmal noch weiter weg, wie wären die Hybriden oder Madagaskar? Ich hätte Spaß daran, mich damit zu befassen.«

Plötzlich stießen zwei Lakaien die hohen Flügeltüren des Nachbarsaals auf und der Herzog näherte sich gravitätisch. »Welche Zeitung können wir gegen Andersen in Stellung bringen, Baronin?«, raunte Holck noch schnell in der Verbeugung, »denken Sie nach. Wir sprechen später darüber.«

Unter den Schritten Christian August von Schleswig-Holstein-Sønderborg-Augustenborgs knarzte das Parkett. Kerzengerade, das Kinn erhoben, kam er auf seine Gäste zu wie ein Oberkellner, der sich in seinem Spitzenrestaurant für die wichtigste Person zu sein, was für sein Schloss ja auch zutraf. Sein Backenbart und das schüttere Haar am Rand der hohen Stirn glänzten vom Haaröl.

»Excusez-moi, meschers Amis«, rief er und quittierte die Ergebenheitsbezeugungen mit einem gefälligen Nicken. »Willkommen bei uns in Nord-Schleswig. Wie unhöflich, Sie warten zu lassen, einfach unverzeihlich. Allein eine Erklärung: Staatsgeschäfte. Das Königreich Dänemark, die Unabhängigkeitsbestrebungen der Schleswig-Holsteiner, Ärger, wohin das Auge blickt. Dissonanzen zwischen dem Hof und meinem Haus. Wo wir alle nur das Wohl Dänemarks wünschen, nicht wahr? Vielleicht mit einer besseren Führung, oder doch gleich einer anderen? Doch genug davon.« Er fuhr zu einem der Diener herum. »Und, ist er da?«

Der Lakai schüttelte den Kopf. »Exzellenz, der Hofmeister rechnet morgen über Tag mit ihm. Die Anreise über Land, die Entfernung ...«

»Ja, ja, schon gut. Hauptsache Andersen trifft rechtzeitig ein und holt sich keinen Schnupfen. Ich bitte mir einen klaren Vortrag aus.«

Der Lakai dienerte und trat zurück.

»Zu meiner kleinen Gesellschaft morgen ist niemand so weit angereist wie Sie, Baronin, ich weiß das zu schätzen.«

»Einer so reizenden Einladung nach Süderjütland konnte ich nicht widerstehen, da spielen Meilen doch keine Rolle.«

»Süderjütland, sagen Sie? Nun, für mich sind wir hier in Nord-Schleswig, aber ich verstehe Sie, liebe Freundin. Da haben wir also mit zwei geografischen Begriffen für denselben Landstrich das ganze Dilemma auf den Punkt gebracht. Aber genug von dänischem Kronland, Nation und Unabhängigkeit.«

»Euer Gnaden«, sprach Graf Holck, »der Kieler Theaterdirektor Möller wurde doch auch eingeladen? Hoffentlich verspätet er sich nicht.«

»Aber mein lieber Graf, er wird uns unterhalten. Für Geld. Was schert mich seine Anreise. Soll er nicht auch skandalbehaftet sein, weil die jungen Tänzerinnen bei ihm allzu oft wechseln. Immerhin haben Sie ihn mir empfohlen. Gut so, etwas Verruchtes gibt doch erst die rechte Würze an so einem Abend.«

»Und Andersen?«, warf die Baronin ein und suchte amüsiert den Blick des Grafen.

»Der Dichter ist eine Berühmtheit, mein Haus fühlt sich geehrt und ist stolz, ihn zu präsentieren. Hieße man mich zwischen einem leopardenfellgeschürzten Pygmäen und ihm zu wählen, ich zöge die Literatur vor. Für die geladene Gesellschaft ist er so etwas wie der Rehrücken des Abends. Andererseits haftet ihm die Gosse an, aus der er stammt und er ist auf Vergütung angewiesen. Nun, wir können ja alle nicht aus unserer Haut. Natürlich steht er über Möller, schon wegen seines Ruhms. Aber die Klassen soll man nicht vermischen. Doch nun lassen Sie uns doch etwas in die Sonne gehen, liebe Freunde, im Teehaus warten Erfrischungen.«

Graf Holck, noch den buttrigen Geschmack des Teegebäcks auf der Zunge, passierte die Pferdestallungen. Als er Flüche, Wiehern und das Donnern von Hufen gegen die Wandung vernahm, trat er neugierig ein und beschleunigte seine Schritte. Im Dämmerlicht sah er sich um. Hinter den Gittern des engen Stallraums keilte ein Kaltblüter, wandte sich in der Fesselung und schien beinahe vor Schmerz zu schreien. Blutige Striemen überzogen das Fell. Holck atmete heftig, trat leise näher und rieb sich die schweißnassen Hände. Nun sah er den Knecht, der den Arm zum Hieb hob, in der Faust einen Ledergurt. Holck, darauf bedacht, auf keinen Fall zu unterbrechen, erschauerte, als der Gurt niedersauste. Dann erst hüstelte er. In den Augen des Schlägers, der zu ihm herumfuhr, lag ein fiebriger Glanz, der dem des Grafen glich. Der nickte anerkennend.

»Er versteht sich auf den Umgang mit der widerspenstigen Kreatur, zeigt keine Angst und weiß, wo es wehtut. Das gefällt mir. Kommeer heraus und lasse sich ansehen.«

Der Knecht schlüpfte durch eine Seitentür und vermied es, den hochgestellten Herrn direkt anzublicken. »Euer Gnaden, der Gaul braucht eine feste Hand«, murmelte er, »ohne die setzt er keine zwei Hufe ...«

»Weiß schon, weiß schon. Er macht das gut und so jemanden wie ihn kann ich hin und wieder gebrauchen. Wenn er sich auch gegenüber anderen Kreaturen so anstellig zeigt, soll es sein Schaden nicht sein. Wie heißt er?«

»Sören, Sören Raben.«

»Aus ...?«

»Lundsbjerg.«

»Hat Sören Raben aus Lundsbjerg dort Familie?«

»Wohl, Euer Gnaden, die Mutter und zwei Schwestern. Sie leben beim älteren Bruder, der hat den Hof übernommen. Zum Teilen ist er zu klein.«

Holck entnahm einem Geldbeutel eine Münze und hielt sie dem Knecht hin, der nach kurzem Zögern zufasste.

»Nehme er das als Beweis meines Wohlwollens, ich entlohne gut. Doch wann ich ihn brauche, wird sich noch zeigen. Hand drauf, so sind wir uns einig. Und zu niemandem ein Wort!« Die Männer schlugen ein und als Graf Holck den kräftigen Händedruck Sörens spürte, brummte er wohlig.

Ankunft

Am darauffolgenden Tag hielt eine Postkutsche im kleinen Städtchen Augustenborg, das von der Ostsee umgeben am gleichnamigen Fjord auf der Insel Alsen lag. Stöhnend kletterten die Passagiere am Louise-Augusta-Platz aus dem schwankenden Gefährt und reckten sich nach ihrem Gepäck. Unter ihnen war auch die auffällige Gestalt eines hochgewachsenen Mannes, der zu dünn war, um als stattlich zu gelten, dafür durften die vollen Lippen als sinnlich gelten. Eine hohe, breite Stirn lag über einer Nase mit langem Rücken, das längliche Kinn gab dem Gesicht insgesamt etwas Dreieckiges. Unklar war, ob sein Haar, das in Löckchen auslief, bloß verfettet glänzte oder durch Öl besonders gepflegt war.

Andersen wirkte von der Reise ebenso erschöpft wie die übrigen Passagiere, wollte sich jedoch die Impertinenz des Kutschers nicht gefallen lassen. Hatte der Kerl sich doch unverfroren geweigert, ihn bis zum Schloss zu fahren und dafür ein Extrageld verlangt. Die wenigen Schritte könne der Herr doch zu Fuß gehen, hatte er grinsend gerufen, immer geradeaus und dann nach rechts die Schlossallee entlang, das sei unmöglich zu verfehlen.

Neugierig wie in neuem Licht betrachteten seine Mitreisenden den Mann, der zum Schloss wollte. War das ein Gast des Herzogs? Wohl doch eher eine Art Hauslehrer. Andersen verkürzte die Zurschaustellung und ließ sich die große Reisetasche reichen. Da er nur für ein Wochenende geladen worden war, kam er mit geringem Gepäck aus, auch bei einer Einladung des Hauses Schleswig-Holstein. Bei einer seiner ausgedehnten Auslandsreisen wäre es umfangreicher ausgefallen.

»Es wird Zeit, dass ich auch mal einen ungehobelten, geldgierigen Kutscher in meinen Geschichten elendiglich bedenke«, ließ er in klar akzentuierter Bühnensprache den Kerl wissen und freute sich über dessen verdutzte Miene. Gegenüber den Neugierigen deutete er eine Verbeugung an, setzte schwungvoll seinen Zylinder auf und schritt, »der Herzog wartet«, davon. Sich ständig umsehend, als erwarte er jemanden, der ihn abholte, übersah er den frischen Pferdemist auf dem Pflaster und trat kräftig hinein. Leise fluchend versuchte er das einzige Paar Schuhe, das er dabeihatte, am Rinnstein sauber zu kratzen.

Endlich, nach einigem Schleppen, stand er vor einem imposant raumgreifenden, doch in der Verzierung schlichten Bau. Er setzte die Tasche ab, betupfte seine Stirn mit einem Taschentuch und öffnete seufzend den Mantel. Zwischen ihm und dem durch den einzigen Balkon gekennzeichneten Schlossentrée lag ein weitläufiger, aber menschenleerer Platz, links und rechts flankiert von schmucklosen Seitenflügeln.

»Sehr vornehm wirkt das alles, aber wo sind die Leute? Ist niemand da, mich zu empfangen?« Er griff das Gepäck und schleppte sich weiter. Das Septemberlicht brachte den warmen Ockerton der Fassaden zum Leuchten und legte italienische Leichtigkeit über das Gelände. Wie ein Tourist, der stets in glühender Mittagshitze den Hauptplatz seines Urlaubsortes überquert, so schritt Andersen in zentraler Linie direkt auf den Schlosseingang zu, allein die Fenster der Beletage im Blick.

Unerwartet rief ihn jemand aus einer Tür des linken Seitenflügels an. »Heda, was will er im Schloss? Er hat den Nebeneingang zu benutzen!«

Der Rufer war mit einer prächtigen Livree ausstaffiert und Andersen, der schon etliche Fürstenhöfe besucht hatte, ging betont unbeeindruckt auf ihn zu. Oftmals lenkte die auffallend kostspielige Haustracht der Angestellten von den wenig glanzvollen finanziellen Verhältnissen der Herrschaft ab, an verschuldetem Adel war auch in Dänemark kein Mangel. Seinen Zylinder zog er nicht.

»Ich bin Hans Christian Andersen, Gast des Herzogs von Schleswig-Holstein-Sønderborg-Augustenborg und werde erwartet. Sicherlich hat der Hof vergessen, mir einen Wagen zu schicken, sodass ich Ihnen wie ein Hausierer erscheinen muss. Vielleicht führen Sie mich zu meinen Räumen?«

»Herzlich willkommen, Herr Andersen, ich bin der Hofmeister.« Nach knapper Verbeugung ging er dem Gast voraus, ohne sich nach ihm umzudrehen.

»Was ist denn mit meiner Tasche?« Andersen war stehengeblieben und deutete auf das Gepäckstück am Boden.

»Ich habe gerade niemanden, der sie tragen kann«, erklärte der Hofmeister und betrat den Seitenflügel. »Wir sind alle mit dem heutigen Abend sehr beschäftigt. Aber wie ich sehe, kommen Sie zurecht. Wir können dann gleich diese Treppe hier nehmen, denn wir befinden uns im Trakt für die Hausangestellten. Ich habe Ihnen eine Kammer mit Sicht auf den Fjord herrichten lassen.«

Mit Missmut im Blick folgte der Gast über knarrende Holztreppen und entlang klammer Wände, an denen der Putz bröckelte. In der dritten Etage endlich wurde ihm eine Tür aufgeschlossen und er trat ein. Ein kleiner Raum, auf der einen Seite ein schmales Bett, dem gegenüber ein Schrank. Auf einem Tisch unter dem Fenster standen Krug und Waschschüssel, ein Spiegel fehlte. Dafür lag eine Bibel griffbereit.

»Es ist die schönste Kammer im Trakt«, sprach der Hofmeister, noch bevor Andersen protestieren konnte, »die anderen Räume sind alle mit mehreren Personen belegt. Das wollte ich Ihnen nun doch ersparen.« Er räusperte sich. »Und am Ende des Ganges finden Sie die Toilette.«

»Welch ein Komfort, zu gütig.« Andersen versuchte ein Lächeln. »War Jenny Lind, die Göttin der Kopenhagener Oper, nicht auch einmal Gast des Herzogs? Wo wird sie in so einem Räumchen all ihr Gepäck gelassen haben?«

»Eine bedeutende Künstlerin wie Madame Lind hat das Haus selbstverständlich standesgemäß beherbergt, wie wir es mit all unseren Gästen tun. Gastfreundschaft ist Durchlaucht ein hohes Gut.«

»Standesgemäß, ich verstehe. Na ja, zurzeit feiert man sie in Berlin.«

»Der Herzog, wir hier beschränken uns übrigens mit dem Titel von Schleswig-Holstein, erwartet Sie um 17:00 Uhr im Empfangszimmer, um den Abend mit Ihnen zu besprechen. Bis dahin können Sie sich frisch machen oder sich im Park ergehen, er liegt auf der anderen Seite des Schlosses. Ich wünsche einen guten Aufenthalt.«

Andersen, kaum allein, setzte sich vorsichtig auf das Bett und prüfte anerkennend nickend die Matratze. Dann sah er sich im tristen Raum um, der nicht einmal einen Schreibtisch enthielt. Er fühlte sich verloren, heimatlos und alleingelassen wie ein bestrafter Internatsschüler. Dann, mit einem tiefen Seufzen, erhob er sich und begann auszupacken. Kritisch sah er auf seine Schuhe, die wohl noch einmal gebürstet werden mussten, bevor er mit ihnen unter die Augen des Herzogs treten konnte. Er hängte ein Hemd auf einen Kleiderbügel, als es an der Tür klopfte.

»Herein!« Ein Hausmädchen trat ein, knickste und stellte ein Tablett auf den Waschtisch. Andersen sah eine leuchtend weiße Seerose neben einer Limonadenkaraffe und einem geschliffenen Kelch. »Was für ein erquickender Anblick.« Augenblicklich, als würde er sich erst jetzt seines großen Durstes bewusst, füllte er das Glas und stürzte die Erfrischung hinunter, dann fixierte er die Dienerin. »Und die Blüte?«

»Ein Gruß von Däumelinchen, soll ich sagen. Luise kennt alle Ihre Märchen und ist ganz aufgeregt.«

»Luise? Ihre Hoheit Gräfin Sophie von Danneskjold-Samsöe, Gattin unseres Herzogs? Ja, ja, ich bin stets informiert über die, die mich einladen.«

Sie lachte leise. »Aber nein, gnädiger Herr, die Tochter des Herzogs, Luise Auguste. Die Prinzessin möchte, dass es ihrem verehrten Dichter gut geht.«

»Wenigstens eine hier im Haus.« Andersen füllte erneut das Glas und blickte mit einem ganz eigenen Interesse auf das Hausmädchen. »Als junge Dienerin in einem Schloss, ist das Dasein nicht furchtbar schwer? In meinen Märchen kommt es ja immer wieder vor, dass sich ein Prinz in ein Kind aus dem einfachen Volk verliebt. Aber das Leben schreibt ja wohl ganz andere Geschichten, nicht wahr? Ich selbst, der ich aus sehr armen Verhältnissen stamme, weiß das am besten. Verraten Sie mir, wovon träumt so ein Hausmädchen, was bedrückt es?«

»Von Prinzen zu träumen bleibt wenig Zeit, gnädiger Herr, die Arbeit nimmt kein Ende. Überhaupt ist das Poussieren nicht erlaubt. Falls sich unsereins in einen Höhergestellten verguckt, was ja vorkommen mag, endet das Ganze als Tragödie. So eine Verbindung duldet niemand. Den jungen Herrn schicken sie vielleicht zur Armee und das Mädchen, möglicherweise entehrt, zurück zu den Eltern.«

Andersen stöhnte auf. »Du meine Güte, Sie verstehen aber etwas vom Drama. Da ist ja gar keine Rettung in Sicht. Oh die verbotene Liebe, wie gut ich das schmerzliche Sehnen kenne. Ich träume von Zeiten, da die Menschheit all ihre kalten Grenzen niederreißt und die Liebenden frei einander in den Armen liegen können, egal wer da wen begehrt.«

Das Hausmädchen sah auf seine Schuhspitzen und strich nervös über die Schürze. »Hat der gnädige Herr noch einen Wunsch?«

Andersen, im Geiste noch bei den Spielarten der Liebe, sah sie irritiert an.

»Im Haus gibt es viel zu tun, und gerade eben erst hat mich die Haushälterin angeschrien, sie ist sehr übel gelaunt. Wo denn die Handtücher hingekommen seien, wollte sie wissen. Ganze 20 Stück fehlten ihr in der Wäschekammer. Das ist so ungerecht, immer wenn etwas kaputt geht oder vermisst wird, sind wir Mädchen es schuld. An die groben Knechte und die hinterhältigen Lakaien wagt sie sich nicht.«

»Das ist ja allerhand. 20, eine interessante Zahl. Meine Prinzessin auf der Erbse musste auf 20 Matratzen und 20 Eiderdaunendecken schlafen.« Die Schatten der Wolken, die sich vor die nachmittägliche Sonne schoben, verdüsterten den Raum. »Ich sollte wirklich noch einen Schritt in den Park tun, bevor es sich draußen zuzieht und ich vor den Herzog trete. Wollen wir hoffen, dass er mir so wohlgesonnen ist wie seine Tochter. Ob man mir Eclairs serviert oder Tarte au citron?«

Julia

So wandelte Andersen durch den weitläufigen Park hinter dem Schloss, der sich über das Ostseewasser des Fjordes erhob. Unweigerlich führte ihn aber das leicht abschüssige Gelände unter alten Bäumen hindurch ans Meer, wo sich letzte Wellen am Schilfgras brachen. Er trat näher, sorgfältig darauf bedacht, seine Schuhe nicht weiter zu beschmutzen, und schaute über das Wasser. Der Wind rauschte und einige Eiderenten quakten, ansonsten herrschte Stille. Paarweise schwammen die Tiere von ihm davon und er verfolgte das oszillierende Farbenspiel im Gefieder der männlichen Vögel. Smaragdenes Grün wechselte wie von Zauberhand zu samtigem Violett. Da wehten hohe Stimmen zu ihm hin und er blickte auf. Unter einer nahen Baumgruppe, von jeder Etikette ungestört, jauchzten Mädchen und spielten Fangen.

Als Andersen sich ihnen näherte, die Hände auf den Rücken gelegt wie ein Lehrer zwischen den Schulbänken, hielten sie inne, verstummten und knicksten. Dann drehten sie sich wie auf Kommando um und stoben davon. Allein die Älteste von ihnen, hochgewachsen und in einem roten Kattunkleid, das blonde Haar mit einer Schleife gebändigt, nickte ihm zu, lief aber nicht. Sie entfernte sich provokant schlendernd.

»So komm doch«, riefen die anderen, »Vater will nicht, dass wir die vornehmen Gäste stören!«

»Reizend, diese jungen Fohlen, nicht wahr?« Andersen fuhr überrascht herum. Ein hagerer, schlecht rasierter Kerl mit fettig-wirrem Haar, eine goldseidene Weste unter dem geöffneten Gehrock, grinste ihn über die Ränder ungefasster Brillengläser an, die für einen Moment aufblitzten. »Theaterdirektor Justus Möller aus Kiel.« In einer großspurigen Schleife schwenkte er seinen Hut, den er an der zerknitterten Krempe in der Hand hielt, verbeugte sich und deutete anschließend auf die Mädchen, die zwischen den Bäumen verschwanden. »Die Töchter des Jagdaufsehers, eine Augenweide. Herr Andersen, wie ich annehmen darf?«

Andersen, der zuerst unsicher auf die widersprüchliche Gestalt gesehen hatte, lächelte erfreut und zog seinen Zylinder. »Sie dürfen. Sind Sie auch Gast des Herzogs?«

»Das kann man so sagen. Ich bin schon einige Zeit auf Alsen, allerdings logiere ich hier im Gasthof. Ist mir auch lieber so, da habe ich meine Ruhe. Dieses ganze Bedientwerden kann ja sehr lästig sein.«

Andersen nickte, schien aber nachzudenken. »Möller aus Kiel? Theaterintendant? Ich glaube, Ihr Haus wurde mir bisher vorenthalten. Jedenfalls kann ich mich nicht erinnern, dass dort meine Stücke gespielt wurden. Wie schön, dass wir uns kennenlernen. Wissen Sie, in Kiel habe ich begeisterte Leser, mit einigen stehe ich sogar in Kontakt. Ihre Briefe sind von so glühender Zärtlichkeit, fast schäme ich mich der Begeisterung. Kennen Sie Kommerzienrat Nissen und seine Gattin? Oder Richter Bergmann? Nein? Nun, ganz reizende Leute. Vielleicht gewinne ich mit Ihrer Hilfe, lieber Herr Möller, bald weitere Freunde in Ihrer Stadt?«

»Kommen Sie nur zu uns, mein Haus wird erstrahlen. Die Kieler sind Ihrer Kunst sehr zugetan.«

»Abgemacht!« Andersen zögerte, dann hielt er Möller die Hand hin und erschauderte, als dieser einschlug. Die Direktorenfinger waren dünn wie Hühnerknochen und eiskalt. »Aber nun«, hastig zog er seine Hand zurück, »entschuldigen Sie bitte, ich bin beim Herzog geladen. Unseren Gastgeber darf ich nicht warten lassen.«

Er eilte auf direktem Weg auf das Schloss zu, dessen Hauptgebäude in seiner ganzen Breite vor ihm lag. Auf unzähligen Fensterscheiben funkelte spätes Sonnenlicht. Am Rand einer Wiese passierte er ein Paar, das ihn nicht aus den Augen ließ. Die helle Haut des Herrn hatte, bedingt durch den Kontrast zum schwarzen Rock, etwas von Talgpuder oder Steingut. Dafür hatte die Dame dem Anschein gesunder Gesichtsfarbe zuliebe mit zu viel Rouge die reife Haut bedeckt, wirkte aber insgesamt mit ihren Kinderspeckarmen wie eine Puppe.

Andersen zog im Vorbeigehen den Hut.

»Das ist er«, hörte er die Dame raunen.

»Dann kann es ja losgehen«, antwortete ihr Begleiter beiläufig und drehte sich weg.

Schon einige Schritte vor der Flügeltür, die zum sogenannten Gartensaal führte, kam Andersen der Hofmeister entgegen.

»Kommen Sie, Seine Gnaden warten schon.« Er leitete ihn über das verborgene, muffige Treppenhaus, das die Dienerschaft zur unsichtbaren Verrichtung ihrer Aufgaben zu nutzen hatte, in die erste Etage und schlüpfte mit ihm durch eine Tapetentür. Sie erreichten einen schmalen Raum, der um die Ecke zum Empfangszimmer führte. Der Hofmeister deutete auf eine Ablage und erklärte leise, dort könne der Gast seinen Hut ablegen, bevor er langsam weiterschritt und darauf achtete, dass Andersen in seinem Rücken blieb. Dann hielt er abrupt an, hüstelte und kündigte den Märchendichter an, um sogleich rückwärtsgehend zu entschwinden. Andersen dagegen trat vorsichtig und neugierig vor.

Herzog Christian August von Schleswig-Holstein erhob sich schwerfällig hinter einem gedeckten Tisch und kam lächelnd seinem Gast entgegen.

»Mein lieber Andersen, endlich! Wie war die Anreise? Doch nicht zu unbequem? Und die Unterbringung, alles zur Zufriedenheit?«

Andersen, der sich lebhaft an das Durchgeschütteltwerden in der Kutsche erinnerte und um ein Haar etwas über den ausgesprochen schlechten Zustand der Wege im Herzogtum gesagt hätte, beließ es bei einer tiefen Verbeugung.

»Schön, schön. Kommen Sie, setzen Sie sich und greifen Sie zu. Chinesischen Tee? Schmalzkringel? Zimtschnecken? Volksnahes Gebäck, nicht wahr, so nähern wir uns Ihren Geschichten.«

Unsicher und einen Hauch von Enttäuschung im Gesicht ließ Andersen sich nieder. Keine Eclairs, keine Tarte au citron, für ihn hatte sich die Küche nicht angestrengt.

»Ist er schon da, Papa?«, rief die Stimme einer jungen Frau. Prinzessin Luise, die 24-jährige Tochter des Herzogs, war unbemerkt in den Raum geschlüpft, lief auf die Herren zu und stand heftig atmend, die Finger verschränkt, vor dem Dichter. Der erhob sich hastig, nahm gleich die teure Stoffqualität ihres Kleides aus türkisenem Baumwollsatin wahr und den zurückhaltenden Schnitt ohne schmückende Seidenbänder oder ähnlichen Putz. Auch ihre Seitenlocken waren nicht ganz so akkurat gedreht, wie man es für ein Fräulein ihres Standes erwarten durfte. Wenig eitel, dachte er und verbeugte sich.

»Oh Herr Andersen, sind Sie es wirklich?«

»Verehrte Prinzessin, habe ich Ihnen das herzliche Willkommen und die Seerose zu verdanken?«

»Seerose? Willkommen? Ich verstehe nicht.« Der Herzog sah irritiert auf seine Tochter.

»Ich habe unserem berühmten Dichter eine Erfrischung bringen lassen und einen Gruß. Von Märchenfreundin zu Märchenfreund.«

»So, so, wie gut. Dem Hofmeister dürfte das nicht eingefallen sein. Nun, mein Kind, nach deinem Wunsch sind wir ganz entre nous. So schenk unserem Gast dann auch ein.« Der Herzog ließ sich nieder und wies Andersen wieder auf seinen Platz, während Luise ihm das Geschirr zurechtschob.

»Was werden Sie heute lesen?« Sie reichte ihm eine Tasse Tee.

»Genau das wollte ich auch mit Ihnen besprechen.« Abwartend lehnte sich der Herzog zurück und beobachtete seinen Gast, der seine Schuhe, soweit es ging, an sich zog. Leider waren sie zu lang, als dass er sie hätte ganz verbergen können, die Verrenkungen wären auch allzu seltsam gewesen.

»Das müssen Sie unbedingt probieren.« Luise legte ihm mit einer Gebäckzange eine Zimtschnecke vor.

Andersen nippte am Tee und griff zur Serviette, die auf seinem Teller lag. Dabei rollte eine getrocknete Erbse aus den Stofffalten und hüpfte hell klingend auf das Porzellan. Erschrocken sah er auf, Luise und der Herzog aber lachten.

»Die Prinzessin auf der Erbse!«, rief sie.

»Die erste Geschichte steht also fest. Mein lieber Andersen, Sie scheinen auch hier im Haus bis hinunter zur Küche Ihre Anhänger zu haben. Ein schöner Spaß.«

Andersen versuchte ein feines Lächeln, seine Augen aber zeigten eine andere Gemütslage. Entschlossen langte er nach der Zimtschnecke und biss hinein. Solange er kaute, musste er nichts sagen. Gespräche wie diese hatte er schon öfter geführt, viele seiner Gastgeber wollten vorher mit ihm das Programm besprechen und Einfluss nehmen. Endlich war er soweit und räusperte sich.

»Ich dachte an Das Feuerzeug, Das hässliche Entlein, Des Kaisers neue Kleider, Die Störche und Der Schatten. Auch habe ich eine Geschichte, die noch niemand gehört hat, eine Überraschung also.« Luise klatschte freudig, der Herzog aber runzelte die Stirn und blickte auf die Standuhr in der Ecke des Raums.

»Eine bunte Mischung. Hat Der Schatten nicht etwas Faustisches, ist er nicht zu düster für so einen Abend? Wie er sich so von seinem Herrn befreit, die Rollen vertauscht und die Herrschaft übernimmt – eine gruselige Vorstellung. Aber vielleicht bringt das ja etwas Abwechslung. Nur, bei Überraschungen bin ich skeptisch. Allzu schnell wird aus einem Feuerwerk eine Kriegserklärung. Andererseits, was soll bei einem Märchen schon schiefgehen. Wir schreiten um acht Uhr zum Dîner. Danach wird die Gesellschaft Ihrer Darbietung lauschen. Das macht der König doch auch so, nicht wahr?«

»Genauso. Auf Föhr wie auf Amalienborg.«

»Sehr gut. Wir wollen dem auf Augustenborg in nichts nachstehen. Wobei, wir hier haben noch eine Zugabe. Unsere Überraschung für Sie, lieber Andersen, aber seien Sie beruhigt, ein feiner Spaß.«

Es klopfte energisch an der Tür und der Herzog rief ein ungehaltenes »Herein!« Der Hofmeister erschien, glitt geschmeidig an die herzogliche Seite und flüsterte aufgeregt.

»Kind, lass uns für einen Moment allein«, beschied der Herzog mit ernster Miene und ließ, kaum hatte Luise unter leisem Protest den Raum verlassen, den Diener die Sache nochmal wiederholen.

»Eben platzte der Jagdaufseher in die Remise und forderte die Pferdeknechte eindringlich auf, ihm zu helfen. Der Mann war furchtbar aufgeregt, vor Sorgen sprach er ganz fahrig. Es soll um eine seiner Töchter gehen. Gerade noch muss sie mit den Schwestern im Park herumgetollt sein, wenn auch gegen den Willen des Vaters, nun wird sie vermisst. Sein erstes Suchen brachte ihr Haarband zutage, zerrissen und in den Boden getreten, die Erde drumherum zerwühlt.«

Der bis dahin lässig sitzende Herzog richtete sich auf. »Wo?«

»Am Rande des Wäldchens zur Wiese hin gelegen. Julia, so heißt das Kind, war ihren Schwestern in einigem Abstand gefolgt, plötzlich war sie verschwunden. Sie ist mit 14 seine Älteste. Der Aufseher wittert ein Verbrechen, will die Gegend absuchen. Auch hat er schon im Ort Alarm geschlagen, falls das Kind dort auftaucht.«

»Die Stadt alarmiert? Und das heute, was sollen die Gäste denken! Ist der Kerl toll? Er soll die Knechte haben und wen wir entbehren können, bis zum Abend. Weit kann seine Tochter ja nicht sein. Wird sich gewiss einen Spaß machen und von irgendwoher zusehen, wie man nach ihr ruft. Hat sich bestimmt in irgendwelchen Jungmädchenträumen verfangen, man kennt das ja. Nur darf der Abend nicht leiden, sorge er dafür. Nicht wahr, das sind wir unserem berühmten Dichter hier schuldig.«

»Julia, so hieß sie also«, sprach Andersen wie zu sich selbst. »Ein hübsches Mädchen mit langen blonden Haaren, nicht auszudenken, wenn ihr etwas zugestoßen ist.«

»Aber Andersen, Sie überraschen mich. Sie kennen das Kind? Nur wer wird denn gleich Schwarzsehen. Augustenborg auf Alsen ist sicher. Etwas Trunksucht macht uns Sorgen, Viehdiebstähle, Betrügereien und die unvermeidlichen Raufhändel, zu mehr haben meine braven Leute hier kein Talent. Wenn die verdammten Matrosen nicht wären, ein Paradies. Sie werden sehen, die Sache wird sich aufklären.«

Dämmerung

Nach dem Empfang beim Herzog tauschte Andersen seinen üblichen schwarzen Seidenbinder in Vorbereitung auf den Abend gegen einen dunkelblauen, weiß getupften. Unruhig und in Gedanken ging er in der Kammer auf und ab. Die Sache mit der Erbse ließ ihm keine Ruhe, so sehr er sich auch bemühte, den Hinweis auf eines seiner Märchen als Freundlichkeit zu verstehen. Ihm war, als mischte sich da ein Unbekannter in sein Märchen und spielte eine geheime Rolle, eine ungute Rolle. Fahrig sah er seine Textblätter durch, schaute aber immer wieder suchend aus dem Fenster. Doch wonach hielt er Ausschau? Das Licht schwand. Er raffte die Papiere und hastete über die Flure hinaus ins Freie. Luft! Tief sog er die Luft ein und blinzelte ins Abendlicht.

Mit einem letzten Tagesgruß leuchtete der Fjord golden zu seinen Füßen, doch der Anblick beruhigte ihn keineswegs. Unschlüssig wandte er sich mal nach links, dann nach rechts, bis er den Weg zu den Baumgruppen einschlug. Von dort erklangen Rufe und das Bellen von Hunden. Ja richtig, die Leute suchten Julia.

Am Rand des Parks, mit einem guten Blick über die Landschaft, hielt Andersen an einer alten Winterlinde. Eine Bank lud zum Verweilen ein, doch er zögerte. Auf dem Wasser ruderten Männer suchend in Kähnen umher, während andere in Linie das Gelände durchstöberten. Seufzend setzte er sich und fühlte sich gleich im Schutz des großen Baumes geborgen. Diese Gewächse mit ihren uralten Kronen hatten etwas Erhabenes, Fürstliches, waren die Chronisten vergangener Jahrhunderte. Einmal war er unter einer alten Buche besonders glücklich gewesen.

Als 15-Jähriger, er war vor Monaten von Zuhause weg und in Kopenhagen angekommen, hatte er es verstanden, sich durch das Deklamieren und Singen von Theater- und Opernszenen einen Namen zu machen. Ehrlich gesagt galt er eher als Kuriosität. Immerhin hatte er schon damals die ausgeprägte Gabe, sich den Berühmtheiten der Literatur- und Bühnenwelt zu nähern, bis hinein ins Arbeitszimmer der großen Schriftsteller und in die Garderoben der Operndiven. Sie reichten ihn herum, fütterten ihn mit Braten und Kuchen und hatten ihren Spaß an dem unverstellten Naturcharakter, der da mit Inbrunst eine Bühnenszene nach der anderen improvisierte. Besonders den Damen der besseren Gesellschaft hatte es der hoch aufgeschossene Junge angetan. Einige sprachen von Talent, doch eben nicht die meisten.

So lud man ihn auch ins Schloss Frederiksberg ein, Kronprinzessin Caroline zu unterhalten. Sie hatte von ihm gehört und war überaus entzückt. Nicht nur, dass sie ihm selbst zehn Reichstaler schenkte, ganz neue, glänzende, sondern sie gab ihm auch eine Tüte Bonbons. Andersen hatte, wenn er die Augen schloss, noch heute den Himbeergeschmack auf der Zunge. Auf dem Heimweg, glücklich über so viel Berühmtheit ließ er sich damals im Schlossgarten unter einer Buche nieder. Er war so voll mit all dem Glanz und den freundlichen Gesichtern, dass er dem Baum davon erzählte, ihn umarmte und die Borke küsste, bevor er aus voller Kehle sang. Erst als ein Stallknecht etwas zu ihm her brüllte, verstummte er und ging nach Hause. Ja, alte Bäume konnten gute Freunde sein.

»Nicht wahr, eine schlimme Sache.« Die Stimme Theaterdirektor Möllers ließ Andersen herumfahren. Da stand der Mann mit den Händen in den Taschen und weit geöffnetem Rock, die Goldweste durch das Abendlicht besonders erleuchtet. »Ich darf doch?« Er nahm neben dem Dichter Platz. »Es sind genug Leute unterwegs, das arme Kind zu suchen. Wir sind da wenig nütze, nicht wahr? Da ist es besser, sich auf den Auftritt vorzubereiten, wir Bühnenmenschen haben schnell einen Ruf zu verlieren.«

Andersen sah betreten zu Boden, rückte von seinem Nachbarn ab und starrte geradeaus. Die Erinnerung an die kalten Leichenhände des Theatermannes war ihm zuwider. »Ich spüre, dass Dunkles auf mich zukommt, gleich einem bösen Gewitter im Gebirge. Haben Sie so etwas schon erlebt? Die Blitze zischen überall, man sieht nichts mehr, Regen und Wind kommen von allen Seiten, schutzlos ist man dem Inferno ausgesetzt, es ist geradezu apokalyptisch.« Für eine Weile schwieg er, von den eigenen Worten ergriffen. »Das Haus behandelt einen doch sehr von oben herab, das bin ich nicht gewohnt. Oder besser, nicht mehr gewohnt. Dann diese seltsamen Zufälle. 20 vermisste Handtücher, eine getrocknete Erbse.«

»Requisiten für Ihre sensible Prinzessin, das soll bestimmt ein Spaß sein.«

»Das hat der Herzog auch gemeint. Aber das Verschwinden dieser Julia, finden Sie das nicht beängstigend? Sie könnten als Mensch des Theaters aus derlei Dingen ein spannendes Bühnenstück gestalten. Nein, nein, mich packt eine Unruhe, ich fühle mich ganz und gar unwohl.«

»Aber Herr Andersen, ich bitte Sie, das ist doch alles an den Haaren herbeigezogen. Was haben Handtücher und Erbsen mit der Tochter des Aufsehers zu tun? Das ist das Lampenfieber, Sie sehen zu schwarz.«

Das abnehmende Licht begann, die entfernte Landschaft in ein Taubenblau zu hüllen, und eine feuchte Kälte zog auf. Die beiden Herren fröstelten. Plötzlich lief jemand aus dem ungefähren Dunst in grellen Schreien an ihnen vorbei auf das Schloss zu:

»Sie ist tot! Julia ist tot! Unten am Wasser liegt sie im Schilf! Wir brauchen Lichter!«

Andersen fuhr sich mit zitternder Hand übers Gesicht, drückte seine Märchentexte an die Brust und erhob sich. Er hatte es geahnt. Ohne Möller einen Blick zu schenken, schritt er wie zu einem Gottesdienst in Richtung des toten Mädchens, nein, vielmehr wie zu einer Gerichtsverhandlung. Würde der Tag sich noch weiter gegen ihn wenden?

Dort, wo das Schilfgras den Übergang vom Park zum Wasser bildete, trat er aus der Dunkelheit der Bäume ans Ufer. Unweit eines Holzstegs sah er eine Gruppe Männer, die etwas umstanden. Er kam hinzu und der Kreis öffnete sich. Stumm grüßte er in die Runde, dann schrak er zurück. Im Schilf, halb in den sanften Wellen, lag das Mädchen auf dem Rücken ausgestreckt und mit geschlossenen Augen, die Arme am Körper. Ganz so, als ob es schlafe. Aber die Haut war von einer ungesunden Blässe. Das blonde, nass-strähnige Haar hatte jemand wie die Strahlen der Sonne angeordnet. An einigen Stellen zeigte das warme Rot ihres Kleides dunkle, feuchte Flecken. Das konnte Wasser sein oder Blut. An ihren Füßen erkannte er nur einen Schnürstiefel, hellbraun und mit weißen Riemen, der zweite fehlte. Andersen trat einen Schritt näher, sah noch genauer hin und zog scharf die Luft ein. Unter ihrem Kopf sah er die Ecke eines Handtuchs. Abrupt drehte er sich weg und einer der Landmänner klopfte ihm mitfühlend auf die Schulter. Wenn der wüsste. Das arme Kind, wie entsetzlich, aber das Ganze hatte noch eine andere Dimension. Deutlich hastiger als beim Herkommen bahnte er sich einen Weg aus der Gruppe und stieß dabei gegen einen Mann, der ihn ansah, als läse er seine Gedanken. Das dunkle Blau seiner Livre gab ihm etwas Würdevolles, doch der Schnitt der Montur machte die Sache eindeutig: Der Kerl war ein Diener. Hatte der auch nach Julia gesucht? Was starrte der ihn so an? Jedenfalls hatte er ihn noch nie gesehen.

»Richtig, Tante, das war ich. Graf Holck hatte mich gebeten, ein Auge auf den Dichter zu haben.«

Da stand ich nun und wurde Teil von Andersens Leben, wenigstens eine Zeit lang. Wen der bei den Umstehenden übersah, waren die Baronin von Petersdorff und Graf Holck. Beide gaben sich, um Unauffälligkeit bemüht, damit zufrieden, die Reaktionen der entsetzten Menschen zu beobachten. Auch die Kopfbewegung Graf Holcks in meine Richtung blieb ihm verborgen.

»Darf ich Sie ins Schloss geleiten«, bot ich mich Andersen leise an. Der warf einen letzten Blick zurück auf das tote Mädchen, nickte mir fahrig zu und hastete fort. Nur weg von hier und besser zu zweit als alleine. Männer mit Fackeln und Öllampen kamen uns entgegen, Hunde bellten, entfernt riefen Frauen.

»So ist der Dichter«, spottete ihm jemand hinterher, »mit Worten ganz groß, aber zeigt sich das Leben einmal grausam, läuft er davon.« Die Stimme Graf Holcks.

Andersen, im schnellen Schritt, hob die Hände zum Himmel und verlor dabei um ein Haar seine Unterlagen. »Das ist kein Abend für eine Märchenlesung«, stieß er keuchend hervor. »Weh mir! Unter dem armen Kind lagen Handtücher, gewiss werden es 20 sein. Und zuunterst wird eine Erbse liegen, eingedrückt in den feuchten Boden.«

»So sollte es dann auch kommen. Doch hör, was er sonst noch sagte.«

»Das schöne Mädchen. Hat sich denn alles gegen mich verschworen? Bin ich stundenlang durch Morast und Schlaglöcher gerumpelt, um an dieser abgelegenen Küste Zeuge zu werden, wie meine Kunst zur Blaupause für einen Mord wird?«

»Aber Herr Andersen, gewiss gibt es für all das eine andere Erklärung«, versuchte ich, ihn zu beruhigen, und hatte Mühe, dem Dichter zu folgen.

»Wieso nur ein Schuh?«, zischte er, »und wie kam Julia ums Leben? Und warum? Der fehlende Schuh jedenfalls hat mit der Prinzessin auf der Erbse nichts zu tun. Um vier Uhr habe ich sie noch mit ihren Schwestern gesehen, wie sie bei einer Baumgruppe vor uns davonschritt, irgendwie würdevoll.« Er blieb abrupt stehen und schluchzte auf. »Oh Gott, wie schnell wurde diese Blüte doch gebrochen.«

Ich fasste in die Innentasche meines Rocks und zog einen silbernen Flakon hervor. »Hier, trinken Sie, das Baldriantonikum lässt Sie zur Ruhe kommen.«

Wie ein ergebener Patient nahm Andersen einen Schluck und hustete.

»Baldrian und ein oder zwei Tropfen Laudanum will ich meinen, das Opium schmecke ich heraus.«

»Das überraschte mich damals nicht, denn ich nahm an, alle Künstler würden sich mit dieser Droge behelfen. Als guter Diener jedenfalls hatte ich für meinen Herrn, Graf Holck, stets etwas davon griffbereit. Der störte sich im Übrigen eher an dem Geschmack des für ihn überflüssigen Baldrians.«

»Andersen!« Hochrot im Gesicht kam uns über die Freitreppe der Herzog entgegen, an seiner Seite eine vornehm-blutarme, schlanke Frau. Sie trug ein Atlaskleid und auf dem auftoupierten Haar ein Diadem. In einer Mischung aus Neugier und Schauder, als sehe sie ein schillerndes Insekt vor sich, schaute sie auf den Dichter, der sich sogleich tief verbeugte. Solche Blicke trafen ihn immer wieder, gerade auch von Menschen, die sich auf ihre Moral und ihren Stand etwas einbildeten. Und doch lud man ihn ein, ehrte ihn und lauschte seinen Worten. Für einen winzigen Moment lächelte er trotz all der Bitternis, die es mit sich brachte, als Jahrmarktkuriosität herumgereicht zu werden.

»Wo kommen Sie her?«, dröhnte der Herzog, »doch nicht von dem Mädchen? Wir hören ja grausame Sachen. Man stelle sich vor: In unserem Park, wo wir Gesellschaft haben. Wir müssen uns wohl ein eigenes Bild machen.«

»Davon möchte ich abraten«, widersprach Andersen leise und richtete sich auf. »Durchlaucht«, wandte er sich in zutreffender Vermutung an die Dame, die auch gleich die Augenbrauen hob, »es ist ein verstörender Anblick. Das schöne Kind liegt schlafend wie aufgebahrt im Schilf, bleich und mit nassem Haar. Sie scheint ganz unversehrt und doch ist der Tod erbarmungslos über sie hergefallen.«

»Und wenn es ein Unfall war?«, hoffte die Gräfin, die zwar von einem Herzog geheiratet worden war, aber doch seinen Titel nicht trug. »Die Mädchen des Jagdaufsehers sind immer so ungezügelt, er hat sie nie zur Schicklichkeit angehalten. Wahre Wildpferde hat er da großgezogen, welch entsetzliche Strafe für den Mann. Das sollte ihm eine Lehre sein.«

Der Herzog räusperte sich betreten. »Nun, meine Liebe, die Ursache lassen wir untersuchen. Der Amtmann in Sønderborg wird uns einen überaus fähigen Polizisten schicken. Sie nennen ihn hier in der Gegend Leif den Roten. Nicht unbedingt ein angenehmer Kerl, aber für solche Ermittlungen genau der Richtige. Ich habe ihn schon einmal erlebt. Vielleicht bekommen wir noch diese Nacht Ergebnisse.«

»Wie auch immer«, näselte die Gräfin und streifte Andersen mit einem vorwurfsvollen Blick, während sie sich den neugierigen Gästen in ihrem Rücken zuwandte, »einen lustigen Abend werden wir heute kaum erwarten können. Und dann schnüffelt auch noch ein Polizist mit seiner stupiden Bulldoggenvisage hier herum, man kennt das ja. Wie unerfreulich.«

In einer Geste der Hilflosigkeit gab der Herzog Andersen zu verstehen, dass er seiner Frau nicht widersprechen mochte. Dann trat er überraschend nahe an den Dichter heran und raunte: »Stimmt es, dass dort im Schilf die Prinzessin auf der Erbse nachgestellt wurde? Eine makabre Sache, wo Sie gleich nebenan logieren, nicht wahr? Vielleicht hat sich ein krankes Hirn aus dem Städtchen durch Ihre Anwesenheit inspirieren lassen. Wenn das mal keine Schule macht, Andersen, dann sind Sie mit Ihren Märchen erledigt. Ich denke, es ist wenig ratsam, Sie hinein zu bitten, die Herrschaften werden gleich einen Zusammenhang herstellen zwischen Ihnen und der Tat. All das Getuschel und die Blicke, das sollten wir Ihnen nicht antun.« Der Dichter erbleichte. »Aber nun wollen wir doch mit dem Dîner beginnen, so oder so, die guten Speisen zu verschmähen, macht das Kind auch nicht lebendig. Gelassenheit in Stunden der Not, das hat Größe.« Damit schritt er huldvoll die Reihe der Gäste entlang ins Schlossinnere.

In diesem Augenblick wirkte Andersen noch dünner, als er ohnehin war, die Worte des Herzogs klangen nach. Er betupfte seine nasse Stirn und schaute zur illustren Gesellschaft, die sich in den erleuchteten Saal zurückzog, bevor sich vor ihm die Flügeltüren schlossen. Natürlich, da hatte er jetzt nichts zu suchen. Zögerlich setzte er einen Fuß vor den anderen und sah sich mit irritiertem Gesichtsausdruck um, als suche er etwas. Nur was?

Theaterdirektor Möller näherte sich aus dem Dunkel des Parks. »Wie schrecklich, und Sie haben der Prinzessin auf der Erbse im Wald auch noch zugewinkt. Wenn diese Bekanntschaft ruchbar wird, nicht auszudenken.« Andersen schluckte und nestelte am Ärmelsaum. In meiner blauen Livree trat ich auf ihn zu und berührte ihn am Unterarm.

»Kommen Sie, ich geleite Sie zu Ihrer Kammer. Nach dem Schreck ist wohl etwas Ruhe ratsam, bevor Sie sich wieder in Gesellschaft begeben.« Andersen nickte, den Mund schlaff geöffnet. Jetzt hatte man ihn schon zweimal mit dem Tod des Kindes in Verbindung gebracht, wo sollte das hinführen.

»Das Verhängnis ist noch nicht zu Ende«, murmelte er, »wir nehmen den Seiteneingang. Die Blicke der parfümierten Meute in glänzender Robe würde ich kaum überleben.« Willenlos ließ er sich wie einen Schlafwandler um das Schloss herumführen, wenige Fackeln beleuchteten unseren Weg.

In der Kammer stellte ich ein Öllicht auf die Kommode und betrachtete ihn besorgt. »Wenn Sie erlauben, lasse ich Sie nun alleine und entschuldige Sie als unpässlich.«

»Sie sagen es. Dabei ist eine Erklärung meiner Abwesenheit nicht nötig, da unten werde ich nicht mehr erwartet. Aber welcher mitfühlende Mensch denkt jetzt überhaupt noch ans Essen? Den Tag über wurde ich nur durchgerüttelt und habe nichts zu mir genommen, von einem Bissen Zimtschnecke abgesehen. Mein Magen ist ..., ach, lassen wir das. Es ist gut, danke.«

Allein im Raum schleppte Andersen sich zum Bett. Unendlich langsam, einer Schildkröte gleich, setzte er sich und blickte in der Kammer umher. Zitternd fuhren seine Finger übers Kinn, er knabberte an einem Fingernagel. Die Prinzessin bekam ihren Prinzen nicht mehr. Augustenborg hatte ihr nicht gutgetan, der Park war verflucht und aus dem Wasser stiegen tödliche Miasmen. Großer Gott, man würde sagen, durch ihn sei das Kind ermordet worden, wenn nicht mit eigener Hand, dann mit seiner Geschichte. Er schluchzte trocken und rieb sich das Gesicht, während die Gedanken rasten. Was mochte die Welt nur von ihm denken, all seine Freunde, die braven Bürger, Barone und Fürsten? Und erst seine Feinde, die Neider und Kritiker! Unmöglich konnte er jemals wieder vor den König treten, und mit den Sommermonaten auf den zahlreichen Landgütern war es auch vorbei. »Und wenn Sie mich in einer Zelle wie dieser festsetzen?«, rief er und sprang auf. »Ich weiß doch, wie sie mich ansehen. Für die einen bin ich weltberühmt, für die anderen der Mann aus der Gosse. Nichts wie weg von hier, das wird das Beste sein. Der Herzog wird es verstehen, mit Künstlerseelen kennt er sich aus.«

Er sah aus dem Fenster in die Dunkelheit, wusste den Fjord unter sich. Eigentlich müssten dort Boote liegen. Langsam, dann immer hastiger, begann er seine Reisetasche zu packen, unterbrochen vom misstrauischen Lauschen nach knarzenden Schritten draußen auf dem Gang.

Es klopfte. Er fuhr zusammen, zögerte, dann öffnete er vorsichtig. Da stand ich wieder, in der Hand ein Silbertablett mit einem Brief. Ich verbeugte mich und Andersen, wegen der Störung ungehalten, nahm das Schreiben ernst entgegen und ließ mich im Gang stehen. War das schon die Anklage? Argwöhnisch faltete er die ungesiegelte Nachricht auseinander und las, während er lautlos die Worte formte:

»Verehrtester Meister, geliebter Herr Andersen, mit Schrecken müssen wir erfahren, dass ruchlose Mörderhände eines Ihrer bekanntesten Märchen entweihten. Unvorstellbar, dass sich jemand an Ihrer Prinzessin auf der Erbse vergehen könnte, doch nun ist es geschehen. Ein verworfenes Subjekt hat das arme Kind wohl mit einem dünnen Stahl erstochen. Schon sind erste Stimmen zu hören, die Sie, Dänemarks vorzüglichsten Dichter, in die Nähe des Mordes rücken, immerhin sollen Sie dem armen Mädchen kurz vor ihrem Tod noch zugewunken haben. Welch abscheulicher Tratsch. Wie müssen Sie, der mit einer zartfühlenden Seele und großer Fantasie gesegnet ist, unter dieser Tat leiden.

So schreibe ich Ihnen als Ihrer glühendsten Bewunderin, um Trost und Rat zuzusprechen. Mein Freund, Sie sind nicht alleine. Johann, der Diener, der Ihnen diesen Brief überbringt, soll Ihnen zur Seite stehen und Sie so lange begleiten, bis die grausame Tat aufgeklärt und Ihr Publikum wieder mit Ihrer Kunst vereint ist. Über das Finanzielle müssen Sie sich keine Gedanken machen, Johann wurde für seine Dienste bereits entlohnt.

Auch scheint es geraten, dieser Welle aus bösen Gerüchten, Trauer und Aufgeregtheit zu entfliehen. Es wird in Ihrem Interesse liegen, einige Entfernung zwischen den grausamen Mord und Ihre bekannte Person zu bringen. Da trifft es sich, dass der Herzog Ihnen trotz des missglückten Abends gewogen bleibt, was Sie daran erkennen mögen, dass er Ihnen einen geschlossenen Zweisitzer zur Verfügung stellt, mit dem Sie ohne weiteres Aufsehen das Weite suchen können. So erlauben Sie Johann, sich um Ihr Gepäck zu kümmern und Sie nach Apenrade zu begleiten, wo Sie beim Amtmann Unterschlupf finden werden. Schloss Brundlund, sein Amtssitz, liegt am Rande der Stadt, ist bequem eingerichtet und verfügt über einen schönen Park. Ein Expressreiter ist bereits unterwegs, um Sie als Herr von Ratibor zu avisieren. Ja, ich rate Ihnen, für den Moment Ihre Bekanntheit zurückzustellen, auch wenn der Amtmann natürlich weiß, wen er da beherbergt. Der Mann ist genauso verschwiegen wie Johann.

Lassen Sie sich von einer glühenden Freundin helfen, die unbekannt bleiben möchte und dringen Sie nicht in Johann, meine Identität zu verraten. Täte er dies, verlöre er seine Anstellung. So ende ich mit dem Wunsch einer guten Reise für Sie und hoffe auf die baldige Aufklärung der blutigen Tat.«

Gezeichnetwar das Schreiben mit der Signatur GH.

»GH, wer könnte das sein?« Konzentriert dachte er nach, ging dabei auf und ab, das machte seine Gedanken geschmeidiger. Zweifellos war die Briefeschreiberin eine hochgestellte Person aus dem Kreis um den Herzog. Gräfin Hørby? Niemals, sie gehörte zum Niederadel. Gräfin Huitfeldt vielleicht? Nein, nein, von ihrer Anwesenheit müsste er doch wissen. Und dann dieses lächerliche Pseudonym, Herr von Ratibor, schlesischer Adel. Aber war das nicht auch der Name, unter dem sich der Berggeist Rübezahl unter die Menschen mischte? Der Herr der Zwerge, wie grässlich! Trieb da jemand ein Spiel mit ihm, sah er schon so düster aus, zerzaust und grobschlächtig? Ratibor. Gewiss die Eingebung einer Märchenfreundin. Nicht gut gewählt, aber immerhin stand ein Gespann für seine Flucht zur Verfügung. Mit einem Satz war er bei der Tür und riss sie auf. »Ah, guter Mann, Sie sind noch da. Wie schön, kommen Sie.« Er besah mich mit neuen Augen, mein offenes Gesicht, die gerade Haltung, die teure Livree. Für ihn machte ich was her, hob seinen Status. »Johann, richtig?« Ich nickte, schritt auf die am Boden stehende Reisetasche vor dem Schrank zu und sah Andersen fragend an. »Ja, wir packen. Und heute Abend geht es nach Apenrade, ein unwirklicher Gedanke. Durch die dunkelste Nacht, über die schrecklichsten Straßen, wenn uns da nur kein Unglück geschieht. Warum nur muss ich das erleiden?« Mit Genugtuung sah er mir auf die Finger, wie ich mit kundiger Hand und fließender Bewegung meiner Profession nachging, jeder Griff saß. »Sie sind mir von Ihrer reizenden Herrin an die Seite gestellt worden.« Ich hielt für einen Augenblick inne, fuhr dann aber fort, Andersens Kleidung zu falten. »Wollen Sie mir nicht sagen, wer diese großzügige Dame ist? Gewiss ist sie vornehm und hat ein weites Herz. So, wie sie sich für mich einsetzt, muss ihr die Dichtkunst viel bedeuten. Nun?«

Ich unterbrach meine Arbeit. »Ich bedaure und habe strikte Order, kein Wort zu verraten. Zweifellos ist man um Sie besorgt und ich darf Ihnen versichern, mich ganz und gar Ihrem Wohlergehen zu widmen. Der Ruf der Herrschaft prägt den Ruf des Dieners. So ist mir natürlicherweise daran gelegen, Ihren Ruf zu schützen.« Ich legte das letzte Kleidungsstück in die Tasche und blickte abschließend durch den Raum. Natürlich fand ich die Verschwiegenheitsorder Graf Holcks rätselhaft, doch ich war die Exzentrik meines Herrn ebenso gewohnt wie skandalöse Ausschweifungen und standeswidrige Liebschaften. Andersen, der meinem Blick folgte, hastete zur Kommode am Fenster und griff nach einem kleinen, handbeschriebenen Papierstreifen, den er sorgfältig zwischen die Seiten seiner Brieftasche legte. Dann, als sei alle Energie aus ihm gewichen, verharrte er und starrte vor sich hin. Erst als ich mit der Tasche in der Hand auf ihn zutrat, schien er zu erwachen.

»Also gut, reisen wir. Möge diese wahre Geschichte für uns gut ausgehen.«

Entschlossen hielt er mir, seinem neuen Diener, die Tür auf und folgte mir über die Gänge und Außenanlagen bis zum Stall. Auf unserem Weg, vorbei am erleuchteten Festsaal, streiften wir eine Wolke aus Stimmen, Streichmusik und perlendem Lachen. »Nur eine Domestikentochter«, seufzte Andersen, mit ihrem Tod hatte sich die bessere Gesellschaft nicht lange belastet. Doch er musste sich sputen, mich nicht zu verlieren, der ich in der Dunkelheit weiterschritt.

Unterdessen hatten sich beim Herzog zwei Herren anmelden lassen, die sich aufgrund der durchgehend schwarzen Kleidung sehr ähnelten, in ihrer Statur aber nicht hätten unterschiedlicher sein können. Der Amtmann aus Sønderborg, höchster Beamter des Verwaltungsbezirks, war ein kleiner, hagerer, gebeugt gehender Mann mit einem verwitterten Gesicht und schütterem Haar. Der ihn begleitende Polizeimeister hingegen überragte ihn um zwei Köpfe. Die Beleibtheit des kraftstrotzenden Körpers hielt jeden Knopf an Anzug und Weste zum Abspringen gespannt. Doch das Markanteste an Leif Eriksson war das Feuerrot des verwirbelten Haares, das mit starken Koteletten das Vollmondgesicht umrahmte.

Der Hofmeister hatte sie bereits zur Leiche geführt und so hatten sie sich einen ersten Eindruck verschafft. Da der Tatort im Dunklen lag, hatte der Amtmann davon abgesehen, diesen auch noch zu besuchen.

Der Herzog machte deutlich, wie sehr ihm an einer schnellen Aufklärung gelegen war und wie wenig er an Skandalen Interesse hatte. Der auf der Hand liegenden Idee, Andersen sei mit seinem Märchen der Urheber der Mordinszenierung gewesen, gab er nicht weiter Vorschub, sondern verlangte faktenbasierte, kriminalistische Arbeit. Dann entließ er die Beamten und wandte sich mit einem professionellen Lächeln seinen Gästen zu.

»Nun, Eriksson, ich beneide Sie nicht um diesen Auftrag.« Der Amtmann legte ihm für einen Augenblick die Hand auf die Schulter, ihre Blicke trafen sich. »Wer so nahe an der Sonne ermittelt, bekommt zweifelsohne viel Licht ab, aber noch sicherer ist, dass er sich verbrennt.« Während er sich der Kutsche zuwandte, machte Eriksson keine Anstalten, den Schlossgrund zu verlassen. »In diesen Sphären sind Sie schnell in einer komplizierten Intrige verstrickt, seien Sie also vorsichtig. Am besten, Sie halten den Fall simpel und präsentieren einen ansprechenden Verdächtigen, debil und schön verroht. Und bedenken Sie, ich bin Ihr Vorgesetzter. Berichte gehen zuerst an mich, haben wir uns verstanden?« Eriksson nickte, schien aber mit den Gedanken schon woanders zu sein.

Kaum alleine, ließ er sich eine Laterne geben und machte sich zum Tatort am Ufer auf. Unterdessen sollte der Hofmeister Heinrich Wilhelm Hinrici einbestellen, den herzoglichen Leibarzt. Eriksson hatte etliche Fragen an ihn.

Vor den Stallungen, von wenigen Öllichtern beleuchtet, stand eine geschlossene, zweisitzige Kutsche, davor ein kräftiges Kaltblut mit dunklem Fell.

»Natürlich, einen seiner edlen Holsteiner wollte uns der Herzog dann doch nicht anvertrauen.« Andersen ließ sich von mir die Tür aufhalten, stieg ein und nahm seine Reisetasche entgegen. »Hier steht noch anderes Gepäck, fahren wir etwa nicht alleine?«

»Das ist mein Koffer«, erklärte ich, »ganz ohne Wechselkleidung kann ich meinen Dienst kaum würdevoll verrichten. Haben wir nicht alle einen Ruf zu verlieren?«

»Selbstverständlich, wie dumm von mir. Dann steigen Sie doch ein, wo bleibt denn der Kutscher?«

»Das bin ich. Sie reisen inkognito, Herr von Ratibor, da sind möglichst wenig Augen ratsam.« Bevor Andersen noch etwas sagen konnte, warf ich die Kutschtür zu und schwang mich auf den Bock. Entschlossen knallte ich mit der Peitsche und lenkte den Wagen vom Schloss weg auf die Landstraße nach Westen. Mit Glück fand ich noch einen Fährmann, der bereit war, uns für ein Extrageld über den schmalen Sund ans Festland zu bringen. Immerhin, so knurrte der Seemann mit der Pfeife im Mund, sei es dunkel und nur die Kundigsten seiner Zunft kämen dann mit den Untiefen zurecht, auch zögen die Nebel auf. Misstrauisch sah er gegen die verhangenen Fenster der Kutsche. Wen ich denn da transportiere? Für jemanden von Stand sei das doch keine Reisezeit. Ich sah ihn ausdruckslos an und meinte, dass sich so eine Frage für einen Fährmann, der auf sich hielt, nicht gehöre. Ob er mir widersprach, ließ sich aus seinem Knurren nicht erkennen.

Endlich übergesetzt, rumpelten wir entlang der Küstenlinie eher auf einem Feldweg, denn einer Fernstraße, die vielen Schlaglöcher ließen mich um die Räder bangen. Aus der Kabine vernahm ich das wüste Schimpfen meines neuen Herrn. Er werde sich noch beim Festhalten in der Kutsche die Finger brechen und vermutlich sei er der einzige Dichter, der je zu Tode geschaukelt wurde. Ich musste grinsen.

Apenrade