Wie ich das Ende der Welt (üb)erlebte - Kate Dark - E-Book

Wie ich das Ende der Welt (üb)erlebte E-Book

Kate Dark

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Beschreibung

29 der besten, fiesesten und bizarrsten apokalyptischen Kurzgeschichten rund um den Weltuntergang – und um das bisherige Überleben. Folgt uns zu Klimakatastrophen, Sintfluten, Dürren und kontinentalen Veränderungen, zu Epidemien, freigesetzten Zombie-Viren und dem Krieg gegen Ameisen. Lasst euch von Killer-Weizen überwuchern, von gemeinen Pilzen verzehren oder von leckerer Zuckerwatte ersticken. Schließlich stirbt man nur manchmal – oder eben doch nicht? Wenn ihr auf Nummer Sicher gehen wollt, begegnet euch einfach selbst oder nutzt eine ferngesteuerte Selbstmordkabine. Aber Vorsicht! Manche Fernsteuerungen und PC-Programme haben Schwachstellen, virtuelle Spiele sind tückisch und die 0 ist sowieso böse. Auch vor Begegnungen mit höheren Wesen, Dämonen und Alien wird gewarnt. Lasst euch lieber göttlich Entrücken oder vom Handy verzücken. Geht fröhlich und gut gelaunt und rosa drauf oder findet heraus, dass ihr eine Lebensmittelallergie habt – gegen alles. Also trinkt eine Margarita, geht auf den Jahrmarkt, nehmt ein Sonnenbad und füttert Tauben bis ihr steril werdet. Es hilft sowieso alles nichts, Jeffrey ist immer der Täter.

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Seitenzahl: 397

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INHALT
1. Ein Leben im Stand-By
2. Jenseits des Büros
3. Der letzte Jahrmarkt
4. Next Level
5. Erntezeit
6. Schuld war nur die Null
7. DIE HOFFNUNG STIRBT ZUERST
8. Picken und nicken
9. Die Grellzeit-Chronik (Bericht 9): Der Turm
10. Als während einer Zugfahrt die Welt auf Messers Schneide stand
11. Fürchte das Licht
12. Die Welt, in der ich nicht sterbe
13. Am Punkte der maximalen Ausdehnung oder alles eine Frage der Perspektive
14. Gespiegelter Wahnsinn
15. Mitternachtsmargaritas
16. Wie es endete
17. Der Tod kam auf sechs Beinen
18. Steril
19. Rosa
20. Wissend unwissend
21. Wechselwirkung
22. Als die Welt überflutete
23. NUR EINE ÜBUNG
24. Wie Rauch, nur ohne Feuer
25. Schatten ihrer Selbst
26. With A Whimper
27. Zuckerwattevirus
28. Weizen 3.0 – Aristoteles wäre besser gewesen
29. Jeffreys letzte große Idee
Autoren

Wie ich den Weltuntergang (üb)erlebte

Eine apokalyptische Kurzgeschichtensammlung

ELYSION-BOOKS

Print; 1. Auflage: September 2023

eBook; 1. Auflage: September 2023

VOLLSTÄNDIGE AUSGABE

ORIGINALAUSGABE

© 2023 BY ELYSION BOOKS, LEIPZIG

ALL RIGHTS RESERVED

UMSCHLAGGESTALTUNG: Michelle Tocilj https://www.tociljdesigns.de

ISBN (vollständiges Ebook) 978-3-96000-

ISBN (gedrucktes Buch) 978-3-96000-

Mehr himmlisch heißen Lesespaß finden Sie auf

www.Elysion-Books.com

INHALT

Kate Dark - Ein Leben im Standby 5.S.

Stuart Smith - Jenseits des Büros 12 S.

Astrid Miglar - Der letzte Jahrmarkt 21 S.

Anne Hechenberger - Next Level 36 S.

Gina Grimpo - Erntezeit 43 S.

Karin Helbig - Schuld war nur die Null 57 S.

Hartmut Holger Kraske - Die Hoffnung stirbt zuerst 65 S.

Katrin Exner - Picken und Nicken 69 S.

Aleš Pickar - Die Grellzeit-Chronik 73 S.

Dirk Ryll - Als während einer Zugfahrt die Welt auf ... 89 S.

Matthias Bäßler - Fürchte das Licht 102 S.

Raphael Grascher - Die Welt, in der ich nicht sterbe 114 S.

A.-K. Bissantz - Am Punkt der maximalen Ausdehnung 117 S.

Kai Focke - Gespiegelter Wahnsinn 128 S.

Agga Kastell - Mitternachtsmargaritas 132 S.

Uta Depner - Wie es endete 141 S.

Till Kunze - Der Tod kam auf 6 Beinen 148 S.

Marina Mühlbauer - Steril 166 S.

Friederike Stein - Rosa 176 S.

Therese Bohn - Wissend unwissend 180 S.

Alexander Klymchuk - Wechselwirkung 187 S.

Julia Forgione-Zaccaria - Als die Welt überflutete 194 S.

Georg K. Berres - Nur eine Übung 202 S.

Luca Winter - Wie Rauch, nur ohne Feuer 213 S.

E B. Branger -Schatten ihrer Selbst 226 S.

Jennifer Nickel - With a Wimper 240 S.

Sarah Betz - Zuckerwattevirus 246 S.

Torsten Bastuck - Weizen 3.0 252 S.

Thomas Roth - Jeffreys letzte große Idee 256 S.

Autoren 265 S.

1. Ein Leben im Stand-By

Kate Dark

Im Jahr 2018 gab es laut einer Studie mehr als 14.000 Atomwaffen weltweit. Vermutlich hätte jeder, der nach der Ursache für das Ende der Welt gefragt worden wäre, lautstark Atomwaffen gerufen. Niemand wäre auf die Idee gekommen, dass es Geräte und Apps waren, die die Kontrolle übernahmen. Sie versklavten die Menschen zu einer unfähigen Spezies und stürzten sie in eine Abhängigkeit, aus der sich niemand befreien konnte.

Und das alles gesteuert von nur einer Person ...

Schweiß rann über Sidneys Rücken. Ihre Beine waren schwer und sie hatte das Gefühl, gar nicht mehr vorwärtszukommen. Immer wieder trat sie in die Schlaglöcher der Straße und geriet dadurch ins Stolpern.

»Scheiße«, fluchte sie und ruderte mit den Armen, das tote Kaninchen dabei fest umklammernd, das sie aus einer Tierhandlung gestohlen hatte. Hunderte Male war sie diesen Weg schon gelaufen. Ausgerechnet heute stand sie neben sich und war konzentrationslos.

Sidney warf einen Blick über die Schulter, darum bemüht, die Beine schneller laufen zu lassen. Nicht weit hinter ihr kamen die Smombies, eine Mischung aus Smartphone und Zombies, immer näher. Sie lauerten überall – versteckt in Büschen, hinter Bäumen und dunklen Gassen, angezogen durch die natürlichen Bewegungen und Geräusche eines nicht infizierten Menschen. Nun ja, das und die Tatsache, dass Sidneys Gesicht sowie das ihres kleinen Bruders überall aufploppte, wenn eine App gestartet wurde.

Sie waren Abtrünnige, die geschnappt werden mussten.

Gleich geschafft! Sid sah schon das Gelände. Das kleine Reich, welches sie und ihr Bruder errichtet hatten. Der einzige Ort, an dem sie halbwegs sicher waren. Aufgebaut wie eine kleine Insel, gänzlich umgeben von Wasser und einem Maschendrahtzaun. Sie sprang in den Graben und sog zischend die Luft ein. Das Wasser war eiskalt. Wieso hatte Charlie nicht die kleine Brücke ausgelegt? Ihr Herz setzte für einen Schlag aus und hämmerte dann doppelt so schnell. Sidney schwamm die wenigen Meter zum anderen Ufer und zog sich an Land. Schwer atmend blieb sie auf dem Rücken liegen.

Sidney wusste, dass die Smombies am anderen Ufer standen. Nur ein paar Meter entfernt. Lauernd. Gierig. Bereit, die verbliebenen Gesunden mit Apps und Digitalisierung zu infizieren. Und doch war nichts zu hören. Sie richtete sich auf und starrte die Menschen an – vertieft in ihre Smartphones und Tablets. Geistig nicht mehr in der Lage, eigenständig zu denken und zu handeln. Sie vergaßen alles – sogar das Sprechen.

Sie erkannte Doc Harris, der vor zwei Jahren noch einen Hausbesuch bei ihnen gemacht hatte, um nach Granny zu sehen; Misses Duney, ihre ehemalige Geschichtslehrerin; Freddy, ein Freund ihres jüngeren Bruders Charlie. Eins hatten alle gemeinsam: die dunklen Ringe unter den Augen, den apathischen Blick und die kurze Aufmerksamkeitsspanne. Sie wussten schon gar nicht mehr, weshalb sie überhaupt hier waren. Hatten es einfach vergessen, weil sie verlernten, ihren Verstand zu benutzen.

»Ob sie in ihren Suchmaschinen nachsehen, wie sie den Graben überqueren können?« Charlie legte ihr eine Decke über die Schultern und setzte sich zu ihr.

Sid stieß ein Schnauben aus. »Das haben sie mit Sicherheit schon. Sie sind nur nicht mehr in der Lage, das Gelesene zu verarbeiten und umzusetzen. Warum hast du die Brücke nicht ausgelegt?«

Charlie senkte beschämt den Kopf. »Ich hatte Angst einzuschlafen und dann nicht mitzubekommen, wenn einer von denen kommt.«

Eine Weile beobachteten sie schweigend, wie die Smombies sich entfernten, kreuz und quer liefen, ohne auf ihr Umfeld zu achten. Sie stießen sich gegenseitig an und blickten nicht mal von den kalt leuchteten Displays ihrer Geräte auf. Es hielt sie gefangen und zog sie immer tiefer in das bodenlose Loch der Abhängigkeit.

»Gott, das ist so krank«, murmelte Charlie. »Es wundert mich, dass sie nicht längst verhungert sind.«

»Ihr Kühlschrank erinnert sie daran, zu essen und bestellt sogar Lebensmittel, die dann automatisch von Robotern geliefert werden. Der Chip in ihnen, also die Künstliche Intelligenz, lässt es nicht zu, dass jemand außer der Reihe stirbt.«

»Verarschst du mich?« Ungläubig starrte Charlie sie aus unschuldigen Augen an.

»Ich wünschte, es wäre so«, flüsterte sie. Hätte sie es nicht selbst gesehen, sie könnte es nicht glauben. Die Menschen hatten sich von dem Wundermittel Chip blenden lassen. Es würde erkennen, wenn sie krank waren. Es würde nicht zulassen, dass sie vorzeitig starben. Es würde alle ihre Bedürfnisse erkennen. Es würde ihnen ein besseres Leben bescheren. Autounfälle? Sie gehörten der Vergangenheit an. Tödliche Krankheiten? Nicht in diesem Leben. Suizid? Nein, jeder starb genau nach Plan in hohem Alter.

»Geh rein und zieh die nassen Klamotten aus, ich mache das Essen.« Charlie nahm das Kaninchen und entfernte sich.

Mühsam rappelte sie sich auf. Ganz automatisch fiel ihr Blick auf ihren jüngeren Bruder, der ein Feuer entzündete. Er hatte so schnell erwachsen werden müssen. Ihm war es nicht vergönnt gewesen, eine Kindheit zu haben. Und mir auch nicht, dachte sie. Immerhin war sie erst sechzehn und damit nur drei Jahre älter als er.

An manchen Tagen wünschte Sidney, der Virus hätte auch sie befallen. Es war so schwer, jeden Tag aufs Neue zu kämpfen und zu überleben. Die Verantwortung für sich und für Charlie zu haben. Sie wollte das nicht. All ihre Pläne waren dahin: studieren, Ingenieurin werden, eine Familie gründen.

Sie trat in ihre kleine Hütte, die aus ein paar zusammengenagelten Spanplatten bestand. Wohin sie gingen, wenn der Winter einsetzte, wusste sie noch nicht. Letztes Jahr hatten sie Glück gehabt. Kein Schnee und nur wenig Frost. Wohnungen und Häuser waren tabu – zu viele Endgeräte, die sie nicht nur identifizieren konnten, sondern auch in die Abhängigkeit stürzen würden. Mit dem Auto irgendwo hinfahren, ging auch nicht. Verdammt noch mal! Selbst Fahrräder und Roller gab es elektrisiert. Damit die Menschen fett und faul werden und keine unbequemen Fragen mehr stellen, dachte sie bitter.

Sidney saß im Dunkeln, die zitternden Hände unter den Schenkeln verborgen. Achtsam atmete sie ein und aus. Der Entzug machte sich immer dann bemerkbar, wenn sie zur Ruhe kam und Zeit zum Nachdenken hatte. Wo sie früher nach ihrem Smartphone gegriffen und irgendein blödes Spiel gespielt hätte, musste sie heute eine andere Beschäftigung finden. Schließlich wollte sie nicht eine von denen werden. Gesteuert durch irgendein Endgerät und einer Künstlichen Intelligenz, die die Menschheit am Leben erhielt, um sie zu kontrollieren.

Nachdem Sidney sich weitestgehend beruhigt hatte, stand sie auf und schüttelte die Hände aus. Ihre Finger waren taub, weil sie so lange darauf gesessen hatte.

»Bist du bereit?«, fragte Charlie und hielt ihr eine Trinkflasche hin. In der anderen Hand eine angeschaltete Taschenlampe, die das Innere der Hütte in gelbes Licht hüllte.

»Ja.« Nein! Sie fühlte sich nicht in der Lage, heute schon wieder ihren halbwegs sicheren Platz zu verlassen. Alles schmerzte. Aber Charlie hatte recht. Sie brauchten Medikamente und Lebensmittel. Das Kaninchen von gestern hatte nicht lange ihre leeren Mägen gefüllt.

Sidney packte ihr Getränk in den Rucksack und schulterte ihn. Sie sah sich um, hörte ein Geräusch, das sie nur schwer zuordnen konnte. Eine Art Summen.

»Warte.« Sie hielt Charlie zurück. »Hörst du das?«

Er zog die Augenbrauen zusammen, sodass sich eine steile Falte zwischen ihnen bildete. »Das kommt von oben.«

Ihr Blick richtete sich auf die Decke. »Bleib hier.«

Sie nahm den Rucksack ab und schlich auf die improvisierte Tür zu. Vorsichtig schob sie diese ein paar Zentimeter zur Seite, damit sie hinausspähen konnte. Und tatsächlich. Da war ein gleichmäßig blinkendes rotes Licht am Abendhimmel. Langsam schob sie die Tür wieder vor das Loch.

»Drohnen«, lautete ihre schlichte Antwort. »Schalte die Taschenlampe aus, wir haben nur noch wenige Batterien.«

Mit einem Klick war es wieder dunkel und erdrückend.

In der Stille der Nacht wirkte das Magenknurren unnatürlich laut. Es weckte Sidney und sorgte dafür, dass sie nicht wieder einschlafen konnte. Hatte sie geschlafen und wenn ja, wie lange? Wie spät war es? Ihre Hütte besaß nur diesen einen Eingang und weder Fenster noch ein winziges Guckloch. Vorsichtig krabbelte sie von den vielen Decken hinunter und auf die Tür zu. Sidney schob sie etwas zur Seite. Es war immer noch dunkel draußen. Von den Drohnen war nichts mehr zu sehen oder zu hören.

»Charlie«, rief sie leise. »Steh auf.«

Er schaltete die Lampe ein. Seine blonden Haare waren zerzaust. »Wasn los?«

»Weit und breit niemand zu sehen. Wenn wir in die Mall wollen, ist jetzt der beste Zeitpunkt.«

Sie setzten ihre Rucksäcke auf und schlichen über ihre kleine Insel bis zum Graben. Sidney brauchte zwei Anläufe, um die improvisierte Brücke bis zum anderen Ufer zu werfen. Es war wackelig und rutschig. Als sie die andere Seite erreicht hatten, stießen sie die Brücke wieder ins Wasser. Zurück würden sie schwimmen müssen.

Es war erschreckend, in wie vielen Fenstern das bläuliche Licht von Displays flackerte. Entweder durch Fernsehgeräte, Computer, Tablets oder Smartphones. Ein Leben im Stand-By-Modus hatte es der Mann genannt, der auch die Künstliche Intelligenz geschaffen hatte, wir sind immer auf Abruf. Er war so stolz auf sich gewesen, hatte so viele Preise erhalten. Lobeshymnen. Ein niemals endender Reichtum und so viel Erfolg.

Charlie zog sie unsanft zur Seite. Sidney blinzelte, war zurück in der Realität und nicht mehr in der Vergangenheit, die sie hatte unaufmerksam werden lassen.

Ein paar Uniformierte marschierten dicht an ihnen vorbei – an den Handgelenken Fitnessuhren und In-Ear-Kopfhörer in den Ohren. Als sie außer Sichtweite waren, rannten Charlie und Sidney los, immer drauf bedacht, nicht zu viel Aufmerksamkeit zu erregen.

Die Mall befand sich nur noch wenige Meter vor ihnen. Ein Wachmann stand sich auf der rückläufigen Seite. Wenn sie den ausgeschaltet hatten, blieben ihnen fünfzehn Minuten, bis der Chip in seinem Körper in der Zentrale Alarm schlug und jemanden aussandte, dem nachzugehen.

Sidney zog das Messer aus der Seitentasche des Rucksacks.

Der Wachmann patrouillierte und sie warteten, bis er an seinem kleinen Häuschen angelangt war. Von dort konnten sie die Tür zur Mall öffnen, ohne dass ein Einbruch an die Polizei gemeldet wurde.

Das Messer wog schwer in Sidneys Hand. Sie umklammerte den Griff so fest, dass ihre Finger schmerzten. Der Wachmann kam immer näher. Ihr Herz hämmerte in der Brust. Selbst jetzt sah er nicht von seinem Smartphone auf, obwohl sie direkt vor ihm standen. Sidney holte aus und schlug die Unterseite des Griffes so fest gegen die Schläfe des Mannes, dass der wie ein nasser Sack zu Boden glitt.

Charlie grinste und drückte den Knopf, der die Tür zur Mall öffnete.

»Such du die Apotheke, ich hole die Lebensmittel«, wies Sidney ihn an. »Fünfzehn Minuten!«

Sie verglichen ihre Uhren, selbstverständlich keine digitalen, sondern analoge. Ihr Zeitrahmen war begrenzt. Lieber wäre es ihr gewesen, wenn sie sich nicht hätten trennen müssen. Wenn sie Charlie beschützen könnte. Wenn …

Reiß dich zusammen! Sie durfte sich jetzt nicht ablenken lassen. Dies hier war ihre einzige Chance. Nochmals würden sie es nicht schaffen, in die Mall einzudringen. Es würden mehr Wachleute postiert werden und mehr Kameras installiert.

Sidney rannte die Treppe hinunter. Lautstark hallten ihre Schritte wider. Ein unheimliches Geräusch in der Stille der Nacht. Im Untergeschoss befand sich der Lebensmittelladen. Sie kletterte über die Absperrung und zog ihren Rucksack von den Schultern. Zielsicher steuerte Sid die Abteilung mit dem Dosenfutter an. Alles lange haltbar. Sie grinste, packte so viel sie konnte in den Rucksack und ächzte leise, als sie ihn wieder aufsetzte. An der Kasse schnappte sie sich ein paar Schokoladenriegel und stopfte sie in die Tasche ihres Hoodies. Die hatten sie sich verdient. Scheiß auf die Bauchschmerzen, die sie unweigerlich bekommen würden. Oder den Zuckerschock.

Ein Blick auf die Uhr. Jetzt musste sie sich beeilen. Noch vier Minuten, bis der Alarm ausgelöst wurde. Ob Charlie schon fertig war und wartete? Sidney beschleunigte ihre Schritte. Die Treppenstufen nach oben fühlten sich endlos an. Eine Kante der Dosen bohrte sich schmerzhaft in ihren Rücken.

Fast zeitgleich trafen sie im Erdgeschoss ein. Erleichterung durchströmte Sidney.

»Hast du alles bekommen?«, fragte sie.

Charlie nickte und strahlte voller Stolz. »Randvoll mit Medikamenten, Vitaminen und Verbandszeug.«

»Super gemacht.«

Das Grinsen erstarb auf ihren Lippen, als sie nach draußen traten. Mindestens zwanzig Uniformierte erwarteten sie dort. Doch es war nicht deren Anblick, der Sidney dazu veranlasste, Charlie hinter sich zu schieben. Es war der Mann in ihrer Mitte. Adrett gekleidet und mit einem falschen Lächeln in dem kalten Gesicht. Der Erfinder, der Künstlichen Intelligenz und allem Schlechten, was die Menschheit seit über einem Jahr befallen hatte.

Ihr Vater.

2. Jenseits des Büros

Stuart Smith

An dem Tag als mir klar wurde, dass meine Mitarbeiter es nach Möglichkeit vermieden mein Büro zu betreten, habe ich den Eingang permanent schließen lassen. Wenn der Akt sich mir Angesicht zu Angesicht gegenüberzustellen zu groß und zu unangenehm für die Menschen war, so gab es keinen Grund ihnen diese Möglichkeit mehr zu geben. Diese Geste von mir wurde dankend angenommen.

Der Raum war in matte Schwärze gehüllt, sodass man seine wahren Dimensionen nicht erahnen konnte. Es gab ein senkrechtes, schmales Fenster, was mich und einen Teil meines Schreibtisches erkennbar machte. Doch ich wusste, dass potentielle Besucher in der Regel nur meine Silhouette sahen, da ich das von außen hereinkommende Licht so sehr verstärkte, dass es gleißend weiß war. Eine Praktikantin aus HR hatte einmal gemeint, dass sie es nicht ertrug, in mein Gesicht zu sehen, und auf diese Weise war ich das Problem angegangen.

Ein Schatten am Fenster. Mehr war ich nicht. Sitzend in einem Raum, wo alles war, was ich jemals benötigen würde. Durch meine vorsichtige Planung und Anpassungen an meinem Körper war ich nun in einer Position unermüdlich arbeiten zu können.

Genau zehn Meter vor meinem Schreibtisch war ein kleiner Lichtkreis, in dem eine flimmernde Person mit Händen auf den Knien und einem aufmerksamen Blick auf einem schwarzen Stuhl saß.

Dies war ein Hologramm in Verbindung mit einem internen Kommunikationskanal des Gebäudes. Anders war es gar nicht mehr möglich, mit mir zu sprechen.

»Der Lebenslauf ist beeindruckend«, begann ich und legte ein Bündel Papiere zur Seite, die ich eben studiert habe. Ich gehörte zu den wenigen, die noch den Geruch von echter Tinte mochten. »Das Assessment war ebenfalls überragend.«

»Das freut mich immer zu hören«, wurde mir geantwortet.

»Gerne. Das Kompliment war auch ernst gemeint, aber bitte verstehen Sie folgenden Sachverhalt, bevor wir fortfahren. Ich hoffe Ihnen ist klar, dass es diese Stelle ohne das neue Gesetz zur ethischen Firmengestaltung nicht geben würde. Ich bin also gezwungen, den internen Ethikrat zu erweitern und mir einen persönlichen philosophischen Berater zur Seite zu stellen.«

»Wollen Sie damit sagen, ich werde nicht gebraucht?«

»Nun, deswegen sitzen Sie gerade vor mir, oder nicht? Sie haben nun die Chance mich davon zu überzeugen, dass Sie sich einen Platz in diesem Unternehmen verdienen. Andererseits habe ich auch nichts dagegen, wenn Sie in einem stillen Büro Ihr Gehalt absitzen. Hauptsache der Gesetzgeber ist zufrieden.«

»Verstehe«, sagte die Person mit einem Nicken. »Ich lasse Sie aber wissen, dass ich durchaus meine Gründe hatte, Ihr Unternehmen zu wählen. Ich bin nicht hier für eine bequeme Anstellung mit einem guten Gehalt.«

»Ach nein?« Ich lehnte mich etwas zurück in meinem Stuhl und legte die Hände ineinander. »Wieso gerade dieses Unternehmen also?«

»Wegen der Bedeutung Ihrer Produkte für die Zukunft. Nach aktueller Betrachtung Ihres Angebots, bisheriger Tendenzen und eigener Analyse bezüglich der nächsten Jahrzehnte bin ich zu dem Schluss gekommen, dass dieses Unternehmen eine größere Wichtigkeit für die Menschheit besitzt, als alle vorherigen Industriezweige. Ja, größer sogar als die Automobile- und Ölindustrie im 20. oder die Social-Media-Konzerne im 21. Jahrhundert.«

»Tatsächlich?«, entgegnete ich und hob eine Augenbraue. »Wie kommen Sie darauf? Mein erklärtes Ziel war es immer, Glück und Zufriedenheit über die Welt zu verteilen. Unsere Technologie konzentriert sich hauptsächlich auf den Unterhaltungssektor und bringt den Menschen bisher ungeahnte Möglichkeiten der Selbstentfaltung. Auch habe ich darauf geachtet, dass mein neustes Produkt möglichst allen Bevölkerungsschichten zugänglich ist.«

»Die Personal-Reality-Kapseln.« Die Person nickte erneut. »Ein kleiner High-Tech-Bettraum, der selbst in die kleinste Mikrowohnung passt und eine vollständige Verknüpfung mit einer virtuellen Welt erlaubt. Doch im Gegensatz zu älteren VR-Systemen, ist die Verknüpfung zu einem gemeinsamen Server nur optional.«

»Keine Online-Verknüpfung notwendig«, stimmte ich zu. »Die Kapsel selbst hat genug Hardware, um für den Nutzer eine komplette Welt zu generieren und mithilfe unserer neuartigen Seed-KI sind die Möglichkeiten grenzenlos. Man kann einige der vorinstallierten Welten benutzen oder eine eigene erstellen. Die persönliche Lieblingsserie? Man kann nun selbst Teil der Handlung werden. Den Fantasy-Roman, den man immer schreiben wollte? Nun braucht man kein Wort zu tippen, sondern seine Vision mit der Kapsel verwirklichen. Man ist einsam? Unsere hochentwickelte Chat-KI analysiert die Persönlichkeit des Nutzers und kann durch seine Interaktionen in der virtuellen Welt den optimalen Partner kreieren. Nicht nur im Bezug zur Optik, sondern auch von der Persönlichkeit her.«

»Ein perfekter Partner also?«

»Der Trick ist, dass es gerade keine perfekte Persönlichkeit ist. Untersuchungen mit Testprobanden haben gezeigt, dass es auf lange Sicht nicht funktioniert, wenn der künstliche Partner keine Fehler macht, sich immer unterordnet oder keine eigenen Wünsche besitzt. Unsere neuste Generation agiert wesentlich lebendiger und kann sich sogar mit dem Nutzer streiten. Natürlich wird aber auch dafür gesorgt, dass diese Auseinandersetzungen nie eskalieren und da das System das Verhalten des Nutzers voraussehen kann, kann eine Versöhnung rasch eingeleitet werden, ohne dass die Beziehung langfristige Schäden erhält. Freunde, Familie und andere soziale Beziehungen werden nach ähnlichen Modellen ebenfalls generiert, sodass die virtuelle Welt sich wahrlich lebendig anfühlt.«

»Es hat sicherlich lange gedauert, all dies zu entwickeln?«

»Natürlich. Wir blicken auf Jahrzehnte von KI-Forschung und Datenerhebung zurück. Ich musste auch dutzende Firmen aufkaufen, um die nötigen Technologien zu bekommen.«

»Und die Früchte Ihrer Arbeit kommen gerade auf den Markt«, fuhr die Person fort. »Sie planen sogar den Bau von neuen Wohnkomplexen, wo die Kapseln bereits integriert sind?«

»Natürlich«, antwortete ich meinerseits nun mit einem eigenen Nicken. »Durch die fortschreitende Automatisierung müssen immer mehr Menschen in eine lebenslange Arbeitslosigkeit wandern. Ich sehe es als meine soziale Pflicht an, ihnen billigen Wohnraum und dazu Unterhaltung zu gewährleisten. Mit meiner Kapsel können sie selbst in bitterster Armut noch Herrscher über ihr eigenes Königreich sein.«

»Wie löblich. Ja, die Lage auf den Straßen wird immer unruhiger und solch ein Angebot kommt sicher sehr gelegen.«

»Wenn die Nutzer die meiste Zeit in der Kapsel verbbringen, braucht es auch nicht viel Wohnraum. Laut den Architekturbüros, die ich angestellt habe, können wir Tausende meiner Produkte übereinanderstapeln. Den meisten Platz werden natürlich noch lästige Dinge wie Badezimmer oder Küchenzeilen einnehmen, aber auch dafür sind schon Lösungen am Horizont.«

»Ja, dazu haben Sie vor einem Monat ein Interview gegeben. Ich habe es als Vorbereitung für heute gelesen. Die nächste Generation der Kapseln soll auch die körperlichen Bedürfnisse überwachen und übernehmen.«

»Ja, die Kapsel der nächsten Generation wird mehr ein Tank sein, in dem der Körper schwimmt. So wollen wir Wundliegen vermeiden. Auch haben wir mithilfe unserer aufgekauften Chemieunternehmen eine Paste entwickelt, die sich leicht in großen Massen produziert lässt und alle lebensnotwendigen Nährstoffe enthält. Der Geschmack ist an sich unerträglich, doch innerhalb der virtuellen Welt wird es die köstlichste Mahlzeit sein.«

»Ein Austricksen der Sinne also?«, fragte die Person, schien aber keine Antwort zu erwarten, da Sie sofort weitersprach. »Wenn körperliche Abfälle ebenfalls abtransportiert werden, so kann tatsächlich der Wohnraum nur noch aus der Kapsel bestehen. Küche und Badezimmer fallen weg. So kann der Platz in Gebäuden noch mehr genutzt werden. Doch bedeutet dies nicht auch, dass die Nutzer keinen Grund mehr haben die virtuelle Welt zu verlassen?«

»Wenn dies der Wunsch des Nutzers ist«, war meine Antwort.

»Keine wirklichen soziale Kontakte mehr? Keine Arbeit? Kein wahres Leben?«

»All dies kann simuliert werden. Wir haben die Technologie oder sind kurz davor sie zu entwickeln. Der Nutzer wird den Unterschied nicht einmal bemerken.«

»Das ist also Ihre Vision«, kam es von der Person mit erhobener Stimme. »Riesige Wolkenkratzer in denen Hunderttausende Menschen in Kapseln dahinvegetieren. Sie werden kein echtes Sonnenlicht mehr sehen, ihre Eltern nicht mehr besuchen, keine wahre Liebe finden und sich dementsprechend nicht fortpflanzen?«

»Und sie werden glücklich dabei sein«, antwortete ich.

In der Dunkelheit meines Büros schimmerten nun bläuliche und rötliche Lichter auf. Hologramme von lumineszierenden Quallen stiegen von unten auf, so als kämen sie aus der Tiefsee. Ihre pulsierenden Bewegungen waren langsam und fast schon hypnotisch in ihrer Eleganz. All dies verlieh dem Raum den Eindruck, sich in der Endlosigkeit des Ozeans zu befinden. Dies aktivierte sich meisten, wenn ich oder mein Gesprächspartner erhöhte Emotionalität zeigten, und diente der Beruhigung.

»Was ist, wenn die Nutzer die Kapseln nicht mehr bezahlen können?«

»Geld verliert so oder so immer mehr an Bedeutung«, entgegnete ich. »Menschliche Arbeitskraft wird im Angesicht der Robotik immer obsoleter. Ich denke, meine Kapsel ist eine ressourcenschonende Lösung. Es müssen nur noch die Nahrungspaste und Strom produziert werden. Ohne einen richtigen Alltag in der wahren Welt, verursachen die Menschen weniger Müll oder können kaum mehr Ärger machen. Wenn ein Großteil der Bevölkerung virtuell lebt, können massive Industriezweige zurückgefahren werden. Dies ist sicherlich im Sinne der Umweltschützer.«

»Ein Großteil der Bevölkerung«, wiederholte die Person. »Und was ist, wenn dieser Großteil schlussendlich an Altersschwäche in den Kapseln stirbt?«

»Nun, es wurde häufig argumentiert, dass es zu viele Menschen auf der Welt gibt. Ich denke, meine Kapseln gehen das Problem ethischer an als Euthanasie oder erzwungene Unfruchtbarkeit.«

»Die Geburtenraten sind bereits seit Jahrzehnten im Sturz«, wurde mir erwidert. »Die Gesellschaft ist bereits überaltert und der einzige Grund, wieso die Bevölkerung noch nicht massiv eingebrochen ist, ist die Medizin, die die Lebenserwartung stark erhöht hat.«

»Und selbst wenn es so ist, es wird immer Menschen geben, die nicht den gesamten Tag in virtuelle Welten verbringen werden oder diese sogar komplett ablehnen. Zu jedem Trend gibt es einen Gegentrend. Schon jetzt gibt es mehrere Gemeinden am Rande der Zivilisation, die sich der technologischen Entwicklung entziehen.«

»Doch wirklich frei sind sie auch nicht. Sie haben vor kurzem die Firma Dreambringer aufgekauft oder irre ich mich da?«

»Nein, es stimmt schon. Sie gelten als die beste Marketingfirma der Welt. Deren Expertise und Talent ist unumgänglich, um die Herzen vieler für meine Kapseln zu erreichen.«

»Wenn es nur Marketing wäre, was sie betreiben. Die Forschungsinstitute von Dreambringer konzentrieren sich auf die Manipulation von Menschen in jeglicher Hinsicht. Ihre Androiden sind dafür bekannt, jedem alles verkaufen zu können. Diese Maschinen können ihr Gegenüber innerhalb kurzer Zeit analysieren und dann durch genau abgestimmte Gesichtsausdrücke, Stimmlage oder sogar Gerüche ihren Willen aufzwingen. In Tests ist bisher jeder nach nur einer halben Stunde eingeknickt und hat alles unterschrieben. Ein weiteres Problem ist, dass diese Androiden von Dreambringer in die Welt entlassen werden mit der explizierten Aufgabe, so viele Menschen wie möglich zu erreichen. Es gibt keine Region, die für diese Maschinen Tabu ist. Laut den letzten Berichten haben einige es sogar schon geschafft mit isolierten Stämmen im brasilianischen Regenwald in Kontakt zu treten.«

»Von dem Urwald ist nicht mehr so viel übrig«, sagte ich dazu. »So schwer ist es also nicht, die dortigen Stämme zu finden.«

»Der Punkt ist, dass keine Anti-Tech Enklave wirklich sicher ist. Irgendwann werden sie nachgeben und in den Kapseln verschwinden. Soll das das Ende sein? Die Menschheit vergeht in virtuellen Tagträumen und vergisst die wahre Welt? Egal wie wirklich die Erfahrungen in den Kapseln erscheinen, man wird jedem Nutzer die Chance nehmen, einen wahren Abdruck im Universum zu hinterlassen. Das Einzige, was bleiben wird, sind verkabelte Skelette in übereinander geschachtelten Särgen.«

»Die Diskussion gab es schon mehrmals«, sagte ich und alle Quallen im Raum verfärbten sich zu einem dunklen Blau. »Mit dem Aufkommen der Dampfmaschine, dem Computer oder ersten Versionen Künstlicher Intelligenz. Alle möglichen schrecklichen Aussagen wurden getroffen. Technik würde allen die Arbeit nehmen. KI würde die Kunst wertlos machen. So viele Argumente wurden gebracht und trotzdem ging die Gesellschaft weiter voran. Soziale Probleme wird es immer geben. Die Schwerpunkte verlagern sich einfach. Ich biete nur die neuste Version von Filmen, Videospielen oder Virtuelle Realität an.«

»Vielleicht«, stimmte die Person zu. »ich hoffe, es wird nicht so schlimm, wie ich befürchte. Aber die Trends der letzten Jahrzehnte machen mir die Hoffnung schwer. Wie viele verrottete Leichen hat man schon aus verwahrlosten Wohnungen gezogen, die VR-Brille noch am Kopf? Verstehen Sie, ich will nicht gegen die Personal-Reality-Kapseln argumentieren. Mir ist bewusst, dass es Ihre Vision ist und bereits enorme Mengen an Geld und Arbeitszeit in das Projekt geflossen ist. Ich bitte nur darum, die Technologie mit Bedacht auf den Markt zu entlassen. Eventuell kann man ein Zeitlimit einfügen, wie lange eine Person in der virtuellen Realität verbringen kann, bevor das System einen für den Tag zwangsweise ausloggt. Auch würde ich die Entwicklung der zweiten Generation verzögern, bis wir konkrete Langzeitdaten für das aktuelle Modell haben. Falls es wirklich negative Effekte auf unser aller Zusammenleben und unseren Fortbestand hat, so können wir dann …«

»Ich denke, dass reicht fürs erste«, hielt ich die Person auf und hob die Hand, um ihren Redefluss zu unterbrechen. »Für den Zweck dieses Gespräches bin ich zufrieden. Ich lasse Ihnen den Vertrag die Tage zukommen und werde mich nach Ihrem Onboarding melden, falls ich weiteres Konsulat brauche. Haben Sie letzte Fragen?«

»Ja«, war die Antwort. »Haben Sie jemals eine Ihrer Kapseln benutzt?«

»Nein. Mir fehlte bisher die Zeit. Es gibt so fürchterlich viel zu tun und wenn es darum geht, anderen Freude zu bereiten, so stelle ich mein eigenes Glück weit hinten an.«

»Sie sind regelrecht einbetoniert«, sprach die Person daraufhin. »Einige Zeitungartikel meinten, dass Ihr Büro der sicherste Ort auf der Erde ist. Kein Android von Dreambringer wird Sie wohl jemals hier erreichen. Sie haben einen Traum von der Welt, aber scheinen kein Interesse daran zu haben, selbst Teil dieser neuen Zukunft zu werden.«

»Den wenigsten Visionären war dieser Luxus vergönnt. Ich weiß Ihre Sorgen um die Zukunft zu schätzen, aber ich fürchte die Entwicklung ist nicht mehr aufzuhalten. Die Bestellungen wurden getätigt, die Fabriken laufen heiß und so viele Milliarden warten mit einem Lächeln auf ihre eigene Welt, die sie gestalten und entdecken können. Es wäre viel zu grausam von mir, ihnen dieses Geschenk zu enthalten. Einen guten Tag noch.«

Alle Quallen waren inzwischen hoch in die scheinbar endlose Dunkelheit verschwunden. Das Hologramm schaltete sich aus. Das Vorstellungsgespräch war beendet und damit auch meine Erinnerung.

Ich drehte meinen Stuhl zum Fenster und verringerte die Helligkeit, sodass ich ungehindert nach draußen sehen konnte.

Die gewaltigen, schwarzen Bauten, kantig und ohne Fenster, überragten die überwachsene Stadt wie Berge. Es war, als hätte ein Gott in die Landschaft hineingewürfelt.

Wartungsdrohnen schwebten zwischen den künstlichen Schluchten hin und her. Sie trugen das Symbol meiner Firma. Unter ihnen waren aufgebrochene Straßen, aus denen Gras und Bäume wuchsen. Die Dächer der alten Wohnkomplexe waren eingestürzt und an den Wänden hingen Ranken herab.

Mit der Bewegung eines Fingers aktivierte ich eine Datenanzeige, die neben mich zu schweben begann. In keiner aktiven und am Netz angeschlossenen Kapsel wurden mir mehr Lebenszeichen angezeigt. In den virtuellen Welten standen die Avatare bewegungslos inmitten strahlender Familien, großer Schlachten oder fantastischen Landschaften – auf ewig in der fabrizierten Realität erstarrt. Unter Ihnen war auch die Person, mit der ich vor langer Zeit das Gespräch eben geführt hatte. Eine schöne Welt hatte sie sich geschaffen. Ich habe nichts anderes erwartet.

Ich hob die andere Hand, um einen weiteren Befehl zu geben und bemerkte dabei wie faltenlos meine Haut war.

»Die Anti-Aging-Technologie ist wirklich weit gekommen«, meinte ich dazu. »Schade, dass ich der Einzige bin, der daran gedacht, meine Lizenz dafür zu verlängern.«

Eine weitere Wischbewegung. Eine Kameraansicht vom Haupteingang wurde mir angezeigt. Hunderttausende Gestalten drängelten sich dort dicht an dicht. Ihre sanften und freundlichen Gesichter mit den großen, unschuldigen Augen schienen durch das Hologramm direkt mich anzusehen. In den Außenwänden konnte man Kratzspuren von ihren Plastikfingern sehen. Die Androiden von Dreambringer, wie eh und je begierig darauf mir mein eigenes Produkt zu verkaufen. Eine Investition, die sich wahrlich ausgezahlt hatte.

»Vielleicht«, sagte ich zu mir leise, in die Stille meines Büros hinein, »vielleicht hätte ich doch auf einige mehr Ratschläge hören sollen.«

Mit einem Seufzen erhellte ich wieder das Fenster, sodass ich zu meinem Schattendasein zurückkehrte und begann durch meine Erinnerungen zu scrollen. Vielleicht gibt es noch andere interessante Gespräche aus meiner Vergangenheit, die ich wiederholen könnte, um meine Langeweile zu vertreiben.

3. Der letzte Jahrmarkt

Astrid Miglar

»Willkommen zum Weltuntergang. Wir bieten Ihnen einzigartige Erlebnisse. Erste Reihe. Fußfrei. Schießen Sie ruhig ein letztes Selfie, was Ihnen allerdings nur dann gelingen wird, wenn Sie zu den Glücklichen gehören, die noch am Leben sind und deren Handys Akkureserven aufweisen. Und bedenken Sie, auch wenn das Ende naht, unmittelbar danach kann es eigentlich nur noch besser werden.«

Ich bin Charlotte. Vergessen Sie meinen Namen gleich wieder. Auch ich habe ihn beinahe schon vergessen, gibt es doch niemanden, der regelmäßig nach mir ruft. Aktuell befinde ich mich auf einem ehemaligen Karnevalsgelände. Hier betreibe ich eine Art Rückblick. Nur für mich. Ich lasse meine Seele und meine Füße baumeln, was im Angesicht der gegenwärtigen Endzeitstimmung eigenartig wirken mag. Vermutlich hat mich die Einsamkeit wunderlich werden lassen. Häufig plaudere ich halblaut vor mich hin, um den Klang meiner eigenen Stimme nicht zu vergessen. Dadurch verdränge ich außerdem die Geister der Einsamkeit.

Ich kann nicht klagen. Es geht mir gut. Ich lebe noch. Betrachte ich meine Verpflegung – bestehend aus Popcorn-Resten, die zäher sind als das Leder meiner Schuhe – bin ich sogar einigermaßen zufrieden. Meinen Vitaminhaushalt ergänze ich durch dünne Stränge Zuckerwatte. Einst war die süße Watte rosafarben und duftig zum Ballon aufgeblasen. Längst hat sie ihre fröhliche Farbe verloren, ist verblasst und zu harten, klebrigen Schnüren geschrumpft. Wenn ich darauf herumkaue, habe ich das Gefühl, meine Zähne bleiben in süßem Klebstoff stecken. Beim Lösen der klebrigen Reste helfen sirupartige Getränke, die ich an der Kasse des Ponykarussells gefunden habe. Der Genuss der blitzblauen, tieforangen, smaragdgrünen und neongelben Überreste einer ehemaligen Trinkkultur stimmt mich heiter. Ich mag den künstlichen Geschmack der Säfte. Er erinnert mich an früher, als die Welt in Ordnung war, und hier auf dem Rummelplatz noch pure Freude und Lebenslust geherrscht haben müssen. Die aufgezählten Genussmittel sind allerdings nur ein kleiner Teil meiner Ernährung. Zugegeben, der Ungesündere, was aber, wenn man sich in Endzeitstimmung befindet, ohnehin gleichgültig ist. Dennoch fühle ich mich wohl zwischen den Schaubuden und Attraktionen, die bereits Altersschwäche zeigen. Die bunten Farben der zahlreichen Glanzstücke sind im Licht der Sonne längst fahl geworden. Der Lack an den Fahrzeugen blättert ab. Die Stoffbahnen des ehemals knallrot-weiß-gestreiften Zirkuszeltes sind zerrissen und zu rosa-schmutziggrauer Farbe verkommen. Nichts ist mehr grell, außer die Farbe des Getränks in meiner Hand. Noch ist er vorhanden, der Glanz einer vergangenen Ära, die jetzt zur guten alten Zeit zählt.

Ich wälze mich in sentimentalen Erinnerungen, die ich mit niemandem teilen kann, denn die Menschheit in ihrer Ausbreitungswut gibt es nicht mehr. Anfangs fand ich das traurig, war darüber verzweifelt und weinte häufig. Ich haderte mit meinem Schicksal, rief einen Gott an, der unsichtbar war, sich vermutlich die Finger in die Ohren stopfte, um mein Wehklagen nicht länger hören zu müssen. Mittlerweile habe ich akzeptiert. Meine Zukunft ist offen. Und noch lebe ich.

Hinter mir ertönt ein Quietschen. Vor einer Woche hätte mich dieses Geräusch in Panik versetzt. Dabei sind es nur Karussellpferde, die sich ein kleines Stückchen bewegen. Vor und zurück. Im Wind. Manchmal, wenn mir langweilig ist, schiebe ich das Ponykarussell kräftig an, stelle mir vor, wie Kinder darauf sitzen, mit leuchtenden Augen, höre ihr Lachen, höre sie jubeln. Diese Gedanken wärmen mich.

Die hölzernen Karussellponys blicken mich freundlich aus großen, wimpernumkränzten Augen an. Manchmal meine ich, dass mir eines zuzwinkert, dann zwinkere ich zurück. Alles hier ist morbid, dem Verfall preisgegeben. Auch ich.

Heute am frühen Morgen – der Himmel war bezaubernd veilchenblau – saß ich in einem der Fahrzeuge des Autodroms. Ich genoss die Stille und betrachtete den mächtigen Baum am Vorplatz. Es ist ein Ahorn, der gestern, ich weiß es bestimmt, noch siebenundachtzig Blätter trug. Hier ist nicht viel zu tun, also bleibt genug Zeit, um derartige Nebensächlichkeiten ins Visier zu nehmen. Fasziniert trat ich aus dem Schatten des überdachten Autodroms in die Sonne und lehnte mich an den mächtigen Baumstamm. Blickte daran empor, hinauf in den Himmel. In der Nacht zuvor hatte es geregnet. Der Boden war noch feucht. Die Erde atmete. Dunstwolken lösten sich aus den umliegenden Wäldern. Und ich schwöre, bei allem, was mir noch etwas wert ist, dass der Baum heute von einem hellgrünen Flaum umgeben ist. Es sieht aus, als besäße er seine eigene Aura. Dabei ist die Erklärung einfach: Der Regen lässt frisches Grün sprießen. Bald kommen zu den siebenundachtzig Blättern weitere hinzu. Darauf hoffe ich.

In wenigen Stunden wird die sommerliche Hitze zunehmen, der Himmel blasser werden, die Sonne wärmer. Meine Uhr, die mir nicht mehr sagen muss, wann ich wo zu sein habe, zeigt mir trotzig Zeit und Datum an. Solarfunktion. Es ist neun Uhr. Früher Vormittag. Zeit ist belanglos geworden. Dennoch gibt mir der Blick auf die Uhr das Gefühl, Kontrolle über die Zeit zu haben, was natürlich dumm ist, mir aber auf eigenartige Weise Sicherheit vermittelt.

»Herzlich willkommen zum Weltuntergang«, flüstere ich, und meine Stimme klingt wie die einer Fernsehsprecherin, die sich in neutralem Ton versucht, obwohl das gegenwärtige Drama Tränen und Hysterie verdient hätte.

»Sie dürfen sich den Weltuntergang nicht vorstellen, wie er in zahllosen Filmen abgespult wird. Zwar gab es in den letzten Jahren Umweltkatastrophen, zwar mögen manche dieser Unglücke schlimmer gewesen sein als irgendwelche, jemals erdachten Horrorszenarien, dennoch brechen nicht alle Vulkane gleichzeitig aus, die Erde tut sich nicht unter ihren Füßen auf, die Sonne wird nicht zum Grillmeister, und auch der Teufel und seine dämonischen Helfer üben sich nicht in Auferstehung.«

Ich breite meine Hände aus wie eine Predigerin und fahre verschwörerisch fort: »Wenn es darum geht unsere Erde auseinanderzunehmen, sind wir Menschen echt einfallsreich. Wir haben unseren Untergang vortrefflich inszeniert. Atemzug für Atemzug. Im Interesse der Wirtschaft beuteten wir mit gnadenlosem Hinter-mir-die-Sintflut-Denken alles und jeden aus. Egoistisch und grausam. Dennoch hatten wir Helfer in unerwarteten Positionen.«

An dieser Stelle blicke ich kritisch in eine Kamera, die es nicht gibt.

»Erinnern Sie sich an die Hellseher, Wahrsager und Orakel, die uns vor dem herannahenden Untergang warnten? Natürlich befanden sich darunter Lügner und Betrüger, Blender und Falschspieler, deren Aufgabe es war uns Angst einzujagen, um uns Geld aus den Taschen zu locken. Und was verkauften sie uns nicht alles: es hieß sich mit Kuhdung und Knoblauch einzureiben, im Kopfstand Zwiebeln zu essen, drei Mal täglich ein Gemisch aus Essig und Bleichmittel zu gurgeln, dazu ein paar wohldosierte Mantras, eine Handvoll Anti-Apokalypse-Globuli und donnernder Trommelwirbel. Allerlei erfolgversprechende Mittel. Bestimmt genauso hilfreich wie Sonnenlicht, wenn man Vampir ist.«

Meinen Aufzählungen lasse ich eine Kunstpause folgen. Ein erschrockenes Ahornblatt fällt vor mir auf den Boden.

Noch sechsundachtzig Blätter.

»Und was taten wir? Wir haben über diese Eiferer gelacht, die Augen verschlossen, die Ohren angelegt und gefeiert. Stimmungsaufheller eingeworfen und Sekt gegurgelt. Als gäbe es keine Bedrohung. Was sollte uns schon passieren? Wir waren lebendig. Wir waren unsterblich.«

Der Ahorn lauscht meinem Bericht aufmerksam. Ich meine zu hören, dass mir seine wenigen Blätter applaudieren. Bestätigt durch diese Art der Zustimmung fahre ich in meiner Funktion als Fernsehsprecherin fort: »Doch dann geschah Eigenartiges. Es begann damit, dass Regenwürmer zu Fleischfressern wurden. Ich erinnere mich an den ersten Vorfall. Wir hielten die Story für einen dummen Scherz. Wollen Sie wissen, wie es begann?«

Ich ziere mich, male mit meinen nackten Zehen Muster in den Sand und warte.

»Erzähl!«, sagt der Baum und verliert ein weiteres Blatt.

»Also gut. Es begann mit einem Aufforstungsprojekt. Bäume sollten gesetzt werden. Eine Frau berichtete über komische Ereignisse beim Ausheben von Pflanzlöchern. Sie sei immer sorgsam mit Bodenlebewesen umgegangen, hätte sogar während der Pflanzaktion versucht jeden Wurm, jeden Engerling vor dem Tod zu retten. Kein Tier sollte unter ihrer Grabungsarbeit leiden. Am Ende war sie selbst es gewesen, die Schaden erlitten hatte. Sieben, sie wusste die Anzahl genau, weil sie jeden einzelnen Wurm von ihrer Hand hatte reißen müssen, … sieben Würmer hatten – wie Blutegel – an ihrer Handfläche gehangen, hatten sich hartnäckig innerhalb von Sekundenbruchteilen an ihrem weichen Fleisch festgebissen, kaum, dass sie die Tiere aus der Erde bergen und in lockere Erde verfrachten konnte.«

Ich starre in die imaginäre Kamera.

»Regenwürmer«, sage ich, als kommentierte ich eine Tierdoku, »haben keine Zähne, dennoch hinterließen sie blutige Fraßspuren im Fleisch der Frau, der dieses Erlebnis einen ordentlichen Schreck einjagte. Wenige Tage später erkrankte die Frau. Sie hatte sich eine Blutvergiftung zugezogen, an der sie elend zugrunde ging. Danach häuften sich die Fälle von Wurmattacken. Dabei war dies erst der Anfang, denn als nächstes taten sich Schnecken durch heftigen Blutdurst hervor. Zwar ist allgemein bekannt, dass Schnecken eine mit Zähnchen besetzte Raspelzunge besitzen, doch noch nie zuvor waren diese Werkzeuge gegen Menschen eingesetzt worden.«

Nachdenklich hebe ich das Ahornblatt hoch, zerreibe es zwischen meinen Fingern, betrachte den hellgrünen Pflanzensaft und rieche daran. Herrlich duftete das.

»Ein besonders hässlicher Fall ging kurz darauf durch die Medien. Ein Mann war spätnachts unterwegs nach Hause gewesen. In der Dunkelheit war er vom Weg abgekommen, und in einen feuchten Straßengraben gestolpert. Dort blieb er im Alkoholrausch liegen. Das wäre noch kein Drama gewesen, denn alles geschah an einem lauen Sommerabend. Es drohte also kein Erfrierungstod. Das Alkoholisierte hätte einfach seinen Rausch ausgeschlafen, wäre am nächsten Morgen erwacht, vielleicht mit Übelkeit gesegnet oder einem unrunden Kreislauf, aber immerhin am Leben. Dieses Mal jedoch nahm alles einen furchtbaren Verlauf. Die Kinder hatten den Vater morgens als vermisst gemeldet, nach ihm gesucht. Sie fanden nur noch skelettierte Reste eines Menschen, der Kleidung trug, wie sie eben der Vater getragen hatte. Hose, Hemd, Schuhe und Knochen waren mit einem schleimigen Film überzogen. Eine medizinische Beschau ergab, dass die wenigen Überresten von Fleisch, die noch an den Knochen des Mannes hingen, zarte Fraßspuren aufwiesen. Nicht jene von Mäusen, auch nicht von Ratten. Der dünne Schleimfilm, der die menschlichen Überreste bedeckte, ließ den Schluss zu, dass sich Nacktschnecken über den Betrunkenen hergemacht hatten und ihn aufgefressen.«

Ich halte inne, sehe mich um. Mein Bericht stößt auf mangelndes Echo. Nicht einmal die hübsche Blaumeise, die über mir im Ahorn hin und her flattert, zeigt Interesse an meinem Monolog. Am Ende landet sie auf der großen Zehe meines rechten Fußes, betrachtet einen Käfer, der sich mir nähert, hüpft auf den Boden, pickt ihn auf und verschlingt ihn als willkommene Mahlzeit.

Inzwischen bin ich meiner Stimme überdrüssig geworden, finde mein Plappern aufdringlich. Seufzend denke ich an die jüngste Vergangenheit. Nach dem Nacktschneckenvorfall war es unmöglich geworden, sich unbeschadet im Freien aufzuhalten. Käfer, zuvor harmlos und nützlich, entwickelten sich zur gefährlichen Plage. Die Wissenschaftler rätselten zum Verhalten der Insekten, die sich – energischer als Bettwanzen – unter die Haut ihrer Opfer bohrten, wobei sie ausschließlich Menschen attackierten. Es gab Orte, an denen die Käferinvasion besonders heftig wütete. Sie fraßen Gänge in das Fleisch jener Wehrlosen, die in Krankenhausbetten oder Altersheimen reglos dazu verdammt waren, zu Käfer-Mahlzeiten zu werden. Überall dort, wo sich Menschen zahlreich aufhielten, bei Konzerten, Sportveranstaltungen, Demonstrationen, fanden erste Attacken statt. Die Viecher waren schnell, töteten innerhalb weniger Tage. Sie weideten sich an Blut und Innereien. Zerlegten Muskelfasern, und fraßen sich ungehindert und todbringend durch Fettschichten. Manchmal gingen sie besonders heimtückisch vor, sodass ihr Wirt anfangs nichts von ihrer Anwesenheit bemerkte, sie ihn in aller Ruhe besiedeln konnten. Dazu meinten Experten, dass die Tiere schmerzunterdrückende Hormone in den Körper ihrer Opfer freiließen. Wenn schließlich Schmerzen einsetzten, war es der Anfang vom Ende, und bereits zu spät.

Natürlich versuchten wir, uns vor den krabbelnden Insekten zu schützen. Rieben uns mit Fett ein. Sinnlos. Nutzten Chemikalien, die unsere Gesundheit beeinträchtigten. Am Ende siegten die Fressfeinde doch. Manche Menschen benutzten in ihrer Verzweiflung sogar Benzin, sprühten ihre Haut damit ein, als wäre es Sonnenöl, und hofften, die Parasiten auf diese Weise loszuwerden. Die Folgen einer derartigen Eigenbehandlung waren absehbar. Reizerscheinungen in Mund, Magen und Darm. Atemnot, Krämpfe, Bewusstlosigkeit. Am Ende stand der sichere Tod durch Kreislaufzusammenbruch. Immer jedoch waren die Parasiten schneller als die angewandten Mittel. Die Hölle des Sterbens verstärkte sich nur noch durch die zusätzliche Verwendung schädlicher Mixturen.

Berühmte Persönlichkeiten starben. Ebenso bedeutungslose Möchtegern-VIPs. Meine Schulkollegen starben. Meine Lehrer. Liebenswerte. Ekelpakete. Obdachlose. Die Sendboten des Todes machten keine Ausnahme, pflückten Jung und Alt. Bald waren auch Todesfälle innerhalb meiner Familie derart normal, dass niemand mehr Tränen der Trauer übrighatte. Kein Virus, keine Naturkatastrophen, keine Zombies, keine vier apokalyptischen Reiter auf mageren Pferden bedrohten uns. Die Todesboten des Untergangs waren Kleintiere, denen man niemals derartige Macht über Leben und Fleisch zugetraut hätte. Diese krabbelnden und fliegenden Ausgeburten der Hölle machte nicht vor Armen, nicht vor Reichen, nicht vor Schönen, vor überhaupt niemandem Halt. Die Struktur des Sterbens schien willkürlich festgelegt.

Ich seufze, sehe der Blaumeise aufmerksam zu, die um mich herumhopst, fallweise etwas aufpickt und keinerlei Angst vor mir hat.

»Sag mir«, frage ich die Meise, »wohin soll man flüchten, wenn der Tod überall lauert? Hätte ich im Keller unseres Hauses bleiben sollen, mich abschotten? Eingezwängt in einen dicken Neoprenanzug, der Schutz vor Attacken bot, wenn ich fallweise aus dem Haus schlich.«

Am Ende trieben mich Hunger und Verzweiflung fort. Und auch die Qual, dass ich als Einzige aus meiner Familie übriggeblieben war. Rasch schloss ich mich einer Gruppe umherstreifender Fremder an. Fünfundvierzig Personen, bunt gemischt. Frauen, Kinder, Männer, Jugendliche. Keine Alten. Die waren geopfert worden.

Auch in den vielen Wochen, die wir unterwegs waren, an einen Ort, den nur unser Anführer kannte, verloren wir regelmäßig Wegbegleiter an den Tod. Bei manchem Toten bin ich sicher, dass nachgeholfen worden war. Gier. Hass. Proviantraub. Niemand von uns sah hin, wenn wieder einer zurückblieb. Wir wagten es nicht. Niemand begehrte auf. Jeder war froh, dass es den anderen traf, dass man selbst noch am Leben war. Wir waren Mitläufer und Mittäter in einem. Außerdem wollten wir uns den Glauben an eine Verbesserung nicht nehmen lassen, hatte uns unser Anführer doch einen Schutzort in den Bergen versprochen. Dort wären die Gefahren geringer. Es gab keinen anderen Plan, als in Bewegung zu bleiben. Unser Anführer sprach uns Mut zu: nur noch diesen einen Berg überwinden, nur noch diese lange Gerade hinter uns lassen, nur noch diesen Fluss durchwaten, nur noch eine Kurve hinter uns bringen. Todmüde. Immer weiter. Vorwärts. Es gab kein Zurück. Wer stehenblieb, auf den lauerte der Tod.

Am neunundvierzigsten Tag unserer Suche kam Hoffnung auf. Das solarbetriebene Handy eines Weggefährten schnappte Berichte auf, wonach ozeanische Inseln von den Plagen verschont geblieben wären. Wir befanden uns zu weit weg vom Meer, doch für wenige Glückliche sollten diese Inseln als letzte Zuflucht dienen. Eine trügerische Hoffnung, denn die auf den Inseln Lebenden wollten ihre heile Welt nicht teilen. Verständlich. Schon gar nicht mit jenen, die glaubten, Befehlsgewalt müsse genügen, und die Einheimischen hätten gefälligst zu weichen. Krieg brach aus. Ein unfairer Kampf der Schlachtschiffe und U-Boote gegen Drohgebärden und schlecht bewaffnete Insulaner. Mit den Einflussreichen und Mächtigen kam der Tod in die einst von Plagen verschonten Regionen. Festgeklebt an Schiffswänden. Verborgen in Fracht und Kleidung. Isolierte Inseln, gerade noch sichere Orte, wurden auf diese Weise zu Todeszonen. Das Krabbelzeug eroberte und vermehrte sich. Die frisch importierten Viecher exekutierten menschliches Leben ohne Rücksicht, vom Kleinkind bis zum Greis. Interessant war, dass Babys anfangs überlebten. Waisenhäuser waren bald überfüllt. Ich will mir nicht vorstellen müssen, wie am Ende auch die Kleinsten starben, weil kein betreuendes Personal mehr am Leben war. Die neue Pest war überall angekommen.

Ein weiterer Hoffnungsfunke, der für einen ebenso kurzen Augenblick aufflammte, betraf eine Art Immunität, die man meinte entdeckt zu haben. Am Ende stellte sich heraus, dass die scheinbar gegen Fressfeinde Geschützten bereits auf andere Weise zum Tode verurteilt waren. Teils litten sie an einem Frühstadium von Leukämie, teils an einer aggressiven Form der Hepatitis. Meist war die Leber der zweiten Gruppe derart angegriffen, dass weder Würmer, Schnecken oder Käfer sich für diese potenziellen Opfer interessierten.

Als ob das noch nicht genug gewesen wäre, gingen nach Regenwürmern, Käfern und Schnecken auch Schmetterlinge zu Attacken über. Haben Sie schon von Kampfschmetterlingen gehört? Ein einziges dieser wundervollen Geschöpfe, deren Farben und Muster bezaubernd sind, ist harmlos. Stürzt sich aber ein Schwarm auf sein Opfer, verklebt mit bunten Schuppen Mund und Nase, dann bleibt dem Betroffenen das Lachen im Hals stecken. Dort befinden sich nämlich bereits zahlreiche Schmetterlingskörper, die unfreiwillig eingeatmet wurden. Erstickungstod.

Den Schmetterlingen schlossen sich Vögel an. Niemals hätte ich gedacht, dass Menschen von Vögeln regelrecht verfolgt werden könnten. In Scharen. Dass die Vögel einen umzingeln und attackieren würden. Auch Meere, Seen und Flüsse wurden zu unsicherem Terrain. Raubfische, kaum länger als mein Unterarm, griffen Angler an, verhielten sich wie Krokodile. Friedfische wiederum, die keine scharfen Zähne besaßen, um einem Menschen gefährlich zu werden, setzten ihre Körper als torpedoartige Waffen ein. Angler wurden attackiert, stürzten ins Wasser, ertranken. Die anfangs gefeierte Idee, dass Meere neue Lebensräume bieten sollten, stellte sich als trügerisch heraus. Auch isoliert geschaffene Inselwelten, bestehend aus aneinandergeketteten Schiffen, hatten das Sterben nicht stoppen können. Jegliche Hoffnung war begraben worden. Gegen Fadenwürmer, wie sie in Fischen vorkommen, half auch nicht das Braten der Tiere. Inzwischen genügte die flüchtige Berührung eines Wasserlebewesens, um dem Tod geweiht zu sein. Leichte Beute Mensch. Hinterhältig parasitiert und rasch dahinsiechend.