Die Stille nach dem Fest - Kate Dark - E-Book

Die Stille nach dem Fest E-Book

Kate Dark

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Beschreibung

Sechzehn Verbrechen zum Fest, angerichtet von ebenso vielen Autorinnen und verfeinert mit weihnachtlichen Rezepten. Spannendes, Komisches, Tragisches – für jeden Geschmack ist etwas dabei. Wählen Sie als Vorspeise vielleicht einen misslungenen Giftmord an Punsch, als Hauptgang die tragischen Folgen eines unerfüllten Kinderwunsches an Spitzkohl aus dem Ofen und zum Dessert die wundersame Wandlung einer fiesen Lehrerin an Tannenbaum-Kokosmakronen Die Autorinnen sind Mitglied bei den "Mörderische Schwestern e. V.". Alle haben sich dem Krimi verschrieben, jedoch zeigt diese Kurzkrimisammlung, dass kein Krimi dem anderen gleicht.

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Seitenzahl: 307

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IMPRESSUM
Inhalt – Geschichten
Inhalt – Rezepte
1. Ein Jahr Weihnachten
Vanillekipferl, Großmamas Rezept
2. Das Kind unterm Weihnachtsbaum
Pfefferplätzchen
3. Allüberall auf den Tannenspitzen …
Schlesischer Mohnstollen frei nach Helene Werthmann
4. Stille Nacht – Narzissten
Honigkuchen vom Blech ‒ todsicheres Rezept
5. Gundas Geschenk
Spitzkohl aus dem Ofen
6. Ein verhängnisvoller Adventskalender
Weißer Glühweinsirup
7. Der Weihnachtsstern
Weihnachtsschmaus für Vielbeschäftigte
8. Harzer Einsamkeit
Kartoffelsalat – Rezept für 4 Personen
9. Die Großmutterverschwörung
Bratäpfel mit Vanillesauce für Faule
10. Weihnachtsbaum auf Reisen
Kokos-Tannenbäume
11. Der Nummer Eins Adrenalin Killer
Köstliche vegane Zimtschnecken
12. Der Kavalier von Strasbourg
Tarte flambée oder Flammkuchen
13. Goja Champuru
Goya Champuru
14. Tod auf den Stufen
Hefe-Zimt-Kranz mit Zuckerguss
15. Punsch bis zum Abwinken
Tonis Punschrezept
16. Ildenow im Schnee
erzen selber gießen
17. Krippenspiel
Häckerle
18. Bin ich tot?
Opa Paules Lieblingskuchen
19. Bethmännchen
Bethmännchen – Das Rezept
Autoren

Die Mörderischen Schwestern

Die Stille nach dem Fest

Herausgeber: Kate Dark, Anja Feldhorst, Sabine Lettau

Wiebke Salzmann

IMPRESSUM

Vollständige Ausgabe

Orginalausgabe

© 2023 Elysion-Books, Leipzig

ALL RIGHTS RESERVED

Dies sind keine biografischen Geschichten. Jede Ähnlichkeit mit Personen, die leben, gelebt haben oder noch leben werden, jede Übereinstimmung der Namen, Orte, Uhrzeiten und sonstigen Gegebenheiten früher, heute oder später, kann bloß auf zufälligem Zusammentreffen beruhen, und der Verfasser/die Verfasserin lehnt dafür und für die »schmutzige« Einbildungskraft der Leser die Verantwortung ab.

UMSCHLAGGESTALTUNG: Ulrike Kleinert

www.dreamaddiction.de

FOTO: © Bigstockphoto

ISBN (gedrucktes Buch) 978-3-96000-297-0

ISBN (vollständiges Ebook) 978-3-96000-298-7

Mehr himmlisch heißen Lesespaß finden Sie auf

www.Elysion-Books.com

Inhalt – Geschichten

1. Alex Roller: Ein Jahr Weihnachten 7 S.

2. Ethel Scheffler: Das Kind unterm Weihnachtsbaum 20 S.

3. Anja Feldhorst: Allüberall auf den Tannenspitzen 27 S.

4. Franziska Steinhauer: Stille Nacht – Narzissten 44 S.

5. Jana Burkhardt: Gundas Geschenk 57 S.

6. Jana Thiem: Ein verhängnisvoller Advent 69 S.

7. Julia Dotterweich: Der Weihnachtsstern 81 S.

8. Kate Dark: Harzer Einsamkeit 96 S.

9. Kristin Brückner: Die Großmutterverschwörung 107 S.

10. Thea Lehmann: Weihnachtsbaum auf Reisen 117 S.

11. Sabine Hirschfeld: Der Nummer Eins Adrenalin Killer 127 S.

12. Sabine Lettau: Der Kavalier von Strasbourg 138 S.

13. Slavika Klimkowsky: Goja Champuru 148 S.

14. Sylke Hörhold: Tod auf den Stufen 162 S.

15. Sylke Tannhäuser: Punsch bis zum Abwinken 179 S.

16. Wiebke Salzmann: Ildenow im Schnee 189 S.

17. Andrea Maluga: Krippenspiel 209 S.

18. A.C. LoClair: Bin ich tot? 219 S.

19. Christina Auerswald: Bethmännchen 235 S.

Autorinnen 246 S.

Inhalt – Rezepte

Vanillekipferl 19 S.

Pfefferplätzchen 26 S.

Schlesischer Mohnstollen 40 S.

Honigkuchen vom Blech 55 S.

Spitzkohl aus dem Ofen 67 S.

Weißer Glühweinsirup 79 S.

Weihnachtsschmaus für Vielbeschäftigte 94 S.

Kartoffelsalat 106 S.

Bratäpfel mit Vanillesauce für Faule 116 S.

Kokos-Tannenbäume 126 S.

Köstliche vegane Zimtschnecken 137 S.

Tarte flambée/Flammkuchen 147 S.

Goya Champuru 160 S.

Hefe-Zimt-Kranz mit Zuckerguss 177 S.

Tonis Punschrezept 189 S.

Kerzen selber gießen 205 S.

Häckerle 217 S.

Opa Paules Lieblingskuchen 233 S.

Bethmännchen 245 S.

1. Ein Jahr Weihnachten

Alex Roller

Wie könnte ich vergessen? Meine Lunge fühlt sich an, als hätte sie jemand gewaltsam eingedrückt, gleich einer leeren Dose in einem eisernen Griff. Schwer atme ich aus, versuche, mir vorzustellen, ich kehre von einem Festtagsspaziergang durch verschneite Straßen nach Hause zurück. Bin erfüllt von Vorfreude auf duftende Kipferl, buttrig süß, von Vanille durchzogen, Schmelz, der nach dem Hineinbeißen auf der Zunge zergeht. Erfüllt von Weihnachten. Weihnachten, wie es einmal war.

Verstrickt in die Erinnerung lausche ich dem Knacken der Zweige unter meinen Füßen, dem Flüstern des Waldes, dessen Kronen sich hoch oben biegen, als hielten sie Ausschau: nach mir, nach meinen Verfolgern, nach dem Leben, das es, seit ich untergetaucht bin, nicht gibt.

Die Zähne aufeinandergepresst stapfe ich voran, bleibe erst vor dem in die Jahre gekommenen Jägerzaun stehen, der wie ein Gewirr aus Brettern aus dem Waldboden wächst. Verborgen hinter wuchtigen Stämmen starre ich in den Garten. Mystisch wie eine verwunschene Lichtung breitet er seinen Rasenteppich vor mir aus. Kein Schnee. Aber wann hatten wir den am Hamburger Stadtrand zu Weihnachten?

Aus verwitterten Terrassenplatten ragt das Ein- familienhaus in die Höhe. Bemooste Dachüberstände, weiß getünchter Giebel, vom Frost der Jahrzehnte zerfurcht, spitz mit grün lackierten Fensterläden, dunkle Scheiben zwischen hölzernen Sprossen, Augen gleich, deren Blick mich einfängt.

Ich fasse die Schlaufe fester, zerre das Gewicht, das ich seit einer gefühlten Ewigkeit hinter mir her schleife, zwischen den Bäumen hervor, wuchte es über die gekreuzten Bretter. Mit einem dumpfen Schlag fällt es zu Boden.

Mein Blick huscht über den kurzgeschorenen Rasen, vorbei am Schuppen, weiter zu der mächtigen Lorbeerhecke am Ende des Gartens, wieder zurück. Stille. Durchtränkt mit dem Rauschen der Bäume und Vogelstimmen. Stille, die keine ist.

Mit flinken Schritten wälze ich das Bündel über die Platten bis vor die bodentiefen Fenster, ducke mich abseits in die Finsternis des Treppenschachtes, rücke den Rucksack auf meinen Schultern zurecht. Efeu windet sich die gemauerten Wände entlang, sprengt Jahr für Jahr zusammen mit dem Frost Mörtelschollen ab, die ich unter meinen Sohlen bei jeder noch so achtsamen Bewegung zermahle.

Ich kneife die Lippen zusammen, spüre, wie sich die Muskeln in meinem Nacken verspannen. Die Terrasse ist einsehbar. Nicht vom Nachbarn zur Linken, dessen Haus im gleichen Abstand zur Straße errichtet wurde, sondern von der Villa jenseits des Gartens.

Ich weiß das.

Trotzdem bin ich hier.

Aus meinem Versteck heraus linse ich über die Betonstufen hinweg zurück zu den Fenstern, in das Wohnzimmer, zu dem sie gehören. Der Raum ist verwaist, die Verbindungstür zur Küche nur einen schmalen Spalt geöffnet. Ein Schatten bewegt sich dahinter.

Du.

Wer bitte schön soll das aushalten? Der eklige, stumpfe Geschmack auf der Zunge macht mich wahnsinnig. Die Küchenfront entlang angle ich nach der Dose mit den Keksen oben auf dem Hängeschrank, streife sie. Die rosafarbenen Tabletten müssen sein, sagt Doris. Vermutlich hat sie recht. Schließlich ist sie gelernte Pflegerin. Jedes Mal, wenn ich nicht will, läuft sie rot an wie Herr Mühlwein, während er uns Bengel um den Exerzierplatz scheuchte, auf dem Schulhof. Grauslich. Vor allen Dingen die Rosafarbenen.

Dass Doris die Kekse so weit auf den Schrank schiebt, ist auch grauslich. Auf den Stuhl steigt sie dafür, glaubt, dass ich es nicht mitbekomme. So tüdelig bin ich aber nicht. Ich könnte auch hinaufsteigen, aber dann schimpft sie mit mir. Ich strecke mich noch einmal. Mitten in der Bewegung halte ich inne, lausche, rücke die Hornbrille auf der Nase zurecht. Etwas Schwarzes, groß wie eine Hummel, brummt in elegantem Bogen an mir vorbei Richtung Sprossenfenster, aus meinem Blickfeld hinaus, lässt mich verdutzt zurück. Gespenster. Ich höre und sehe sie – sagt Doris. Erneut recke ich mich. Gleich bekomme ich die Dose zu fassen. Da! Wieder! Von einer Fliege kommt das Geräusch nicht. Als wäre ich wahrhaftig um Herrn Mühlweins Exerzierplatz gehechtet, fängt mein Herz an zu bummern, stärker als das mit den Rosafarbenen sein soll. Doris? Ist die nicht vorne zur Tür hinaus? Barfuß taste ich mich Schritt für Schritt auf den kalten Fliesen die braune Arbeitsplatte entlang zur Verbindungstür vor, schiebe den schmalen Spalt Millimeter für Millimeter auf. Herrje: Ich sehe nichts, nicht einmal mit dem Brillenglas am Türspalt. Im Wohnzimmer ist es finster. Haben wir Nacht? In der Küche ...? Die Fensterläden! Natürlich. Die habe ich gehört, das Einschnappen der Anker. Ich lasse die angestaute Luft aus meiner Brust entweichen, nur um sie beim nächsten Atemzug wieder anzuhalten. Warum schließt Doris die Läden? Ich habe versprochen, nicht alleine spazieren zu gehen.

Unsicher blinzle ich noch einmal durch den Spalt, warte, dass die Augen sich an die Dunkelheit gewöhnen. Da! Schwarz verhüllt, kaum auszumachen vor den finsteren Scheiben. Sie hat einen Rucksack auf. Ist der neu? Und eine Axt! »Doris?« Ich stoße die Tür auf, Licht schlägt in den Raum, wirft lange Schatten. Mit einem Ruck fährt sie zu mir herum.

Da erst sehe ich das Bündel vor der großen Schiebetür.

Die Verunsicherung in deiner Stimme bricht sich an den kahlen Wänden, dort, wo einst Fotos hingen, Fotos einer Familie: Vater, Mutter, Kind. Ich taste nach dem Schalter. Die Lampe auf dem Fernsehschrank flammt auf, umhüllt den langestreckten Raum durch kleine Glasmosaike mit Licht, uns mit ihm.

In einem karierten Schlafanzug, den du unmöglich selbst ausgesucht haben kannst, lehnst du am Türrahmen wie ein morscher Baum mit zerzausten Haaren, schlaksig, mager, mit breiter Brust und einer kantigen Brille auf der Nase, die ich noch nicht kenne – verletzlich.

Ich stürze auf dich zu, bereit dich zu umschlingen, lege, als ich dein erschrockenes Gesicht bemerke, lediglich die Fingerspitzen auf deinen Arm. Dein Blick hängt an dem Bündel, das ich vor dem Schließen der Fensterläden ins Wohnzimmer gerollt habe, lässt mich Zeuge werden, wie deine Augen an Glanz gewinnen, tanzen, bis Freude dein ganzes von Falten überzogenes Gesicht ergreift, auf mich überspringt.

»Danke, Doris«, flüsterst du.

Doris! Die hoffnungsvolle Weite in meinem Brustkorb fällt zusammen, wird zusammengepresst auf Normalzustand. Normal, seit Mama tot ist.

Lass ihm Zeit!

Der Baum, die Sterne ... Du wirst sehen, er wird dich erkennen!

Das verletzte Kind in mir reibt sich die Tränen aus den Augenwinkeln. Unter dem Aufgebot all meiner Kräfte krümme ich die Mundwinkel zu einem Lächeln, wünsche es mir zumindest, korrigiere:

»Nicht Doris. Ich bin es: Eleonora.«

Deine Brauen zucken in die Höhe, so kurz, dass ich jetzt, wo sie wieder über deinen grauen Augen ruhen, glaube, es mir eingebildet zu haben. Gewaltsam würge ich den trockenen Pfropfen in meiner Kehle hinunter.

Lass ihm Zeit.

»Der muss in die Ecke.« Dein Zeigefinger zeichnet unsichtbare Striche in die Luft, dirigiert meine Aufmerksamkeit hin zum schwarzen Ledersofa. Hat das Zittern zugenommen? Von der Couch zurück tastet sich mein Blick deinen Körper hinab: Hals, Schlafanzug, Füße – voller Sorge, Anzeichen zu entdecken, dieser Abend könne unser letzter sein. Nur die Hände zittern ein klein wenig mehr, beruhige ich mich, obwohl ich es besser wissen müsste.

Das Wohnzimmer hat sich nicht verändert. Beige Wände, massive Holzmöbel, Ledergarnitur mit Couch und zwei wuchtigen Sesseln. Über dem Esstisch, eingerahmt von sechs hochlehnigen Stühlen: die braunrote Tiffany-Lampe, passend zur kleinen am Fernseher, die ihr sanftes Licht über uns legt. Durch die Ritzen der Fensterläden nach draußen dringen lässt?

Aus der Villa hätte mich jeder entdecken können.

Zusätzlich zu den Läden ziehe ich die langen Vorhänge vor die Fenster, schließe nach einem Blick in Küche und Flur die Zimmertüren. Reiß dich zusammen! Sie können das Haus nicht jeden einzelnen Tag bewachen.

Du scheinst von alldem keine Notiz zu nehmen, zeigst weiter auf den Platz neben dem Sofa, suchst mit deinen schmalen Lippen nach Worten, findest sie nicht, seufzt, als es dir bewusst wird. Mit weiten Schritten durchquerst du den Raum, zerrst an den weißen Schnüren, die mir den Transport erleichtert haben. Der dünne Stoff deines merkwürdigen Nachtgewandes schlägt wie ein Segel gegen deine ausgemergelten Glieder. Ich möchte mit dir die steile Eichentreppe nach oben steigen, dir deine schwarze Hose reichen, Hemd und Weste, wie du sie früher an Festtagen getragen hast. Ein Blick zur Anrichte auf die goldene Uhr erstickt mein Begehren.

»Warte«, rufe ich, eile zu dir. »Wir müssen ihn doch erst aufstellen.« Ich streife den Rucksack ab, werfe ihn auf einen der Sessel, hole Baumständer und die lange Schachtel mit dem Weihnachtsschmuck unter dem Sofa hervor, unter das ich beides bei meinem letzten Besuch geschoben habe. Zusammen bugsieren wir den Baum, den ich mitgebracht habe, in den Ständer, richten den Stamm aus. Na also.Dank der Übung, die wir inzwischen haben, gelingt es beim ersten Versuch.

Als hätte der Anblick der grünen Nadeln vor der kahlen Wand die Tür zu deinem Gedächtnis einen weiteren Spalt aufgestoßen, marschierst du los, kehrst mit der Schere in der Hand aus der Küche zurück. Mit dem Durchtrennen der Schnüre entfaltet die Tanne ihre Zweige, mit ihnen einen harzig öligen Duft: Wald, Schnee, Maronen in Tüten aus Zeitungspapier ... Alles, was ich in meiner Kindheit in meinem Herzen konserviert habe.

Für die Länge eines Wimpernschlages glaube ich, auch ich kann vergessen.

Der Duft! Die Erinnerung überkommt mich so rücksichtslos, dass ich nach Luft schnappe. Herrgott, wie ich den Geruch liebe. Danke, Doris. Ich fahre zu ihr herum, will es laut aussprechen. Doris? Ihr Lächeln ist so anders, die feinen Fältchen um die Mundwinkel. Die Frau ist nicht Doris! Wer ist sie? Für die Länge eines Herzschlages bin ich überzeugt, meine Frau Anne stünde vor mir. Die Augen jedoch ... Die Güte. Ich presse mir die Faust auf die Brust. Mein Gott! »Nora!« Wie selbstverständlich der Kosename von Eleonora über meine Zunge springt. Und ... Ja! Ihr Lächeln wird breiter, quillt über.

»Papa.«

»Nora!« Heftig ziehe ich sie in meine Arme. Sie lacht. »Meine Kleine!« Wo ist sie so lange gewesen? Jetzt ist sie hier, Weihnachten, da kommt sie immer, sogar während ihres Studiums war das so, als ihre Mutter kein gutes Haar an ihr gelassen hat. Das habe ich auch dem Kommissar gesagt, gerade erst vor ein paar Tagen, dem, der nach dem Tod von Anne keine Ruhe geben wollte, mich mit all diesen Fragen gelöchert hat, bis mir ganz schwindelig war. Wo meine Tochter sein könnte? Ob ich Kontakt zu ihr habe?

Die Angst springt mich an, wie aus einem Hinterhalt. Ich hätte das nicht sagen dürfen, das mit Weihnachten! Vor meinem inneren Auge sehe ich Glas splittern, schwarz vermummte Männer ins Haus stürmen, den Kommissar mir mein Mädchen aus den Armen reißen, vor dem Baum zu Boden werfen. Blut schießt durch meine Adern, dass mir schwindelig wird.

»Beruhige dich, Papa. Ich bin es.«

Ihre Stimme: warm, ahnungslos.

Ich finde keine Worte. Herrgott! Ich suche nach etwas, an das ich mich anlehnen kann. Die Hand, die sie mir auf die Wange legt, stützt mich. Mein Herz, das panisch durch meine Brust springt, wird ruhiger, lässt mich nach zwei tiefen Atemzügen ihr Lächeln erwidern. Der Kopf bleibt schwer, als trüge er eine Last. Stumm blicke ich Nora an. Da war etwas. Was wollte ich? Der Gedanke, der mir gerade so wichtig erschien, ist verschwunden. Meine Tochter ist kein bisschen älter geworden, seit wir die letzte Tanne aufgestellt haben, bemerke ich stattdessen. Die Wangen schmal, ebenmäßig, mit feinen Sommersprossen, die gleichen braunen Sprenkeln in den Augen, wie ihre Mutter.

Meine Nora.

Du siehst mich. Nicht Doris, keinen Fremden: mich – dein einziges Kind. Erneut schmiege ich mich an deine Brust, so fest, dass wir beinahe eins werden, vergrabe mein Gesicht an deinem Hals, atme deine Nähe mit jeder Pore. Tränen laufen mein Kinn hinab, verschmelzen zu Rinnsalen. Der Moment, für den ich gekommen bin. Den nur Weihnachten mir schenkt.

Sekunden, vielleicht Minuten verstreichen, bis wir uns von einander lösen, ich dir mit Blicken erzähle, wofür ich keine Worte finde – zusammenfahre, als es draußen knackt. Ist ein Ast der hohen Eiche auf die Terrassenplatten gestürzt? Ist jemand gegen den Zaun getreten?

So dumm wären sie nicht. Mit dem Handrücken wische ich mir die feuchten Spuren von den Wangen, husche zum Fenster, spähe zwischen den Vorhängen durch die Ritzen der Fensterläden hinaus. Nichts. Nichts, das ich sehen könnte. Was aber soll das heißen? Dass sie mir nicht auflauern? Nicht heute? Längst ihre Positionen eingenommen haben, außerhalb meines Sichtfeldes? Weil der Nachbar in der großen Villa sie alarmiert hat?

Irgendwann wird die Polizei hinter meine Besuche kommen, da gebe ich mich keiner Illusion hin. Nicht nur, weil mich jemand sehen könnte, sondern, weil du von mir erzählen wirst, von Weihnachten. Dann werden sie Vorkehrungen treffen, das Haus belagern, Scheinwerfer in die Erde rammen und Flutlicht auf mich hetzen. Sie werden mich stellen und ich werde meine gerechte Strafe auf mich nehmen. Ich wünsche mir nur so sehr noch ein bisschen Zeit. Zeit mit dir, Papa.

Als ich beim zweiten Fenster ebenfalls niemanden entdecke, beruhigt sich mein Herzschlag. Wir holen den Glaskrug von der Anrichte, schütten seinen Inhalt auf die lackierte Platte des Esstischs. Fünf Sterne, glänzend, aus rotlackiertem Papier, an silbernen Fäden. Für jedes Weihnachten, das wir zu zweit begangen haben, einer. Einträchtig hängen wir den Schmuck an den Baum.

»Ich habe auch dieses Mal einen mitgebracht«, sage ich, hole den Rucksack, der auf dem Sessel liegt, angle erst die grüne Keksdose mit den Kipferln, dann das Glas mit dem Stern heraus, öffne es. Du greifst hinein, streichst mit den Fingerkuppen über die Zacken. Ein Lächeln erobert deine Mundwinkel, weitet sich bis in jede Faser deines zerfurchten Gesichtes.

»Dass du daran gedacht hast«, sagst du.

Gemeinsam hängen wir den sechsten Stern zu den anderen, befestigen Kugeln und kleine Engel an den Zweigen, binden Schleifen dazwischen.

Ohne Vorwarnung nimmt mich der Moment mit in die Vergangenheit: Der Baum, die Teelichter, die ich entzündet habe, auf der Anrichte und dem kleinen Holztisch vor dem Sofa. Vater und Tochter aneinander gekuschelt auf dem gegerbten Leder. Obwohl nur wenige Kerzen brennen, steht die Wärme im Raum. Ich trage eine dünne Bluse, habe mich vorbereitet. Du krempelst dir die Ärmel deines Schlafanzuges hoch, versuchst es. Ich helfe dir. Die geschwungene Narbe mit den roten Zacken erschreckt mich wie am ersten Tag. Sie führt mir die anderen Verletzungen vor Augen, die ich entdeckte, als du dich ein einziges Mal unachtsam zeigtest, ich die Tragödie erkannte, die Verzweiflung, die sich in den Misshandlungen widerspiegelte – dem grenzenlosen Hass meiner Mutter, den sie seit dem Unfall über dir ausschüttete.

Wie hatte sie das tun können.

Erst recht, als du dich nicht wehren konntest.

Den Arm um Noras Schultern gelegt, bewundere ich die Sterne im Baum, ihren Glanz im Schein der Lichterkette. Wie sie glitzern! Wie aus dem Nichts wird mein Herz schwer. Für die Länge des Augenblicks, in der eine Reflexion meine Netzhaut trifft, sehe ich Anne im Auto, mich am Steuer, wie ich das Lenkrad herumreiße, zu spät. Den Schmerz in ihren Augen, während der Schrei zusammen mit dem Aufprall den Innenraum sprengt, splittert, gleich meinem Herzen. Für diesen winzigen Moment bevor das Funkeln des Sternes in meiner Pupille erlischt, ist mein Verstand klar. Ich sehe den Tag des Unfalls, der Annes und mein Leben zerstörte, uns. Ausgelöst durch einen Mechaniker, der vergaß, die Radmuttern festzuziehen am Vorderrad des Lastwagens, der uns auf der verschneiten Landstraße entgegenkam.

Es hat Anne getroffen, meine mir anvertraute Frau, nicht mich.

Ich trage die Schuld. Weil ich es nicht abgewendet habe.

Ihr steifes Knie, die Albträume.

Ich weiß es.

Weiß auch, dass ich damit ebenso das Leben meiner Tochter zerstörte.

Die Vergangenheit blitzt auf, spült fort, bevor ich sie greifen kann, entschwindet zu den Gespenstern, die, von denen Doris spricht. Zurück bleibt ein bitterer Geschmack. Die Rosafarbenen, denke ich. Grauslich.

Die Lichter tauchen den Baum in eine mystische Stimmung, uns mit ihm. Gemeinsam bewundern wir den Anblick, schweigen, umfassend, besitzergreifend. Selbst die Fliege, die eben um die kleine Lampe am Fernseher kreiste, macht es uns nach, sitzt stumm auf der Kante des Tisches. Du hast es nicht verhindern können, so hatte es die Polizei gesehen – anders du selbst – erst recht die Frau, die du liebtest, die Frau, die ich liebte. Die Mutter, die ich erschlagen habe.

Ich habe ihr Leben ausgelöscht. Verlassen hat sie uns lange zuvor. In der Sekunde als sich das Blech des Lastwagens durch den Kotflügel bis in ihr Bein bohrte, als der Alkohol ihr fortan die Familie ersetzte.

Dein Atem geht gleichmäßig, tief, hebt und senkt meine Wange an deiner Schulter. Du träumst.

Ich ziehe die grüne Dose zu mir heran, nehme eins der gepuderten Kipferl heraus. Nach dem Rezept von Großmama: Süß, mürbe, wie es sie schon in meiner Kindheit an Weihnachten gab, sauge das Gefühl von Geborgenheit zusammen mit den Aromen der Vanille auf meiner Zunge in mich hinein, koste es aus, bis es Abdrücke in meiner Seele hinterlässt für die Zeit ohne dich.

Demenz haben die Ärzte diagnostiziert, begünstigt durch das schwere Schleudertrauma während des Verkehrsunfalls. Durch Mamas Schläge, denke ich.

Als ich die große Bodenvase auf dem Hinterkopf meiner Mutter zertrümmerte, wusste ich, was ich tat, tun musste, weil du alles erdulden würdest, um deine Schuld, die keine war, abzutragen.

Ich weiß nicht, ob der Richter, der eines Tages sein Urteil über mich sprechen wird, das so sieht, ob er die Not, die mich getrieben hat, anerkennt. Vermutlich nicht. Ich hätte einen anderen Weg finden müssen, dich überreden, sie allein zu lassen. Mamas Schonungslosigkeit hatte mich angesteckt.

Eine Stunde, nachdem ich dich ins Bett gebracht habe, sind Kugeln und Engel zusammen mit den Schleifen in der Schachtel, neben Lichterkette und Baumständer unter dem Sofa verstaut, Lampe und Kerzen gelöscht, Fensterläden geöffnet.

»Danke, Doris«, hast du gesagt, meinen Namen längst vergessen – mich.

Mit einem Ruck stoße ich den verschnürten Baum hinaus auf die Terrasse, husche unsichtbar über das Parkett, klaube bis zur letzten jede einzelne Tannennadel vom Boden, gebe sie in die Tüte zu den anderen in meinen Rucksack. Auf demselben Weg, den ich gekommen bin, schlüpfe ich aus dem Haus.

Licht! Hell, gleißend. Mein Puls schnellt in die Höhe, schnürt meine Brust zusammen. Im Zickzack hetzt mein Blick durch den Garten. Verflucht. Sekunden dehnen sich zur Ewigkeit, bis sich die Pupillen anpassen. Die flache Hand an der Stirn beschatte ich die Augen, suche im Gegenlicht Büsche und Sträucher ab, Terrasse, Wald, nach Männern, die auf mich zustürmen, um den Totschlag an meiner Mutter zu ahnden, mich von dir fortreißen wollen, ein für alle Mal. Nichts. Außer üppige Blütenbälle auf den Blätterkronen der mannshohen Rhododendren, umschmeichelt vom Abendwind. Wie rote Lampions wiegen sie sich auf dunklem Grün, trinken die tiefstehende Abendsonne, die mir im Garten meines Elternhauses wie Flutlicht ins Gesicht schlägt.

Die Knie drohen vor Erleichterung unter mir nachzugeben, zerren an meinem Gleichgewicht. Ich halte mich am Geländer des Treppenaufgangs fest. Sonne, herrje. Ich habe Angst vor der Sonne!

Noch immer hängt der Duft der Tannennadeln in meiner Nase. Ich wage kaum zu atmen, will ihn nicht vergessen, bewahren als Erinnerung an die Festtagsstunden, die an einem Abend im Mai begannen, nachdem sich die Polizei zurückgezogen hatte. Weil ich auf den Winter nicht warten konnte.

Ein Jahr ist das her.

Ein Jahr voller Weihnachten.

Ich rapple mich auf. Ein letztes Mal kontrolliere ich die Büsche. Ich weiß, dass es unmöglich ist, dich für alle Zeit zurückzuholen, zurück in mein Leben, die Wissenschaft lässt keinen Zweifel daran. Ich weiß auch, dass ich mich nicht täglich zu dir schleichen kann, dich mitnehmen in die Vergangenheit, damit du dich an mich erinnerst. Ein weiteres Mal vielleicht schon, vor dem Sommer. Daran will ich denken.

Eine Amsel mit ihrem Jungen hüpft durch den Garten meiner Kindheit, verschwindet unter einer der Funkien neben dem Schuppen. Begleitet vom Klang ihrer Rufe, rolle ich die Tanne zum Zaun, wuchte sie darüber hinweg. Meine Angst ist abgeklungen, zaghafter Vorfreude gewichen: auf duftende Kipferl, buttrig süß. Auf vielleicht ein letztes Mal dich.

Weihnachten ist ein Gefühl, mehr als ein Datum, hattest du, Papa, in meiner Kindheit einmal zu mir gesagt.

Ich habe es nicht vergessen.

Vanillekipferl, Großmamas Rezept

Zutaten für ca. 25 Stück:

30 g Zucker

125 g Mehl

40 g gemahlene Mandeln

1 Eigelb

90 g Butter

Mark von 2 Vanilleschoten

40 g Puderzucker

Zubereitung:

Mark einer Vanilleschote mit dem Puderzucker vermengen und beiseite stellen.

Restliche Zutaten zu einem Teig verkneten, ggf. vor der Weiterverarbeitung in den Kühlschrank geben. Teig portionieren, mit den Händen fingerdicke Rollen formen und zu Kipferln biegen. Auf einem mit Backpapier ausgelegten Blech bei 180 Grad Umluft ca. 10 Minuten backen. Sie sollen nicht braun werden. Noch heiß üppig mit dem Vanillepuderzucker bestäuben.

2. Das Kind unterm Weihnachtsbaum

Ethel Scheffler

Anna saß an der Rezeption der Geburtsstation und wartete auf ihre Entlassungspapiere.

Die 24-jährige Apothekerin sah in die leere Babytragetasche auf dem Stuhl neben ihr. Sanft streichelte sie über den darin liegenden Fußsack aus wärmendem Schaffell. Ihre Augen füllten sich mit Tränen.

Warum hatte ihre kleine Maria nur einen Tag gelebt? Wieso passierte das ihr?

Dies hatte sie sich in den letzten Tagen mehrfach gefragt.

Sicher, der Arzt hatte ihr erklärt, dass Marias Herz zu schwach war. Aber Anna begriff es dennoch nicht. Jede Faser in ihrem Körper wehrte sich gegen diese schmerzliche Wahrheit.

Dabei war sie voller Vorfreude auf ihren kleinen Engel gewesen. Ihr ganz persönliches Christkind hatte sie überall voller Stolz verkündet, denn Maria sollte am 24. Dezember das Licht der Welt erblicken.

Und nun? Anna hob den Kopf und sah zum Fenster hinaus. Es begann, leicht zu schneien.

Sie erinnerte sich daran, wie glücklich sie damals gewesen war, als der Schwangerschaftstest positiv ausgefallen war. Nur Markus hatte sich nicht gefreut. Er hatte das Kind nicht gewollt, hatte ihr sogar zu einer Abtreibung geraten. Unglaublich.

Dabei waren sie zu diesem Zeitpunkt schon drei Jahre ein Paar gewesen. Ein Kind hätte ihr Glück vollkommen gemacht.

Anna hatte ihn daraufhin verlassen und einen kompletten Neustart gewagt. Als sie eine kleine Wohnung über das Internet gefunden hatte, war sie von Halle nach Leipzig gezogen. Als Erstes hatte sie begonnen, das Kinderzimmer einzurichten. Anna hatte alles noch rechtzeitig geschafft, um die Adventszeit genießen zu können.

Selbst Pfefferplätzchen hatte sie das erste Mal seit Jahren nach Omas altem Rezept gebacken. Dabei hatte sie sich ausgemalt, wie es sein würde, mit ihrem Kind Weihnachtsplätzchen in den Ofen zu schieben. Vieles hatte sie sich in Gedanken vorgestellt und war dabei so glücklich gewesen.

Sie zottelte ein Taschentuch aus ihrer Umhängetasche und wischte sich die Tränen aus den Augen. Wo blieb denn nur die Schwester? Sie wollte hier raus.

Doch wo sollte sie hin? In ihre Wohnung? Ihr graute es davor. Allein schon, wenn sie an das Kinderzimmer dachte.

Endlich kam die Krankenschwester und brachte die Papiere in einem braunen Umschlag. Sie übergab ihr auch noch den Beutel mit den ungenutzten Babysachen. Anna selbst hatte ihn ganz vergessen.

»Alles Gute für Sie«, sagte die Schwester und blieb einen Augenblick vor ihr stehen. Anna nickte nur stumm und steckte den Umschlag in ihre Umhängetasche. Den Beutel legte sie in die leere Babytragetasche.

Zu Hause angelangt, öffnete sie die Tür zum Kinderzimmer nur einen Spalt und schob die Tragetasche hinein. Dann zog sie die Klinke sofort wieder ins Schloss, um nicht das rosa Kinderbettchen oder die aufgeklebten Schmetterlinge an der Wand sehen zu müssen.

Sie schlurfte in die Küche und machte sich einen Kaffee. Mit der Tasse in der Hand ging sie ins Wohnzimmer. Im ersten Moment freute sie sich, wieder zu Hause zu sein. Dann schaute sie auf die leere Wiege neben dem geschmückten Weihnachtsbaum. Tränen rannen ihr erneut übers Gesicht und schienen auf der Haut eine brennende Spur zu hinterlassen. Sie setzte sich an den Couchtisch. Die Kaffeetasse stellte Anna neben dem Adventskranz und der Keksdose ab. In drei Tagen war nicht nur der vierte Advent, sondern auch Weihnachten.

Sie schluchzte und griff erneut nach einem Taschentuch. Wie sollte sie Weihnachten überstehen? Wie sollte sie überhaupt die nächste Zeit durchhalten?

Immer mehr Tränen rannen ihr hemmungslos übers Gesicht. Sie sprang auf und öffnete das Fenster. Kalte Luft drängte herein und ihre Tränen schienen auf dem Gesicht zu gefrieren. Es schneite immer noch. Sie beugte sich weit aus dem Fenster. Was wäre, wenn sie sich jetzt fallen ließe? Wäre sie dann bei ihrer Kleinen? War doch eh alles sinnlos geworden.

Doch dann besann sich Anna und schloss das Fenster.

Sie eilte aus dem Zimmer. Mit der Winterjacke und der Umhängetasche in der Hand stürzte sie aus der Wohnung. Das Auto stand vor dem Haus. Erst erwog sie, zu ihrer Freundin nach Dänemark zu fahren. Mehrfach hatte sie Anna schon zu sich eingeladen. Doch Anna fühlte sich nicht in der Lage, mehrere Stunden Auto zu fahren.

Wie ferngesteuert lief sie über die Straße zu der nahen Straßenbahnhaltestelle. Sie nutzte die nächste Bahn in Richtung Stadtzentrum. Stundenlang hastete sie umher. In dem Menschengedränge sah sie überall lachende Kinder, die an der Hand ihrer Eltern in Richtung Weihnachtsmarkt spazierten. In jeden Kinderwagen, der vorüberfuhr oder stand, schaute Anna hinein. In jedem sah sie wie durch einen Schleier Maria liegen.

Warum? Warum konnte es auch für sie nicht so sein? Hatte sie etwas falsch gemacht? Diese Fragen hämmerten sich durch ihr Gehirn und setzten sich in jeder Windung fest. Es war kalt, doch sie spürte die Kälte in dieser späten Stunde nicht. Irgendwann beschloss sie, zurückzufahren. Wieder stieg sie in die Straßenbahn. Sie hielt sich neben der Tür an einer Haltestange fest. Ihr gegenüber stand ein Kinderwagen in Fahrtrichtung hinter einer Sitzbank, auf dem ein junges Paar saß. Es mussten die Eltern sein, sonst war niemand zu sehen. Sie knutschten sich und schienen ihr Baby ganz vergessen zu haben.

Anna lugte hinein und schaute auf ein kleines Engelsgesicht, umrahmt von einer flauschigen rosa Strickmütze. Dieses zarte Gesichtchen mit der Stupsnase und den geschlossenen Äuglein sah ganz wie ihre Maria aus.

Anna schaute auf das Liebespaar. Immer noch küssten sich die zwei. Ihr Blick schweifte wieder in den Kinderwagen.

Anna runzelte die Stirn. Wieso ließen sie ihr Kind so unbeobachtet und passten nicht auf?

Sie würde ihr Baby nie außer Acht lassen. Wussten die zwei überhaupt, was für ein Glück sie hatten? Und hatten sie dies verdient? Was für eine Frage? Natürlich ja. Schließlich hatte sie sich mit Markus auch ein Kind gewünscht. Maria war alles, was ihr nach der Trennung von ihm geblieben war. Für dieses Engelchen, für ihr Christkind hatte sie leben wollen. Nichts anderes hatte mehr Sinn in ihrem Leben gemacht. Alles hatte Anna aufgegeben, um neu anzufangen.

Noch immer weinte sie.

Maria war so kurz bei ihr gewesen. Nur einen Wimpernschlag lang schien Annas Wunsch auf ein Leben mit ihr in Erfüllung zu gehen. In so einem Kinderwagen hätte Maria liegen sollen. Behütet und geliebt. Anna schaute wieder hinein. Noch immer schlief die Kleine. Ihr Mädchen? Sie sah wirklich wie ihre Maria aus.

Das konnte kein Zufall sein. Hitzewellen brandeten in Anna hoch. Sind am Anfang nicht alle Babys gleich?

Sie trat einen Schritt näher heran. Könnte ich nicht ...?

Anna sah zu dem Liebespaar. Die Hand des Mannes fuhr unter die Jacke der Frau.

Vielleicht würden die beiden es nicht bemerken, wenn sie die Kleine aus dem Wagen hob? Nur mal anschauen und drücken, dachte Anna. Sie könnte dann immer noch sagen, dass die Kleine sich verschluckt hätte. Irgendwie könnte sie sich herausreden. Vielleicht könnte sie auch ...?

Nein, es war nicht richtig, wenn sie das Baby mitnehmen würde. Aber sie sah doch aus wie ihre Maria.

Die Straßenbahn fuhr langsamer und nach wenigen Augenblicken hielt sie. Anna drückte auf den Türöffner. Ein Blick zu den Eltern, die verliebt die Welt um sich her zu vergessen schienen.

Sie sah wieder in den Kinderwagen. Das Baby schlief. Ihr Herz raste. Sie atmete immer schneller. Wie im Fieber zog Anna mit beiden Händen das Baby aus dem Kinderwagen und stieg in letzter Sekunde aus, bevor sich hinter ihr die Tür schloss. Sie sah der abfahrenden Straßenbahn nach. Die beiden hatten nichts bemerkt. Sicherlich tauschten sie noch Zärtlichkeiten aus.

Anna öffnete ihre Winterjacke und schützte die Kleine darin vor der Kälte. Das Kind schlief immer noch.

Oh mein Gott. Anna, du hast ein Baby gestohlen. Es ist nicht deine Maria.

Doch sie konnte nicht anders: Schnell eilte sie im Dunkeln davon.

Zu Hause angelangt, legte sie das Kind in ihre Wiege.

Sanft schaukelte sie das Baby hin und her. Anna lächelte, während sie auf die geschlossenen Äuglein schaute. In diesem Moment war Weihnachten für sie perfekt. Doch dann zog Anna die Stirn kraus. Was hatte sie getan? Doch sie verdrängte wieder, dass sie großes Leid über das Liebespaar aus der Straßenbahn gebracht hatte.

Anna wiegte das Baby hin und her, ihr Christkind.

Noch immer schlief Maria.

Für diese kurzen Momente des Glücks würde sie für viele Jahre ins Gefängnis müssen, wenn man sie erwischte. Das war gar nicht so unwahrscheinlich. Vielleicht hatten Kameras in der Straßenbahn ihre Tat gefilmt. Oder es hatte sie jemand gesehen. Sie wusste es nicht.

Für einen Augenblick überlegte sie, das Baby zurückzugeben. Dann wäre nicht viel passiert. Eine Kurzschlusshandlung, die jeder Richter verstehen könnte. Im gewissen Sinne war es dies ja auch.

Es hätte alles so schön sein können. Anna wurde klar, dass sie hier nicht mit Maria bleiben konnte. Sie musste fliehen, wenn sie nicht ins Gefängnis wollte.

Wohin sollte sie?

Sie sprang auf und packte hektisch das Notwendigste für sie beide ein. Das Baby legte sie in die Tragetasche. Die Pfefferplätzchen ließ sie zurück. Die konnte sie überall auf der Welt backen.

Sie fuhr Richtung Dänemark zu ihrer Freundin. Dann würde sie weiter sehen.

Pfefferplätzchen

Zutaten:

4 Eier

350 g Zucker

2 P Vanillezucker

50 g Margarine

500 g Mehl

1 P Backpulver

75 g gehackte Mandeln

75 g fein gewürfeltes Zitronat

6 gestr. TL Zimt

1 Msp weißen Pfeffer

Zubereitung:

Du schlägst Eier, Zucker, Vanillezucker und Margarine schaumig. Anschließend gibst du die gehackten Mandeln, Zitronat und die anderen Gewürze dazu. Nach und nach arbeitest du das Mehl mit dem Backpulver ein und knetest alles durch, bis es ein fester Teig wird. Diesen rollst du dann aus und stichst Plätzchen aus, die du bei 180°C hellbraun backst. Nach dem Abkühlen kannst du die Plätzchen auf Wunsch mit einer Glasur überziehen.

3. Allüberall auf den Tannenspitzen …

Anja Feldhorst

Ich weiß nicht, ob ich mich vor Entsetzen schütteln oder vor Verzückung juchzen soll. Letzteres würde mein sechsjähriges Ich sofort tun, aber die erwachsene Lulu hat im Laufe der Jahre doch so etwas wie guten Geschmack entwickelt. Auch wenn mein Ex-Mann Heiner das Gegenteil behauptet. Ich entscheide mich für ein neutrales und nicht mal gelogenes »beeindruckend«. Denn dass der Weihnachtsbaum, der vorne rechts im Chor der Klosterkirche Marienfließ gen Himmel ragt, bemerkenswert ist, steht außer Frage. Statt der üblichen farbigen Christbaumkugeln und unvermeidlichen silbernen oder goldenen Girlanden öffentlicher Weihnachtsbäume ist die Tanne übersät mit blassblau glitzernden Sternen. Als der Pfarrer das Zeichen gibt und ein magerer Mittvierziger den Stecker in die Dose schiebt, flammen unzählige LED-Kerzen auf. Ihr Licht bricht sich tausendfach in den Facetten der Strasssteinchen. Neben mir schnauft Tante Käthe. »Ich will zurück ins Heim. Mir ist kalt«, murrt sie.

»Ich dachte, du hast dich auf die Illumination gefreut?«, erwidert Tante Hiltrud mit leicht genervtem Tonfall.

»Wenn ich Illuminaten will, les ich Dan Brown«, gibt Tante Käthe patzig zurück und vollführt eine harsche Drehung mit ihrem Rollstuhl. Ich kann gerade noch zur Seite springen. Tante Käthes gebrummelte Entschuldigung kommt nicht wirklich von Herzen. Aber ich kann sie verstehen. In der Kirche ist es saukalt, der Pfarrer ergeht sich in gewichtigen Worten über das Weihnachtsfest und von dem alten Mann schräg hinter uns wabert eine unerfreuliche Mischung aus Urin, Kohlgeruch und kaltem Rauch herüber. Ich sehe Tante Hiltrud an. Die zuckt mit den Schultern und verlässt ihren Platz in der Kirchenbank.

Über einen schneematschigen Weg kehren wir zurück zum Pflegeheim. Eine schwarzgekleidete zierliche Person in für das Wetter und die Gegend viel zu hohen Pumps kommt uns entgegen. Tante Käthe manövriert ihr Gefährt mit etwas Mühe an den Rand des Weges, um der Frau Platz zu machen. Tante Hiltrud und ich reihen uns hinter ihr ein und im Gänsemarsch bzw. -korso geht es weiter. Als Tante Käthe auf gleicher Höhe mit der Fremden ist, bremst sie so unvermittelt ab, dass Tante Hiltrud beinahe gegen die Rückenlehne des Rollstuhls knallt. Die Frau guckt ebenso verdutzt wie ich, als Tante Käthe in einem Tonfall »Guten Tag« sagt, der klingt wie: »Ihren Ausweis, sofort!«

Die Frau hat ihre kurz entgleisten Gesichtszüge wieder auf Spur gebracht und erwidert den Gruß knapp. Dann stöckelt sie mit schnellen Schritten davon Richtung Kirche.

Als sie außer Hörweite ist, zischt Tante Hiltrud ihrer Schwester zu: »Bist du irre? Ich hätte mir das Genick brechen können.«

Mit einem unwirschen »Papperlapapp« setzt Tante Käthe sich wieder in Bewegung und wir müssen uns beeilen, mit ihrem Tempo mitzuhalten.

Eine Viertelstunde später sitzen wir bei staubtrockenem Christstollen und dünnem Kaffee im Aufenthaltsraum des Heims mit einigen von Tante Käthes Mitbewohnerinnen an einem Tisch. Die alten Damen streiten wie die Kesselflicker darüber, ob die neue Christbaumdeko Segen oder Fluch ist.

Tante Hiltrud rollt mit den Augen und raunt mir zu: »Nur wer halb blind ist, kann diesem schreienden Kitsch etwas abgewinnen. Kristallsterne! Bis zum vorletzten Jahr hat sich die Dekoration auf eine hübsche, protestantisch bescheidene Lichterkette beschränkt. Dieses Brimborium – das ist ja fast schon katholisch!«

Das mit dem Katholischen findet Anklang in der Runde. Fast alle nicken. Nur eine der Damen guckt grimmig und spielt mit dem Mutter-Gottes-Anhänger in ihrem Dekolleté. Bevor die Situation eskaliert, ergreife ich das Wort und frage Tante Käthe, wer denn die geheimnisvolle Dame in Schwarz gewesen ist.

Sofort habe ich die ungeteilte Aufmerksamkeit der Anwesenden.

»Dame in Schwarz? Erzähl, Käthe, mach’s nicht so spannend«, feuern sie alle an.

Tante Käthe lehnt sich in ihrem Stuhl zurück, schweigt wissend und genießt die Aufmerksamkeit. Doch dann passt sie genau jene Millisekunde ab, bevor ihr Publikum unruhig wird, und beugt sich verschwörerisch vor. »Erinnert ihr euch noch an letztes Jahr Weihnachten?«

Während ich in die Gesichter der Umsitzenden blicke, bin ich mir nicht sicher, ob Tante Käthe einen guten Einstieg in ihre Geschichte sucht oder die Frage durchaus wörtlich meint.