Die Stadt unter dem Land - Ralph G. Kretschmann - E-Book

Die Stadt unter dem Land E-Book

Ralph G. Kretschmann

0,0

Beschreibung

Das Geheimnis um die Likedeeler lässt Jasmin Dreyer und Werner Graf nicht los. Ein Mord an der Universität, an der Jasmin arbeitete und der Diebstahl der Bücher, die sie und Graf entdeckten, ruft auch Kommissar Wilkens wieder auf den Plan. Ein uralter Brief birgt ein Geheimnis, dass es zu entschlüsseln gilt und führt Jasmin und Graf nach Ostfriesland, wo sie mehr finden, als sie gehofft hatten. Wo heute grüne Weiden liegen, war vor Jahrhunderten noch ein Ort, von dem nun nichts mehr zu sehen ist und der sie in große Gefahr bringt. Und dann sind da noch ein Mann und eine Frau, die sich nicht scheuen, auch Waffengewalt einzusetzen. Kriminalhauptkommissar Wilkens muss gewaltig einstecken und bringt sich selbst und alle anderen in Gefahr. Was hat es mit einem alten Schwert auf sich, das ein eigentlich Unbeteiligter auf einer Auktion ersteigert hat und weshalb wird dieser von Albträumen geplagt? Der Knoten scheint unlösbar und Jasmin und Graf haben alle Hände voll damit zu tun, sich aus der Gefahr zu befreien. Was ist der Preis für ihre Neugier …?

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 836

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Kurzbeschreibung:

Das Geheimnis um die Likedeeler lässt Jasmin Dreyer und Werner Graf nicht los. Ein Mord an der Universität, an der Jasmin arbeitete und der Diebstahl der Bücher, die sie und Graf entdeckten, ruft auch Kommissar Wilkens wieder auf den Plan.

Ein uralter Brief birgt ein Geheimnis, dass es zu entschlüsseln gilt und führt Jasmin und Graf nach Ostfriesland, wo sie mehr finden, als sie gehofft hatten. Wo heute grüne Weiden liegen, war vor Jahrhunderten noch ein Ort, von dem nun nichts mehr zu sehen ist und der sie in große Gefahr bringt.

Und dann sind da noch ein Mann und eine Frau, die sich nicht scheuen, auch Waffengewalt einzusetzen. Kriminalhauptkommissar Wilkens muss gewaltig einstecken und bringt sich selbst und alle anderen in Gefahr. Was hat es mit einem alten Schwert auf sich, das ein eigentlich Unbeteiligter auf einer Auktion ersteigert hat und weshalb wird dieser von Albträumen geplagt? Der Knoten scheint unlösbar und Jasmin und Graf haben alle Hände voll damit zu tun, sich aus der Gefahr zu befreien. Was ist der Preis für ihre Neugier …?

Ralph G. Kretschmann

Die Stadt unter dem Land

Regionalkrimi

Edel Elements

Edel Elements

Ein Verlag der Edel Germany GmbH

© 2018 Edel Germany GmbHNeumühlen 17, 22763 Hamburg

www.edel.com

Copyright © 2018 by Ralph G. Kretschmann

Covergestaltung: Anke Koopmann, Designomicon, München

Lektorat: Raiko Oldenettel

Korrektorat: Susann Harring

Konvertierung: Datagrafix

Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des jeweiligen Rechteinhabers wiedergegeben werden.

ISBN: 978-3-96215-145-4

www.facebook.com/EdelElements/

www.edelelements.de/

Inhalt

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Epilog

Prolog

Der untersetzte Mann mit dem halblangen braunen Haar sah von seinem Platz auf der Düne hinunter zum Blutgerüst, das sich den Grassbrook entlang zog. Vierundsechzig Schädel waren da angenagelt. Raben und Krähen stritten sich mit den Möwen um ein grausiges Mahl und zupften die letzten Reste Fleisch von den blanken Knochen. Diese Männer waren seine Kumpane gewesen, waren mit ihm über die Wasser der See gesegelt und hatten mit ihm zusammen Schulter an Schulter gekämpft. Jetzt waren sie tot, und er lebte.

Der Braunhaarige atmete tief ein. Er hatte nicht gewollt, dass sie so endeten. Aber er war auch nicht bereit gewesen, ihr Schicksal zu teilen. Der Wind trug Stimmen zu ihm herüber. Leute kamen. Es war Zeit zu verschwinden. Einige von denen, die da kamen, mochten ihn erkennen, und das wollte er um keinen Preis riskieren.

Er zog die Kapuze seines kurzen Umhangs über den Kopf und wandte sich ab. Mit schweren Schritten stapfte er durch den lockeren, nassen Sand die Düne auf der Seite hinunter, die der Elbe abgewandt war, zu dem Pferd, das er dort an einen aufragenden Pfosten gebunden hatte. Friesland war sein Ziel. In Marienhafe lag sein Schiff, harrten seine Männer auf seine Rückkehr. Und Keno ten Broke, der sein Schwiegervater war, seit er dessen Tochter Verena geheiratet hatte. Seine Frau erwartete ihn, zusammen mit seinem Gold, das sie für ihn verwahrte.

1.

Regentropfen rannen an den Scheiben herab, aus denen Kriminalhauptkommissar Wilkens gelangweilt auf den Bruno-Georges-Platz hinuntersah. Sie hatten ihn nach dem glänzenden Erfolg bei seinem letzten Fall zum Kriminalhauptkommissar gemacht. Tolle Wurst, hatte er gedacht, aber schön brav gelächelt, als man ihm die frohe Botschaft überbracht hatte. Und mehr Geld bekam er auch. Mehr Geld! Was nutzten ihm diese paar Euro mehr? Das meiste davon ging doch an seine Ex. Natürlich hatte der Anwalt seiner Geschiedenen sofort nach mehr Kohle für die elende Schlampe gegiert. Wilkens betrachtete es als seinen größten Fehler, dass er damals auf die strammen Titten dieser Wasserstoffperoxidblondine hereingefallen und ihrem Betteln nach Eheschließung nachgekommen war. Kaum waren sie verheiratet gewesen, hatte sie angefangen, Ansprüche zu stellen, und mit den ehelichen Pflichten war es auch nicht weit her gewesen. Wenn überhaupt, dann hatte sie lustlos dagelegen. Seinen Spaß hatte er mit ihr nicht finden können. Dafür hatte er andere Damen bezahlen müssen, die wenigstens ehrlich genug gewesen waren, zuzugeben, dass sie die Beine nur gegen Bares breitmachten.

Wilkens seufzte und ließ seinen schweren Körper auf den gebrechlichen Schreibtischstuhl fallen. Der Kaffee war kalt, und er durfte in seinem Büro noch nicht einmal rauchen. Und die Fenster ließen sich nicht öffnen, um im Geheimen eine zu qualmen.

Neben dem Computerbildschirm auf seinem Schreibtisch stapelte sich ein Berg von unbearbeiteten Akten. Wilkens verspürte keinen Antrieb, den Berg zu verkleinern. Raub, Diebstahl, Körperverletzung. Langeweile zwischen Aktendeckeln. Und auf dem Bildschirm sah es auch nicht besser aus.

Wilkens klickte die offenen Dokumente weg und suchte nach dem Ordner mit der Bezeichnung „Lockmann1401“. Das war seine Chance gewesen, und er hatte sie versaut. Er hatte einen Schatz vor der Nase gehabt und ihn sich durch die Lappen gehen lassen. Lockmann, der mit bürgerlichem Namen Ganzau hieß, saß nun im Gefängnis, mitsamt seinem Rollstuhl. Hatte versucht, Haftverschonung zu bekommen, aber bei all den Toten, die es gegeben hatte, waren jedes Bitten und Betteln und die Eingaben seiner Anwälte vergebens gewesen.

Wilkens starrte auf die Seiten, die er herunter scrollen ließ. Lockmanns Unterlagen, die die Staatsanwaltschaft hatte beschlagnahmen lassen. Oder besser gesagt, die von Professor Doktor Ganzau. Häftling Ganzau … Wilkens lachte trocken in sich hinein. Dem nutzte sein ganzes Geld nun auch nichts mehr.

Außer diesen elektronischen Beweismitteln gab es noch einen Pappkarton mit Unterlagen, den sie in Ganzaus Villa gefunden hatten. Darin lagen weitere Beweismittel, die aus irgendwelchen unerfindlichen Gründen der Staatsanwaltschaft verwehrt worden waren. Wilkens war das erst aufgefallen, als das Verfahren gelaufen war, und er war viel zu lethargisch gewesen, um das Zeug noch nachzureichen. Die hatten genug gehabt, um diesen Professor Doktor zu verknacken. Was sollte es also?

Allerdings … wenn einer seiner dienstbeflissenen Kollegen den Pappkarton aufmachen und erkennen würde, was darin war, würde das Ärger bedeuten. Kein erfreulicher Gedanke. Wilkens beschloss, diese blöde Kiste unauffällig zu entsorgen.

2.

„Das ist eine echte Erdmann-Jacke!“ Der große Mann mit dem Backenbart wendete die Jacke und hielt sie Werner Graf hin. „Steigen Sie doch mal rein. So was gibt es heute gar nicht mehr. Das ist noch echtes, schweres Pferdeleder!“

Graf drehte sich um und schlüpfte in die schwarze Lederjacke, die dem Schnitt seiner alten Kabanjacke ähnelte. Der Kaban war so gut wie ruiniert worden bei seinem kleinen Abenteuer in Mulsum, und er brauchte dringend eine neue.

„Sieht Klasse aus!“, behauptete der Verkäufer. „Schau‘n Sie mal in den Spiegel …“ Graf war sich sicher, dass der Verkäufer das zu allen Kunden gesagt hätte, aber ein Blick in den Spiegel zwischen den Regalen bewies, dass es nicht gelogen war. Sie passte perfekt. Graf knöpfte die zweireihige Jacke mit den glänzenden Knöpfen zu und drehte sich. Werd‘ ich noch eitel auf die alten Tage, dachte er und grinste unwillkürlich.

„Das ist ein altes Polizeimodell. Wir haben noch Restbestände aufgekauft, als die neuen Uniformen eingeführt worden sind“, behauptete der Mann mit dem Backenbart und setzte zu einer langatmigen Erklärung an.

„Ich nehm‘ sie!“, brummte Graf. „Und ich lass sie gleich an.“ Das Wetter war nicht eben freundlich, und die schwere Lederjacke würde ihn besser gegen den kalten Wind schützen, der durch die Straßen pfiff.

Ein paar Minuten später verließ er den Laden und ging mit seiner neuen alten Jacke die Straße zur S-Bahnhaltestelle hinunter. Mit hochgeschlagenem Kragen und die Hände tief in den Taschen vergraben, stapfte er gegen den steifen Wind an. Regentropfen mischten sich in die kalten Böen.

In Gedanken hing Werner Graf den Ereignissen der letzten Wochen nach. Es waren aufregende Wochen gewesen. Sie hatten ihn aus dem gewohnten Trott seiner Frührente gerissen, der sich nun wieder seiner zu bemächtigen versuchte.

Graf stieg in Barmbek um in die U3 und fuhr bis Eppendorfer Baum. Im Eppendorfer Weg kaufte er seinen Lieblingskaffee in der Kaffeerösterei Burg. Der rumpelige, alte Laden strahlte noch immer den kolonialen Charme aus, den er aus seiner Jugend kannte. Er mochte diese Atmosphäre. Der Duft des frisch gerösteten und gemahlenen Kaffees verleitete ihn zu einem Besuch in dem kleinen Café in der Hegestraße, das er fast genauso lange kannte wie die Rösterei Burg, auch wenn das Café mehrfach Ambiente und Besitzer gewechselt hatte. Er wählte ein Stück Käsekuchen zu seinem Cappuccino. Sonst trank er seinen Kaffee schwarz, aber heute war ihm nach etwas Süßem. Er musste sich eingestehen, dass ihm langweilig war. Die Aufregungen der letzten Wochen und die ganze Affäre um Meister Wigbold hatten seinen geruhsamen Alltag umgekrempelt und fehlten ihm. Es waren nur wenige Tage gewesen, aber sie hatten ihm ein Leben gezeigt, das er nicht gekannt hatte. Und ihm fehlte Jasmin Dreyer.

Die junge Frau war so erfrischend gewesen und dazu noch äußerst attraktiv …

Graf wischte die Gedanken beiseite. Er, der alte Sack, und ein so junges Mädchen! Undenkbar … unziemlich in jedem Fall. Trotzdem musste er immer wieder an sie denken.

Wenn er nicht so viel älter wäre als die junge Frau, dann würde er sich ganz sicher um sie bemühen. Aber er war nun einmal alt genug, um ihr Vater sein zu können …

Graf trank seinen Kaffee und aß seinen Kuchen, zahlte und schlurfte wieder zur U-Bahnstation Eppendorfer Baum. Die U3 brachte ihn zum Millerntor, zur Station St. Pauli. Mit dem noch immer frisch duftenden Kaffee unter dem Arm ging er weiter in Richtung Hein-Hoyer-Straße. Aber bevor er in seine Wohnung hinaufging, machte er einen Abstecher in den kleinen Laden für gebrauchte Elektronikartikel. Nachdem er nun schon einen Computer angeschafft hatte, wollte er sich auch ein Mobiltelefon besorgen. Bisher hatte er für so ein Telefon keinen Bedarf gesehen, aber die Zeiten änderten sich und Graf sah ein, dass es Vorteile hatte, von unterwegs telefonieren zu können.

3.

Werner Graf war nicht der Einzige, dem die Aufregung fehlte. Oder anders gesagt, die Spannung, die das Lösen eines Rätsels mit sich brachte. Jasmin Dreyer langweilte sich. Mehr als das, sie war frustriert. Zusammen mit Graf war sie es gewesen, die den Schatz von Magister Wigbold entdeckt hatte. Keinen Schatz aus Gold und Silber, aber einen aus Pergament und Papier. Bücher, die unbezahlbar waren. Und nun saß sie da und scannte.

Man hatte sie in ihren Augen kaltgestellt, abserviert, aufs tote Gleis geschoben. Sie war zu mehr qualifiziert als nur dazu, die unwichtigeren Werke zu scannen! Aber die Universitätsleitung hatte die Leitung einem dummen, alten Mann übertragen. Weil er eine Professur hatte. Weil er vor Jahrzehnten ein Buch über die Entwicklung der karolingischen Minuskel geschrieben hatte. Eine himmelschreiende Ungerechtigkeit! Dabei waren die Bücher, um die es ging, nicht einmal in dieser Schriftart verfasst worden …

Jasmin hatte versucht zu protestieren, aber man hatte ihr zu verstehen gegeben, dass sie sich entweder mit dieser unliebsamen Aufgabe begnügte oder gar nicht am Projekt mitwirkte. Sie begann, die herrschenden Hierarchien dieses Instituts zu hassen.

Jasmin legte also Buch für Buch, Seite für Seite, auf den Scanner, wartete, bis eine Seite gescannt war, blätterte um und scannte wieder. Seite um Seite, wieder und wieder. Und immer schön die richtige Seitenzahl und die Kürzel für die Bücher eingeben. Ermüdend.

Noch zehn oder elf Doppelseiten, dann war sie mit dem Buch durch, das sie in diesem Moment bearbeitete. Eine Zusammenfassung von Inventarlisten eines Kauffahrers aus der Zeit, in der Magister Wigbold und Klaus Störtebeker ihre Beutezüge unternommen hatten. Sie nahm das Buch vom Scanner, blätterte die gescannte Seite bedächtig um, und ein loses Blatt rutschte zwischen den Seiten heraus und fiel zu Boden. Mit ihren behandschuhten Fingern war es nicht einfach, das glatt gepresste alte Papier vom ebenso glatten Linoleumboden aufzuheben.

Jasmin warf einen flüchtigen Blick auf das Blatt, auf dem verblasste Buchstaben in einer veralteten Schrift zu erkennen waren. Unleserlich, wie hingeschmiert, und kaum noch zu erkennen.

Sie legte das Blatt auf ihre Mappe, um es später zu scannen. Wenn sie es jetzt dazwischen schob, würde sie mit der Reihenfolge durcheinanderkommen. Weiter mit dem Buch … umblättern, scannen, speichern.

Die Tür zu dem kleinen Raum, in dem sie arbeitete, wurde geöffnet, und Doktor Lindner spähte durch den schmalen Spalt. Lindner. Ausgerechnet der! Der, der ihr vor die Nase gesetzt worden war. Er sah abschätzig auf Jasmin herunter. „Sind Sie immer noch nicht fertig?“ Allein seine Stimme reichte aus, dass sich ihr die Nackenhaare aufstellten.

„Das braucht eben seine Zeit“, erwiderte sie. „Das sollten Sie eigentlich wissen.“ Sie konnte sich die Bemerkung nicht verkneifen. „Präzision geht vor Tempo.“

Lindner verzog den Mund. „Sparen Sie sich Ihre schnippischen Bemerkungen. Ich bin Ihr Vorgesetzter, und Sie tun, was ich Ihnen auftr…“

Das Buch traf ihn mitten auf der Stirn. Lindner, ein schmächtiger Mann mit hoher Stirnglatze, taumelte zurück, stolperte und fiel nach hinten um, mehr, weil er von Jasmins Reaktion überrascht worden war, als von der Wucht des Treffers durch das eher schmale Buch.

Jasmin war stinksauer. Der Mistkerl hatte den Bogen endgültig überspannt. Wie eine Furie schoss sie von ihrem Drehhocker hoch und auf den am Boden liegenden Mann zu.

„Was bilden Sie sich eigentlich ein? Sie haben Ihre Erziehung wohl im Eiltempo erhalten, oder warum sind Sie so ein Arsch?“ Wütend funkelte sie Lindner an.

„Sie … Sie …“, stammelte der vom Boden aus.

Jasmin beugte sich tiefer zu ihm hinunter. „Sie, Sie! Wissen Sie was? Scannen Sie Ihren Scheiß doch allein, Sie Armleuchter! Inkompetenter Wichser!“ Sie brüllte fast. Im Flur hatten sich einige Türen geöffnet, Kollegen und Studenten waren herausgetreten und starrten auf die beiden Streithähne.

„Ich kündige!“

Sie riss die Glacéhandschuhe von den Fingern und warf sie dem Mann an den Kopf, der da mit hochrotem Kopf auf dem Nadelfilz lag. „Mir reicht‘s, und in einem Laden, der so einen wie Sie für qualifiziert hält, will ich nicht arbeiten!“

Von irgendwo kam verhaltener Applaus. Jasmin richtete sich auf, drehte sich um, schnappte sich ihre Mappe, ihre Jacke und ihren Rucksack und stieg über den glotzenden Linder hinweg.

„Ich wusste immer, dass Sie …“, begann Lindner, der sich langsam wieder fing, aber Jasmin fuhr herum und setzte ihm einen Schuh auf die Brust.

„Halten Sie bloß die Fresse, Sie … Kein Wort mehr, sonst passiert was! Und wenn Sie noch irgendetwas von sich geben, sorge ich dafür, dass Sie Besuch bekommen, Freundchen! Und glauben Sie mir, ich kenne Leute, die noch viel unangenehmer sind, als Sie es sich auch nur vorstellen können!“

Fast hätte sie den Kerl angespuckt, aber auf diesem Niveau wollte sie ihn nicht bedienen. Mit erhobenem Kopf ging sie den Flur hinunter zum Ausgang.

„Schönen Tag noch, Doktor Arsch!“, rief sie und knallte die Tür so heftig zu, wie sie nur konnte.

Das Adrenalin in ihrem Blut reichte aus, um sie bis auf die Straße zu begleiten, dann ließ die Wirkung nach, und Jasmin fragte sich, was sie gerade angerichtet hatte. Ihren Job war sie nun los … Zitternd lehnte sie sich an das Geländer, das den Gehweg von der Fahrbahn trennte. Auf der anderen Seite war es ein gutes Gefühl. Es war schon lange an der Zeit gewesen, dass jemand diesem arroganten Kerl den Mittelfinger zeigte. Vielleicht konnte sie an der Uni eine andere Stelle bekommen. Nur, wollte sie das? Sie hatte früh von einer Karriere an der Universität geträumt, doch die Realität hatte sich sehr von dem unterschieden, was sie sich vorgestellt hatte. Sie war eine Frau, sie war nicht konform und gegen den Strich gebürstet. Eine akademische Laufbahn verlangte, dass man sich an die Regeln hielt und darüber hinaus ein Mann war, wenn man schnell und problemlos die Leiter hinaufklettern wollte.

Jasmin beschloss, sich am heutigen Abend zu besaufen. Es war zwar erst kurz nach zwei, aber in der nächsten Kneipe, die auf ihrem Weg lag, bestellte sie einen dreifachen Wodka. Sie kippte ihn in einem Sturz hinunter, zahlte und suchte sich ein anderes, gemütlicheres Lokal, um sich endgültig die Kante zu geben. So oder so, das hatte sie sich verdient.

4.

Das Telefon klingelte direkt neben ihm, und Graf schrak aus seinen Gedanken hoch. Es hatte einen so schrillen, durchdringenden Ton, dass es Tote erwecken konnte. Er riss den Hörer von der Gabel und hob ihn ans Ohr. Gerade hatte er sich entscheiden wollen, welche Musik er als Nächstes hörte, und meldete sich entsprechend abwesend.

„Graf …“

Die Stimme am anderen Ende der Leitung war verzerrt, und die Person, die da sprach, schien nicht mehr ganz nüchtern zu sein. „Hallo? … Bissu das, Wrnr?“

„Wer spricht denn da?“, wollte Graf wissen.

„Jsmin … samma, bissu suhauseunkannichmavrbeigomm?“

„Wie bitte?“, fragte Graf, der Schwierigkeiten hatte, zu verstehen, was die andere Person sagte. „Ich verstehe Sie nicht …“

„Hieris Jazz …“ Ein tiefer Atemzug ertönte durchs Telefon. „Sorry, ich bin besoff… trunken, glaubich. Kannich rumkomm?“

„Jasmin?“ Graf wurde es heiß. „Aber sicher kannst du vorbeikommen. Ist etwas? Du klingst so … anders!“

Schweres Atmen am anderen Ende der Leitung. „Bingleichda!“, antwortete sie, und fast gleichzeitig klingelte es an der Tür.

Graf ging zur Tür und drückte auf den Summer.

„Sag mal, stehst du unten?“, fragte er, und als Antwort kam ein lang gezogener Rülpser. Dann knackte es in der Leitung, und das Gespräch wurde unterbrochen. Werner Graf öffnete die Tür und konnte hören, wie unsichere Schritte die Treppe heraufkamen.

Zwei Minuten später stand Jasmin Dreyer vor ihm, betrunken und in keiner guten Verfassung. Sie grinste ihn mit einem zusammengekniffenen Auge an. „Kuckuck, da binnich!“

Er trat beiseite, und Jasmin stolperte mehr, als dass sie ging, durch die Tür in seine Wohnung. Sie kannte sich aus, ging schnurstracks ins Wohnzimmer und ließ sich auf die Couch fallen.

„Ich bin besoffen!“, sagte sie mit schwerer Zunge und ließ ihre Tasche zu Boden fallen.

„Ja, das sehe ich!“, erwiderte Graf und setzte sich ihr gegenüber in den Sessel. „Mädchen, was ist los?“

„Egal!“, lallte Jasmin. „Isnichwichtich … ich brauchnfreund.“

Graf sah die junge Frau mit gerunzelter Stirn an. So hatte er Jasmin noch nie erlebt. „Willst du einen Kaffee?“

„Neeeeeee … hassu was zu trinken?“, gab diese zurück. „Wissy, Rum oder Wodga, is egal!“

„Bist du sicher, dass das eine gute Idee ist?“ Graf beugte sich vor und sah Jazz ins gerötete Gesicht.

Die grinste ihn mit schweren Lidern an. „Heute … jawollja, heute issas ‘ne gude Idee.“

„Nun gut, du bist erwachsen!“, konstatierte Graf. Er lehnte sich zurück und griff hinter sich, wo seine Bar stand. Er nahm die Flasche mit dem 12 Jahre alten Kyle‘s Club Rum und stellte sie auf den Tisch. „Warte, ich hole Gläser.“

„Isnichnötich!“ Jazz griff sich die Flasche, entkorkte sie und setzte sie an die Lippen. Sie trank mehrere Schlucke, als sei der alte Rum Wasser, und reichte sie dann an Graf zurück. „Nu Du!“

Graf wunderte sich, nahm die Flasche und dann einen tiefen Schluck. Etwas Einschneidendes musste passiert sein, wenn Jasmin sich dermaßen betrank. „Erzähl mal, was ist los?“

Jasmin nahm ihm die Flasche aus der Hand und genehmigte sich einen weiteren großen Schluck. Sie atmete tief ein, hielt die Luft einen Moment lang an und stieß ihre Antwort aus, als spucke sie auf etwas, was am Boden lag.

„‘ch hab mich gefeuert!“

Graf zog eine Braue hoch und nahm der betrunkenen Frau die Flasche aus der Hand. „Du bist gefeuert worden? Warum denn das?“

Jasmin schüttelte heftig den Kopf. „Nei-en! Die hamm mich nich, ich hab mich selbs gefeuert.“ Mit schwerer Zunge erzählte sie von Lindner und seinem unmöglichen Verhalten, seiner Inkompetenz und ihrem Groll. „Un‘ dann habbich ihm den Job vore Füße geschmissen!“ Ein langer Rülpser entfuhr ihr, und der Geruch von Rum schlug Graf entgegen.

„‘tschuldigung!“, sagte sie und versuchte erneut, Graf die Flasche aus der Hand zu nehmen, aber der streckte den Arm aus und hielt die Flasche außerhalb ihrer Reichweite.

„Langsam! Du hast doch schon genug, findest du nicht?“

„Habbich nich!“ Jazz sah ihn aus geröteten Augen trotzig an. „Isch bin erwaxn un kann mich besaufm wann un wo ich will ...“ Sie stemmte sich vom Sofa hoch, beugte sich vor, in der Absicht, Graf die Flasche abzunehmen. Das misslang gründlich. Mit ausgestrecktem Arm kippte sie nach vorn und landete auf Werner Graf.

„Du hast genug!“, stellte der fest.

Jasmin blieb einfach auf Graf liegen und drückte sich gegen seine Wange. „Ich willabernochmehr!“, nuschelte sie mit weinerlicher Stimme.

Graf stellte die Flasche auf dem Boden ab und hievte die betrunkene Jasmin hoch und zurück auf die Couch. Ihr warmer Körper lag schwer in seinen Armen.

„Ich mach` uns einen Kaffee, was hältst du davon?“

Jasmin schürzte die Lippen und kniff ein Auge zu, um nicht mehr doppelt zu sehen. „Kaffee, pfff!“ Ein Schluckauf unterbrach sie. „Nur, wennu da Rum reintus.“

„Werden wir sehen“, sagte Graf und ging in die Küche. Er hatte grade den Wasserkessel auf den Herd gestellt, als ihn ein dumpfer Schlag erschreckt zusammenzucken ließ. Ein leises Klirren folgte.

Er ließ den Kessel auf dem Herd stehen und ging ins Wohnzimmer zurück.

Jasmin hatte sich die Rumflasche geschnappt und fast völlig geleert. Immerhin war sie noch halb voll gewesen. Jazz lag neben Grafs Sessel am Boden, halb gegen die Vitrine mit den Sammeltassen gelehnt, mit offenem Mund, und schnarchte.

Graf seufzte. Sie war ein trotziges Mädchen, das sich nicht gern etwas sagen ließ, aber genau das mochte er an ihr. Jasmin sah selbst in diesem Zustand einfach nur verlockend aus mit ihren vollen Lippen und dem runden Gesicht …

Er trug das betrunkene Mädchen in sein Schlafzimmer und legte sie auf sein Bett. Das war wohl für ihren Magen zu viel, denn kaum lag sie, öffnete sie die Augen, richtete sich auf, blickte ihn glasig an und übergab sich. Das meiste landete auf dem Boden, genau auf dem Bettvorleger, aber einiges tropfte ihr vom Kinn, auf ihr T-Shirt und über ihre schwarze Jeans. Werner Graf seufzte schwer.

„Miris ja sooo schlecht!“, lallte sie, verdrehte die Augen und kippte nach hinten um.

Graf rollte den vollgekotzten Bettvorleger ein und trug ihn ins Bad. Dort stopfte er ihn in die Waschmaschine, nahm einen Lappen und einen Eimer, den er zu einem Viertel mit Wasser füllte und ging zurück ins Schlafzimmer. Er entfernte das Erbrochene, das nicht auf dem Teppich gelandet war, vom Boden und stellte den Eimer neben das Kopfende des Bettes, für den Fall, dass Jasmins Magen noch mehr Überraschungen parat hatte. Mit einiger Schwierigkeit zog er der Betrunkenen das vollgekotzte Shirt und die Jeans aus. Sie trug keinen Büstenhalter. Graf wurde heiß, aber er bewahrte die Fassung. Hoffentlich, dachte er, hatte sie wenigstens einen … Immerhin. Sie trug einen schwarzen Slip aus Spitze. Graf wischte ihr ein wenig erleichtert das Erbrochene vom Kinn, zog ihr dann die Bettdecke über den Körper und löschte das Licht. Sie atmete regelmäßig und schien sich nicht noch einmal übergeben zu müssen. Die Jeans und das Shirt wanderten zum Bettvorleger in die Waschmaschine.

Der Kessel begann zu pfeifen. Graf brühte einen Kaffee, trank ihn genüsslich mit dem letzten Rest Rum aus der Flasche und rauchte eine selbst gedrehte Zigarette, um zur Ruhe zu kommen. Bevor er sich auf der Couch schlafen legte, sah er ein letztes Mal nach Jazz. Sie lag reglos unter seiner Decke und schnarchte leise. Graf musste lächeln. Ihm fiel ein Abend ein, an dem es ihm genauso gegangen war, und damals war er nicht viel älter gewesen als Jazz heute.

Er nahm sich eine Wolldecke aus der Kommode mit, schaltete das Licht aus, wickelte sich in Hemd und Hose in die Decke und legte sich schlafen.

*

In der Villa in Harvestehude stand zur gleichen Zeit ein hagerer Mann mit eingefallenen Wangen am Fenster und sah in den vom fast vollen Mond beschienenen Garten hinaus. Die Wolken waren aufgerissen, und der Regen hatte aufgehört zu fallen. Der Hagere war unzufrieden mit allem, was er in den letzten Monaten hatte ertragen müssen. Er hatte sich darauf verlassen, dass seine Leute taten, was sie tun sollten, aber das war ein Fehler gewesen.

Er stand wieder am Anfang.

Das kam davon, wenn man sich auf andere verließ. Ganzau saß im Gefängnis, und Trabertin war tot. Und er selbst war keinen Deut weitergekommen. Immerhin war seine Rolle in diesem Spiel nicht ans Licht gelangt. Der Einzige, der über alles im Bilde war, saß im Untersuchungsgefängnis am Holstenglacis. Ein Witz, wenn man bedachte, dass das UG nur ein paar Schritte vom Museum für Hamburgische Geschichte entfernt lag, wo ein Teil dessen lagerte, was er so begehrte.

Ganzau würde nicht reden, da war sich der Hagere sicher, und er hatte schon dafür Sorge getragen, dass das auch so blieb. Mit Geld ließ sich alles regeln. Morgen würde sich das Problem Ganzau, der alles versaut hatte, erledigt haben.

Vielleicht hätte er dem Alten doch die Wahrheit erzählen sollen, statt ihn mit einer Halbwahrheit bei der Stange zu halten, aber das war ihm als zu gefährlich erschienen. Er hatte sich an die alte Geheimdienstweisheit gehalten, dass es besser war, wenn keiner die ganze Wahrheit kannte.

Der Hagere trat vom Fenster zurück und griff zum Telefon. Die Bücher waren zur weiteren Untersuchung an der Universität, das war allgemein bekannt. Er hatte es einfädeln können, dass der angebliche Schädel von Störtebeker aus dem Museum für Hamburgische Geschichte entwendet wurde, damit er ihn selbst untersuchen konnte, und er würde es auch einrichten können, die Bücher aus der Universität in die Hände zu bekommen. Er kannte die richtigen Leute, die solche Aufgaben leise und diskret erledigten.

5.

Jasmin Dreyer konnte sich nicht erinnern, wann sie sich das letzte Mal so schlecht gefühlt hatte. Sie erwachte mit einem fauligen Geschmack im Mund und wusste nicht, wo sie war. Als sie sich aufsetzte, dröhnte ihr Kopf, als läuteten die Glocken von Sankt Michaelis Sturm, und ihr war augenblicklich schlecht. Der Geruch von Erbrochenem hing unterschwellig in der stickigen Luft. Der Eimer neben dem Bett verhieß nichts Gutes. Vorsichtig schwang sie die Beine aus dem Bett und schlug die Decke zurück. Erschrocken stellte sie fest, dass sie halbnackt war. Sie trug nur Socken und ihren Slip. Was war geschehen? Dass sie am Grindel in eine Bar gestolpert war, blieb vorerst ihre letzte Erinnerung. Da hatte sie auch schon gut getankt gehabt.

Offenbar war sie noch weiter gezogen und dann im Bett irgendeines Kerls gelandet … oder nicht? Sie konnte sich einfach nicht erinnern, was dann noch so alles passiert war. Und sie konnte ihre Kleidung nicht finden, so sehr sie sich auch umsah. Jasmin sah ein, dass es keinen Sinn hatte, weiter darüber zu grübeln, was eventuell geschehen war, also wickelte sie sich die Bettdecke um die Schultern und erhob sich sehr vorsichtig. Ihr Magen revoltierte, und nur mit Mühe konnte sie verhindern, dass er sich umstülpte.

Sie ging zur Tür und öffnete sie im Schneckentempo. Der Blick in den Flur, der vor ihr lag, verdeutlichte ihr immerhin, wo sie sich befand. Sie kannte diese Wohnung. Es war die von Werner Graf …

War das nun ein gutes oder ein schlechtes Zeichen? Verdammt, fluchte sie still in sich hinein, was hast du nun schon wieder angestellt? Sie erinnerte sich schwach an den Grund ihres Besäufnisses. Sie hatte diesem dämlichen Doktor Lindner den Job vor die Füße geschmissen. Danach hatte sie angefangen, sich zuzuschütten.

Jasmin drückte die Decke gegen ihren Oberkörper und trat in den Flur. Rechts herum lag das Wohnzimmer.

„Na? Geht‘s wieder?“ Werner Graf saß in seinem Sessel, vor sich einen dampfenden Kaffee, in der Hand eine glimmende Zigarette und aus der Stereoanlage klang leise ein Song, den Jasmin irgendwoher kannte. Pink Floyd? Dark Side of the Moon? Das passte irgendwie. „Willst du einen Kaffee?“

Jasmin nickte, und ihr Kopf beantwortete die Bewegung mit lautem Pochen. „Gern!“ Ihre Stimme klang, als habe sie vierzig Jahre lang den Blues gesungen, kratzig, rau und belegt.

Sie ließ sich zögernd auf die Couch sinken.

Graf erhob sich und grinste breit. „Dann werd‘ ich dir mal einen brauen“, sagte er und ging aus dem Raum. Jazz hörte ihn in der Küche werkeln und versuchte, sich zu erinnern, was in der letzten Nacht passiert war, nachdem ihr der Film gerissen war. Hatte sie sich mit Graf eingelassen? Sie war fast nackt in seinem Bett aufgewacht, und das ließ doch einige Vermutungen zu. Graf war nett, sympathisch sogar, und er sah für einen Kerl in seinem Alter auch wirklich gar nicht so übel aus, aber er war so alt … er könnte ihr Vater sein!

Werner Graf kam mit dem frisch gebrühten Kaffee zurück und stellte ihn vor Jasmin hin. „Mit zwei Löffeln Zucker. So magst du ihn doch, richtig?“

Sie nickte, und ihr Kopf protestierte sofort, ebenso wie ihr Magen. „Danke.“ Sie musste sich zu den ersten Schlucken zwingen, aber der heiße Kaffee tat ihr gut. Graf hatte sich wieder gesetzt und eine neue Zigarette gedreht. Die andere war im Ascher verglüht.

„Hab ich mich sehr daneben benommen?“, fragte sie, nachdem sie die ersten Schlucke getrunken und ihr Magen sich halbwegs beruhigt hatte. Erwartungsvoll sah sie zu Graf hinüber. Dieser lachte leise. Das Make-up um Jasmins Augen war verrieben, und sie sah aus wie ein Häufchen Elend. „Ging so. Aber du hast alles vollgekotzt. War wohl doch ein Glas zu viel, gestern.“

Jasmin lief rot an. „Tut mir echt leid …“, sagte sie kleinlaut und sank in sich zusammen.

„Musst du dich nicht für entschuldigen, mien Deern“, meinte Graf lächelnd. „Glaubst du, das ist mir noch nicht passiert? Was glaubst du, was ich alles angestellt habe, als ich noch jünger war.“

Jasmin lächelte schmal. Es war süß, dass Graf versuchte, ihr sozusagen Absolution zu erteilen, aber das änderte nichts an ihren Kopfschmerzen und dem furchtbaren Gefühl in der Magengegend.

„Und ich finde, du hattest einen guten Grund, dich zu besaufen.“ Graf trank von seinem Kaffee und zündete sich die Selbstgedrehte an.

„Danke.“ Jazz deutete auf die glimmende Zigarette zwischen Grafs Fingern. „Kann ich auch eine haben?“

„Klar!“ Graf schob ihr das Päckchen Tabak und die Blättchen hinüber.

„Ich kann immer noch nicht richtig drehen …“, bemerkte Jasmin schwach und schaute ihn bittend an. Wortlos begann er, eine Zigarette zu rollen, die er Jasmin reichte, und gab ihr Feuer. Jasmin beugte sich vor, um die Spitze der Zigarette über die Flamme des Feuerzeugs zu halten, und zog. Dabei verrutschte ihr die Decke und entblößte ihre Brust. Sofort lief sie rot an und bemühte sich, die Decke wieder hochzuzerren.

„Na, na! Hab ich gestern schon gesehen“, sagte Graf und ärgerte sich sofort über den väterlichen Unterton.

Jasmin runzelte die Stirn. „Wir haben doch nicht etwa …?“

„Haben wir nicht, keine Sorge!“, gab Graf zurück. „Aber ich konnte dich ja schlecht in deiner Kotze liegen lassen. Ich hab` deine Jeans und das Hemd gewaschen. Beide hängen in der Küche auf dem Wäscheständer und müssten eigentlich bald trocken sein. Willst du so lange ein Hemd von mir überziehen?“ Jasmin nickte bleiern. Nur keine heftigen Bewegungen!

Graf ging und holte eines seiner Oberhemden. Er hätte ihr auch ein T-Shirt von sich geben können, aber das würde eng anliegen, und er hatte fürs Erste genug Brust gesehen.

Er gab Jazz das Hemd und ging in die Küche, um einen neuen Kaffee zu brühen. Als er wiederkam, schloss sie eben den letzten Knopf. Oder wenigstens den, den sie als letzten zuknöpfte, denn oben stand das Hemd noch weit offen. Graf verdrehte die Augen und versuchte, die Gedanken zu vertreiben, die der Anblick hervorrief. Er stellte die Tassen mit frischem Kaffee hin und setzte sich.

Jasmin hatte ihre Tasche entdeckt, die noch immer neben der Couch stand, dort, wo sie sie am Vorabend hatte fallen lassen. Sie hob die Tasche auf und begann, darin zu kramen. Hatte sie nicht irgendwo noch eine Ibuprofentablette gehabt?

„Suchst du etwas?“, fragte er.

„Ich glaub, ich hab da noch eine Kopfschmerztablette …“, murmelte die junge Frau, ohne den Blick zu heben.

„So schlimm?“, meinte Graf und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. „Ich habe Aspirin da. Soll ich dir eine holen?“

„Wenn du mir sagst, wo die sind, dann hole ich mir selbst eine“, schlug Jasmin vor, die nicht wollte, dass Graf schon wieder für sie aufstand.

„Im Bad, im Spiegelschrank, zweite Schublade von oben“, erklärte er.

Jasmin schob sich vom Sofa und verschwand im Flur. Ihre Pobacken blitzten unter dem Oberhemd hervor wie zwei … Verdammt! Er schloss die Augen und seufzte. Das war alles zu viel für einen alten Mann, sagte er sich.

Mit einem Blister Tabletten in der Hand erschien die junge Frau wieder. Sie drückte eine der Tabletten aus der Verpackung und spülte sie mit einem Schluck Kaffee hinunter. „Danke, Werner.“

„Da nicht für!“ Graf wusste genau, wie sie sich fühlte. Jasmin begann damit, die Sachen, die sie aus ihrer Tasche herausgeholt hatte, wieder in sie hineinzustopfen. Da war auch ein vergilbtes Papier, noch fast ganz glatt. Sie starrte drauf und runzelte die Stirn. Das Blatt … wo kam das denn her?

Sie untersuchte es skeptisch, und langsam kam die Erinnerung zurück. Es war zu Boden gefallen, und sie hatte es aufgehoben und auf ihre Mappe gelegt. Als sie überhastet ihren Job diesem Idioten Lindner vor die Füße geschmissen hatte, hatte sie die Mappe mitsamt dem Blatt in ihre Tasche gestopft. Sie musste es zurückbringen …

„Was hast du denn?“, fragte Graf nach einer Weile. Für Minuten saß Jasmin da und blickte auf das augenscheinlich leere Blatt Papier.

„So schweigsam?“

Jasmin hob den Blick und sah Graf an. Sie hatte nicht bemerkt, wie lange sie wortlos dagesessen hatte.

„Oh … ich hab nur … aus Versehen das hier eingesteckt. Ist aus einem der Bücher aus Wigbolds Nachlass. Aus einem, das ich gerade gescannt habe, als mir dieser Kretin auf den Zeiger gegangen ist.“

„Zeig mal“, sagte Graf, beugte sich vor und nahm Jasmin das Blatt aus der Hand. Er musterte das Papier eingehend. Auf dem gelblichen Grund waren blasse bläuliche Zeichen zu erkennen. Dicht an dicht schien es damit beschrieben zu sein.

„Das kommt mir irgendwie bekannt vor“, meinte er irgendwann und reichte Jasmin das Papier zurück. „Ein altes Pergament, geheimnisvolle Zeichen und ein Rätsel. Ist das wieder so etwas?“

„Das wäre schon seltsam“, befand Jasmin. „Aber wer weiß?“ Sie hielt das Blatt hoch, gegen das Licht, so dass es halb transparent wurde. Sie erkannte, dass das Papier von beiden Seiten beschrieben war, aber die verblasste Schrift war zu dünn und undeutlich, als dass sie mehr als einzelne Buchstaben hätte ausmachen können. „Ich müsste es scannen. Vielleicht kann ich dann mehr draus machen.“

„Dann mach es doch!“, sagte Graf und grinste süffisant.

Jasmin sah ihn mit gerunzelter Stirn an. „Hast du dir auch einen Scanner zugelegt?“

Graf nickte. „Jawoll, so ist es. Werner Graf ist auf der Höhe der Zeit, technisch gesehen“, bestätigte Graf. „Ist da drüben …“

„Gut.“ Jasmin legte den Kopf auf die Seite. Langsam ließen die Kopfschmerzen nach. „Aber hast du auch das richtige Programm? Das, mit dem ich arbeite?“

„Öh …?“, machte Graf und seufzte dann. „Ich muss noch so viel lernen.“

Jazz zuckte mit den Schultern. „Da bist du nicht der Einzige.“ Sie schob das Blatt über den Tisch zu Graf hinüber. „Scann es, ich mache den Rest zu Hause.“ Sie kramte kurz in ihrer Tasche und reichte Graf einen kleinen schwarzen USB-Stick. „Speichere es hier drauf, dann kann ich den Scan mitnehmen.“

Während Graf im Arbeitszimmer verschwand, ging Jasmin in die Küche. Wie Graf gesagt hatte, hingen ihre Jeans und ihr Shirt über dem Wäscheständer. Das Shirt war schon völlig trocken, die Jeans nicht so ganz, aber Jasmin zog sie trotzdem über. Die restliche Feuchtigkeit würde schon verdunsten, wenn sie die Hose trug.

Graf kam recht schnell zurück und gab Jasmin Stick und Papier zurück. „So, ist gespeichert. Ich muss noch in die Stadt … kommst du mit oder willst du dich noch erholen?“

„Geht schon wieder. Ich begleite dich bis zur U-Bahn.“

Sie reichte Graf das Hemd, das er ihr geliehen hatte. „Und danke noch mal für deine Hilfe …“

Graf lächelte. „Gern geschehen.“

*

Der Blick auf die Elbe war von Nebel und feinem Sprühregen verhangen, als Brodersen aufstand. Wenn das Wetter keine Kapriolen drehte, war der Ausblick überwältigend. Das musste er auch sein, bei dem Preis, den sein Appartement gekostet hatte. Er hatte fast eine halbe Million für die sechs Zimmer mit Bad und Balkon zahlen müssen. Und dabei hielt sich der Luxus der Wohnung selbst durchaus im Rahmen. Seinen Kollegen hatte er erzählt, er habe geerbt. Dem Finanzamt gegenüber hatte er Erspartes und geschenktes Geld von Verwandten geltend gemacht. Als Sicherheitsbeauftragter verdiente er nicht schlecht, aber nicht gut genug, um sich mit kaum vierzig Jahren solch eine teure Wohnung kaufen zu können.

Brodersen verdiente sich etwas dazu, um sich diesen Luxus und andere Dinge leisten zu können. Dabei half ihm, dass er absolut skrupellos war. Diebstahl, Einbruch, Raub und, wenn gefordert, Schlimmeres waren für ihn ein Nervenkitzel, für den er auch noch bezahlt wurde – und das nicht schlecht! Die Wohnung mit Blick auf die Elbe in Neumühlen und der Ferrari in der Garage waren dafür der schlagende Beweis.

Als Sicherheitsbeauftragter kannte Brodersen jede Sicherungsmethode, jedes Schloss und jede Alarmanlage, als hätte er sie selbst entworfen. Er war bei der Bundeswehr in einer Spezialeinheit gewesen, hatte so gut wie jede Kampfausbildung erfolgreich absolviert und dabei geholfen, so manchen Ganoven hinter Schloss und Riegel zu bringen. Bei der Polizei war er bei undurchsichtigen Einbrüchen ein gern zu Hilfe gerufener Experte und genoss den Ruf eines integren Bürgers.

Was konnte besser sein, wenn man in Wirklichkeit auf der anderen Seite des Gesetzes stand?

Brodersen genoss den frischen Espresso aus seiner sündhaft teuren De'Longhi-Kaffeemaschine. Früh am Morgen gab es für ihn nichts Besseres. In einer Stunde musste er in der Firma sein. Zeit genug, um in Ruhe wach zu werden und seine Mails zu checken. Unter den üblichen E-Mails befand sich eine, die sein Herz höher schlagen ließ.

„25.000“, stand da, und dahinter eine Zahlenreihe. Der Code sagte ihm, dass an einer bestimmten Stelle ein neuer Auftrag auf ihn wartete, für den er fünfundzwanzigtausend Euro kassieren würde. Die Zahlen sagten ihm auch, dass es sich dabei um einen Einbruch handelte. Wo er einbrechen sollte und was er stehlen sollte, das würde er an der bezeichneten geheimen Stelle erfahren, wo üblicherweise ein Umschlag auf ihn wartete, der weitere Informationen enthielt. So etwas nannte man wohl einen „toten Briefkasten“, obwohl es sich nicht um einen Briefkasten handelte, sondern um eine Toilette in der Innenstadt.

Brodersen fuhr den Rechner runter und kleidete sich an. Den Ferrari ließ er in der Garage. Zur Arbeit fuhr er mit dem HVV. Es war immer wieder erfrischend, bis zu den Landungsbrücken mit der Elbfähre zu fahren und von dort mit der U3 bis zum Rödingsmarkt. Das war schneller und einfacher, ganz besonders wenn man bedachte, wie schwierig es war, in der Innenstadt einen passenden Parkplatz für seinen italienischen Sportwagen zu finden.

Brodersen fuhr heute ein paar Haltestellen weiter. Am Rathausmarkt stieg er aus und ging durch die Unterführung zur Europapassage hinüber. Dort suchte er in der untersten Etage die Toilette auf. Er wartete, bis eine bestimmte Kabine frei war, schloss sich dort ein und öffnete den Toilettenpapierhalter. Ein leichter Druck an einer bestimmten Stelle, dann öffnete sich das vermeintlich eingemauerte Fach. Dahinter befand sich ein schmales Versteck und in diesem ein Zettel. Brodersen nahm ihn an sich, steckte ihn ungelesen ein und verließ die Kabine und die Toilette. Die Nachricht konnte er später noch lesen.

Jetzt wurde er in der Firma erwartet. Ein Kunde hatte sich angemeldet, der ein Schließsystem mit Alarmanlage für seine Villa in Pinneberg kaufen wollte. Ein lukrativer Auftrag, bei dem der Firmenchef seinen Sicherheitsexperten unbedingt dabei haben wollte. Und Brodersen interessierte sich brennend für diesen Kunden.

Der andere Auftrag war Fünfundzwanzigtausend wert, mehr musste er vorerst gar nicht wissen. Er erledigte immer eins nach dem anderen. Damit war er stets gut gefahren, und so würde er es auch weiterhin halten.

6.

Es tat ihr gut, zu arbeiten. Die Tablette hatte geholfen, und die Kopfschmerzen hatten sich verflüchtigt, aber das flaue Gefühl im Magen und der schale Geschmack im Mund ließen sich einfach nicht mit einer Tablette verscheuchen. Sie wusste, dass sie etwas essen sollte, aber allein der Gedanke an Nahrungsaufnahme verursachte ein dezentes Übelkeitsgefühl, das sie nicht steigern wollte, indem sie wirklich etwas aß. Und selbst ihr starkes Mundwasser hatte den Geschmack auf ihrer Zunge nicht bewältigen können.

Jasmin hatte das gescannte Abbild des Papiers auf dem Bildschirm und überlegte, wie sie vorgehen sollte. Sie speicherte eine Arbeitskopie und legte los. Das Blatt hatte nicht ganz die Größe eines DIN A4-Blattes, war von gelblicher Grundfarbe, auf dem eine blassblaue Schrift zu erkennen war. Sie erhöhte den Kontrast und drehte an den Farbreglern. Die Schrift trat nun deutlicher hervor, aber noch immer ließen sich nur vereinzelte Wörter oder Silben erkennen.

Jasmin öffnete ihren Browser und loggte sich im Universitätsserver ein. Wie sie vermutet hatte, funktionierte ihr Account noch. Es würde seine Zeit dauern, bis die Uni ihren Zugang löschen lassen würde. Sie kannte die Mühlsteine der Universitätsbürokratie, die langsamer kaum mahlen könnten.

Jetzt hatte sie Zugriff auf Programme, die ihr kleiner Laptop nicht einmal hätte abspeichern können. Jasmin lud ihre Arbeitskopie hoch und begann, spezielle Filter über das Dokument laufen zu lassen. Langsam, aber sicher wurde mehr und mehr von der Schrift deutlich. Sie lud das Resultat vom Uni-Server herunter und wiederholte das Prozedere mit der Rückseite des Papiers. Es dauerte einige Minuten, dann hatte sie auch diese Seite bearbeitet und lud sie ebenfalls auf ihren Rechner. Danach löschte sie Arbeitsspeicher und Cache des Universitätsservers und loggte sich aus.

Jasmin trennte ihren Laptop vom WLAN und lehnte sich zurück. Ein Wirbel knackte in die Stille hinein. Sie fühlte sich besser und beschloss, einen Tee zu machen, bevor sie das Ergebnis ihres elektronischen Ausflugs genauer unter die Lupe nahm.

Einen Tee zu machen bedeutete für Jazz das Ritual, einen Beutel Hagebuttentee in eine Tasse mit heißem Wasser zu hängen, zwei Löffel Zucker hinein zu rühren und bis einhundert zu zählen. Das fruchtige Aroma half gegen den Geschmack im Hals …

Das Papier war Teil eines Briefes, wie Jasmin schnell feststellte. Die eine Seite begann mitten im Satz, der aber nicht zum letzten Wort der anderen Seite passte. Damit war klar, welches die erste und welches die zweite Seite war. Jasmin nahm einen Schreibblock und ihren alten Schulfüller zur Hand und begann vom Schirm abzuschreiben, was sie entziffern konnte.

Während sie schrieb und versuchte, Lücken logisch zu füllen, dämmerte ihr, dass es sich um einen Brief handelte, den Wigbold, dessen Büchersammlung das Blatt Papier ja entstammte, an einen Menschen mit dem Namen Grobherz geschrieben hatte. Ein seltsamer Name, der Jasmin bekannt vorkam, den sie aber nicht einordnen konnte.

Dieser Grobherz schien laut Inhalt der Sohn eines Mannes mit gleichem Nachnamen gewesen zu sein. Der Vater war enthauptet worden, und Wigbold drückte dem Hinterbliebenen sein Mitgefühl aus. Auf der zweiten Seite wurde es interessanter. Wigbold schrieb von einem anderen Mann, dessen Name Jasmin gut kannte und von dem schon jeder in Hamburg gehört hatte.

Störtebeker.

Ihr Herz schlug schlagartig höher. Wenn nur die Hälfte von dem, was sie da lesen konnte, der Wahrheit entsprach, dann handelte es sich bei diesem unscheinbaren Stück Papier um das wertvollste Stück aus dem sogenannten Schatz des Magister Wigbold.

Leider fehlten auf der zweiten Seite viele Worte, aber Jasmin konnte sich zusammenreimen, was die Essenz des Briefes war. Sie lud die bearbeiteten Bilder auf den Stick zurück und löschte alle Dateien von ihrem Rechner, aus sämtlichen Zwischenspeichern und aus dem Papierkorb. Vielleicht war sie paranoid, aber eigentlich durfte sie dieses Blatt, dieses zeithistorische Dokument, gar nicht besitzen. Eigentlich sollte es in den Archiven der Universität aufbewahrt werden. Also war es besser, wenn nichts, was mit diesem Artefakt zu tun hatte, mit ihr in Verbindung gebracht werden konnte.

Es war erst siebzehn Uhr, aber Jasmin fühlte sich trotz der Aufregung, die sie empfand, müde und zerschlagen. Sie überzeugte ihren Magen davon, dass ein Joghurt kein Mordanschlag war, und legte sich schlafen. Nichts half besser gegen einen ausgewachsenen Kater als ein wenig Schlaf …

Jasmin fiel ins Koma, schlief tief und fest. Aber wer früh ins Bett ging, wachte auch früh wieder auf. Der Wecker zeigte Viertel vor vier, als sie die Augen wieder aufschlug. Draußen herrschte noch tiefe Nacht, und die sonst so lebendigen Straßen Hamburgs lagen still und fast menschenleer.

Sie versuchte, noch weiter zu schlafen, aber ihr Kopf machte ihr einen gehörigen Strich durch die Rechnung. Kaum hatte sich ihr Bewusstsein an die Oberfläche gekämpft und die Steuerung übernommen, fielen ihr ihre Erkenntnisse vom vorangegangenen Tag ein. Von da an hatte sie Probleme, ihre sich überschlagende Fantasie zurückzuhalten.

Um vier Uhr gab Jasmin auf und schwang sich aus den Federn.

Sie brühte sich einen Kaffee, verlängerte ihn mit Milch und gab drei Löffel Zucker in den Oversize-Becher. Eine Zigarette. Dumme Angewohnheit. Werner Graf hat einen schlechten Einfluss auf mich, dachte sie und kam sich vor, als habe sie ihn beleidigt. Was sollte das denn nun? Graf war mit Sicherheit kein schlechter Einfluss. Jazz schüttelte den Kopf. Reset, andere Gedanken. Störtebeker. Ein Blick auf die Uhr. Noch war es zu früh, Werner anzurufen. Ab acht Uhr konnte sie davon ausgehen, dass der alte Mann aufgestanden war. Aber noch nicht jetzt. Halb fünf in der Früh.

Jasmin legte eine CD in den Player und machte sich über den Abwasch her. Wenn sie schon so früh wach war, konnte sie die Zeit auch nutzen. The Clash. London calling. Viel zu leise, diesen Song sollte man immer in voller Lautstärke hören. Nicht um fünf Uhr morgens, mitten in Hamburg, umgeben von Dutzenden von schlafenden Menschen. Der Shitstorm wäre vorprogrammiert.

Ein zweiter Kaffee mit Milch, eine weitere Zigarette. Der Tabak war zu trocken und brannte auf der Zunge.

Halb sechs. Sie zog sich an, packte ihren Laptop ein und beschloss, Graf nicht anzurufen. Sie würde bei ihm zum Frühstück einfallen. Unterwegs ein paar Croissants und Quarkbällchen besorgen und mit fröhlichem Gesicht vor Grafs Tür auftauchen. Sie würde so losgehen, dass sie gegen acht Uhr in der Hein-Hoyer-Straße eintraf.

Sie hielt es einfach nicht mehr aus herumzusitzen. Die Luft war frisch, und Jasmin zog den Totenkopfschal eng um den Hals. Nur keine Kälte an die Haut lassen. Die Hände tief in ihre Taschen gestopft, marschierte sie die Straßen hinunter. Ein heller Streifen am Himmel versprach den Morgen. Noch brannten die Laternen. Die ersten Angestellten stolperten zwischen den Pfützen des Vortags herum und suchten ihren Weg zur Arbeit.

Der Bäcker hatte schon auf. Jasmin kaufte zwei Croissants, zwölf Quarkbällchen und eine Apfelschnecke, die sie sofort aß. Noch einen Coffee to Go. Eine der besseren Neuerungen der letzten Jahre.

Mehr und mehr Menschen bevölkerten die Straßen. Jasmin konnte sich Zeit lassen. Sie schlenderte mehr, als dass sie ging, durch Nebenstraßen und abgelegene Parkstücke. Sie passte ihre Geschwindigkeit so gut ab, dass sie um fünf Minuten vor acht Uhr in der Frühe vor der Tür des Hauseingangs in der Hein-Hoyer-Straße stand, der zum Aufgang zu Werner Grafs Wohnung führte, und den Finger auf den abgenutzten Klingelknopf drückte. Es dauerte einen Moment, bis die Gegensprechanlage knackte.

„Ja?“ Grafs Stimme klang dumpf und belegt.

„Jasmin!“, flötete sie in das Sprechgitter. „Ich hab Frühstück mitgebracht!“

Statt einer Antwort knackte es laut, und unter metallischem Sirren wurde die Tür entriegelt. Jasmin drückte sie mit der Schulter auf und schob sich in den Hauseingang. Oben an der Treppe angekommen, schloss sie die offen stehende Wohnungstür und rief Werners Namen.

„Küche!“, kam es halb erstickt aus dem hinteren Teil, gefolgt von einem heftigen Husten.

Werner Graf saß hustend am Küchentisch. Vor sich hatte er einen Becher Kaffee und einen Aschenbecher stehen. Im Ascher lag eine Shagpfeife, aus der noch ein dünner Rauchfaden aufstieg. Graf räusperte sich und klopfte sich auf die Brust.

„Verschluckt, als die Klingel ging“, erklärte er. „Setzt du Wasser auf? Ich mach den Rest.“

Zwei Tassen frischen Kaffees und Jasmins Gebäck wanderten auf ein kleines Tablett.

„Vorsicht!“, rief Jasmin.

Fast wäre Graf auf eine der goldenen Putten getreten, die zu Dutzenden an den Wänden hingen. Jasmin bückte sich, hob die nur leicht angeschlagene Figur auf und suchte an der Wand die Stelle, wo sie gehangen hatte.

Graf stellte Gebäck und die Tassen auf den Couchtisch und ließ sich in seinen Sessel fallen.

„Nu erzähl schon“, forderte er Jasmin auf. „Was ist so wichtig, dass du mich zu so früher Stunde besuchst?“

Sie zog ihre Tasche zu sich heran und entnahm ihr ein paar eng beschriebene Zettel und den historischen Brief.

„Ich hab‘s lesbar gekriegt“, sagte sie mit ein wenig Stolz in der Stimme. „Und was da steht, ist ein Hammer. Historisch betrachtetet, meine ich. Es geht um … und jetzt halte dich fest …“ Sie legte eine Kunstpause ein, die einen Tick zu lang ausfiel.

„Mädel, nu sag schon!“, seufzte Graf, bevor sie von selbst fortfahren konnte. Sie warf ihm einen kurzen bösen Blick zu.

„Störtebeker!“

Erwartungsvoll sah sie Graf an. Der starrte ungerührt zurück. „Störtebeker. So“, wiederholte er nach einer Weile. „Und?“

„Ja, was und …?“ Jasmin gestikulierte lebhaft mit den Händen. „Es geht um Störtebeker. Den Piraten. Freibeuter. Likedeeler!“

„Der schon wieder“, sagte Graf und rückte in seinem Sessel vor, um den Kaffeebecher besser erreichen zu können. „Was ist denn mit Störtebeker? Wenn du mich in dein Geheimnis einweihen könntest, dann wäre ich ja vielleicht in der Lage, deinen Enthusiasmus zu teilen.“ Er schlürfte an seinem Kaffee und schaute Jasmin erwartungsvoll an.

„Oh … wo fang ich an? Du kennst ja die Geschichte um Störtebeker. Und dass er enthauptet wurde, hier in Hamburg.“

Graf nickte. „Das hatten wir sogar in der Schule. Störtebeker wurde am 20. Oktober 1401 auf dem Grassbrook enthauptet. Mit einem Haufen anderer Freibeuter. Unser Lehrer, Herr Stauer, war Störtebeker-verrückt und hat uns damit fast ein ganzes Jahr lang traktiert.“

„Und wenn ich dir nun sage, dass das vielleicht ganz falsch ist, was er euch beigebracht hat?“ Jasmin lehnte sich weit vor und blickte Graf ernst an. „Wenn ich dir jetzt sage, dass Störtebeker im Jahr 1404 noch gelebt hat?“

Graf zog eine Braue hoch. „Dann bin ich gewillt, eher dir zu glauben als Herrn Stauer. Sieh mal an, der Störtebeker. Und das steht auf dem Wisch da?“

Jasmin lachte. „Nicht direkt. Aber ich habe hier ein Textfragment, das besagt, dass Grobherz mit Störtebeker eine Fahrt antreten wollte, und das zu einem Zeitpunkt, da der schon tot sein sollte. Du erinnerst dich? Grobherz war Störtebekers Steuermann. Und dieser Steuermann hat etwas für seinen Sohn hinterlassen, das der sich holen sollte, wenn der Vater es nicht schafft, zu seiner Familie zurückzukehren.“

Stille.

Graf ließ erst einmal sacken, was er gerade gehört hatte. Dann atmete er tief durch.

„Und? Steht da auch, wo das, was er hinterlassen hat, zu finden ist?“

„Na ja … ein bisschen etwas von einer Wegbeschreibung. Aber unser antiker Zettel ist nur eine Seite von mehreren. Der Brief ging noch weiter. Wir haben nur den Mittelteil.“

„Dann ist es doppelt blöd, dass wir keinen Zugang zu den Büchern aus dem Turm haben. Die werden dich kaum in die Universitätsabteilung reinlassen.“

„Wohl kaum …“, bestätigte Jasmin mit angeekelter Miene.

„Es sei denn, du kriechst zu Kreuze …“

„Das kannst du knicken, aber so was von!“, fuhr Jasmin auf.

Graf hob abwehrend die Hände. „Ich mein ja nur!“

„Mein was anderes! Ich werde diesem Widerling nicht hinten reinkriechen!“

„Ist ja auch richtig so!“ Graf zuckte mit den Schultern. „Und wenn ich mal nachfrage? Ich hab den sogenannten Schatz ja mit gefunden. Maßgeblich beteiligt, hat dieser Kommissar das genannt. Wie hieß der noch gleich?“

„Wilkens“, antwortete Jazz. „Der ist jetzt Hauptkommissar.“

„Sieh an …“, gab Graf abwesend zurück. Vielleicht war das gar kein so dummer Gedanke. Weshalb sollte er nicht mal nachfragen, wie es mit den Büchern aussah, die er selbst mit gefunden hatte?

*

Hauptkommissar Wilkens warf den Pappkarton auf den Boden und beförderte ihn mit einem Tritt unter seinen Schreibtisch. Er hatte den blöden Kasten gestern den ganzen Tag herumgefahren, nachdem er ihn in den Fußraum vor dem Beifahrersitz geworfen und vergessen hatte. Erst heute Morgen war er ihm wieder eingefallen, und er wollte nicht wieder mit dem Pappkarton zur Arbeit fahren.

Also hatte er sich hinunter gequält, war zu seinem Wagen geschlichen, hatte den Karton aus dem Twingo geholt und war die Treppen wieder hoch gekrochen. Er hasste diese Stufen!

Er wartete, bis er wieder zu Atem gekommen war, sprühte sich noch eine zusätzliche Dosis seines Rasierwassers auf Hals und Hände und wechselte seine braune Velourlederjacke, die über dem Bauch spannte, gegen Weste und Anzugjacke. Er stopfte den Gummizug seiner Krawatte unter den Hemdkragen und überprüfte, ob er alles dabei hatte. Dienstausweis, Waffe, Marke, Autoschlüssel.

Der Verkehr war erträglicher, als Wilkens erwartet hatte, was seine Laune ein wenig hob.

Im Büro überfiel ihn sein Kollege gleich mit dem neuesten Fall.

„Zieh gar nicht erst das Sakko aus, Wilkens! Mord an der Uni! Frühstücken kannst du später!“ Ehe Wilkens sich versah, saß er neben dem Kollegen Heidmüller hinten im Wagen und brauste mit aufgedrehtem Martinshorn durch die Stadt, den Rotherbaum hinunter.

„Was ist denn passiert?“, schnaufte Wilkens, dem es neben dem muskulösen, breitschultrigen Kollegen eng wurde. „Soweit ich informiert bin“, erzählte Heidmüller, „wurde eingebrochen, und einer der Professoren hat sich dem Einbrecher in den Weg gestellt. War wohl ‘ne dumme Idee. Der Mann ist tot.“

Auf dem Unigelände herrschte das reine Chaos. In die Scharen von Studierenden und Lehrkräften mischten sich nun auch noch Uniformierte und nicht uniformierte Polizeikräfte. Ein Wachtmeister nahm Heidmüller und Wilkens in Empfang und brachte sie zum Tatort, der sich in einem der älteren Gebäude befand.

„Also, die Herren Kommissare, es sieht wohl so aus, dass eingebrochen worden ist in der Absicht, Bücher aus einer unlängst gef…“

„In der Absicht?“, unterbrach Wilkens den Redefluss des Uniformierten. „Sind die Bücher nun gestohlen worden oder nicht?“

„Öh … ja“, antwortete der Uniformierte konsterniert. „Sind weg.“

„Sie müssen präziser in Ihren Aussagen sein, Kollege! Es geht hier ja nicht um Ladendiebstahl, nicht wahr?“ Wilkens klopfte dem verwirrt aussehenden Beamten jovial auf die Schulter. „Aber das wird schon noch.“

Heidmüller versuchte, die Fassung zu bewahren, und setzte ein ernstes Gesicht auf. „Hier ist immerhin ein Mensch zu Tode gekommen.“

„Ja, sicher, Entschuldigung … ich … ich …“ Der Uniformierte sah von einem der beiden Kriminalhauptkommissare zum anderen. „Nun erzählen Sie schon … was ist passiert?“

Der Beamte in Uniform ging voraus und öffnete die Türen. Wilkens gefiel das. Daran könnte er sich gewöhnen.

„Der Einbrecher hat den Alarm ausgeschaltet und sich der Bücher bemächtigt. Dabei scheint er sehr wählerisch gewesen zu sein, denn es sind nicht alle mitgenommen worden. Der Dieb muss wohl ein paarmal gelaufen sein. Oder er hatte Komplizen. Da hat ihn dann wohl dieser Lehrer erwischt, der noch gearbeitet hat. Im Keller sind Labore, wo er Bücher untersucht hat. Der Dieb hat ihm den Schädel … äh … abgetrennt, so wie das aussieht.“ Der Polizist hielt Wilkens und Heidmüller die Tür auf.

„Den Gang runter, dann links, da ist es … der Tatort. Ich muss noch … Meldung machen.“ Der Uniformierte grüßte kurz.

„Danke, Kollege, das finden wir sicher auch allein.“ Heidmüller grüßte zurück, Wilkens grinste nur breit. Als der Uniformierte außer Hörweite war, stieß Heidmüller Wilkens mit dem Ellenbogen an.

„Mensch, Wilkens, ich wusste gar nicht, dass du Humor hast!“

Wilkens sah seinen Kollegen kurz an, ohne das Gesicht zu verziehen. Dann setzte er die freundlichste Miene auf, deren er angesichts der Alimentenforderungen seiner Ex noch fähig war.

„Habe ich auch nicht“, sagte er freundlich, drehte sich abrupt um und stapfte den Gang hinunter.

Heidmüller schüttelte den Kopf. War das nun Ernst gewesen oder nur ein Spaß? Er wurde aus diesem eigenbrötlerischen, verschlossenen Kerl nicht schlau, und das ging ihm gehörig an die Nerven. Er wollte immer verstehen. Heidmüllers Traum war es, ein Forensiker zu werden. War es gewesen. Sein empfindlicher Magen hatte nicht mitgespielt, und für ein Psychologiestudium hatte er sich einfach nicht entscheiden können. Aber er versuchte stets, seine Leute zu durchschauen. Es war gut, wenn er die Kollegen einschätzen konnte, fand er. Aber Wilkens entzog sich. Er kam nicht zum Bowling mit, trank kein Feierabendbier mit Kollegen und ging sogar zum Schießtraining allein. Ein zurückgezogener Mensch, dieser Wilkens. Und solche Typen waren Heidmüller suspekt!

Er beeilte sich, hinter Wilkens her zu kommen, der mit seinen kurzen, dicken Beinen schon am Ende des Gangs angekommen war.

Der Tatort sah aus, als habe ein Trupp Bundeswehrsoldaten ihre Übung im Zimmer abgehalten. Umgestürzte Möbel, Aktendeckel und loses Papier in Mengen, die den Boden bedeckten. Zerschlagenes Glas und Bücher, die offenbar schon sehr alt sein mussten, unachtsam hingeworfen.

Ein paar Zivilisten drängten sich hinter einen schweren Labortisch und starrten nach unten. „Ich wette, dass da unsere Leiche liegt.“ Wilkens schob die Leute zur Seite und drängelte sich nach vorn.

„Passen Sie auf, Sie Idiot!“, fauchte ihn eine weibliche Stimme von unten an. „Sie treten gleich auf seinen Kopf!“

Wilkens sah nach unten und wollte unwirsch antworten, da sah er die unglaublichsten Augen, die man sich nur vorstellen konnte. Und den Schädel. Ein fast abgetrennter menschlicher Kopf. Er zeigte überrascht wirkende Züge, ein eingefrorenes Staunen in den toten Augen. Schütteres, graues Haar, blasser Teint. Ein Stubenhocker, befand Wilkens.

„‘tschuldigung … aber man sagte mir, es eile …“, stotterte er und konnte den Blick kaum abwenden von diesen unglaublichen Augen, die ihn böse anfunkelten.

„Ah, so!“, sagten die blauen Augen. „Und Sie sind …?“

„Kriminalhauptkommissar Wilkens“, antwortete Wilkens wie aus der Pistole geschossen und riss seinen Ausweis aus der Tasche. „Und der da hinter mir ist mein Kollege Heidmüller.“

„Heidmüller!“, sagte Heidmüller mit seinem tiefen Bariton. „Sie sind die neue Pathologin, richtig? Doktor Schuller?“

„Gerda Schuller, genau die bin ich, Herr Hauptkommissar.“ Die blauen Augen lächelten jetzt fast schon.

„Heidmüller reicht“, sagte der Kommissar, der auf Titel ebenso wenig Wert legte wie Wilkens. „Das ist ja ‘ne ganz schöne Schweinerei.“ Er deutete auf die blutbespritzte Umgebung.

„Nicht unbedingt. Diese Schweinerei, wie sie es nennen, hätte noch um einiges schlimmer ausfallen können. Ein Mensch enthält fast sechs Liter Blut. Das ist ein halber Eimer voll. Das hier sind höchsten dreihundert bis fünfhundert Milliliter. Der Leichnam ist nach hinten umgefallen und über den dort stehenden Hocker gerollt, bevor er auf den Boden schlug. Deshalb diese ganzen Spritzer bis zur Decke hoch.“ Sie deutete nach oben, wo die rotbraunen Sprenkel eine blutige Zeichnung hinterlassen hatten.

„Und wie … ich meine, wie wurde der Kopf so fast vom Körper … getrennt?“, fragte Heidmüller und versuchte, seinen Magen unter Kontrolle zu halten. Er machte eine Rückwärtsbewegung, die nicht aufhören wollte, und rang nach Luft.

„Das ist eine seltsame Sache“, fuhr die junge Pathologin fort. „Ich habe mir den Schnitt angesehen … die Haut wurde so sauber durchtrennt, dass ich keine Schnittmarken erkennen kann. Das Gewebe am Hals wurde kaum gequetscht. Das muss eine verflucht scharfe Klinge gewesen sein. Es war scheinbar nur ein einziger Hieb …“

Heidmüller schaffte es, unbemerkt ins Freie zu kommen. Ein Rotdorngebüsch bot ihm Schutz, und er übergab sich. Dieser verdammte Magen …!

Er atmete tief durch, setzte ein Lächeln auf und ging zurück.

„War schnell pinkeln!“, behauptete er gegenüber dem Beamten am Eingang.

„Und da sind Sie sicher?“ Wilkens stand vornübergebeugt über dem Körper es Opfers und musterte den durchschnittenen Hals. „Ein Schnitt und … zack?“

„Ein Schnitt, ein Hieb mit großer Kraft und eine große Kenntnis der menschlichen Anatomie. Der Winkel, in dem diese Klinge den Hals traf, war optimal gewählt. Er … oder sie, wer auch immer diese Klinge geführt hat, hat den Hals von vorn getroffen. Die beiden Männer scheinen gekämpft zu haben …“ Die blauen Augen seufzten. „Ich kann nicht mehr dazu sagen. Ein Hieb. Kopf ab. Punkt. Alles andere sind Vermutungen.“ Sie legte ihre Instrumente zurück in ihren kleinen Arztkoffer. „Und für Vermutungen werde ich nicht bezahlt. Meine Herren, alles Weitere, wenn ich unseren Freund auf dem Tisch hatte.“ Die blauen Augen lächelten kurz und stöckelten auf halbhohen Schuhen davon.

„Der mickrige Kerl soll mit einem Schwert schwingenden Killer gekämpft haben? Klar, dann bin ich Dr. Frankenstein!“, knurrte Wilkens unwillig.

„Dieser mickrige Mann hatte einen hohen Dan in Aikido.“ Die kratzige Stimme gehörte zu einem dunklen Mann, der Wilkens die Hand entgegenstreckte.