Die stille Mitte der Welt - Patricia Highsmith - E-Book

Die stille Mitte der Welt E-Book

Patricia Highsmith

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Die hier unter dem Titel Die stille Mitte der Welt vorgelegten Texte aus dem Nachlass sind keine Suspense- und keine Tiergeschichten, sondern psychologische Erzählungen. 14 Stories über moderne Großstadtmenschen in Not, über wissende kleine Mädchen, traumversponnene Liebende und ältere, vom Leben gerupfte Frauen und Männer. Die Geschichten gehorchen keinem Muster und keiner einheitlichen Methode, sie verraten noch nicht einmal in allen Fällen dieselbe Hand als hätte die junge Patricia Highsmith mit jeder Geschichte einen eigenen Modus erfinden und das Verhältnis zur Welt neu festlegen müssen. Dabei sind die Verzauberung durch erhoffte Seelenverwandtschaften, die betäubten Schritte einer in die Trauer entlassenen Figur und das Zermürbende des Lebenskampfes mit viel Takt, enormer Anteilnahme und großem Sinn für die sprechenden Details eingefangen."

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Patricia Highsmith

Die stille Mitte der Welt

Stories

Aus dem Amerikanischen von Melanie Walz

Mit einem Nachwort von Paul Ingendaay

Herausgegeben von Paul Ingendaay und Anna von Planta

Diogenes

Stories 1938–1949

Die Morgen des ewigen Nichts

1

Der Zug, der über eine Stunde neben einem klaren Flüßchen entlanggefahren war, umrundete eine bewaldete Biegung, ließ sein Signal ertönen und tuckerte gemächlich einer kleinen Stadt am Fuß eines Berges entgegen.

In einem der Waggons näherte ein Mann, der unterwegs jede Stadt gemustert hatte, sein Gesicht aufgeregt dem Fenster. Seine Miene entspannte sich, er hörte auf, nervös an den Fingernägeln zu kauen. Ein langer erregender Schauder des Entzückens durchfuhr ihn, denn er wußte, daß diese Stadt, die er nie zuvor gesehen hatte, die Stadt war, nach der er suchte.

Unter dem verhangenen Himmel sah der Ort nicht gerade verheißungsvoll aus, dachte er, und dennoch einladend und freundlich, befand er sich doch genau an der Bahnlinie, wie um jedermann gefällig zu sein, der an dieser Stelle auszusteigen wünschte. Er konnte eine Kirche sehen, ein Amtsgebäude und eine Hauptstraße, die parallel zu den Gleisen verlief und von allen Läden, die ein Mensch brauchen konnte, je ein Exemplar aufwies. Und hinter dieser offenen und gastfreundlichen Fassade lagen ordentliche zweistöckige Häuser, die auf ein Grün gestellt waren, das in die noch grüneren und blaugrünen Berge überging, die sehr wohl den Rest der Erde bedecken mochten.

Er legte seine zehn Fingerkuppen, die unter den fast ganz abgenagten Nägeln geschwollen und sauber hervortraten, auf den Fensterrahmen, als schlage er den Schlußakkord einer Schicksalssymphonie an. Er stand im Begriff, auf die Knie zu fallen und »Dem Herrn sei Dank!« zu murmeln, als er ein heiseres »Einsteigen!« vom Bahnsteig vernahm.

Den Koffer unterm Arm eilte er den Gang entlang und stieß beim Aussteigen mit dem Schaffner zusammen.

»Ich muß aussteigen!« sagte er und sprang von dem Zug, der sich langsam in Bewegung setzte.

Der Zug fuhr nach Norden weiter und trug den Abdruck der zehn Fingerspitzen auf einem seiner schmutzigen Fensterrahmen nach Nirgendwo davon.

Ein paar Schritte vom Bahnhof entfernt erreichte der Mann die geteerte Hauptstraße, die Trevelyan Boulevard hieß. Die Markise des Kinos kam in Sicht; die angekündigten Filme klangen verheißungsvoll; er liebte Filme; der Reklamepfosten des Friseursalons drehte sich fröhlich im Gegenuhrzeigersinn, die Gittertür eines Cafés klapperte, als ein Mann heraustrat, und zwei kleine Mädchen mit Eiswaffeln, eine Hausfrau mit Einkaufstasche und ein Farmer in Arbeitskleidung gingen an ihm vorbei, so passend und pittoresk wie Bühnenfiguren. Und doch war es keine Bühne, sondern eine wirkliche Kleinstadt, in der wahrscheinlich jeder, den er zu sehen bekam, geboren war und sein Leben verbringen und sterben würde. Ihm war schon, als fühle er sich den Leuten verwandt.

Es fiel ihm schwer, daran zurückzudenken, daß er heute morgen mit dem Quietschen eines Zugs auf einer Brücke in den Ohren aufgewacht war und daß er an diesem Morgen am Steuer seines Taxis gesessen hatte. Hatte er heute Fahrgäste gehabt? Er erinnerte sich, daß er langsam gefahren war und Leute, die nach ihm winkten und pfiffen, ignoriert hatte, so widerwillig wie immer, sich in die New Yorker Hysterie zu stürzen, und mit einemmal außerstande dazu. New York an diesem Morgen! Wenn er aus einer Distanz von acht Stunden zurückblickte, kam ihm die krampfhaft gezügelte Raserei der Stadt wie eine Krankheit vor. Er dachte an New York, eindringlich und zum letztenmal. Dann schaltete er seine Gedanken ab wie ein Radio, das ein Footballspiel übertrug.

Glücksgefühl, guter Wille und Optimismus ließen ihn wie auf Wolken gehen. Eine neue Stadt, jungfräulich, voller Möglichkeiten, wo er von vorne anfangen konnte! Er fühlte sich wie neugeboren. Am Sonntag würde er in die Kirche gehen, deren schwarzen Kirchturm, bekrönt von einer goldenen Kugel und einem Kreuz, er über den Baumwipfeln sehen konnte, und Gott zusammen mit den übrigen Bewohnern der Stadt seinen Dank darbringen.

Gerade als ein hungriges Knurren ihn an seinen Magen erinnerte, fiel sein Blick auf ein weißes Gebäude ein paar Meter weiter vorne am Trevelyan Boulevard. Große schwarze Buchstaben schrieben von oben nach unten das Wort IMBISS, und kleine Neonschilder davor und dahinter verkündeten: Die heiße Kiste.

Die Tür war widerspenstig, und eine Stimme aus den Dampfschwaden dahinter rief etwas, was klang wie: »Sachte, sachte!«

Aaron schlüpfte hinein, und die Tür schloß sich sofort wieder. Drinnen war es warm; es duftete nach Spiegeleiern in Butter und frisch gebratenen Hamburgern.

»’n Abend!« sagte dieselbe Stimme. Sie gehörte einem heiseren Mann im Drillichhemd hinter der Theke.

»Guten Abend!« erwiderte Aaron und nickte allen Anwesenden zu. Er setzte sich auf einen Hocker.

Seine blauen Augen ruhten vergnügt auf den hausgemachten warmen Kuchen mit ihrer hellen Kruste, den Reihen zischender Hot dogs auf dem Grill, der Schüssel mit glänzender weicher Butter und den verschiedenen süßen Brötchen auf Tellern in ihren Fächern. Für gewöhnlich standen seine Augen leicht hervor und waren von der Seite gesehen unergründlich wie Katzenaugen, doch jetzt traten sie noch weiter hervor, als sie den Laden auf jede Einzelheit abtasteten. Er nahm den Hut ab und fuhr sich mit der Hand oberflächlich über sein braunes Haar. Er sah zu, wie der Mann hinter der Theke eine Waffel aus dem Waffeleisen nahm, sie großzügig mit Butter bestrich und vor einem Mann abstellte, den sein blau-weiß gestreifter Overall als Gleisbauarbeiter auswies.

»Sirup?«

»Klar doch«, erwiderte der Mann mit rollendem R.

Der Imbißbetreiber stellte ihm einen Krug mit Sirup hin und trat zu Aaron. »Was darf’s sein?«

Aaron preßte die Handflächen aneinander, erhob sich unmerklich mit Hilfe der Fußstützen und bestellte einen Hot dog, eine Waffel, ein Stück warmen Pfirsichkuchen, ein süßes Brötchen und Kaffee. Während all das zubereitet wurde, hörte er dem scherzhaften Geplauder des Imbißmannes und des Gleisbauarbeiters zu und dem leiseren Gespräch der zwei Neger, das immer wieder von Gelächter unterbrochen war.

Das Summen des elektrischen Ventilators bündelte die Welt in dem Imbißladen zu einem vollkommenen Ganzen.

Das Telefon läutete, und das junge Mädchen, das neben der Kasse mit offenen Augen geschlafen hatte, sprang hin. »Du-u!« gurrte sie lächelnd. »Mac sagt, ich muß heute bis um halb neun die Stellung halten.«

»Ach was, du kannst frei haben«, rief Mac gutmütig. »Arbeiten tust du ja sowieso nie.«

Als ihm die Waffel serviert wurde, faßte Aaron sich schuldbewußt ans Kinn. »Ich hätte mich wohl erst mal rasieren sollen«, sagte er und lächelte den Imbißmann an.

Mac lächelte zurück. »Ach, das macht doch nichts. Wir sind hier nicht so. Sehen Sie mich an.« Er lachte. »Wo sind Sie her?«

»Aus New York.« Aaron duckte den Kopf und begann die Waffel zu essen. Er goß eine bescheidene Menge Sirup darauf (als New Yorker wollte er sich nicht so gierig aufführen wie diejenigen, die er in Raststätten beobachtet hatte – so gefräßig, daß Sirup und Sahne ihnen in vernünftigen Portionen zugemessen wurden), und zwischen den einzelnen Bissen schaute er sich um und las die Anschläge an den Wänden.

KOMMT, LEUTE, KOMMT!

WILLIE WALKERS BERÜHMTE SIEBENKÖPFIGE KAPELLE

EINTRITT $ 1.50 PRO PAAR

FREIZEITHALLE BRIGHTON

BRIGHTON, VERMONT

Der Anschlag war einen Monat alt. Er fragte sich, ob das junge Mädchen heute abend zu einer dieser Tanzveranstaltungen ging. Von keiner der Städte, in denen sie stattfanden, hatte er je gehört. Dann sah er einen Anschlag, der besagte:

ZIMMER

MRS. HOPLEYS KOMFORTABLE MÖBLIERTE ZIMMER

WÖCHENTLICH UND MONATLICH

PLEASANT STREET 17, CLEMENT, N.H.

»Wo ist die Pleasant Street?« fragte er Mac, so ängstlich besorgt, diese Stadt könne nicht Clement sein, daß er die Frage fast nicht zu stellen wagte.

Nach einer Weile nahm Mac die Hand vom Nacken, deutete auf eine Ecke der Imbißbude und erklärte Aaron den Weg, den dieser sich in seiner Aufregung nicht merken konnte. Vor seinem inneren Auge erstanden Bilder des Hauses, des Zimmers, das er bewohnen würde. Er staunte über sein Glück, auf eine Straße namens Pleasant gestoßen zu sein; allein schon Clement klang angenehm und beschwor in ihm das Bild einer sonnenbeschienenen Landschaft und einer Picknickgesellschaft herauf.

»Sind Sie länger hier?« fragte Mac, der ihm die Rechnung überreichte.

»Das hoffe ich«, sagte Aaron lächelnd; er legte einen Dollar hin und glitt zur Tür. »Danke, war prima!«

»Bis nächstes Mal!«

»Tschüs!« sagte das Mädchen.

Aaron folgte der Richtung des Fingerzeigs zu einer Straße, die hinter dem Drugstore lag. An der Straßenecke blieb er stehen und bewunderte ein bescheidenes Kriegerdenkmal. Es bestand aus einem Betonpfosten auf einem Rasendreieck, in den eine Metallplatte eingelassen war, die Hunderte von Namen aufführte, alle Kriegsteilnehmer aller Kriege aus Clement. Adams, Barber, Barton, Burke, Child – Hopley? Ja, es gab einen Zachariah P. und einen William J. Hopley. Vielleicht sollte er Mrs. Hopley gegenüber erwähnen, daß er ihre Namen gesehen hatte.

Er ging eilig weiter, lächelte einem strubbeligen, barfüßigen kleinen Mädchen zu, das an einem Baum lehnte, sagte »Guten Abend!« zu einem gebeugten alten Herrn in rissigen, glattpolierten Schuhen und mit einem gestärkten Kragen, der um seinen Hals herum abstand.

»’n Abend«, erwiderte der alte Mann.

Er folgte einer Straße, die aufwärts führte, und erreichte die Pleasant Street, beiderseits von hohen Ulmen gesäumt, die sich nach innen lehnten und einander berührten. Und kaum hatte er diesen grünen Tunnel betreten, als die Sonne durchbrach und wie goldene Regentropfen zwischen den Tausenden Blättern hindurchfiel.

Aufgeregt zählte er die Hausnummern, bis er vor Nummer siebzehn stand, einem zweistöckigen, gelblichen Haus, halb verborgen hinter üppigen grünen Ranken, die links und rechts der Veranda sprossen. Er erkannte das Haus, wie er die Stadt erkannt hatte. Es war das, was er suchte. Daheim! Heimelig war der abgeblätterte, braune Anstrich, elegant waren die dünnen, schwarzen Pfeiler, die das Verandageländer trugen, und elegant war das Treppengeländer. Zwei eiserne schwarze Hunde bewachten symmetrisch und mit erhobener Pfote den nachlässig gepflegten Rasen vor dem Haus, den man auf einem Betonweg durchschritt.

»Suchen Sie jemand?« rief eine Stimme von der Veranda.

Aaron betrat den Weg. »Ich suche ein Zimmer.«

Eine Schaukel quietschte, und ein untersetzter, gedrungener Mann in glänzenden, hellbraunen Hosen und ebensolchem Hemd kam auf ihn zu. »Da könnten Sie hier richtig sein«, sagte er und musterte Aaron lächelnd.

»Wer sucht ein Zimmer?« Diese Stimme erklang hinter der Gittertür. »Ein Zimmer ist bei uns frei. Wenn Sie wollen, können Sie es sehen.«

Er folgte der Frau durch den Flur, eine Treppe hoch und abermals einen Flur entlang. Zuletzt öffnete sie die Tür zu einem großen, quadratischen Zimmer mit drei gewaltigen Fenstern.

»Ihr Glück«, sagte sie zu ihm. »Der Mieter ist gestern erst ausgezogen. Hat in Bennington eine neue Stelle angetreten. Hier in der Stadt sind Zimmer schwer zu kriegen.«

Er nickte begeistert. »Ich nehme es.«

Er zahlte sieben Dollar für die Wochenmiete; sich selbst überlassen, schaute er probehalber aus allen Fenstern. Vom einen aus konnte er die Berge sehen, aus den anderen konnte er die Blätter eines großen Baumes berühren. Im freudigen Bewußtsein von Tüchtigkeit und Ordentlichkeit beförderte er seine Sachen aus dem Koffer in die Kommode. In den tiefen, mit Zeitungspapier ausgelegten Schubladen nahm seine Garderobe sich verloren aus. Seine vier Hemden lagen flach und einsam in der untersten Schublade, und selbst die lockerste Verteilung von Socken und Taschentüchern über ihnen änderte daran nicht sonderlich viel. Da er nichts in die letzte Schublade zu legen hatte, las er ein bißchen auf ihrem Zeitungspapier. Schließlich stellte er den leeren Koffer in den Schrank, schloß die Kommodenschubladen und betrachtete das Zimmer voller Befriedigung; dennoch dachte er, daß sein Kommen keinerlei Veränderung bewirkt hatte, sah man von seinem Rasierzeug auf dem runden Tisch ab. Nun ja, dachte er, so war es eben, wenn man seine ganzen alten Sachen zurückließ, allen Kleinkram, der sich im Verlauf der Jahre in einer New Yorker möblierten Wohnung angesammelt hatte.

Es klopfte an die Tür.

»Herein?«

Mrs. Hopley trat ein. »Hab’ ein paar Handtücher für Sie«, sagte sie in herzlicherem Ton als vorher, in einem fast intimen, verschwörerischen Ton, und Aaron sah sie aufmerksam an und blinkte mit den Augen. Sie legte zwei Badetücher, ein kleines Frotteetuch und einen Waschlappen einzeln neben das Bett; dann richtete sie sich auf und lächelte ihn an.

»Wunderbar! Genau das, was ich jetzt brauche«, sagte er brav, obwohl er heute morgen nur das Rasieren vergessen hatte. »Ich war lange mit dem Zug unterwegs.«

Mrs. Hopley nickte und sah ihn mit großen braunen Augen hinter dicken Brillengläsern an. Sie machte sich nervös mit der Vorderseite ihres schlaffen und nicht ganz sauberen Kleides zu schaffen, das hinten nicht weniger schlaff von ihrem knochigen und ungefügen Oberkörper hing. »Wo sind Sie her?«

»New York«, erwiderte er mit nervösem Lächeln, denn er hatte wieder wie schon im Imbiß bei Mac den Eindruck, die Leute aus der Kleinstadt betrachteten ihn mit Mißtrauen.

»Hmm.« Ihr Blick wanderte langsam, aber unablässig im Raum hin und her und verharrte auf einzelnen Einrichtungsgegenständen so oft wie auf ihm. Die Zehenspitze eines ihrer alten schwarzen Pantoffeln mit ramponierten Bommeln war schüchtern auf die des anderen Fußes gestellt, als solle weiblicher Liebreiz die Unbarmherzigkeit des Verhörs mildern, dem sie ihn zu unterziehen gedachte. »Geschäftlich hier?«

Er zauderte, dann lächelte er. Er mußte einfach über alles lächeln, was mit der reizenden Stadt Clement zu tun hatte. »Nicht direkt, nein. Man könnte sagen, daß ich Urlaub machen will und daß die Stadt mir gefallen hat.«

»Urlaubsmöglichkeiten gibt’s hier nicht viele.«

»Ich meine keinen gewöhnlichen Urlaub.« Er fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen. »Ich war Taxifahrer in New York. Meine Nerven haben nicht mehr mitgemacht, und deshalb dachte ich mir, das beste wäre ein Tapetenwechsel.«

»Für immer?«

»Vielleicht. Schön wär’s. Ihre Stadt gefällt mir gut.«

Sie dachte nach. »Als Taxifahrer gibt’s hier nicht viel zu tun.«

»Oh, Taxi fahren würde ich nicht! Das habe ich lange genug gemacht.«

Sie nickte. »Was stellen Sie sich denn statt dessen vor?«

Er sah, daß sie auf seine geballten Fäuste schaute; er entkrampfte seine Hände und lächelte. »Ich weiß es eben noch nicht, verstehen Sie? Ich muß es erst herausfinden.« Bescheiden fügte er hinzu: »Ich habe etwas Geld zurückgelegt.«

»Hmm.« Sie kratzte sich mit dem Zeigefinger heftig an der Nase. »Na ja, viel Glück dann.«

Trotz ihrer mangelnden Zuversicht machten diese Worte ihm Mut. Er lächelte und dankte ihr.

Sie sprach jetzt ungehemmter, sagte ihm, welches die besten Eßlokale waren und wo er Arbeit finden könne, und sie erwähnte einen Packer der Lederfabrik, der bei ihr im Haus wohnte und mit dem er sich vielleicht gern unterhalten würde, weil er eine Zeitlang in New York gearbeitet hatte.

Aaron hörte ihr zu, nickte und nahm sich vor, dem Packer tunlichst aus dem Weg zu gehen.

»Wir finden unsere Stadt auch nett«, pflichtete Mrs. Hopley ihm freudlos bei, als sie den Raum verließ.

Aaron schüttelte die Anspannung ab; nach einem Augenblick ging er in das Bad am Ende des Flurs, wo er sich an einem Waschbecken mit Messingarmaturen rasierte. Dann zog er ein frisches Hemd und frische Socken an und ging frohgemut in die Abenddämmerung hinaus.

Er verbrachte den Abend damit, die Stadt zu erkunden, unbekannte Straße um unbekannte Straße zu durchstreifen wie ein junger Hund, der ein neues Zuhause erkundet. Er prägte sich Wegmarken ein und merkte sich architektonische Details, und er tat es gerne, denn es erschien ihm als seine Pflicht, sich mit Clement so vertraut zu machen, wie es jeder Einheimische war. Als es dunkel wurde und die Lichter der großzügigen alten Anwesen so vereinzelt und bedeutsam aufschimmerten wie die Sterne am Himmel, schaute er sich noch eifriger um.

Es war fast ganz dunkel, als er einen Hügel im Südosten der Stadt zwischen Fluß und Bahngleisen bestieg und sich hinsetzte, eine Tasche mit kleinen Einkäufen zwischen den Füßen. Er blickte auf Clement hinunter, das er von hier fast im gleichen Winkel wie aus dem Zug sah. Doch wie vertraut war ihm alles nun, um wieviel wahrscheinlicher war alles Potentielle geworden! Er wußte, wie die Kirche aussah, welcher Turm dort aus den Blättern hinausragte, was auf dem Wegweiser auf dem Highway nach Norden stand. Er hatte eine lange gedeckte Brücke über den Fluß erforscht, die er vom Zug aus gar nicht gesehen hatte, und war lange an einem ihrer Fenster stehengeblieben und hatte den Gesprächen der Leute gelauscht, die sie überquerten.

Was würde er morgen tun? Er mußte sich noch keine Gedanken über die Zukunft machen. In das Futter des schwarzen Koffers waren über vierhundert Dollar eingenäht; mit diesem Geld konnte er sich Zeit lassen. Er konnte sich in einem Dutzend Berufe versuchen. Er konnte als Landarbeiter eine Zeitlang auf einer der Farmen um die Stadt herum arbeiten und sich eine eigene Farm kaufen, falls ihm die Arbeit gefiel. Er konnte irgendeinen Laden eröffnen oder sich als Geschäftspartner mit jemandem in der Stadt zusammentun. Er konnte wochenlang nichts anderes tun als leben, bis das Schicksal ihm einen Wink geben würde.

Die Spannweite seiner Vorstellungen erschreckte ihn; er sprang auf und preßte seine Faust fest gegen die Brust. Er neigte sein aufgeregtes Gesicht zur Stadt und glaubte mit allen Fasern seines Herzens, daß der weitere Verlauf seines Lebens sich ihm in Clement enthüllen würde. Er kam sich vor wie eine der Figuren auf einem heroischen Historiengemälde – seine Haltung kündete von Entschlossenheit und von der Noblesse seines Vorhabens.

»Hallo«, sagte ein Stimmchen.

Er wandte sich errötend um. Es war ein mageres, barfüßiges kleines Mädchen in einem dunklen Kleid, das der Wind gegen seine Oberschenkel klatschte. Sogar im Dämmerlicht konnte er ein Muster auf dem Saum erkennen, das nicht zum Kleiderstoff gehörte. Er erinnerte sich. Es war das kleine Mädchen, das er am Nachmittag auf dem Weg zu Mrs. Hopley am Baum hatte lehnen sehen.

»Wer bist du?« fragte sie.

Langsam nahm er die Faust von der Brust. »Und wer bist du?« konterte er mit der bemühten Munterkeit eines Erwachsenen, der mit einem Kind spricht.

»Freya.«

»Freya wie?«

»Freya Wolstnom.«

»Was hast du gesagt?«

»Freya Wolstnom.«

»Wie bitte?«

Sie holte tief Luft. »Wolstnom. W-o-l-s-t-e-n-h-o-l-m-e.«

Die ersten Buchstaben konnte er sich merken, doch der Rest rauschte an seinem Ohr vorbei. Wie es so oft in New York geschehen war, wenn seine Fahrgäste Adressen nannten, weigerte sich sein Verstand, das, was er gehört hatte, zu verarbeiten. Die Erinnerung an jene Zeit, an die Fragen, die Wiederholungen, die unvermeidlichen Irrtümer, an das Gellen der Hupen, wenn er wendete, wurde wach, und er wand sich in der Dunkelheit. Er fuhr sich mit einem Daumen zum Mund und ließ ihn wieder sinken.

»Wer bist du?« wiederholte sie.

»Aaron Bentley.«

Nach einem Augenblick wandte das Kind sich ab und ging langsam zwischen ihm und der Stadt den Hügel entlang. Mit beiden Händen hielt es das glatte, schwarze Haar zurück, das ihm der Wind ins Gesicht blies, und es sah auf den Boden, als suche es dort etwas.

Aaron setzte sich und schlang die Arme um die Knie. Er dachte, sie gehe in die Stadt zurück. Doch als er sah, daß sie dablieb, rief er ihr zu: »Wo wohnst du?«, hauptsächlich, um sein Selbstvertrauen zurückzugewinnen.

Sie sah nicht auf, sondern bewegte nur den Arm. »Dort drüben.«

Er sah nichts als schwarze Bäume. Er schaute wieder zu ihr.

Sie hob die Füße und teilte das hohe Gras mit graziösen Seitwärtsbewegungen, die wie ein langsamer Tanz aussahen. Ihre Gestalt hatte etwas Steifes, nicht aus Verlegenheit, sondern vor Konzentration. Er hatte das Gefühl, daß sie jede Regung an ihm wahrnahm.

Schließlich kam sie in einem Bogen den Hügel empor zu ihm zurück. Als sie innehielt, befanden ihre Köpfe sich fast auf gleicher Höhe. Lächelnd erwiderte er ihren Blick, doch als er die Dunkelheit zu durchdringen suchte, sah er überrascht ihre zusammengepreßten Lippen. Es ließ sie angespannt, traurig und alt aussehen. Hinter den wehenden Haarsträhnen waren ihre Augen bloß graue Flecken, doch er spürte, daß sie ihn voller Feindseligkeit musterten. Ein schwindelerregendes Unwohlsein und ein Gefühl der Minderwertigkeit überkamen ihn unvermittelt, so wie er sie in New York verspürt hatte, doch diesmal verstärkt und auf ihn konzentriert durch das Kind und die Stadt hinter dem Kind. Er hatte den Eindruck, so verächtlich von dem kleinen Mädchen betrachtet zu werden, daß es sich nicht einmal die Mühe machte, ihn auszufragen wie Mrs. Hopley, sondern nur einen Eindringling auf seinem Terrain in ihm sah.

Ungeschickt versuchte er die Papiertüte zwischen seinen Füßen aufzumachen. »Hättest du vielleicht Lust, ein Stück Kuchen mit mir zu essen?«

»Nee«, sagte sie. »Ich muß nach Hause.« Langsam entfernte sie sich um den Hügel herum.

Er stand auf und sah ihr nach, bis zuerst ihre Gestalt und dann der hellere Kleidersaum im Dunkel verschwanden. »Auf Wiedersehen!« rief er hoffnungsvoll.

Keine Antwort.

Er schob den Kuchen in die Tüte zurück und flüchtete in sein Zimmer.

2

In fieberhafter Eile wusch er sich und zog sich an, denn der herrlichste Morgen, den er je erlebt hatte, lachte zu seinen Fenstern herein.

Er lief noch einmal zum Fenster, hielt sich am Fensterbrett fest und sah über eine grüne Erde zu der wuchtigen Sonne hoch, die ruckweise den Horizont emporstolperte. Ihr Widerschein glühte auf den Baumwipfeln, den Dachfirsten, den Flügeln der fliegenden, singenden Vögel. Er streckte die Hand aus und berührte die Blätter des Baumes. Vor ihm lag eine Welt, die unberührt war von Gier, von Bitterkeit, von schmutzigem Geschäftssinn. Das verlorene Paradies brüderlicher Liebe.

Er drehte sich auf dem grauen Teppich im Kreis, klatschte über seinem Kopf in die Hände und lachte vor Freude. Vom Schlaf in der reinen Luft erfrischt, fühlte er sich stark wie ein Ochse, kampfesmutig wie ein Krieger, frei wie … wie der Schmetterling, der zum einen Fenster hinein- und zum anderen hinausflatterte und den er mit offenem Mund bestaunte.

Morgendliche Düfte von frischem Kaffee und brutzelndem Speck und die Geräusche von Stimmen wehten aus offenen Fenstern, als er zum Trevelyan Boulevard spazierte. In rauschhafter Beglückung blieb er stehen, um eine festgeschlossene Rosenknospe zu bewundern, die auf den Bürgersteig hinausragte. Sie war von so zarter Grünfärbung, daß er es kaum wagte, sie mit einer Fingerspitze anzuheben.

»Wie wird es um mich bestellt sein«, fragte er sich laut, »wenn ihre Blüte sich geöffnet haben wird?«

Und als er tief einatmete, fiel ihm plötzlich auf, daß er, seit er den Zug verlassen hatte, nicht einmal Lust auf eine Zigarette gehabt hatte, obwohl er in New York den ganzen Tag und sogar im Bett geraucht hatte. Ein überwältigender Beweis der reinigenden Kraft dieser Stadt. Und von heute an, so beschloß er, würde er seine Fingernägel wachsen lassen.

»Eier mit Speck?« begrüßte ihn Mac über die Köpfe einer Reihe lärmender Kunden hinweg. »Habe heute extra guten Schinken.«

Aaron nickte. Ihm war nicht nach Reden zumute. Der Gegensatz zu New York, wo er Kaffee und Doughnut im Stehen hastig hinunterschlang, ein Auge auf seinem Taxi am Bürgersteig, war nicht zu übersehen. Es war ihm nie gelungen, sich die Gleichgültigkeit anderer Taxifahrer anzueignen. Das lag wohl daran, dachte er, daß er immer aus allem, was er tat, das Maximum hatte herausholen müssen. Seit er die Schule verlassen hatte, um seine Mutter und sich durchzubringen, hatte er wie ein Besessener gearbeitet. Er war Straßenhändler gewesen, Hotelpage, Kellner in den verschiedensten Lokalen und die letzten vier Jahre Taxifahrer – lauter Tätigkeiten, wo gute Arbeit Trinkgelder einbrachte, doch das ständige Hin und Her hatte so sehr an seinen Nerven gezerrt, daß es an ein Wunder grenzte, daß er überhaupt noch bei Sinnen war. Ans Heiraten zu denken war ihm nie Zeit geblieben. Er hatte nie genug Geld übrig gehabt, um ein Mädchen ins Kino auszuführen. Und nach dem Tod seiner Mutter hatte er, wie er vermutete, aus schierer Gewohnheit so hart weitergearbeitet. In den letzten Monaten, als sich eine Krise der Einsamkeit und Niedergeschlagenheit anbahnte, hatte er gespart wie jemand mit einem Ziel vor Augen. »Du mußt ein Ziel haben!« hatte er oft genug gemurmelt, wenn er die Wagentür zum letztenmal nachts zuschlug. Den ganzen Tag hatte er andere zu ihren Zielen gefahren, doch selbst besaß er keines außer einem schäbigen möblierten Zimmer irgendwo. Vielleicht, dachte er, war das hier das Ziel – eine Kleinstadt und Seelenfrieden. Es wäre genug. Mit vierunddreißig blieb ihm noch genug Zeit, etwas aus seinem Leben zu machen.

Auf einem der Hocker brach jemand in ungekünsteltes, schallendes Gelächter aus.

Aaron lächelte. Er hatte das Gefühl, siebzehn Jahre in ununterbrochener Anspannung verbracht zu haben. Langsam und voller Genuß schob er die Gabel unter seine Rühreier.

Nach dem Frühstück schlenderte er den Trevelyan Boulevard entlang und studierte die Schaufenster wie Schaukästen eines Museums. Er sah sich die Sportlerfotos im Friseursalon an, und dann ging er hinein, um sich rasieren und die Haare schneiden zu lassen.

Pete McNary, der rothaarige Friseur, war ein gesprächiger Zeitgenosse, und sie hatten ein Dutzend Themen abgehandelt und begonnen, einander ihre Lebensgeschichte zu erzählen, bevor Pete Aaron zum Abschluß mit weißem, süß duftendem Puder bestäubte.

»Wissen Sie, ich kenne ein paar Farmen in der Gegend, wo man jemanden brauchen könnte«, sagte Pete entgegenkommend, während er Aarons Rasiertuch sorgfältig an seinem Körper zusammenlegte. Er war ein Hüne von einem Mann, hatte jedoch geschickte, rosige Hände und bewegte seinen Körper gewandt. »Nicht anzunehmen, daß ich einen von den Farmern bald zu sehen kriege, aber wir können mal rausfahren, wenn ich nachmittags zumache, und mit ihnen reden. Sagen Sie mir einfach Bescheid.«

»Mache ich«, sagte Aaron freudig. »Vielen Dank.«

Aber er war mit dem Erkunden noch nicht fertig. Er würde noch viele Mußetage benötigen.

Hinter dem Trevelyan Boulevard lagen die verlockendsten Straßen, die Aaron je zu sehen bekommen hatte; sie verloren sich in grüne Wiesen und Wälder. Dort wanderte er bis zum späten Nachmittag umher, blieb stehen, um zahme Kälber zu streicheln, die in Vorgärten angebunden waren, um mit einer Hausfrau zu plaudern, die in ihrer Küche bei offener Tür Heidelbeeren einmachte, um beim Melken von sieben Ziegen zuzuschauen, während er auf der heubestreuten Schwelle ihres Stalles saß. Er holte Büschel frischen Grases, das er gerecht zwischen ihren hungrigen Mäulern verteilte. Er erfuhr, welches die milchreichsten Ziegenrassen waren, welchen Fettgehalt Ziegenmilch hatte, was man für sie bekam und was man aus ihr machen konnte.

»Jetzt, wo Sie alles drüber wissen, haben Sie vielleicht Lust zu probieren«, sagte der Ziegenfarmer und brachte aus seiner Küche ein Stück braunen Käse auf weißem Brot.

Das Brot war warm und schmiegte sich in seine Hände. Noch nie hatte er etwas so Köstliches gegessen. Es war, als vollendeten die Augenblicke auf der Ziegenfarm eine Verwandlung. Sein Glücksgefühl war so überwältigend, daß es ihm die Kraft zu denken raubte, doch eines war ihm klar, nämlich daß er nie zuvor sein bloßes Dasein genossen hatte.

3

Die Sirene der Lederfabrik ließ um zwölf Uhr ein schrilles Gellen hören, das über die ganze Stadt erschallte; in seinem Schutz öffnete Aaron, der eine stille Straße am Fluß entlangging, den Mund und rief sein Glück laut hinaus. Er hörte, wie das Echo von Berg zu Berg zurückgeworfen wurde, bis es weiter reichte, als seine Sinne fassen konnten.

Fünf Männer kamen aus dem dunklen Schatten unter dem Vordach der Fabrik hervor. Sie trugen blaue Arbeitshemden und geschwärzte Hosen und Mützen. Mit langen, bedächtigen Schritten stiegen sie den glatten Abhang zur Straße an der Brücke hoch, die zum Trevelyan Boulevard führte.

»Tag!« rief einer Aaron zu, und die anderen taten es ihm nach und riefen oder winkten zum Gruß.

Aaron lehnte an der Ziegelmauer auf der Rückseite des Kaufladens und betrachtete mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Neid diese einzigen Vertreter der Heere von Fabrikarbeitern, die die Erde bevölkern. Sie hatten keine Lunchpakete bei sich, und sie würden auch nicht in einer überfüllten Imbißbude zu Mittag essen. Sie wohnten gleich um die Ecke, und ihre Frauen stellten wahrscheinlich gerade das selbstgekochte Essen auf den Tisch. Er blinzelte mit seinen hervorquellenden Augen, als sie auf dem Kamm der Straße wie Riesen aussahen, bevor sie auseinandergingen.

4

»Hallo.«

Aaron wandte sich vom Brückenfenster um und sah Freya auf den Holzplanken stehen. »Hallo«, sagte er lächelnd, weil er sich wirklich freute, sie zu sehen. »Wie geht es dir?«

»Okay.«

Sie trat barfuß in den Streifen aus Sonnenlicht und kam zu dem Fenster, an dem er stand. Er sah die feinen dunklen Härchen auf ihren zarten Armen und die Sommersprossen auf ihrer schmalen Stupsnase. Ihre großen Augen waren von einem milchigen Hellgrau, das an eine Blinde erinnerte. Sie trug dasselbe lavendelblaue Kleid mit dem breiten Saum aus einem Stoff mit Erdbeermuster.

»Soll ich dich hochheben?« fragte er.

»Nee.« Sie hievte sich mit den Armen zur Fensterbrüstung hoch.

Vom riesigen Fabrikschornstein aus ertönte die Sirene; obwohl ihr Gellen in so großer Nähe ihnen schier das Trommelfell zerriß, verharrte Freya reglos und starrte den Fluß hinunter.

Aaron vergaß, nach den fünf Männern Ausschau zu halten. Er hatte sich angewöhnt, die Fabrik zu beobachten, wenn um zwölf und um vier Uhr die Sirene läutete, weil die Pünktlichkeit des Schichtwechsels in einer Stadt, wo sonst nichts von der Uhr bestimmt zu sein schien, einen erfreulichen Anblick bot. Doch jetzt konnte er den Blick nicht von dem kleinen Mädchen abwenden. Er hatte seit jenem ersten Abend nicht mehr an sie gedacht und war jetzt dankbar, daß sie eigens stehengeblieben war, um ihn anzusprechen.

»Das ist das Haus, wo ich am liebsten hingehe«, sagte sie.

Er folgte ihrer Geste mit dem Blick und sah ein Haus, das er bisher nicht bemerkt hatte, ein wenig außerhalb des Ortes am Waldrand gelegen. Es war weiß mit einem ins Violette spielenden Dach, und die Fenster sahen im Schatten schiefergrau aus.

»Ist es das? Und wer wohnt dort?«

»Niemand.«

»Oh.«

»Willst du es sehen?«

»Gewiß.«

Sie sprang vom Fensterbrett. Er folgte ihr an der Fabrik vorbei und einen grasbewachsenen Abhang hoch.

Das Haus sah nagelneu aus, doch hier und da waren die weißen Wände vom Regen verfärbt, und Gras wuchs bis zu den Fenstern im Erdgeschoß. Aaron trabte zufrieden durch das Gras neben dem kleinen Mädchen, das beim Gehen zu den Fenstern hochsah.

Schließlich blieb sie vor der roten Eingangstür stehen. »Hier können wir reingehen.«

Sie betraten ein leeres Haus, das nach Farbe und ungelüfteten Zimmern roch. Die polierten Böden waren unberührt bis auf die staubigen Spuren kleiner nackter Füße. Freya erzählte ihm flüsternd, welches Zimmer welches war. Im ersten Stock zeigte sie ihm das Schlafzimmer, in dem, wie sie sagte, der Mörder die schöne Frau ermordet hatte, die gerade erst mit ihrem Mann in das Haus gezogen war.

»Der Mörder wohnt jetzt hier – unten im Keller!« flüsterte Freya.

»Tut er das?« fragte Aaron leise. Eine Sekunde lang hatte er ihr geglaubt.

»Deshalb müssen wir ganz leise sein, auch wenn wir drei Kreise um das Haus gemacht haben.«

Er folgte ihr auf den Speicher.

»Siehst du das Fenster? Da hat der Mann in der Nacht, als seine Frau ermordet wurde, um Hilfe gerufen, aber er hat sich so gefürchtet, daß er nicht richtig laut gerufen hat, und deshalb hat ihn keiner gehört.«

Aaron sah zum Fenster. Er sah den entsetzten Ehemann vor sich, der schrie und keinen Laut herausbekam. Der Ehemann trug helle Hosen, die wie Reithosen aussahen, und hatte einen hübschen Kopf unter schwarzem, zerzaustem Haar. Er sah zu Freya zurück.

»Der Mann ist eingeschlafen und hatte gräßliche Träume, und dann ist er aufgewacht und über die Berge weggerannt und nie wiedergekommen.« Ihr Mund war streng wie an jenem Abend auf dem Hügel, und in ihren Augen war die traurige Erinnerung an tragisches Geschehen. »Jetzt gehen wir lieber.«

Er half ihr, die verzogene Eingangstür zu schließen. Durch hohes Gras gingen sie zu der Straße, die in die Stadt führte. Freya richtete nicht mehr das Wort an ihn, schien seine Anwesenheit nicht einmal mehr wahrzunehmen, doch Aaron genügte es, daß sie seine Gesellschaft hinnahm. Beim Gehen wuchs in ihm ein Gefühl der Kameradschaft mit ihr. Und zugleich spürte er seine Einsamkeit, als gelte es, ein Gleichgewicht seiner Empfindungen zu wahren. Beide Sinneseindrücke waren ihm willkommen. Sie weiteten ihm das Herz.

Auf dem Trevelyan Boulevard ging Freya langsamer und schaute in die Schaufenster.

»Siehst du irgendwas, was du gern hättest?« fragte er fröhlich, als sie vor dem Fenster des Juweliers stehenblieb.

»Nee.«

Sie ging weiter, und er ging neben ihr, während er überlegte, ob er zum Juwelierladen zurückgehen und ihr eine Kleinigkeit kaufen solle.

Unter der Markise des Kinos blieb sie stehen, um die Reihen der Standfotos zu betrachten. Der schale, dumpfe und leicht süßliche Geruch, der in allen Kinos herrscht und der Aaron in New York in Erregung versetzt hatte, driftete durch die offenen Türen des Olympia von Clement nach draußen.

»Komm, wir gehen rein!« sagte er.

Es kam ihm wie der Gipfel aller Vergnügungen vor, mit ihr die Erregung über fremde Örtlichkeiten und die Überraschungen im Verlauf der Geschichte zu teilen, jetzt, da er von der Banalität befreit war, zu der er früher immer hatte zurückkehren müssen.

»Ich habe keine Lust«, sagte Freya ungerührt.

Aaron mußte schlucken und folgte ihr unsicher, als sie weiterging.

An der Ecke des Drugstores blieb sie stehen und sah zu ihm auf. »Ich gehe jetzt nach Hause.«

Als sie das sagte, war er wie vor den Kopf geschlagen. »Willst du nicht noch eine Brause oder irgendwas?«

»Nee.« Sie strich ihr Haar aus dem Gesicht. »Ich kenne noch was, wo wir hingehen können, was fast so gut ist wie das Haus.«

»Wo ist das?«

»Weiter oben am Fluß.«

Er schaute, doch hinter der Brücke konnte er keinerlei Gebäude ausmachen.

»Vielleicht gehen wir morgen hin.« Sie trat auf die Straße. »Tschüs, Arn.«

Er war so verblüfft, daß sie seinen Namen gesagt und sich überhaupt daran erinnert hatte, daß er wie angenagelt dastand und ihr mit einem einfältigen Lächeln nachsah.

Als er sich schließlich abwandte und entfernte, schlenderte ihm eine Gestalt über den Weg.

»’n Abend!«

Es war George Shmid, der Mann, der an dem Tag, als Aaron zu Mrs. Hopley gekommen war, auf der Veranda gesessen hatte.

»Guten Abend«, erwiderte Aaron.

George begleitete ihn. »Freundschaft geschlossen?« sagte er.

»Wie?« Aaron sah in Georges wache blaue Augen, die lächelnd auf ihn gerichtet waren.

George wiederholte seine Worte. Seine dicke Unterlippe, die er ununterbrochen befeuchtete, bog sich in den Mundwinkeln nach oben. »Na ja, die Kleine, die bei Ihnen war.«

»Oh, Freya.«

»Richtig«, sagte George lächelnd.

Sie bogen in die Pleasant Street ein. Es hatte leicht zu regnen begonnen, doch der Regen trommelte auf die Blätter wie auf ein Dach, und kein Tropfen drang hindurch.

»Wo haben Sie sich heute umgesehen?«

Aaron blickte ihn wieder an, und ihm fiel ein, daß er Mrs. Hopley auf ihre Frage, wie er seinen Tag verbracht habe, geantwortet hatte, er habe »sich umgesehen«. Aber er brachte es nicht über sich, George gegenüber Interesse zu heucheln, und obendrein war es ihm egal. Er war viel zu glücklich, um sich nach Gesellschaft zu sehnen. Mit einem unbestimmten, andeutungsweise höflichen Lächeln trat er auf den Betonweg, ging schneller und ließ George hinter sich, der immer noch vor sich hin murmelte.

5

Von diesem Tag an waren Aarons glücklichste Stunden jene, die er mit Freya verbrachte. Sie begegneten einander fast täglich irgendwo in der Stadt, und weil sie sich nie verabredeten, waren ihre Begegnungen zufällige Überraschungen. Sie begrüßten sich, als hätten sie nur ein Zimmer zu durchqueren gehabt. Dieses Zimmer war Clement, und es war voller grandioser Möbel, interessantem Krimskrams und zaubermächtiger Teppiche. Clement war ihre ganze Welt.

Die Stelle am Fluß, von der Freya gesprochen hatte, war eine stillgelegte Messerfabrik, ein langes, niedriges Gebäude aus schmalen Holzplanken, die früher einmal rot angestrichen gewesen waren. Die Stelzen hinten waren eingebrochen, und die vorne waren herausgerissen worden, so daß das Haus aussah, als wäre es ihm fast gelungen, sich in selbstmörderischer Absicht in den Fluß zu stürzen. Aaron und Freya benutzten eine alte Leiter, um durch eine Seitentür hineinzugelangen.

»Was für eine großartige Rostbude!« rief Aaron beim Eintreten, von der eigenen Eloquenz berauscht. »Was für ein Wunderwerk der Zerstörung!«

Sie tasteten sich über abschüssige, verfaulte Dielen, die so morsch waren, daß sie nicht einmal mehr knarrten, zur eingestürzten Rückwand entlang, gegen die eingeschlossenes Flußwasser schwappte. Hier saßen sie auf einem großen bequemen Balken, der schräg in der Ecke lag, und betrachteten das Gewirr lädierter Maschinenteile. Finger aus Sonnenlicht drangen durch Löcher in Wänden und Decke herein und deuteten auf bestimmte Stellen, als wollten sie die Aufmerksamkeit darauf lenken. Dieser Ort gehörte ihnen ganz allein. Niemand sonst hatte Anspruch auf ihn erhoben, weder durch einen Blick noch durch ein Wort.

Meistens war Freya hier ernst und still. Aaron kauerte sich auf den Balken und starrte gebannt und mit benebeltem Lächeln vor sich hin. Er stellte sich den Ort summend und geschäftig und blinkend vor – Männer, die mit ihren Rufen das Getöse der Maschinen zu übertönen versuchten, die Fabrik auf dem Höhepunkt ihrer Produktion und dann der Niedergang, bis der Besitzer sie verkaufte oder an gebrochenem Herzen starb, und der allmähliche Beginn des noch immer anhaltenden Verfalls des verlassenen Gebäudes. Manchmal starrte er nur auf die geborstenen Riemen, die verrosteten Radzähne und Messerteile, die auf dem Boden lagen, und ließ sich alles mögliche durch den Kopf gehen.

Oder Freya deutete auf einen rostzerfressenen Gegenstand, der halb aus dem stehenden Wasser unter ihnen herausragte. »Schau!« Ihre Stimme war der Inbegriff des Staunens. »Hast du schon mal so was Altes gesehen?«

Aaron blickte stumm hin, und seine Gedanken nahmen behutsam die gleiche Richtung wie die ihren. Nichts auf der Welt war so alt wie dies hier.

»Kannst du dir vorstellen, wie es hier bei Schnee war?« fragte Aaron einmal aufgeregt. »Die ganzen glänzenden Maschinen und Messer und draußen der Schnee?«

Zu anderen Zeiten kam der Ort ihnen furchtbar komisch vor. Die sichtbaren Beweise der Zerstörung durch Mensch und Natur brachte sie zum Kichern, wie es Kindern manchmal in der Kirche oder bei Beerdigungen passiert. So war es eines Nachmittags, als sie mit Tüten voll billiger Süßigkeiten kamen, die Aaron im Kaufladen gekauft hatte.

Er half ihr auf den Balken, und sie saßen da und kauten schmatzend die Zuckerherzen mit Botschaften, die Lakritzstangen und Toffeehütchen, deren braunes und gelbes Einwickelpapier im Wasser unter ihren Füßen schwamm.

»Komm, wir tanzen!« sagte Freya.

Aaron ergriff sie an den Händen und wirbelte sie im Kreis, während er sich auf dem breiten Balken drehte.

Dann spürte Aaron, daß jemand da war. Er sah zum höhergelegenen Eingang und erkannte die Silhouette einer Gestalt. Er ließ Freya ausschwingen, bis sie an seinem Körper zum Halten kam; ihr leichtes Gewicht brachte ihn nicht ins Stolpern. Der Mann im Eingang war Pete McNary.

»Hallo!« sagte Pete im Ton sprachloser Überraschung.

»Hallo!« rief Aaron fast im gleichen Augenblick. Er ließ Freya los und lachte ein wenig, verlegen und verärgert. »Was machen Sie denn hier?«

Pete stand reglos da; sein Gesicht war im Schatten nicht zu erkennen. »Bin auf dem Heimweg. Und was machen Sie hier?«

Aaron konnte es noch nicht fassen, daß er da war, daß jemand imstande war, in diesen Ort hineinzuschauen und ihn und Freya dort zu sehen. »Ach, nichts Besonderes«, erwiderte Aaron, der noch immer lächelte. Er warf einen Blick auf Freya, die mit den Händen hinter dem Rücken auf dem Balken stand und in einer Haltung an der kaputten Mauer lehnte, die ihn daran erinnerte, wie sie an dem Nachmittag, als er sie zum erstenmal gesehen hatte, am Baum gelehnt hatte.

»Ich habe Stimmen gehört und nicht gewußt, was hier los ist«, sagte Pete zur Erklärung, aber nicht ohne Selbstgerechtigkeit.

»Oh, hin und wieder kommen wir hierher«, sagte Aaron.

Pete sah Aaron an, der ihn mit ebenso festem Blick ansah. Keiner wußte etwas zu sagen. »Tja, ich muß weiter.«

Aaron lauschte den langsamen Schritten auf der Leiter. Er streckte die Hand aus, und Freya ergriff sie.

6

Auf Aarons unermüdliche Fragen erzählte Freya, sie sei zehn Jahre alt und nie zur Schule gegangen, weil sie ihrer Mutter helfe, die vom Waschen und Bügeln lebe. Doch Aaron hatte noch nie erlebt, daß sie ihn verlassen hätte, um ihrer Mutter zu helfen, oder daß sie sich außerhalb der Essens- und Schlafenszeiten zu Hause aufhielt. Nie stellte er sich Freyas Mutter bei der Arbeit mit anderer Leute Wäsche vor, und nie schien Freya irgendeinen Gedanken daran zu verschwenden. Beide waren viel zu sehr mit ihren eigenen Phantasiebildern beschäftigt, die alles, was Aaron in Filmen gefunden hatte, weit übertrafen. Freya ging nie mit ihm ins Kino, und er hatte aufgehört, sie zu fragen, weil er selbst kaum noch das Bedürfnis danach hatte.

Oft saßen sie auf dem Hügel, dort, wohin Aaron an seinem ersten Abend gestiegen war und von wo man eine schöne Aussicht auf die Stadt hatte. Mit ein paar Sätzen konnten sie Clement für sich wiedererschaffen, wie es zur Revolutionszeit gewesen war oder damals, als Männer im Gehrock und Frauen mit Wespentaille es bewohnten und als die Messerfabrik solide und schöne Messer den Fluß hinunter verschickte. Und zweifellos besänftigten die Tagträume, die er mit Freya durchlebte und in denen sie die Geschicke von Leuten lenkten, die sie sich ausdachten, seine Gewissensbisse ob der eigenen Untätigkeit. Wohlgefühl lullte ihn ein auf dem sonnigen Hügel. Er betrachtete die paar Autos und Fußgänger auf dem Trevelyan Boulevard wie ein Marionettentheater und fühlte sich mit allem, was er sah, im Einklang. Züge pufften wie Spielzeugeisenbahnen in den Bahnhof und schienen von Güte und Vollkommenheit des Universums zu künden. Einige dieser Gedanken versuchte er Freya zu erklären, doch falls sie ihn verstand, ließ sie sich nichts davon anmerken, wie sie neben ihm saß und mit ausdrucksloser Miene auf die Stadt blickte.

Das Band zwischen ihnen war leichter als Luft. Es war ein Band der völligen individuellen und beiderseitigen Freiheit, denn keiner der beiden kannte die Bürde einer einzigen Pflicht oder Verpflichtung, nicht einmal dem anderen gegenüber. Und gleichzeitig gab es zwischen ihnen eine stillschweigende Übereinkunft, daß sie die Erwählten von Clement waren, daß alles, was sie sahen, nur zu ihrer Unterhaltung inszeniert wurde. Freude umstrahlte ihre Köpfe wie eine Gloriole, und daß sie darum wußten, verriet sich vielleicht nur in der arroganten Unschuld, mit der sie – ob allein oder zusammen – gingen und schauten.

7

»In letzter Zeit haben Sie die kleine Wolstenholme ganz schön oft gesehen, was?«

Aaron blinzelte. Er war gerade aus dem Bad gekommen und wäre fast im Flur mit ihr zusammengestoßen. »O ja«, sagte er offen und lächelnd. Er hatte Freya vor nicht ganz einer halben Stunde zuletzt gesehen. »Wir gehen oft miteinander spazieren.«

Mrs. Hopley nickte und betrachtete Aarons Gürtelschnalle, die mit dem Buchstaben B verziert war. »Kann natürlich alles völlig harmlos sein, aber es gibt welche, die sehen das anders.«

»Anders?« Die Seife flutschte ihm aus der Hand und rutschte zur Treppe.

»Richtig. Macht keinen guten Eindruck auf die Leute, wenn ein Mann sich mit so einem Kind abgibt.« Sie sagte es schnell.

Aaron war ein paar Stufen hinuntergestiegen, um die Seife zurückzuholen. Sie war staubig und ekelhaft anzufassen. Er pustete auf sie, öffnete den Waschlappen und legte sie hinein. Als er aufblickte, waren Mrs. Hopleys Augen groß und häßlich.

»Obwohl ich nicht wüßte, warum es die Leute kümmern sollte«, sagte sie verächtlich.

»Was?«

Mrs. Hopley sah ihn an. Dann blickte sie auf den Boden, als suchte sie nach den richtigen Worten. Erbittert, wie im Selbstgespräch, sagte sie: »Warum es die Leute kümmern sollte, was mit Gesindel wie den Wolstenholmes passiert!«

»Was?«

»Gesindel, jawohl. Den Vater hat’s bei einer Kneipenschlägerei erwischt. Und die Mutter ist das gleiche Gesindel. Richtiges Lumpenpack, eine Schande für unsere Stadt.«

»Der Vater ist ums Leben gekommen? Hier in Clement?«

»In unserer Stadt gibt’s keine Kneipen.«

Aaron schwieg.

»Ich nehme an, Sie suchen sich langsam eine Arbeit.«

Aarons kreisende Gedanken kamen plötzlich zum Stillstand, und all sein Denken konzentrierte sich auf sein Nichtstun. »Ja, bin damit beschäftigt.« Er fragte sich, ob er ihr alles noch einmal erklären solle, ob er ihr sagen solle, daß er sein ganzes Geld für genau diese Art von Urlaub gespart hatte.

»Dann würde ich an Ihrer Stelle bald anfangen.« Ihr Blick wanderte zur Treppe und schien sie hinter sich herzuziehen.

Aaron stand vor Scham- und Schuldgefühlen stocksteif da. Er würde sich auf der Stelle nach einer Arbeit umsehen.

8

»Morgen, Pete!«

Pete trat in seinen Laden und hantierte am Schlüsselbund.

Aaron öffnete den Mund, um seinen Gruß zu wiederholen, als ein Schock ihn durchfuhr. Pete hatte nichts erwidert. Natürlich hatte er ihn gehört, er mußte ihn sogar gesehen haben. Pete hatte ihn geschnitten!

Aaron ging schnell am Friseurladen vorbei, bevor Pete Zeit hatte, sich umzudrehen und aus dem Schaufenster zu schauen. Eigentlich hatte er sich heute morgen rasieren lassen wollen, bevor er auf Arbeitssuche ging. Aber wahrscheinlich war es ein Zufall, dachte er, während er langsam weiterging. Dennoch verstörte es ihn, denn er merkte, daß er nicht den Mut aufbrachte, den Friseurladen zu betreten.

Am liebsten hätte er den Rest des Morgens damit verbracht, auf den Straßen zu gehen, die er liebte, die Verärgerung über Mrs. Hopleys Bemerkungen zu lindern und sich Erklärungen für Petes Benehmen auszudenken, doch statt dessen machte er sich finster entschlossen auf den Weg zur Lederfabrik, weil sie der naheste Ort war, wo er vielleicht Arbeit bekommen konnte, und weil sie häßlich war und ihm nicht gefiel. Mrs. Hopleys Worte hatten weniger an sein Gewissen ob seiner Untätigkeit gerührt als in ihm die Furcht geweckt, die ganze Stadt könne ihn für einen Faulenzer halten, wenn er nicht bald eine Arbeit aufnahm. Was, wenn beispielsweise Pete seinen Gruß nicht erwidert hatte, weil er ihn für einen Taugenichts zu halten begann?

Der Vorarbeiter, der von einer Arbeit hereinkam, die seine Hände mit Öl verschmiert hatte, teilte Aaron mit, daß in der Fabrik momentan keine Stelle frei sei. »Und wenn Sie nicht als Packer arbeiten wollen, dann sind Spezialkenntnisse selbstverständlich Voraussetzung.«

»Ja, natürlich.«

Der Vorarbeiter sagte noch etwas und deutete irgendwohin, aber Aaron hörte ihm nicht zu. Er konnte nur auf sein Gesicht starren. Die entsetzliche Veränderung ihrer Beziehung von einer Grußbekanntschaft zum Verhältnis zwischen Arbeitssuchendem und Arbeitgeber hielt Aaron im Bann ihrer Folterqualen.

Als der Vorarbeiter schwieg, sagte Aaron: »Ich danke Ihnen sehr«, und floh den Abhang empor.

Er betrat die überdachte Brücke und ging zu einem der Fenster auf der fabrikabgewandten Seite. Er legte die Unterarme auf die Fensterbrüstung, senkte den Kopf und begann an seinen Daumennägeln zu knibbeln. Er versuchte sich in den denkbar kleinsten Winkel zu verkriechen.

In den letzten zwei Minuten, in dem Gespräch mit dem Vorarbeiter, hatte sich die Welt, in der er vier Wochen lang gelebt hatte, von Grund auf verändert. Die Beziehung zwischen der Stadt und ihm war plötzlich häßlich, lieblos, belastet. Er hatte das Gefühl eines unberührten Paradieses vertrieben. Er hatte nicht nur nach Arbeit gefragt, er war abgewiesen worden!

Als er so am Fenster kauerte, schien sich die Stadt plötzlich kalt und feindselig um ihn herum zu erheben. Er schauderte, als widerfahre ihm etwas Übernatürliches. Das vertraute Flußufer erschreckte ihn nicht weniger als der Kirchturm über den Bäumen oder der Stall, dessen Dach er soeben noch erkennen konnte und wo er so oft die Ziegen besucht hatte. Beim Anblick von Mrs. Coolidge, der Frau des Postmeisters, die die Brücke am anderen Ende betrat, verkroch er sich noch tiefer in das Fenster. Er fragte sich, ob sie ihn ansprechen würde. Er erinnerte sich, daß sie ihn letzten Sonntag in der Kirche angelächelt hatte. Fast jedermann lächelte ihn an, und wenn die Gemeinde sich zum Singen erhob, reichte man ihm ein geöffnetes Gesangbuch. War es möglich, daß dieses Lächeln vom ersten Tag an sarkastisch oder mitleidig gewesen war?

Aaron drehte sich abrupt um und zwang sich, mit einer Verbeugung zu sagen: »Guten Morgen, Mrs. Coolidge!«

»Guten Morgen!« erwiderte sie mit erstaunter, brüchiger Stimme. Sie räusperte sich und ging schnellen Schritts weiter.

Aaron sah ihr nach, und eine Welle der Unsicherheit überkam ihn. Wie hatte sie das gemeint? Wie hatte sie dieses »Guten Morgen« gemeint? Er hielt sich an der Fensterbrüstung fest und mußte sich zwingen, nicht hinter ihr herzulaufen und Antwort auf seine Fragen zu verlangen.

Mit gerunzelter Stirn starrte er vor sich hin und begann an seinen Nägeln zu zupfen. Er dachte an Mrs. Hopley, erinnerte sich an Pete vor der Ladentür und entsann sich, daß Mac am Abend zuvor einen distanzierten Eindruck gemacht hatte. Wally, der Weichensteller, hatte sich damit begnügt, ihm zuzuwinken. Er erinnerte sich an George Shmids lächelnden Mund, der ihn über Freya ausfragte. Er entsann sich mit einem Mal der schwindenden Aufrichtigkeit in den Stimmen der Leute und sogar mancher Situation, in der er möglicherweise geschnitten worden war und geglaubt hatte, man habe ihn nicht gesehen. Angenommen, die ganze Stadt verdächtigte ihn! Ihn und Freya! Denn selbstverständlich hatte jedermann in Clement ihn irgendwann mit ihr gesehen. Er versuchte sich zu erinnern, ob irgend jemand je Freya oder die Wolstenholmes erwähnt hatte. Waren sie so verkommen, daß niemand von ihnen sprach? Verdächtigte die Stadt ihn, oder tat sie es nicht? Und wenn ja, warum sagte man es ihm dann nicht ins Gesicht?

Hinter sich hörte er einen Knall wie von einem Schuß. Aaron drehte sich um und sah, daß ein Brett des Brückenbodens mit hohlem Klappern an seinen Platz zurückfiel und ein Wagen auf ihn zufuhr.

9

Die Erleichterung darüber, daß es sich nur um einen Wagen handelte, begleitete etwas wie ein Zerreißen in seinem Inneren und ein Nachlassen der Anspannung. Langsam und unbeteiligt formte sich in seinem Geist die Idee, seine Sachen zu holen und die Stadt zu verlassen.

Statt des Trevelyan Boulevard wählte er die stille Straße, die an den Bahngleisen und am Fluß entlangführte, um zur Pleasant Street zu gehen. Er kam an einem alten Mann und an einer jungen Frau vorbei, die er nicht kannte und die ihn nicht beachteten. Und obwohl beide Begegnungen ihn leicht zusammenzucken ließen, begann er mit den Armen zu schlenkern, und diese Geste der Zuversicht gab ihm beinahe den Seelenfrieden zurück.

Nur einen Häuserblock entfernt trat George Shmid von Mrs. Hopleys Gartenweg auf die Straße und ging in die andere Richtung. Der Anblick seines gedrungenen, unerträglich vertrauten Rückens genügte. Aaron begriff auf einmal, daß er niemandem, den er kannte, unter die Augen kommen wollte – weder Mrs. Hopley noch dem Packer oder sonst einem ihrer Untermieter. Und trotzdem war er gleichzeitig versucht, George nachzulaufen und ihm alles zu erklären, nicht um Freyas oder seinetwillen, sondern um der Stadt willen. Aber selbst dann – wie sollte er ändern können, was heute vormittag mit der Stadt geschehen war? Und wie sollte er es erklären? Was gab es überhaupt zu erklären?

Seine Gedanken wurden von einem Gefühl überlagert, das er nicht sofort deuten konnte. Es kam ihm vor wie Schuldgefühle. Doch was hatte er sich zuschulden kommen lassen? Warum war er nicht gut genug gewesen? Was war der Makel an ihm, der alle seine Bemühungen, sich an die Stadt anzupassen, zum Scheitern verurteilt hatte? Dieser geheimnisvolle Makel schien weiter als bis nach New York zurückzureichen und sich seinem Zugriff zu entziehen, so daß er sich nie davon würde befreien können. Doch im nächsten Augenblick brach dieser nebulöse Gedankengang ab, und er schien den Schuldgefühlen und ihrer Ursache wieder hilflos ausgeliefert zu sein.

Er drehte sich um und ging mit unsicheren, hastigen Schritten zu der stillen Seitenstraße zurück, die bis fast zur Fabrik führte, bevor sie sich nach einer Biegung in nördliche Richtung am Fluß entlang von der Stadt entfernte.

Das schmerzlichste war der Eindruck, daß es vielleicht nicht hätte sein müssen, der Eindruck der Zerstörung, die sein Fortgehen besiegelte. Bei jedem Schritt stürzte die Stadt mehr in sich zusammen – die Fassaden des Trevelyan Boulevard, Die heiße Kiste, all die schönen Bäume, die zwischen den Häusern standen, Mrs. Hopleys Haus und sein Zimmer, all die schönen Dinge, die er auf unerklärliche Weise zerstört hatte. Und Freya, seine beste Freundin. Bei der Vorstellung, sie nie wiederzusehen, wackelte er wie ein Betrunkener mit dem Kopf. Der Fluß, die Bahngleise, die Männer, die mit langsam ausholenden Schritten den Hang neben der Fabrik hochstiegen, die Zwölf-Uhr-Sirene, die guten Mahlzeiten, die Macs Hände auf die Theke stellten, die Morgen in seinem großen Zimmer und die mit ihnen verbundene Freude am Dasein und das Gefühl des ewig Möglichen.

Er ging, bis vom Fluß nichts mehr zu sehen war, bis die Sonne ihren Stand verändert hatte, ohne zu wissen, wohin er ging, außer daß er der Stadt den Rücken kehrte. Seine Füße schlurften trübselig durch hohes Gras. Dann stolperte er und war zu müde, sich aufzurichten. Die Stille war eine Wohltat. Der Fluß, die Bahngleise, die Fassaden des Trevelyan Boulevard zogen als Bilder vor seinen Augen vorbei. Die grauhaarigen alten Männer, die Kirche und die Gesangbücher, die Eisenbahn, Freya, die Messerfabrik, die Knospe am Rosenstrauch, die Morgen des ewig Möglichen und des ewigen Nichts.

Der Schatz

Die khakifarbene Allzwecktasche stand mutterseelenallein neben einem Pfosten mit Münzschlitz auf dem Bahnsteig der Subway. Über den Comic strip in der Daily News beäugte er sie fast eine Minute lang, bevor er eine epileptisch anmutende Körperverdrehung vollzog, die damit endete, daß sein großer Kopf wackelte. Langsam taxierte er die sieben oder acht Leute, die auf dem Bahnsteig warteten. Ein Zug fuhr ein, veränderte die Zusammensetzung der Leute, doch als er verschwand, stand die khakifarbene Tasche noch immer da. Der Mann näherte sich vorsichtig, humpelnd mit seinem krummen linken Bein und dem langen und geraden rechten, wie ein schadhaftes Maschinenteil, die vergessene Zeitung in der Hand.

Vor ihm ging ein Soldat; er warf einen Penny in den Schlitz und blieb stehen, die Schuhe neben der Tasche gekreuzt, deren Farbe der seiner Hose entsprach. Der Krüppel schlurfte zur Seite, die großen Füße im Krebsgang bewegend. Als der nächste Zug hielt, stieg der Soldat ein, ohne einen Blick auf die Tasche geworfen zu haben.