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Wir schreiben das Jahr 1427. Der vierzehnjährige Josef wächst ohne Eltern in Stettin auf. Seine Mutter wurde auf dem Scheiterhaufen verbrannt, sein Vater verschwand spurlos. Eine Namensliste, die ihm seine Mutter als einzige Erinnerung in einer kleinen Truhe versteckt hinterlassen hat, erweckt das Interesse des Ketzermeisters und eröffnet die Jagd auf den jungen Josef. Der einzige Ausweg scheint eine Flucht aufs Meer zu sein. Doch das würde bedeuten, seine Freunde, seine Zieheltern und nicht zuletzt seine Liebe zurückzulassen.
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Seitenzahl: 483
Veröffentlichungsjahr: 2016
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2016 Karl-Heinz Waschke
Illustrationen: Regina Libert, Prenzlau
Umschlaggestaltung, Satz + Layout, Korrektorat:Ka & Jott, Prenzlau
Verlag: tredition GmbH, Hamburg
ISBN Paperback: 978-3-7345-3686-1ISBN Hardcover: 978-3-7345-3687-8ISBN E-Book: 978-3-7345-3688-5
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Karl-Heinz Waschke
Gebt Ruhe jetzt oder ich lasse euch durch die Stadtwache hinauswerfen!«, brüllte der Stadtrichter Däne mit hochrotem Gesicht. Sein grauer Bart bebte und die weit geöffneten Augen warfen Blitze, die nicht zu übersehen waren. »Ihr befindet Euch hier nicht in einer Hafenschenke unter sturzbesoffenem Pöbel!«
Seine grollende Stimme füllte den Raum. Der Richter Däne war nur ein kleiner, schmächtiger Mann. Wer ihn nicht kannte, hätte ihm niemals solche Stimmgewalt zugetraut. Die Zurechtweisung war an Wolf von Birkow und Titus Kolbe gerichtet. Sie ließ die beiden Herren wie bösartige Wolfshunde aufspringen. Beide reckten die Fäuste in die Höhe, geiferten laut und ungehalten. »Ihr seid unverschämt, Richter Däne! Wer gibt Euch das Recht, uns zu erniedrigen, uns zum Pöbel zu zählen? Das ist eine bodenlose Ungeheuerlichkeit, eine noch nie so geäußerte Frechheit, die wir Euch nicht durchgehen lassen. Das, Richter Däne, nehmt zur Kenntnis!«
Hochgereckt standen die beiden inmitten der Schar derer, die an dieser Verhandlung teilnahmen. »Wir sind Bürger dieser Stadt, versehen mit Bürgerrechten. Wir haben den Eid gesprochen, Richter Däne!«, fauchte Titus Kolbe. »Wollt Ihr uns für eure und die der Schöffen nachlässige, schlamperte und ohne Sorgfalt abgehandelte Prozessführung büßen lassen? Es scheint als wollt Ihr uns die Ehre beschneiden?«
»Ihr seid des Teufels, Richter Däne!«, ergänzte Wolf von Birkow die Worte des Mitvormundes. Sie waren hitzig und voller Hohn ausgestoßen, standen ätzend und durchdringend im Verhandlungsraum. Die Lage, ja die ganze Situation im kleinen Saal des Rathauses war aufgeheizt, äußerst angespannt und vergiftet. Die Sonnenstrahlen, die durch die bunten Scheiben blinzelten, tauchten zwar alles in ein farbiges Licht, doch auch sie vermochten es nicht, die harten und verkrampft wirkenden Gesichtzüge der verklagten Witwe, Elvira von Birkow, geborene von Schluttow, zu glätten, sie zu ermuntern, ihre zu Schlitzen verformten Augen zu öffnen.
Noch weniger aber vermochten sie es, die wütenden Mienen der Testamentsvollstrecker Hanß und Heinrich von Birkow sowie die des Dubslaw von Jaspert zu lockern. Der Tod hatte den alten Stadtkämmerer Conrad von Birkow hingerafft. Siebzig Jahre, fast bis auf den Tag genau, ist er alt geworden. Seine Zeit hat er zu nutzen gewusst. Zahlreiche liegende und stehende Gründe sowie allerlei sonstiges Gut, gehörten ihm. Doch jetzt, nach seinem Dahinscheiden, rauften sich seit Monaten die Erben um das Hergewende oder Radeleve, den Anteil der Hinterlassenschaft, welcher der nächsten weiblichen Verwandten zufällt. Zahlreiche Klagen gegen die hartherzige und eigensinnige Witwe, Elvira von Birkow, füllen schon das Gerichtsbuch. Doch die Alte hielt zäh und mit harter Hand fest, was sie für ihr Eigen hielt.
Der Stadtrichter Däne hatte sich vorgenommen, diese mühselige Klagesache am heutigen Gerichtstag ein für allemal vom Tisch zu fegen. Ganz im Stillen hatte er auch gehofft, dass die Hinzuziehung der Mitvormünder Wolf von Birkow und Titus Kolbe, beide sehr wortgewaltig und bissig, die Sache beschleunigen werde. Er tat das auf Anraten der anderen Vormünder, die sich einfach überfordert sahen. Die beiden sollten derer von Birkow heiße Luft unters Gesäß blasen. Nur zögernd hatte er zugestimmt, wünschte, dass deren Teilnahme sich hilfreich auswirken werde. Doch es war ein Pfeilschuss ins eigene Nest geworden. Er haderte mit sich selbst. Er hätte es wissen müssen, dass sich diese beiden Männer nicht vor eine fremde Karre spannen lassen. Schließlich war es ja nicht das erste Mal, dass sie sogar wegen ihrer ungebührlichen Redeweise und Wortwahl in Verhandlungen sehr streng ermahnt werden mussten. Doch heute empfand er das erträgliche Maß als übervoll. Es reichte ihm. Dem Stadtrichter platzte der Kragen. Überaus laut und stechend, hochrot im Gesicht, verkündete er: »Wolf von Birkow und Titus Kolbe, nehmt von mir zur Kenntnis, dass das Stadtgericht mit Richter und Schöffen bei ihren Entscheidungen das Magdeburger Recht mit den eingearbeiteten Konstitutionen zu Grunde legt, das auch für unsere Stadt Stettin gilt. Das wisst ihr genau. Diese gelten damit auch für die Bestimmungen über den Anteil der Hinterlassenschaft. Dieses Gericht nimmt es deshalb auch nicht hin, in einer öffentlichen Verhandlung verunglimpft und mit Schimpf und Schande bedeckt zu werden!«
Diese Worte, klar und akzentuiert, kamen an. Im kleinen Saal wurde es still. Umso deutlicher war der unmissverständliche Befehl zu vernehmen: »Stadtwache, habt Acht! Nehmt die Herren Wolf von Birkow und Titus Kolbe fest. Werft sie in den Turm! Ich, der Richter Henricus Däne, klage beide des Friedens- und Rechtsbruches an! – Die heutige Verhandlung ist damit geschlossen!«
Der Stuhl mit seiner hohen Lehne schurrte laut über den Boden. Aufrecht und mit erhobenem Haupt, sich seiner Würde sehr bewusst, verließ er den Gerichtssaal. Sie Schöffen folgten ihm ein wenig hastiger als sonst. Zur selben Zeit verschafften sich die Büttel mit ihren Spießen raumgreifend Platz, um die beiden Arretierten wegzuführen. Der Lärm schwoll an. Er verlagerte sich sogar langsam nach draußen, machte nachhaltig deutlich, dass es auch in der Stadt gärte. Bereits der kleinste Anlass wurde genutzt, um Stimmung gegen die Stadtobrigkeit zu machen, sie herauszufordern. So war es denn auch überhaupt kein Wunder, dass eine große Anzahl von Bürgern die Verhafteten begleitete und lauthals ihren Unmut über das Vorgehen des Stadtgerichtes kund tat.
Josef Buchhold, ein noch ganz junger, aber pfiffiger Bursche trottete neben dem Trupp mit ihren Gefangenen her. Der Schriftgewandte Titus war sein Ziehvater. Oft begegneten sich ihre Blicke. Meist dann, wenn einer aus der Eskorte ihm nicht die Sicht nahm, bemerkte er, dass ihm Titus etwas sagen wollte, das harte Vorgehen der Wachleute aber fürchtete.
In dem Moment, als sich die Tür des Turmes öffnete, vernahm er dann aber seine Stimme: »Lauf, Junge lauf! Lauf nach Hause und berichte der Mutter, was geschehen ist. Sie soll sich bei Gott nicht ängstigen. Wir werden sicher bald wieder frei sein!«
Der Junge hörte noch das laute Aufbegehren. Dann krachte die Tür hinter der Wache und den beiden Gefangenen zu. Ohne sich noch einmal umzudrehen, rannte Josef den Weg zurück. Das Rathaus blieb zur rechten Hand liegen.
Er bog in die Mittenwochestraße ein, querte den Fischmarkt und stoppte das Tempo vor einem einstöckigen, gut verputzten Haus in der Bomstraße. Das Tor zum Hof stand offen. Schnell trat er ein. Er sah die Ziehmutter und auch den kleinen Sebaldus. Sie fütterten gerade eine ansehnliche Hühnerschar. Der schnelle Lauf ließ ihn schnaufen und ein wenig abgehackt reden: »Mutter, die Stadtknechte haben den Vater in den Turm gebracht!«, keuchte er. Der gerade mal vierzehn Jahre alte Junge hatte Mühe, die plötzlich kalkweiß gewordene Frau abzustützen. Sie wäre fast zwischen die Hühnerschar gefallen.
»Ihr sollt euch um Gottes Willen nicht aufregen. Er käme bald wieder raus«, stotterte Josef hinterher und half der Frau, wieder Haltung vor ihrem kleinen Sohn zu finden, der den Vorgang mit ganz großen Augen verfolgte.
Zur gleichen Zeit waren Johannes Holste, der Vormann der Schiffs- und Bootsführer, Fahrleute und Seemänner, Wrobel Unruh von der Bruderschaft der Seiler und Segelmacher sowie auch Klaus Härtes von den Wollwebern unterwegs, um eine Verbindung zu den Alterleuten der Kaufmannschaft herzustellen. Die drei Männer kannten den vorbeistürmenden Jungen sehr gut. »Du lieber Gott, der hat es aber verdammt eilig!« Johannes Holste wandte den Kopf zurück und wunderte sich, dass der Bengel so ohne einen Gruß an ihnen vorbeirannte. Er mochte den aufgeweckten Jungen, dessen Eltern niemand so richtig kannte. Der Josef und sein Sohn sind gute Freunde.
»Da stimmt doch was nicht!«, murmelte er und schüttelte nachdenklich sein schon grauhaariges Haupt. »Es ist nicht seine Art, einfach so an mir vorbeizurennen.« – Die Gedanken, die ihm durch den Kopf gingen, ließen ihn einfach nicht los. Sie drehten sich um die am Vortag von hitzigen Bürgern heruntergerissene Tafel. Auf der waren die vom Hansetag festgelegten neuen Statuten bekannt gemacht worden, die ein noch schärferes, strengeres, Vorgehen gegen die Aufrührer und Verschwörer in der Stadt vorsahen. Auch eine kurzfristige, kaum noch hinnehmbare Steuerzahlung wurde darauf angekündigt. Sie, als Sprecher ihrer Innung und Bruderschaft, suchten Möglichkeiten eines geschlossenen, gemeinsamen Auftretens der Bürgerschaft gegen diese Forderung. So hatte er den Jungen dann auch schnell wieder vergessen.
Die drei Männer befanden sich auf dem Weg zum »Seglerhaus«, dem Sitz der Kaufmannschaft. Die gehörte neben den Gewandschneidern, Tuchmachern und Wollwebern zu den ältesten Zünften und Bruderschaften der Stadt und genoss deshalb im Rat ein sehr hohes Ansehen. Die »Burspracke«, die zwei Mal im Jahr vor der versammelten Gemeinde auf dem Heumarkt vom Balkon des Rathauses aus stattfand, verkündet stets neue Bekanntmachungen, Anordnungen und gültige Bestimmungen. Sie hatte bereits zu Beginn des vergangenen Jahres nach der Walpurgisnacht, am 1. Mai, die Empörung der Bürgerschaft angeheizt, weil von Jahr zu Jahr immer mehr Gebiete des wirtschaftlichen, häuslichen, ja sogar des ganz persönlichen Lebens der polizeilichen Aufsicht und damit der des Rates unterstellt werden.
Es heißt nur noch: Der Rat gebietet – oder verbietet! So solle sich jeder mit dem nötigen Brotkorn versehen und den Schoß ja zur rechten Zeit zahlen. Er solle die Straßen rein halten. Schlamm, Mist und Kehricht dürfen die Straßen nicht verunreinigen. Ein Nachbar muss schließlich auch zum anderen kommen können, hieß es. Auf das Feuer solle er achten, seinen Harnisch müsse er bereithalten, um auch der ihm obliegenden Wehrpflicht nachkommen zu können. Keinesfalls darf vergessen werden, die Schweine aufs Feld zu treiben. Doch vor allem habe er die Anordnungen des Rates ohne Widerrede zu befolgen. Dabei solle er mit seinen Worten vorsichtig sein, nicht lästern, schelten oder räsonieren. Verbote, wie etwa das Korn vor dem Stadttor zu kaufen oder Getreide und Mehl ohne Erlaubnis des Rates auszuführen, das Auszapfen von fremdem Bier außerhalb des Ratskellers und der unbeschränkte Handel mit den Fremden, der nur vorgenommen werden darf, wenn die Einheimischen das, was sie brauchten, bereits erworben haben, werde murrend hingenommen.
Doch das jetzt verschärfte, strengere Vorgehen gegen die Mäkelnden, die zu Aufrührern und Verschwörern wider den Rat gestempelt werden und der neue Schoß, die Steuererhebung sowie der gemeine Pfennig für den Kampf gegen die Hussiten, ließ die Bürger tätlich aufbegehren, führte zum Abriss der Verordnung und zu wütendem Geschrei vor dem Rathaus.
Diese angespannte Situation beschäftigte die drei Männer. Sie redeten wenig, strebten mit forschen Schritten dem Sitz der Kaufmannschaft zu und hofften insgeheim, mit den Altermännern ins Gespräch zu kommen, um sie zu einem gemeinsamen Auftreten vor den drei Bürgermeistern bewegen zu können. Ohne sie ging nichts. Die Kaufmannschaft in der Stadt, mit ihnen die vier Altermänner, die zwei Kämmerer, die ebenfalls aus dem Stand der Großkaufleute kamen, stellten eine fast unbezwingbare Macht dar. Gegen die anzurennen, versprach wenig Erfolg. Doch die Männer, die Meister und Gesellen, die sie vertraten, hatten dieses Gespräch gewünscht. So wollten sie nun versuchen, dieser Aufgabe gerecht zu werden.
Den Fischmarkt hatten sie bereits überquert. Als sie in die Mittenwochestraße einbogen, hörten sie schon das laute und vielstimmige Aufbegehren einer aufgeheizten, größeren Menschenmenge. Worum es ging, das war noch nicht so richtig zu vernehmen. Erst als sie in die Frauenstraße traten, umfing sie ein heilloses Bürgergewimmel und die Nachricht, dass Titus Kolbe, der stadtbekannte Schriftgewandte, und Wolf von Birkow, zwei wirklich angesehene Bürger, vom Stadtrichter verfügt, schmachvoll durch Stadtknechte ins Verlies geworfen worden sind. »Jetzt zerfleischen sich die honorigen Bürger schon untereinander«, raute Johannes Holste dem Wollweber Klaus Härtes zu. »Nun geht mir auch ein Licht auf, warum der Josef so angerannt kam«, setzte er noch hinzu. »Er hat gesehen, wie die Büttel seinen Ziehvater ins Gefängnis warfen. Das ist keine einfache Sache für ihn und sein Zuhause. Ich gehe nachher schnell mal zu ihnen.«
»Mach das!«, knurrte Wrobel Unruh. Er ist ein wortkarger Mann. Sein Beruf an der Seilerbahn bot ja auch kaum Gelegenheit, sich mit Gleichgesinnten auszutauschen. Im Haushalt gab die Frau den Ton an, da blieb nicht viel Zeit übrig, redselig zu werden.
»Das brodelt hier aber mächtig. Hoffentlich lässt sich bald einer vom Rat auf der Kanzel sehen, sonst platzt die Blase! Erst der Abriss der Tafel mit den drohenden Verordnungen, nun die Festnahme eines honorigen Schriftgewandten und eines würdigen, betuchten Kaufmannes, das kann mächtig ins Auge gehen, wenn hier nicht bald beweihräuchert wird!«, gab Klaus Härtes von sich und war bemüht, wie auch Holste und Unruh, am Rand der Masse in die Schuhstraße zu gelangen, in der es noch recht ruhig zuging.
Im »Seglerhaus« wurden sie höflich, aber doch sehr zurückhaltend empfangen und gebeten, sich ein wenig zu gedulden. »Der für solche Gespräche zuständige Altermann, der Großkaufmann Gotthelf von Friese, käme baldigst zu ihnen«, ließ man wissen. Sie kannten den Kaufmann, von Friese. Er ist ein Handelsmann, der von den Schonen am Baltischen Meer und aus anderen Städten fette Fische, Heringe und auch den Stockfisch heranholt. In seinem Auftrag fahren Fuhrwerke übers Land, die begehrte Waren in die Stadt schaffen, andererseits aber auch Produkte ausführen, so wie es viele andere Kaufherren der Stadt tun, die sich damit weit von den Krämern abgrenzen.
»Ihr könnt ja denken, was ihr wollt aber ich habe ein verdammt mulmiges Gefühl im Bauch. Wir stehen hier auf verlorenem Posten«, murmelte Johannes Holste und sah sich betreten aber dennoch interessiert in dem prächtig ausgestatteten Raum um, der den Reichtum der Kaufmannsgilde für den Besucher zur Schau stellte.
»Ich glaube kaum, dass sie sich bereit finden werden, gegen den Rat aufzumucken, auch dann noch nicht, wenn die Stadt kurz vor einer Rebellion großer Teile der Bürgerschaft steht, die uns allen wieder einmal sehr teuer zu stehen kommt und viel Ungemach mit sich bringen kann. Die Reichsacht vor einigen Jahren und die nachträgliche Geldbuße, die uns allen aufs Auge gedrückt wurde, habe ich noch nicht vergessen«, setzte er noch hinzu.
Die hohe Tür, die vom Inneren des Hauses her den Zutritt in diese Empfangsdiele ermöglicht, wurde geöffnet. Drei sich selbstbewusst gebende Herren traten ein: Klaus Bosdorf, ein Kaufmann mit Schiff und Wagen, der Bürgervertreter Dietrich von Eick und Jacob von Waselitz, ein Holzhandelsmann, bewegten sich auf sie zu. Man verneigte sich zum Gruß.
»Sagt, was führt Euch zu uns?«, eröffnet Jacob von Eick das Gespräch und musterte sie ein wenig herablassend. Johannes Holste, der sich von dem Getue nicht beeindrucken ließ, und die Kaufleute fest ins Auge genommen hatte, schob sich einen halben Schritt vor, um deutlich zu machen, dass er der Wortführer sei.
»Es steht arg bös’ um unsere Stadt, Ihr Herren. Wollt Ihr es hören? So öffnet nur das Fenster und Ihr vernehmt den Lärm, der vom Rathausplatz bis hier hereindringt. – Von den Bürgern erfuhren wir, dass, vom Stadtrichter verfügt, zwei angesehene Bürger, schändlich und ohne Widerspruch des Rates, durch Stadtbüttel ins Gefängnis geschleppt wurden, die geforderte Rechenschaftslegung über die Haushaltsführung vom Bürgermeister aber immer noch abgelehnt wird. Empörung in der Stadt, wo man auch hinhört! – Wir sind gekommen, Ihr Herren, um zu erfahren, ob die Kaufmannschaft dagegen etwas zu tun gedenkt?« Johannes Holste verneigte sich leicht und trat wieder in die Reihe seiner Männer zurück. Den drei Kaufleuten war nicht anzumerken, was sie gerade dachten. Ihre Mienen unbeweglich, ausdruckslos, vielleicht sogar ein wenig mokant herablassend, ließen nichts durchblicken.
»Es ist schon höchst bedauerlich, dass sich die Bürger diese Stadt zu einem solchen Aufruhr gedrängt fühlen. Sagt Ihr uns, was könnten die Mitglieder des Stadtrates gegen die Beschlüsse des Hansetages in Lübeck tun? Sie wurden den Bürgern kund und zu wissen getan. Auf deren Protest wurde die Tafel doch wieder abgenommen. – Ja, und mit der Inhaftierung des Herren Kolbe und des Herren von Birkow hat der Rat doch nun wohl überhaupt nichts zu tun. Das ist, wie auch Euch bekannt sein dürfte, ausschließlich die Sache des Gerichtes.«
Nachlässig, geschleppt in Rede und Tonfall, bequemte sich Dietrich von Eick zu dieser Erwiderung.
»Dass es nicht nur allein um diese, von uns genannten Vorkommnisse geht, die von Euch sogar falsch wiedergegeben wurden, dürfte den Herren der Kaufmannschaft doch wohl klar sein!«, schnitt Klaus Härtes dem Altermann das Wort ab, der weiterreden wollte. »Ausgang der Empörung ist doch die plötzliche Steuerauflage, die für den Kampf gegen die Hussitten bereitgestellt werden soll. Dazu gehört auch die strikte Weigerung des Stadtrates, der Kämmerer und der Bürgermeister, öffentlich Rechenschaft über den Stand der Kasse und die Verwendung der eingegangenen Gelder abzulegen. Es dürfte einleuchten, wenn die Alterleute, zusammen mit den Vertretern der Gewerke, Bruderschaften und Zünfte es nicht erreichen, dass die Bürgermeister, Neidhard von Rhyn, Hans Radun und Helmfried Meyer mit dem Kämmerer Peter Wagenknecht der Bürgerschaft Rede und Antwort stehen, sagen, wie die Stadtkasse gefüllt ist und wofür die Steuern und das andere städtische Einkommen genutzt wurde, dass dann in Kürze der Teufel in der Stadt regieren wird.«
»Mäßigt Euch, Klaus Härtes und setzt Eure Worte so, wie es sich hier geziemt!« Würdevoll wollte der alte Klaus Bosdorf fortfahren.
»Hier und jetzt, Altermann Bosdorf, geht es nicht um gestelzte Reden oder um den Austausch von Freundlichkeiten in artigen Sätzen. Es geht in erster Linie ganz einfach nur um Geld. Im schlimmsten Fall wieder um viel Geld. Ihr habt doch sicherlich noch nicht die Reichsacht und die gepfefferte Strafe von 12.000 Märker vergessen, die Ihr und wir zu zahlen hatten? Beides hat die Stadt und uns gleichermaßen schwer getroffen. So etwas, jetzt erneut Drohendes, mit Euch Kaufleuten und den anderen Gewerken zu verhindern, es abzuwehren, ist unser Begehren. Nicht mehr und nicht minder.«
Die drei Altermänner der Kaufmannschaft wirkten etwas schockiert, bedeppert wie der kleine Mann sich auszudrücken beliebt. Aber die Herren fassten sich schnell. Jacob von Waselitz, der als Holzhändler den Umgang mit allen Schichten der Bürger schon über lange Jahre hinweg meistert und bisher die stämmigen Männer vor ihm nur gemustert hatte, machte es kurz: »Was also wollt Ihr uns unterbreiten und wie stellt Ihr Euch ein gemeinsames Vorgehen zur Beilegung der Streitigkeiten vor?«
Der Kaufherr verschränkte wartend die Arme vor seiner Brust und legte den etwas eckigen Kopf in eine leichte Schieflage. Die Wangen und auch das Kinn, bedeckte ein dichter krauser Bart. Mit seinen wachen, klaren, grauen Augen musterte er den Schiffsführer, den er aus so mancher Begegnung als einen aufrechten, bedächtig handelnden Mann kannte. »Also, Vormann Holste, lasst uns eure Vorschläge hören. Wir werden sehen, ob wir uns denen nähern und gegebenenfalls anschließen können, denn, Ihr habt ja recht, was derzeit in der Stadt abläuft, gehört beendet zu werden.
»Uns liegt nichts an einem Widerstreit, liegt nichts an einer Auseinandersetzung mit dem Stadtrat. Was wir wollen, ist eine verständliche und klare Aussage über den Stand der Stadtkasse. Dazu, so glauben wir, wäre es nötig einige wenige Männer zu benennen die Einfluss auf die Bürgermeister und die Kämmerer haben. – Und diese sind sicherlich nur in der Kaufmannschaft, unter euch, anzutreffen. Wir wollen, dass sie und einige Vertreter der Handwerkerschaft sowie der Gewerbetreibenden in einer kleinen Abordnung auftreten. Sie soll dem Stadtoberhaupt noch einmal vor Augen führen was auf dem Spiel steht, wenn der Rat bei der augenblicklich sturen Haltung bleibt, dessen er sich bis jetzt befleißigt.«
Die Stille im Raum, die nach den Worten von Johannes Holste eingetreten war, hielt eine Zeitlang an. Die Altermänner krausten die Stirnen und sahen sich an. »Das heißt, wir bestimmen, wer der Abordnung angehört?«, wisperperte Altermann Dietrich von Eick mit seiner eher piepsigen als klaren Stimme.
»Ja, sofern die Teilnahme einiger Männer aus den städtischen Gewerken akzeptiert wird und die Gruppe schleunigst zusammentritt. Ihr Herren müsst nur richtig hinhören, dann bemerkt Ihr mit Schaudern, dass der Deckel auf dem Topf schon mächtig rappelt und das Überkochen nicht mehr lange auf sich warten lässt.«
»Dem müssen und wollen wir zuvorkommen, damit der Friede in der Stadt erhalten bleibt.«, ergänzte Wrobel Unruh, der bisher geschwiegen und sich umgesehen hatte.
Sie standen sich gegenüber, sahen sich ernsthaft in die Augen.
»Wir werden darüber baldigst beraten, wie an diese Sache heranzugehen ist. Jetzt und hier können wir dazu keine Zusicherung geben. Die Situation und die Forderung sind von außerordentlicher Brisanz, dass alle Altermänner der Kaufmannschaft gehört werden müssen«, ließ nach längerem Schweigen Dietrich von Eick wissen.
»Hab ich es nicht gesagt, Leute! Das Pulverfass ist gefüllt, die Lunte brennt! Lasst es knallen, Dietrich von Eick, Jacob von Waselitz und Klaus Bosdorf!«, polterte Wrobel Unruh mit einem Lachen dazwischen.
»Wir haben einen Eid geschworen!«
»Wir auch, Altermann Bosdorf! – Ihr erinnert Euch sicher, dass es darin heißt, das Beste für die Stadt im Sinn zu haben! – Jetzt aber nichts zu tun, die Hände in den Schoß zu legen und abzuwarten, zu hoffen, dass nichts Böses passiert, ist verantwortungslos, Altermann Bosdorf! In diesem Augenblick einem Stadtrat, der nicht handeln will oder kann, treu und gehorsam zu sein, grenzt an Verrat der Bürgerschaft, die es so schon schwer genug hat und für das weitere Geschehen aufkommen muss. Sollte Euch das, Ihr Altermänner, nicht zu denken geben?«, redete Johannes Holste auf sie ein.
Der Ton war lauter und schärfer geworden, lockte damit einen weiteren Altermann ins Zimmer, den von Waselitz hinter vorgehaltener Hand, darüber informierte, was hier zur Auseinandersetzung anstand. Der Hinzugekommene nickte mit dem Kopf. »Ihr Herren werdet doch nicht so einfältig sein zu glauben, dass mit der Sturheit der Bürgermeister, sich zu weigern öffentlich Rechenschaft über den Haushalt abzulegen, der Friede in der Stadt erhalten bleibt?«
Johannes Holste hatte viel schneller geredet, als er sonst zu debattieren gewohnt war. Sein Gesicht hatte an Röte zugenommen.
»Hier in diesem Raum ist es leicht, gegen den Stachel zu löken, Johannes Holste, Meister Härtes und Meister Unruh. Auch wir wissen, dass es nicht erst seit gestern und heute in der Stadt gärt, sich eine ernstzunehmende Gruppierung gegen den Stadtrat aufbaut, die die steigende finanzielle Belastung, besonders die der kleinen Leute, aber auch die Unzufriedenheit vieler Bürger mit der Stadtverwaltung und ihrer Politik von Tag zu Tag deutlicher aufzeigt. Zugleich wird auch die Mitbestimmung unserer Alterleute sowie die der Zunftmeister, Vormänner der Gewerke und der Bruderschaften an den Verwaltungsgeschäften bemängelt.«
Die Stimme des Altermannes Gotthelf von Friese war leise, verhalten und deutlich. »Setzt dann das vom Hansetag geforderte, strengere Vorgehen gegen Aufruhr mit der Androhung der Verhansung und verbunden mit dem Verlust aller Privilegien dagegen. Einmal haben uns benachbarte Stadträte helfen können. Ob das ein weiteres Mal gelingt? Wer weiß das schon? Könnt Ihr ermessen, wo wir stehen?«
Mit diesen Worten endete der hinzugetretene Altermann Gotthelf von Friese. »Ich kann versprechen, wir werden die Leute finden, die mit einem oder auch zwei aus einer Zunft oder Innung der Handwerkerschaft Gelegenheit bekommen, die Bürgermeister aufzusuchen. Ihr erhaltet vielleicht heute noch, doch spätestens aber morgen in der Frühe, Nachricht darüber, zu welcher Stunde der Besuch stattfinden wird.«
Mit einer solchen, schnellen und auch günstigen Entscheidung hatten Holste, Härtes und Unruh nicht gerechnet. Sie atmeten tief durch.
»Wir sind erfreut und auch ein wenig erleichtert zu hören, dass wir in dieser Sache zusammengefunden haben. Mag Gott es fügen, dass unsere Bürgermeister Vernunft zeigen und einsichtig genug sind, damit wieder Ruhe in der Stadt einkehrt.«
Die Flure des Seglerhauses mit ihren Kreuzrippengewölben waren leer. Einige Sonnenstrahlen, die farbiges Licht durch die kleinen Butzenscheiben warfen, machten leicht flimmernden Staub sichtbar. Ihre Verabschiedung war zwar kurz, aber nicht unhöflich gewesen. Sie entsprach den Normen, die sich im Umgang der Kaufleute mit der Handwerkerschaft und den städtischen Gewerbetreibenden über die Jahrzehnte so herausgebildet hatten.
Johannes Holste, Klaus Härtes und Wrobel Unruh waren mit ihrem Besuch und dem ausgehandelten Ergebnis zufrieden. Sie glaubten schon, dass die Altermänner der Kaufleute ihre Zusage einhalten werden. Ob aber eine kleine, gemischte Abordnung die Bürgermeister zum Einlenken und zur Rechenschaftslegung überreden konnte? So ganz einfach war das sicherlich nicht. Dazu hatten sich die Bürgermeister schon ziemlich weit aus dem Fenster gelehnt. Zu harsch war jegliche Aussprache, sogar mit Drohungen verbunden, abgelehnt worden. Wenn sich aber nun auch noch honorige Bürger aus der Kaufmannschaft für eine Verständigung einsetzten, somit den Bürgerwillen unterstützten, dann dürfte die harte Schale der Bürgermeister und der Stadträte anfangen zu bröckeln. Ein handfester Erfolg, die festgefahrene Situation zu entschärfen, war in Sicht.
Als sie die Tür des Seglerhauses öffneten und heraustraten, schlug ihnen der Lärm vom Heumarkt entgegen. Über den ganzen Markt verteilt, standen immer noch kleine und auch größere Gruppen durcheinander redender Leute. Sie debattierten unmäßig laut, fuchtelten mit Armen und Händen herum. Geballte Fäuste richteten sich drohend gegen das stilvolle Rathaus.
»Hört doch mal hin!«, räusperte sich Wrobel Unruh. »Was reden die da von Ausweisung und Rausschmiss? Wer soll der Stadt verwiesen werden?« Wrobel Unruh hielt Klaus Härtes, der vorauseilte, am Ärmel fest. Sie standen etwas erhöht, auf dem dreistufigen Absatz, spitzten die Ohren und gingen dann im forschen Schritt auf eine der Gruppen in ihrer Nähe zu.
»He, Leute was ist? Was faselt Ihr da? Wer soll aus der Stadt geworfen werden?«, mischte sich Johannes Holste in das Wortgetümmel ein.
»Na, na, na, Mann! Spiel dich hier mal nicht so auf!«, konterte jemand vor ihm. »Hast es doch gehört. Der Stadtrichter Däne, die Schöffen und die Bürgermeister wollen Wolf von Birkow und Titus Kolbe durch die Büttel aus der Stadt werfen lassen! Sie waren angeblich gegen die Richter und Schöffen ungebührlich und aufmüpfig aufgetreten und hätten damit einen Friedens- und Rechtsbruch begangen. Das geht reihum! Die müssen doch spinnen!«, antwortete ihm der stiernackige und mit breiten Fäusten behaftete Bursche. »Das darf man einfach nicht zulassen. Denen da im Haus sollten wir mal kräftig aufs Maul hauen«, knurrte er, der sicher zu den Bootszimmerleuten gehörte, die, wie Johannes Holste aus Erfahrung wusste, ganz schnell zu Rauferein bereit waren.
»Da ist was dran. Ob es aber was nutzt? Gewalt ist nicht immer sinnvoll und bringt meistens mehr Ungemach und Schaden ein als einen ersichtlichen Nutzen. Gute Steuerzahler, Bürger der Stadt zu verweisen, das geht nicht so hopp hei, und raus ist er, guter Mann! Dazu haben auch noch andere Leute was zu sagen.«
Mit einem grollenden Lachen drehte sich der Hüne um. »Bist ein gutgläubiger Pope was?« Er stutzte. »Doch! Du bist ein Bootsführer. Der Holste, wenn ich mich nicht irre! Und der neben dir, das müsste dann der Segelmacher und Seiler Unruh sein.«
»Der andere, das ist Klaus Härtes, ein guter, gottgläubiger, fleißiger Wollweber«, zeigte Johannes Holste auf seinen zweiten Begleiter.
»Mich ruft man einfach Rupert, der Zimmerer, und das genügt auch«, stellte er sich selber vor.
»Nein, Rupert, ich glaube nicht alles, was vom Rathaus kommt. Aber ich weiß, wenn wir jetzt nicht aufpassen, geschickt vorgehen, wird es uns allen teuer zu stehen kommen. Du hast ja sicher auch den Aushang mit den neusten Bekanntmachungen gesehen, davon gehört, vielleicht auch gelesen. So weißt du, was uns da angedroht wird. Die Lübecker Hanse spielt nicht. Sie droht und meint es bitter ernst. Deshalb heißt es, Ruhe bewahren und überlegt handeln. Es wird eine Abordnung von Kaufleuten und Mitgliedern aus anderen Zünften zusammengestellt, die die Bürgermeister und den Rat aufsucht. Danach werden wir und auch alle anderen Bürger erfahren, wie es weitergeht«, redete Johannes Holste auf den Zimmerer ein. »Das könntest du unter die Leute bringen. Der Titus Kolbe ist einer meiner Freunde. Um den kümmere ich mich schon!«
»Dann vergiss nicht, auf den Josef Obacht zu geben, denn das ist mein kleiner Freund«, unterbrach der Zimmerer den Bootsführer. Der stutzte und blickte auf Rupert.
»Ja, Mensch, ich kenne den Jungen. Er ist mir ans Herz gewachsen. Wie es dazu kam, das erzähle ich dir später bei einer passenden Gelegenheit.«
Der Zimmerer tippte an seine Kappe, was einen Gruß darstellen sollte, und bewegte sich weiter nach vorn, wo der Tumult auf dem Markt noch immer nicht geringer und auch nicht leiser geworden war. Holste, Härtes und auch Unruh hatten nicht die Absicht, sich hier einzumischen.
»Ich werde mich jetzt erst einmal zum Hof Kolbe begeben und hören, was der Junge zu berichten hat. Vielleicht kann ich der Frau die Angst ein wenig nehmen, sollte sie schon mitbekommen haben, dass die ganze Familie der Verfestung anheim fällt. Das hieße für sie, aus der Stadt und über die Bannmeile hinaus, abgeschoben zu werden. Ich wäre erleichtert, wenn ihr beide, wie abgesprochen, die Zunftmeister der Schuhmacher und Gewandschneider aufsucht und mit ihnen redet. Sie sind die beiden größten Bruderschaften. Erzählt, worum es geht und rüttelt sie auf.«
Die beiden nickten nur. Bereits etwas entfernt rief Holste ihnen noch nach: »Vergesst nicht, über die mögliche Verbannung von Birkow und Kolbe zu sprechen. – Kann ja nicht verkehrt sein!«
Wenig später gerieten die beiden außer Sicht. Sie waren um die Ecke herum in die Schuhstraße eingebogen. Die grenzt unmittelbar an den Heumarkt. Je weiter sich Johannes Holste im eilenden Schritt vom Heumarkt entfernte, umso ruhiger wurde es um ihn herum. Obwohl Hafenstadt ein gutes Stück entfernt vom Fischmarkt in der Bomstraße war, war von dem rastlosen, ruhelosen Treiben der Menschen aller Gewerke kaum etwas zu vernehmen. Wenige Augenblicke danach stand der Boots- und Schiffsführer vor dem Hof und dem Haus seines Freundes, Titus Kolbe. Hedwiga, dessen Frau, sah ihn über den Hof kommen und öffnete mit flatternden Händen die Tür.
»Das ist doch furchtbar, Johannes! Was machen die mit Titus? Werfen ihn einfach so in den Turm! Das können sie doch nicht mit ihm machen!«
Er hielt ihre Hände fest und sah der noch jungen Frau in die Augen.
»Doch, Hedwiga, sie können das! Sie können noch viel mehr und werden damit gar nicht lange warten. Ich bin gekommen, um dich vorzubereiten und um euch zu helfen. Sie sah ihn irritiert und fragend an, bebte dabei am ganzen Körper. Die Augen offenbarten sehr viel Angst und Verzweiflung. »Du musst jetzt sehr stark sein, musst dich zusammenreißen. Denk‚ an Titus und an deinen Jungen! Das Urteil, das gesprochen wird, heißt möglicherweise sogar Verfestung. Damit wirft man euch aus der Stadt. Eine Rückkehr nach Stettin gibt es dann nicht mehr. Darüber reden die Leute schon überall. Von irgendwoher muss das Gerücht ja losgetreten sein. Es ist besser, Hedwiga, wir bereiten alles vor. Leg alles Wichtige zusammen. Geld und andere Wertsachen, auch wichtige Papiere verberge gut am Körper. Das, was das Kind braucht und was du mitnehmen willst, schnüre zu handfesten Bündeln zusammen.« Hastig und bestimmt kamen die Anweisungen.
»Kommen die Büttel mit Titus hier an, dann bleibt nur sehr wenig Zeit, die sie euch zum Zusammenpacken lassen.«
»Bist du dir denn wirklich so sicher, dass die Stadtknechte kommen werden?« Ihre Stimme zitterte, wie auch ihre Hände, die er immer noch hielt.
»Alles spricht dafür!« Suchend blickte er sich um. »Wo ist denn Josef?«
Sie löste ihre Hand aus der des Schiffsführers.
»Er ist in der Stadt und will sich umhören«, sagte sie. Johannes nickte.
»Wenn er zurück ist, soll er gleich seine Freunde zusammentrommeln. Sie werden dann alle Bündel, die gepackt sind, schleunigst auf mein Schiff bringen. Sollte es dann wirklich ernst werden, haben wir einen Großteil eurer Habe in Sicherheit gebracht. Danach sehen wir dann weiter. – Ich werde es schon möglich machen, euch außerhalb der Stadt aufzunehmen. Eine Bleibe wird sich dann schon finden lassen. Der Titus ist ja bekannt. Er hat Gönner! Sie werden ihm helfen, Fuß zu fassen. Ich denke da an die Stadt Gollnow. Dort wäret ihr sicher. Da gäbe es für euch einen passablen Neuanfang.«
Die Worte kamen hastig, gedankenlos, einfach so dahingesagt.
»Du redest, als sei alles schon beschlossen. Kann nicht doch noch alles gut gehen? Der Rat wird doch solche angesehenen Männer wie Wolf von Birkow und Titus nicht brandmarken. Das kann es doch nicht geben, Johannes!« Sie schluchzte und konnte die Tränen kaum noch zurückhalten. Der kleine Junge Sebaldus klammerte sich an die Mutter, die er so noch nie gesehen hatte. »Darf der Richter Däne denn so mit ungescholtenen Bürgern umgehen? Sie haben doch sogar sehr viel für die Stadt getan.«
»Der Rat wird es tun. Er wird dem Gericht beistehen. Glaub mir, Hedwiga. Die Stadtobrigkeit steht ganz gewaltig unter Druck. Die Lübecker Hanse attackiert die Bürgermeister und die Ratsmitglieder. Die Hanse verlangt die strenge Einhaltung der Gesetze. Damit soll die Ruhe in der Stadt wieder sichergestellt sein. Den Herren ist dazu jegliche Härte rechtens, so sind also auch hohe Strafen bis hin zur Verfestung nicht auszuschließen. Auch der offene Widerstand der Bürger, die sich gegen die neue Steuerforderung auflehnen, trägt viel dazu bei, den Rat zu verärgern. Da kommt ihnen natürlich so ein Vorfall, wie der mit dem Titus und dem von Birkow, gerade zupass. Damit können sie ein Exempel statuieren, das abschreckt und nicht wenige mundtot, richtig gefügig macht. Du musst dich aber wirklich nicht ängstigen. Wirst sehen und erfahren, dass es eine ganze Menge Leute gibt, die Titus, dir und dem kleinen Mann hier, beistehen«, redete Johannes Holste weiter drauflos.
Er strich dem Jungen über den Kopf und erreichte, dass Hedwiga langsam, aber erkennbar, ruhiger und gelöster wirkte, den ersten Schock scheinbar überwunden hatte und wieder selbstsicherer wurde. Als Josef dann die Tür aufriss und hereinstürmte, schreckten alle drei zusammen. Sein rundes Gesicht mit dem zerzausten Haar war erhitzt. Sein Atem ging kurz. Josef stutzte, als er den Vater seines Freundes sah. Er schnaufte und grüßte den Altermann der Bootsführer, Schiffer und der Seeleute und platzte heraus.
»In der Stadt geht es hoch her! Die Burgwache hat gerade die Leute vom Fischmarkt vertrieben. Sie haben ohne Rücksicht kräftig ausgeteilt und zugeschlagen! Das war vielleicht ein Geschrei! Alle schimpften, dass sie zahlen sollen, obwohl sie kaum noch was besitzen. Sie wollen von dem Wenigen nichts mehr weggeben. Andere verfluchten den Richter und den Rat, die es sich erlauben, sogar gute Bürger der Stadt in den Turm zu werfen, die dem Gericht nur mal die Meinung gesagt haben. – Sie geben sich wie Raubritter, plündern die Taschen der Armen und schinden ehrliche Bürger, beschimpfen sie!«, quetschte Josef aus sich heraus.
»Was ist mit deinem Vater, Josef? Was hast du darüber gehört?«
»Nichts Gutes, Mutter Hedwiga. Nichts Gutes. – Er und auch der Herr von Birkow sollen zur Stadt hinaus geschafft werden. So heißt es überall. Ob es nur so ein Daherreden ist, weiß ich nicht.« Er stockte als ihm der Altermann die Hand auf die Schulter legte.
»Höre jetzt gut zu, Josef. Du nimmst jetzt die Beine in die Hand und flitzt zu Adam. Der muss auf dem Segler sein. Ihr holt euch auch den Pieter und den Radu und seid dann so schnell wie möglich wieder hier. Frau Hedwiga wird euch dann sagen, was zu tun ist. – Ganz schnell zu tun ist!«, wiederholte er und stupste den Jungen zur Tür, die sich hinter ihm geräuschvoll schloss.
Josef lief, was er nur konnte, und war so recht schnell unterwegs. Doch bevor er zum Adam rennen würde, hielt er es für richtig und wichtig, seine Freundin Inka aufzusuchen. Das Mädchen in seinem Alter war ihm vor Wochen direkt vor die Füße gefallen, als er sie, mit ihrem Wäschekorb unter dem Arm, umgerannt hatte. Das war ein Geschimpfe. Mein lieber Mann, die Kratzbürste konnte schlimmer loslegen als ein altes Marktweib.
Er kam damals gar nicht dazu, sich zu entschuldigen. Inka, die mit puterrotem Gesicht vor ihm stand, hatte ihn richtig abgekanzelt. An die Schimpfwörter, die ihm um die Ohren flogen, mag er heute überhaupt nicht mehr denken. Heute weiß er, dass ihr damals eigentlich zum Heulen war, als ihn nur anzuschreien. Die noch feuchte Wäsche im Korb, hatte sie gerade gespült. Die ganze Arbeit war für die Katz. Er wollte eigentlich so richtig zurückballern. Doch je mehr es sie anblickte und zuhörte, was sie ihm andichtete, umso besser gefiel sie ihm. Ihre wütenden blauen Augen in dem schmalen Gesicht, das lange, zu einem Zopf geflochtene, kastanienbraune Haar und die kräftige, schon recht frauliche Statur, zogen ihn an. Mit einem inneren Erstaunen stellte Josef zu diesem Zeitpunkt fest, dass ihm so etwas eigentlich zum ersten Mal passierte. Vormals hätte er mit dem Finger an seine Stirn getippt, irgendwas gesagt und wäre weiter gegangen. Diesmal blieb er stehen und ließ sich sogar runterputzen, half sogar mit die nassen und nun wieder schmutzigen Wäschestücke einzusammeln.
»Wohin?« Inka hatte ihn zweifelnd angesehen. »Zur Bäke natürlich! Wohin denn sonst, du Dussel!« Sie dirigierte ihn zum Waschplatz. Ganz ohne Worte hatten sie sich daran gemacht, die Wäschestücke noch einmal zu spülen, tüchtig auszuwringen und wieder in den Korb zu legen. Er trug den Korb auch noch bis zu ihrem Haus, das sich in der Nähe des Krautmarktes befand. Geredet wurde wenig.
Aber geschimpft hatte Inka auch nicht mehr. Was er selbst alles von sich gegeben hatte, daran konnte er sich heute auch nicht mehr erinnern. Er wusste aber, dass er den Blick nicht von ihr lösen konnte. Das ist auch heute noch so. Viele Tage hatte er gebraucht, bevor ein vernünftiges Gespräch zustande kam. Dazu versuchte er, sie immer abzupassen, wenn sie Wäsche zum Spülen trug oder auch saubere, zu den Haushalten brachte, für die ihre Mutter arbeitete. Jetzt verstanden sie sich schon sehr gut, warteten aufeinander und schlenderten, wann immer nur möglich, durch die Stadt oder saßen am Ufer der Oder und sahen den dahin ziehenden Seglern und Lastkähnen nach. So kam es dann auch dazu, dass sie sich bei den Händen hielten und sich aneinanderlehnten, nicht redeten, nur sich fühlten, die Nähe des Anderen bewusst wahrnahmen. Mehr war nicht und doch betrachtete Josef Inka als seine Freundin, für die er sogar durchs Feuer gehen würde.
Josef musste sich sehr beeilen, um trotz des Umweges über den Krautmarkt zur Inka und von dort bis zum Haus der Holste an der Nieder-Wiek nicht allzu viel Zeit zu verlieren. Es musste schnell gehen, damit sie ihren Auftrag erledigen konnten. Auch auf dem Krautmarkt hatten sich viele Leute versammelt. Sie redeten, gestikulierten mit Händen und Füßen, schimpften auf die Bürgermeister und Stadträte. Auch der Stadtrichter mit seinen Beisitzern kam nicht ungeschoren davon. Das konnte er gut heraushören. Doch alles wurde von der erneuten Steuerankündigung überlagert. Es ging ja schließlich um ihr Geld, das wieder einmal für nichts und wieder nichts den Besitzer wechseln sollte.
Vor einem lang gestreckten, einstöckigen Haus stoppte Josef seinen Lauf. Eine überdachte Treppe an der Vorderseite des Hauses, ein Gänsehals, wie die Stettiner sagten, führte in die Kellerräume. Hier hat Inkas Vater sich seine Kürschnerei und die Mutter die Wäscherei eingerichtet. Sie waren vor nicht allzu langer Zeit mit der Tochter aus dem östlichen Gebiet Polens gekommen und hatten sich hier in der Stadt angesiedelt, waren froh, hier bleiben zu dürfen, erzählte Inka ihm. Josef nutzte Daumen und Zeigefinger. Der gellende Pfiff schlug sich an der Hauswand nieder. Er war laut genug, um das Mädchen aus der Tiefe hervorzulocken. Mit wenigen Schritten, leichtfüßig und behände, erreichte sie ihn. Sie war nicht viel kleiner als er.
»Ich will dir nur sagen, dass ich heute Nachmittag keine Zeit habe. Du musst nicht warten. Meine Freunde und ich müssen helfen. Und das kann Stunden dauern.«
»Wobei musst du denn anpacken?« Josef sah sie ernst an. Er wollte eigentlich gar nichts sagen, zog sie dann aber doch mit der Hand ein wenig vom Niedergang weg.
»Du hast doch bestimmt auch schon gehört, was heute im Rathaus passiert ist?« Inka sah ihn fragend an. »Mein Ziehvater ist festgenommen worden und soll nun wohl auch noch, wie es bereits die halbe Stadt wissen will, verfestet werden. Wir, Adam, Piter, Radu und ich, sollen helfen, um von der Habe der Familie soviel wie nur möglich zu retten. Alles was tragbar ist, wollen wir auf Holstes Schiff schleppen, damit den Bütteln nichts Wichtiges mehr in die Hände fallen kann.«
»Warte mal!«, rief Inka. Sie drehte sich um, sprang in zwei, drei Sätzen die Treppe hinunter und war nach wenigen Augenblicken auch schon wieder zur Stelle. »Ich komme mit! Die Eltern haben es erlaubt. Es ist wichtig, dir beizustehen, habe ich gesagt. Sie haben mich zwar sehr ernst angesehen, doch ich glaube, sie kennen mich gut genug.«
Inka fasste seine Hand und ab ging es. Viel zu erklären gab es weder bei Piter noch bei Radu und schon gar nicht bei Adam, den sie wirklich auf dem Schiff bei Aufräumungsarbeiten antrafen. Er schaute kurz in die Runde und zeigte dann auf eine zweirädrige Karre. »Die wird uns nützlich sein. Pieter und Radu schnappt sie euch. Es passt gut, dass der Segler hier festgemacht wurde, so als hätte mein Vater was geahnt. Hier liegt es jedenfalls gerade richtig. Der normale Ladeplatz käme für unseren Auftrag überhaupt nicht infrage. Wir hätten dann mehrmals über die Brücke und an den Posten vorbeiziehen müssen. Stellt euch nur mal die Fragerei vor. – Hier können wir allen eine Nase drehen!«, spottete Adam laut und knuffte Josef kräftig in die Seite.
Inka war schon seit einer geraumen Zeit in der Gruppe der Jungen. Sie tollte mit herum und schloss sich auch nicht aus, wenn es um Streiche ging, die für sie gerade noch vertretbar waren. Doch am liebsten war sie mit Josef allein. Irgendwo in der Stadt, am Ufer des Flusses oder auf einer Anhöhe, die den Blick über den breiten Strom hinweg ins Land hinein erlaubte. Auch wenn Josef noch nichts gesagt hat, war ihr jetzt schon klar, dass eine lange Trennung bevorstand. Denn er muss mit, wenn seine Zieheltern der Stadt verwiesen werden. Immer wieder blickte sie auf ihn, so als wolle sie ihn stückweise in sich aufspeichern, vereinnahmen, damit er ihr nicht entkäme. Was wusste sie schon von der Liebe? Niemand hatte mit ihr darüber gesprochen. – Nur die Mutter flüsterte ihr ganz am Anfang ins Ohr: »Nimm dich vor dem Jungen in Acht!« Doch warum sollte sie das tun? – Sie mochte ihn ja, so wie er nun mal war. Ihre Gedanken kreisten um ihn. Und wenn er dann vor ihr stand und sie mit seinen glasklaren Augen, immer mit einem fragenden, manchmal auch starren, vielfach leicht spöttischen Blick, ansah oder sie beide irgendwo träumten, dann kribbelte es schon in ihr. Das ließ sie zwar in sich hineinhorchen. Doch sie redete nicht davon, denn es war ein wirklich schönes Gefühl. Inka wollte auch jetzt jede Minute bei ihm und bei den Jungen sein. Es würde einen Abschied geben. Sie glaubte aber fest, auch wenn es Josef nicht sagen würde, dass dieser Abschied kein Abschied für die Ewigkeit ist, es doch einmal ein schönes, Wiedersehen geben wird.
Sie gingen nebeneinander. Die Arme und Hände berührten sich, bis sie endlich eins wurden und sich gegenseitig festhielten. Keine Hand ließ die andere los. So gelangten sie dann auch vor dem Haus des Titus Kolbe an, wo die drei Jungen mit der Karre warteten.
Der grauweiße, milchige Dunst, der aus der feuchten Niederung und aus dem Oderwasser im Hafen aufstieg, war dicht und schwer. Besonders zu dieser frühen Morgenstunde wälzte er sich zumeist in strähnigen Schwaden durch die schmalen Gassen und etwas breiteren Straßen. Er füllte die Plätze aus, verschluckte oder verzerrte dabei auch Stimmen und andere Geräusche, die sonst vernehmbar den neuen Tag ankündigten. Vom Osten her mischten sich mehr und mehr rötliche Flecke und Streifen in die trübe Masse, die sich danach langsam aufzulösen begann.
Die vier Mann starke Gruppe der Stadtknechte, die zu dieser frühen Stunde den Titus Kolbe in ihrer Mitte vorantrieb und dabei nicht gerade zimperlich vorging, wurde von dem stämmigen Jäckel Grünberg angeführt. Er, ein massiger, hoch gewachsener Kerl mit breiten Schultern, einem dicht behaarten runden Schädel, mit Doppelkinn und Pausbacken, zwischen denen ein knollenartiges, rot geädertes Riechorgan prangte, hatte seine Horde im Griff. Stramm marschierte er voran. Für ihn und seine Leute war es nicht das erste Mal, dass sie Bürger aus der Stadt zu werfen hatten. Gewissensbisse oder Mitleid mit ihnen empfand er nie. Gefühle dieser Art waren ihm fremd. Er sonnte sich sogar in der Furcht derer, denen er gewaltbereit gegenübertrat. Tief in seinem Innern war er immer noch dem Stadtrat böse, der seinen Bruder, statt ihn, zum Kerkermeister bestellt hatte.
Ein wenig lustlos aber trotzdem zügig stiefelte er vor der Eskorte her. Richtig Spaß machte ihm diese Verfestung allerdings nicht. Lässlich sollte er mit der Familie umgehen, hatte der Stadthauptmann angedeutet. Dem konnte man sich nicht widersetzen. »Lasst nach«, knurrte er, nach hinten gewandt, die Knechte an, die gerade wieder den Titus malträtiert hatten und sich über das wütende Aufbegehren des Mannes amüsierten. »Ihr wisst, was uns der Hauptmann angekündigt hat, wenn wir die Familie piesacken, um damit unser Mütchen zu kühlen«, schickte Jäckel Grünberg noch hinterher.
Sie hatten die Wollweberstraße verlassen und waren in eine Gasse eingebogen, die hinter dem Schloss entlang in die Bomstraße mündete. Ihr Ziel war nicht mehr weit. Die Stadttore waren noch zu. Es blieb wirklich Zeit genug, die Angelegenheit Kolbe zur Zufriedenheit des Rates zu erledigen. Wenige Schritte trennten sie noch von dessen Hof und Haus.
Mit einem kräftigen Fußtritt, der das Bretterwerk fast bersten ließ, öffnete Jäckel Grünberg wenig später den Eingang. Die Tür schlug knallend an die Innenwand. Jäckel Grünberg und auch die Büttel waren überrascht und rissen verblüfft die Augen auf. In der Mitte des Raumes standen die Frau, das Kind und der Jugendliche Josef. Der Trupp mit dem Anführer hatte angenommen, sie alle aus dem Bett holen zu können und seinen Spaß dabei zu haben. Der war ihnen genommen. Mit einem Fußtritt schleuderte einer der Wachmänner den Titus zu den Wartenden.
»Räumt alles zusammen, was ihr tragen könnt und dann raus hier, ihr Galgenvögel!«, bellte der Anführer. Sie positionierten sich in den drei vorhandenen Räumen und stolzierten provozierend darin umher. Es gab nicht mehr viel, was noch zusammenzupacken war. Da, wo sie konnten, rissen die Männer Truhen und Fächer auf und verstreuten den Inhalt über den Boden und traten mit den Füßen darauf herum. Nicht gerade wenig ging dabei zu Bruch.
Josef hatte das einzige Andenken an seine Mutter, ein kleines Kästchen, in die Hand genommen, zwei winzige Münzen lagen darin, als es ihm auch schon aus der Hand geschlagen wurde. Wütend bückte er sich, um es aufzuheben. Da trat der Fuß von Jäckel Grünberg nicht nur auf das Holzkästchen, das zersplitterte, sondern auch auf die Hand des Jungen. Josef sah unter den Trümmern einen winzigen Zettel liegen, aber er konnte ihn nicht greifen. Der Fuß quetschte immer noch seine Hand. Ein brutaler Griff in sein Genick, verbunden mit einer deftigen Ohrfeige, schleuderte den Jungen vom Fundstück weg. Jäckel Grünberg war kein Dummer. Lesen konnte er es zwar nicht, aber auf dem Zettel standen Namen. Das konnte er sehen. Ein Kästchen mit einem schmalen Stück Pergament, nach dem ein Junge griff, sich wehrte es abzugeben, das gab ihm Rätsel auf. Manchmal hatte er Ahnungen, dass ihm dieses oder jenes, Gefundenes oder Requiriertes etwas einbringe.
Josef hatte sich inzwischen außer Reichweite des Büttels gebracht. Das Kästchen ist hin und die zwei Geldstücke auch. Doch was war das mit dem Stückchen Papier, das er noch nie darin gesehen hatte. Wo kam das mit einem Male her? Soll der blöde Hund es doch behalten, ging es ihm durch den Kopf. Wenn ihm die Hand bloß nicht so schmerzen würde, hätte er den Zettel schon längst wieder vergessen. Das Getöse und Geschimpfe der Büttel nervte. Sie drängelten und schoben nach und nach die Familie von Raum zu Raum und dann hinaus. Titus Kolbe hatte sich lange gegen die Beschimpfungen, Dreckskerl, elender Lump, nichtsnutziger Gauner, Schurke und andere zumeist die Ehre abschneidenden Ausdrücke, gewehrt. Hedwiga gab sich viel Mühe, die ihr zugedachten schmutzigen und niederträchtigen Gemeinheiten, zu überhören.
»Ich schwöre, einst, wenn die Zeit gekommen ist, werde ich euch alle zur Rede stellen«, hatte Titus gefaucht, als sie durch die Tür geschoben wurden. Dafür hatte er sich dann auch noch einen Faustschlag mitten ins Gesicht eingehandelt, der seine Nase zum Bluten brachte und ihn auf die Knie warf.
»Lass das sein!«, schnarrte Jäckel Grünberg seinen Untergebenen an. Er dachte immer noch an das bräunliche, beschriebene Stück Papier, war mit seinen Überlegungen so weit gekommen, den Zettel dem Hauptmann zu übergeben, denn das könnte sich auszahlen. – Es kann ja sein, dass für ihn etwas abfiel. Jäckel Grünberg steckte den Zettel sorgfältig in seine Jackentasche. »Los jetzt und ab mit euch!« Es war leichtes Gepäck, das zu tragen war.
»Wo sind denn die anderen Sachen?«, flüsterte Titus seiner Frau zu. »Schweig jetzt, Titus. Es ist alles in Ordnung!«, raunte sie zurück.
Die zu bewältigende Wegstrecke bis zum Tor an der »Langen Brücke« zog sich hin. Die Büttel hatten sich ein wenig beruhigt, trotteten gemächlich hinter oder neben den Ausgewiesenen her. Sie waren zu dieser Stunde auch nicht mehr allein auf der langen alten Oderstraße unterwegs. Viele der ihnen Entgegenkommenden sahen weg, andere grüßten laut und deutlich, wünschten alles Gute, verabschiedeten sich mit einem Handschlag, was die Büttel stets versuchten zu verhinderten. Voller Lust ließen sie die Knüppel ihrer Spieße tanzen. Nur wenige sahen den Ausgewiesenen mit Schadenfreude nach. Titus kannte diese Gattung. Sie gehörte auch zu denen, die bei öffentlichen Folterungen und Hinrichtungen von Verurteilten sogar liebend gerne selbst auch noch Hand angelegt hätten. Sie störten ihn nicht. Mit diesen Leuten hatte er nichts im Sinn.
Das Tor war offen. Sie sahen es von weitem. Alles war dort erstaunlich ruhig. Sie wurden erwartet. Doch entgegen seiner Furcht, dass hier die Büttel im Verbund mit der Wache noch einmal schlagfreudig Abschied nehmen würden, auf den er sich innerlich auch vorbereitet hatte, blieb alles ruhig. Es erfolgten kein Schlag, kein Fußtritt und auch keine hämische Bemerkung mehr. Nur einer der alten Wachleute kam auf sie zu und verabschiedete sie. Titus kannte ihn, wusste aber seinen Namen nicht mehr. Sie waren draußen. Der Weg über die lange Brücke und durch die große Lastadie war kein Spießrutenlaufen mehr. – Jetzt sind wir eine heimatlose, ausgewiesene und rechtlose Familie, die auf die Hilfe anderer hofft, ging es Titus durch den Kopf. Es war kein schönes Gefühl. Im selben Moment trat ein breitschultriger Mann auf sie zu.
»Lasst mich eure Last tragen, Frau Hedwiga«, sagte der Hinzugetretene.
»Himmel, das ist ja eine Überraschung! Rupert, du?«
»Dir ist dieser Mann bekannt, Josef?«, staunte der Schriftgewandte. »Na klar! Wir kennen uns schon sehr lange, Vater. Das ist der Schiffszimmermann Rupert.« Josef strahlte ihn mit lachenden Augen an. Mit einem Mal war der Auszug aus der Stadt gar nicht mehr so schlimm.
»Mich hat euer Freund, der Schiffer Johannes Holste, informiert. Ich weiß Bescheid, werde euch alle bis zum Bootsanleger an der Parnitz begleiten und natürlich auch unterstützen. Auf dem Wasserarm wartet er mit dem Schiff. Glaubt mir, Titus Kolbe, es ist mir ein Bedürfnis, euch bis dahin zu begleiten und auch helfen zu können.«
Ohne ein weiteres Wort nahm er der Frau das Bündel von der Schulter und schritt voran. Hedwiga konnte sich nun besser um den Jungen kümmern, der tapfer mit seinen kleinen Beinen den Weg entlang stapfte. Was ist denn hier bloß los? Irritiert musterte Titus den Rupert, der ihm vollkommen unbekannt war und hier so plötzlich auftauchte. Er blickte auf seine Frau und sah auch Josef fragend an. Hedwiga erzählte ihm alles, was während der kurzen Inhaftierung geschehen war, und dass sie recht getan hatten, dem Gerücht und den Vorhaltungen von Johannes Holste Glauben zu schenken.
Titus konnte nur mit dem Kopf schütteln. Freude spiegelte sich in seinem Gesicht und im offenen Blick seiner Augen wider, mit dem er seinen Ziehsohn maß. Wichtig war für ihn, dass durch die Umsicht von Josef, auch die Lade mit den Schriftstücken und einigen anderen Papieren nicht verloren gegangen ist. Ein Neuanfang war so viel leichter und auch sicherer zu beginnen, ganz gleich, wo er mit seiner Familie unterkam. Vielleicht klappt es ja sogar in Gollnow, wie es Freund Johannes der Hedwiga andeutete. So dicht bei Stettin, das wäre gut. Von Gollnow aus könnte man eifrig weiter gegen den Stadtrat von Stettin angehen, ging es ihm durch den Kopf.
Titus Kolbe straffte sich. Er ging aufrechter, spürte die geschulterte Last der Ballen weniger als noch vor geraumer Zeit. Die Nebelschwaden hatten sich zerteilt und aufgelöst. Viele Kopfweiden, die den Weg säumten, traten deutlicher hervor.
»Seht euch nur mal um. Alles, was hier rechts und links vom Weg zu sehen ist, das Acker- und Wiesenland, die Brüche und die Weiden so weit das Auge reicht, sogar der lang gestreckte Wald da in der Ferne sowie auch die fischreichen Gräben zwischen der Oder und der Regnitz, ja sogar die Dörfer Pommerensdorf, Scheune, Krekow und Wussow, die von hier nicht zu sehen sind, all das gehört der Stadt, bringt Geld in die Kasse.« Er wies mit ausgestrecktem Arm in die Runde. »Und nun ist mit einem Mal kein Pfennig vorhanden, um die leidige, zusätzliche Steuer für den Kampf gegen die Hussiten zu zahlen? – Das ist doch lachhaft und böse zugleich!«, tönte Titus mit rot anlaufendem Gesicht.
Er war wieder der Alte, der sich schnell in eine Sache hineinsteigern konnte, sie dann auch mit all seiner Kraft, aus dem Dunkel heraus, ans Licht zerrte, sich, wie erlebt, auch Mund und Hand verbrannte. Die fünf überschritten einen Steg, der einen schmalen Graben querte. »Wir nähern uns der Parnitz«, ließ Rupert vernehmen. Es ist gleich geschafft«.
Nach einer Wegbiegung tauchte sie auf. Nur wenige Schritte neben der Brücke war ein kleiner Anleger zu sehen. Vor dem Steg lag ein Schiff. Es war ein kräftiger Segler mit breitem Bord. Adam hielt es nicht mehr, er kam gelaufen und wandte sich, nach einem förmlichen Gruß, dem Josef zu.
»Na endlich!«
»Fass mal mit an!«, erwiderte Josef. Gemeinsam schleppten sie die Bündel ins Schiff.
»Alle, bis auf Rupert, ins Boot! Hab Dank, Freund! Ihr seid willkommen. Wir müssen jetzt aber hier weg!«
Der Wortschwall erzeugte Hektik. Sie und der wirklich schmale Steg standen der Verwirklichung der Aufforderung des Schiffsführers entgegen. So kam es dann, dass Josef, der glücklicherweise das Bündel noch loslassen konnte, mit einem kühlen Bad und pudelnass Abschied von Stettin nahm, so glaubte er.
Die Stadt entfernte sich bei gutem Wind sehr schnell und kam bald außer Sicht.
Und was soll ich mit diesem zerknitterten Stück Papier anfangen?«, schnarrte der Stadthauptmann den Jäckel Grünberg an, nachdem der Büttel vom Fund des Pergaments und dem sonderbaren, wütenden Verhalten des Jungen berichtet und im Stillen auf ein anerkennendes Wort gehofft hatte. Doch dem schnauzbärtigen Befehlshaber der Stadtwache und der Ordnungshüter waren die Namen, die er laut vorlas, unbekannt: »Dominus Malberg, Antonius Wolter, Ignatius Rollen, Joachim Schnieder, Elsbieta Wollf, Friedericke Grauberg, Wibold Reis, Petrus Becker, Arnulf Weber, Frieda Tetzner, Herta Rosmann, Urbanus Steger, Radolfi Tischmann, Vitus Prediger, Hubertus Gerber, Klaus Stellmacher, Einhard Reich, Benedikt Schepel, Isolde Godmann, Gregor Wobaser, Titus Röhl, Marten Hitzer, Simon Lampert, Benedikt Schröter, Ina Töpfer, Jakob Duplick, Edward Leinemann, Urbanus Steger, Gottfried Tuchmann, Kaspar Bratz, Tomasius Grandner, Gottlob Tuchmann«.
Sie sagten ihm gar nichts. Was die Ziffern betraf, fehlte ihm der Durchblick. Er las die Namen noch einmal, drehte den Zettel hin und her, hielt ihn gegen das Licht und schüttelte sein Haupt. Eine Hand umschloss das massige, stoppelhaarige Kinn. Die geschlossenen Augen täuschten tiefe Nachdenklichkeit vor. Doch ihm war bereits klar, dass er diesen Wisch einem bekannten Dominikanermönch übergeben würde. – Soll der sich mal darüber den Kopf zerbrechen.
Ihn drückten ganz andere Sorgen, die sogar von Tag zu Tag bedrohlicher, größer wurden. Was scherte ihn da so ein verdammter Zettel mit ganz unbekannte Namen, die er nicht einordnen konnte, die auch sicher nichts mit dem nächtlichen Ereignis in der Stadt zu tun hatten. Wieder einmal sind alle Bekanntmachungen mit samt der Tafel verschwunden. Ihn, den Stadthauptmann, träfe die Schuld, hatte der Bürgermeister Johannes Salow voller Ironie und Häme getönt. Der hätte ihn am liebsten abgewatscht, wenn er könnte.
»Ich werde dieses Fundstück einem gut informierten und geistvollen Mönch überlassen. Wenn jemand aus diesem Papier was entnehmen kann, dann ist es wohl der Bruder Mathäus von den Dominikanern aus Paßwalk. Der ist häufig und auch jetzt wieder bei den Karthäusern im Kloster zu Gast. Der Mönch, so weiß man, arbeitet auch dem Ketzermeister zu. Er ist es, der vor Monaten auch den Mann überführte, mitverurteilte und an den Galgen brachte, der sichtlich Stücke bei sich trug, die wider den Christenglauben stehen. Dein Bruder, Grünberg, und seine Gesellen legten ihm dafür den Strick um den Hals«, schnaubte der Stadthauptmann. »Der Mönch wird sich mit ihm und seinen Gesellen dahinterklemmen. Sie werden sicherlich herausfinden, was das Ganze zu bedeuten hat«, näselte er. »Du kannst jetzt gehen. Alles andere übernehmen wir. Über den Zettel und die Namen wirst du schweigen. Ich hoffe, du hast mich verstanden!«
Jäckel Grünberg konnte nur noch mit dem Kopf nicken, da forderte auch schon ein Fingerzeig seinen Abgang. »Diesen Auftritt hätte ich mir ersparen können«, murmelte er vor sich hin. »Anstatt einer Anerkennung bekommt man einen Anschiss.«
In geruhsamem Schritt strebte er dem Rathaus zu, in dem auch seine kleine Truppe untergebracht war. Das laute Kommando »Läufer zu mir!«, das aus dem Raum des Stadthauptmannes schallte, vernahm Jäckel Grünberg schon nicht mehr. Auch den Wachsoldaten, der eilig zum Karthäuserkloster strebte, um den Mönch Mathäus zu holen, der dort meistens seine Unterkunft hatte, bemerkte er nicht. Der Konvent dieses Klosters hatte es vor all den anderen gut verstanden, seine Kapitalien in der Stadt gewinnbringend anzulegen. Er ist neben der Seelsorge zu einem beachtlichen Geldinstitut aufgestiegen. Man erzählt sich in der Kaufmannschaft und bei den Handwerkern, dass Rentenbriefe oder Schuldverschreibungen, von den Karthäusern ausgestellt, bedeutend zahlreicher im Umlauf sind als die von anderen Körperschaften. Bei einem Zinssatz mit sechs von hundert hat sich in der geistlichen Stiftung Reichtum angesammelt. Alle wussten, dass die Lebenshaltung in diesem Kloster einen sehr vornehmen Anstrich hatte, die Mönche ein recht beschauliches Leben führten und in ihren stattlich ausgebauten Mauern allen weltlichen Freuden und Genüssen durchaus nicht abgeneigt waren.
Zielstrebig eilte der Bote zum Kloster. Nach nur wenigen Schritten stand er vor der Pforte des Klosters. Eine kurze Erklärung seines Auftrags genügte und er durfte passieren.
»Der, den du suchst, der ist noch in seiner Zelle. Den Weg kennst du ja«, rief ihm der Mönch noch nach. Der Bote durcheilte einen langen Gang, stieg eine Treppe hinauf und befand sich dann im Besuchsbereich, der sich außerhalb der Klausur in der Nähe des Konversenrefektoriums befand.