Die Stille tiefen Wassers - 2 - Judith Kleiner - E-Book
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Die Stille tiefen Wassers - 2 E-Book

Judith Kleiner

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Beschreibung

Einen besseren Neustart hätte sich Hailee Borrows nach ihrer Flucht aus den Staaten in ihren kühnsten Träumen nicht ausmalen können. Ihr neues Zuhause bietet ihr Sicherheit, einen guten Job, neue Bekannte und einen Mann, der sich liebevoll um sie bemüht. Doch nachdem die äußeren Wunden abgeheilt sind, tobt in ihr ein quälendes Chaos, das weiter befeuert wird, als alte Freunde sie ausfindig machen. Erst jetzt erfährt sie, wie weit Chris mit seinen Lügen zu gehen bereit ist und wie unerbittlich er immer noch nach ihr sucht. Bald wird klar, dass sie sich ihrer geheimnisreichen Vergangenheit auf Dauer nicht entziehen kann.

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Veröffentlichungsjahr: 2024

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Neuanfang
Spezialitäten
Alte Freunde
Mare
Geheime Orte
Rausch
Abschiede
Herkunft
Verhör
Belize
Niki
Homecoming
Zeichen
Morgen
Wasser
Gesellschaft
Training
Macht
Frauen
Schneider
Arianna
Glas
Geburtstag

 

 

 

Die Stille tiefen Wassers

 

Teil 2

 

Wenn aus Schatten Licht entsteht

 

Von Judith Kleiner

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

2. Auflage, 2025

© April 2025 Judith Kleiner – alle Rechte vorbehalten.

Impressum:

Judith Kleiner

c/o Literatur- und Kulturlounge

Mainzer Str. 6

55276 Oppenheim

Deutschland

Mail: [email protected]

Instagram: @judith.kleiner.autorin

Lektorat: Tamara Leonhard

Korrektorat: Sabine Steck

Umschlaggestaltung: Judith Kleiner (Canva Pro / Scribus)

Hintergrundmotiv: «Mann im Hemd» erstellt von @serendipity_art_project mit Midjourney (KI) und Photoshop

Blumendekoration: erstellt von Judith Kleiner mit Mojo AI via Canva Pro

Gefördert durch die Kulturstiftung Liechtenstein.

 

 

Inhalt:

Einen besseren Neustart hätte sich Hailee Borrows nach ihrer Flucht aus den Staaten in ihren kühnsten Träumen nicht ausmalen können. Ihr neues Zuhause bietet ihr Sicherheit, einen guten Job, neue Bekannte und einen Mann, der sich liebevoll um sie bemüht. Doch nachdem die äußeren Wunden abgeheilt sind, tobt in ihr ein quälendes Chaos, das weiter befeuert wird, als alte Freunde sie ausfindig machen. Erst jetzt erfährt sie, wie weit Chris mit seinen Lügen zu gehen bereit ist und wie unerbittlich er immer noch nach ihr sucht. Bald wird klar, dass sie sich ihrer geheimnisreichen Vergangenheit nicht auf Dauer entziehen kann.

 

Über die Autorin:

Ich stamme ursprünglich aus Oberösterreich und habe Vergleichende Literaturwissenschaften in Wien studiert. Mit dem ersten Teil der Hailee Borrows Serie – «Die Stille tiefen Wassers – Du endest, wo ich beginne» – habe ich mir 2023 den langersehnten Wunsch einer Buchpublikation erfüllt. Bei meiner Schreibarbeit versuche ich bewusst, verschiedene Genres und Tropes zu bedienen und freue mich über jeden neuen Leser, jede neue Leserin und alle Rückmeldung.

Deine Bewertung ist für mich als Selfpublisherin entscheidend, da sie die Sichtbarkeit auf diesem großen und stark umkämpften Markt erhöht. Wenn du mehr über mich und meine Arbeit wissen möchtest, schau bei mir auf Instagram vorbei:

@judith.kleiner.autorin

Ich freue mich über jeden Kontakt mit meiner Leserschaft!

Jede Verwertung oder Vervielfältigung dieses Buches – auch auszugsweise – sowie die Übersetzung dieses Werkes ist nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin gestattet.

Handlungen und Personen im Roman sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Neuanfang

Sie wusste es nicht mit absoluter Sicherheit, aber das, was sie empfand, konnte nicht richtig sein. Die Gefühle und Gedanken, die der Alltag hier in ihr auslöste, verunsicherten sie jedes Mal aufs Neue. Alles war gut und fühlte sich dennoch so unsagbar falsch an. So begleitete ein merkwürdig bitterer Beigeschmack ihren friedlichen Alltag.

Die Sonnenstrahlen kitzelten ihre Nase, ohne ihr dabei die Haut zu verbrennen. In dem morgendlichen Licht kam ihr die kleine Nebenstraße wie die Kulisse einer idyllischen Vorabend-Sitcom oder eines Hollywood-Liebesstreifens mit Ryan Gosling vor. In diesem Moment wäre sie nicht überrascht gewesen, wenn die vorbeilaufenden Passanten plötzlich angefangen hätten, eine durch die Komödien der 50er Jahre inspirierte Tanzeinlage aufzuführen. Als sie an sich hinuntersah, wie sie so an dem kleinen Kaffeetisch saß, war sie sogar fast erstaunt, dass sie sich noch nicht in eine Schwarz-Weiß-Figur verwandelt hatte. Ihr Kleid leuchtete unverändert rot, wie schon am Morgen.

Vermutlich lag die Irritation beim Erleben ihres neuen Alltags bloß an ihrem geschändeten Unterbewusstsein. Schuld und Angst hatten lange feste Bestandteile ihres Lebens gebildet, sie waren ausschlaggebend für all ihre Entscheidungen gewesen und zur Normalität geworden. Nichts, worüber sie Tränen vergossen oder überhaupt nachgedacht hatte, weil sie schlichtweg nichts anderes gekannt hatte.

Doch hier, so weit von ihrer Vergangenheit entfernt, war zumindest die Angst überflüssig geworden – und dennoch nicht wegzudenken.

Die Sonne schien von einem strahlend blauen Postkartenhimmel und machte das Bild der heilen Welt perfekt. Ein weiterer wundervoller Tag, der aufgrund seiner Vollkommenheit komplett surreal erschien, lag vor ihr.

Wenn sie so hochblickte, hätte sie meinen können, der Hochsommer hätte bereits Einzug gehalten, dabei war es erst März. Auch die Temperaturen kletterten nun langsam über die Zwanzig-Grad-Marke und erlaubten es Lee, ihre Füße in bunten Sandalen zu präsentieren. Sie hatte ihre nackten Beine in die Sonne gestreckt und beobachtete über die Milchschaumkrone ihres Cappuccinos hinweg eine Gruppe Touristen, die offenbar frühmorgens angereist war, um die ansässige Produktion von Keramikfliesen zu besuchen.

Die Begeisterung im Gesicht der Reisenden stimmte Lee zwischenzeitlich dankbar für diesen Fleck Erde, den sie zu ihrem neuen Zuhause gemacht hatte. Sie genoss die Süße des Milchkaffees, schob sich die Sonnenbrille auf die Nase und legte den Kopf in den Nacken. Immer noch fiel es ihr schwer, zu glauben, dass sie wirklich hier war, dass sie es tatsächlich geschafft hatte, ihre Pläne in die Tat umzusetzen.

So viele ihrer Altlasten hatte sie abgestreift und hinter sich gelassen. Manches trug sie aber auch noch bei sich und das meiste würde sie vielleicht nie ganz loslassen können. Anderes trat jetzt erst zutage und erschwerte ihren Neustart: Tief vergrabene Ängste flackerten seit ihrer Flucht auf und störten das idyllische Bild des Neuanfangs, sie verzerrten es und ließen sie mit dem beklemmenden Gefühl zurück, dass das hier alles nicht wahr sein konnte.

Einen Moment lang schaute sie in den Himmel und versuchte, nichts anderes als diese Freiheit zu fühlen, die sie umgab.

«Ecco, dein Frühstück, Maria. Ist ganz frisch», trällerte Fabio und stellte ihr eines der köstlichen Cornetti con Crema vor die Nase. Von dieser Vanillefüllung bekam Lee einfach nie genug. Aus ihren Gedanken gerissen senkte sie den Kopf wieder und strich ihr Sommerkleid glatt, das unter dem cremefarbenen Bolero weit auseinanderfiel.

Und ob, dachte sie bei sich, das ist alles echt.

Dennoch konnte sie es nie völlig genießen.

«Du verwöhnst mich, Fabio.» Dankbar lächelte sie ihm über die Sonnenbrille zu, biss genüsslich in das noch warme Gebäck und verteilte dabei Puderzucker auf ihrer Hand und dem Tisch.

In manchen auserlesenen Augenblicken hatte das Leben einen völlig neuen Geschmack. Alles war intensiv und köstlich, als hätte sie bisher nur gehungert und nähme erst jetzt all die herrlichen Aromen der Welt wahr.

«Was hast du heute vor, Maria?», fragte Fabio, während er ihr die Tageszeitung auf den Tisch schob und etwas Mehl aus der Schürze klopfte, die er über seinem weißen Hemd und der Stoffhose trug. Sein dunkles Haar war heute wilder als sonst und seine braunen Augen wirkten noch leicht übernächtigt. So wie sein süßes Gesicht an diesem Morgen aussah, hatte er nicht genug geschlafen. Fabio war einer dieser wirklich guten Männer, das Traumpaket jeder Frau, die halbwegs bei Verstand war. Er arbeitete hingebungsvoll, verwirklichte leidenschaftlich seine Träume, sah hervorragend aus, war fürsorglich und dabei schon fast unnatürlich liebevoll. Doch für Lee war er nur der ewig nette Kerl, der gute Freund.

«Ich habe den ganzen Tag Dienst im Laden und danach mache ich mich über das Kreuzworträtsel her», antwortete sie, nachdem sie hinuntergeschluckt hatte, und tippte dabei mit ihrem zuckrigen Zeigefinger auf die Zeitung. «Mein Italienisch wird sonst nie besser. Ich komme also den ganzen Tag nicht aus dem Dorf.»

«Und abends?», fragte er mit hoffnungsvoller Stimme, zog ein Tuch hervor und wischte über den kleinen Tisch neben ihr. Wenigstens hinterließen auch andere Gäste Puderzucker- und Krümelmassaker an ihren Plätzen. «Heute kommt nämlich eine Lieferung Meeresfrüchte und ich wollte alte Familienrezepte ausprobieren. Falls du vorbeischaust, bekommst du eine exklusive Erstverkostung, und ich kann dir mit dem Rest des Kreuzworträtsels helfen.» Ein freundliches Lächeln umspielte bei dieser Einladung seine Lippen. Er bemühte sich zwar sehr um Lee, bisher aber auf eine rein freundschaftliche Art. Fast schien es so, als würde er spüren, dass es so bald kein Mann mehr in ihre Nähe schaffen würde. Nicht einmal ein heiratswilliger Lottosechser wie er.

Denn die Mauern, die Lee um sich errichtet hatte, waren dick und kaum zu überwinden. Immerhin mussten sie das Chaos im Zaum halten, das in ihr tobte. Dabei wurden diese Schutzmauern zunehmend zu einem Gefängnis, in dem eine Revolte zwischen Häftlingen und Aufsehern lief. Bisher war unentschieden, wer gewinnen würde. Eigentlich war Lee noch nicht einmal klar, welche Seite die gute und welche die böse war. Kindheitserinnerungen hatten sich aus Gabeln Stichwaffen gefertigt und gingen gnadenlos gegen Lees verkümmerten Selbstwert vor, während traumatischer Stress die Gummiknüppel gegen ihren inneren Frieden richtete. Möglicherweise war der Gefängnisalltag ihrer Seele weniger schwarz und weiß, als sie bisher angenommen hatte.

Diesen chaotischen Zustand ihrer Psyche zu sehen, hätte sie niemals jemandem zumuten können, und sie musste es auch nicht. In diesem abgelegenen Dorf war sie in Sicherheit, niemand konnte sie hier finden oder wiedererkennen. Für die Dorfbewohner war sie Maria, und das war alles, was sie über sich preisgab. Fabio war zu einem guten Freund geworden und dabei würde es wohl auch bleiben.

Dieser herzensgute, ewig nette Kerl, dachte sie und hätte fast aufgeseufzt, weil sie es so niedlich und so überhaupt nicht anziehend fand. «Wie könnte ich da Nein sagen?», entgegnete sie dennoch lächelnd und fragte sich innerlich genau das: Wie unfassbar verbohrt war sie bloß, um zu so jemandem ernsthaft Nein zu sagen? «Ich komme gern vorbei. Was schulde ich dir?», fragte sie nach einem Blick auf die Uhr.

«Mit der Zeitung zehn Euro fünfzig», antwortete er sichtlich zufrieden und zog sein Portemonnaie hervor.

Da das Lokal nur eine Querstraße von ihrer Wohnung entfernt lag, frühstückte sie oft bei ihm. Der Duft, der der Bäckerei entströmte, hatte eine magische Anziehungskraft auf sie. Wie eine Motte flog sie nur allzu gern in dieses vor Kalorien strotzende Licht. Zudem war Fabios Kaffee um Welten besser als das Gebräu, das sie sich zu Hause mit Instantpulver, Zucker und Milch anrührte.

Fabio kellnerte hier für seine Eltern, die das Café mit eigener Bäckerei vor fast vier Jahrzehnten eröffnet hatten und es an ihren Sohn weitergeben wollten. Manche Relikte, wie die signierten Schallplatten eines lokalen Jazzgitarristen, die im Inneren an den Wänden hingen, sahen aus, als würden sie seit der Eröffnung dort hängen. Auch die mit grünem Samtstoff bezogenen Möbel wirkten veraltet und abgenutzt, verliehen dem kleinen Lokal jedoch etwas Heimeliges. Die Korbsessel draußen auf der Straße waren moderner. Fabio hatte sie erst vor wenigen Wochen für den Außenbereich besorgt, um die ungemütlichen Metallstühle zu ersetzen, die seine Eltern seit eh und je dort stehen gehabt hatten. Inzwischen war er zusätzlich dabei, seine persönlichen Pläne in die Tat umzusetzen. Es war der kleine rebellische Akt eines ewig netten Kerls: Erst kürzlich hatte er sein eigenes Restaurant am nahe gelegenen Strand eröffnet. Seither eilte Lees Lieblingskoch und Sprachlehrer zwischen den beiden Lokalen hin und her, um es auch wirklich allen in seinem Umfeld recht zu machen. Der Mann war einfach zu gut für diese Welt.

Seit ihrer Ankunft hier im Dorf hatten Fabio und einige andere sich sehr um Lee bemüht. Man hatte ihr wohl angesehen, dass sie schwierige Zeiten hinter sich hatte, als sie sich in diesem kleinen Dorf so fernab ihrer Heimat in einer Eineinhalbzimmerwohnung niedergelassen hatte und die ersten Tage kaum vor die Tür gegangen war. Ansonsten machten die Einheimischen hier nämlich gern einen geräumig ausfallenden Bogen um die unkultivierten Touristen, oder viel mehr Kultur-Terroristen. Aber mit ihr schienen die Dorfbewohner Mitleid zu haben, wobei es bisher niemand gewagt hatte, sie nach Details ihrer Vergangenheit zu fragen. Das Bedauern in den Blicken ertrug sie und konzentrierte sich darauf, wie schön es war, sich willkommen zu fühlen.

Noch in dem kleinen Internetcafé in New Orleans hatte sie die gemütliche, in malerischen Blautönen gehaltene Ferienwohnung entdeckt und reserviert. Zumindest in dieser Hinsicht hatte damals alles wie geplant funktioniert. Seither hatte sie niemandem etwas von ihrer wahren Vergangenheit erzählt. Hier durfte sie jemand anders sein, auch wenn sie bisher nicht wusste, wer genau sie sein wollte. Die Art von Horrorgeschichten, die zusammengefasst ihre Biografie ergaben, konnte sie nicht gerade jedem einfachen Gemüt aufbürden. Also behielt sie die Details für sich und genoss es, für die unschuldige, vielleicht auch etwas naive Amerikanerin gehalten zu werden. Diese Rolle beherrschte sie.

Der vorderen Partie ihrer Haarpracht hatte sie direkt nach ihrer Ankunft am Flughafen einen Stufenschnitt verpasst, sodass der lange Pony die Naht an ihrer Schläfe verdeckte, und dennoch musste ihre neue Vermieterin ihr ihre Verletztheit angesehen haben. Keine Curtain Bangs der Welt konnten den dunklen Schleier verbergen, der sie umgab.

Äußerlich waren ihre Wunden in den letzten vier Monaten verheilt, die Prellungen verschwunden. Die Fäden aus der Naht an ihrer Schläfe hatte sie selbst gezogen und sich dabei mit der Nagelschere die Haut aufgeschnitten. Aber diese Art von Blessuren empfand sie eher als ein leichtes Kitzeln. Es war lange her, seit sie zuletzt eine Verletzung an ihrem Körper gehabt hatte, die die Bezeichnung auch verdient hatte.

Endlich hatte sie ein neues Leben angefangen, das friedlicher kaum sein konnte. Sie arbeitete im kleinsten Supermarkt des Dorfes und half dort vor allem den Touristen dabei, die italienischen Bezeichnungen auf den Etiketten zu verstehen, befüllte Regale und behielt die Lagerbestände im Auge. Dafür bekam sie den Mindestlohn, der für ihr Leben aber völlig ausreichte. Ihre eigenen Italienischkenntnisse waren zwar beschränkt, doch das, was es in dem Supermarkt zu kaufen gab, kannte sie inzwischen auswendig. Das fließende Sprechen von Fremdsprachen stolperte meistens eher über die persönliche Hemmschwelle als über die trägen Beine des inneren Schweinehundes. So auch bei Lee. Diese Schwelle konnte sie mit Alkohol zwar etwas senken, aber angeschwipst fielen ihr dann die notwendigen Vokabeln nicht mehr ein. Zudem konnte sie in diesem Zustand nicht bei der Arbeit erscheinen, ohne dabei den Eindruck einer Alkoholikerin zu erwecken.

Nachdem sie bezahlt und sich von Fabio verabschiedet hatte, schlenderte sie durch die schmale Seitengasse zur nächsten Straße. Die Gebäude hier waren viel niedriger und älter, als Lee es von zu Hause kannte. Die Steinfassaden mit den üppigen Blumendekorationen, die jetzt im Frühling überall hervorgeholt wurden, verliehen dem Dorf einen malerischen Anstrich.

Auf ihrem Heimweg blieb Lee wie immer vor einem kleinen Antiquitätenladen stehen, dessen Anblick sie jedes Mal aufs Neue in nostalgische Stimmung versetzte. Die Auslagen waren bestückt mit Musikspieluhren, Puppen, hölzernen Eisenbahnen, Besteck, Schmuck, Lampen, alten Büchern, verstaubten Hüten und verrosteten Schildern. Ein Laden, gefüllt mit Erinnerungen vergessener Menschen, die sich zu Lebzeiten vielleicht über genau die Gegenstände definiert hatten, die Passanten heute in der Auslage kopfschüttelnd belächelten.

Am Eck zu dieser Straße steuerte sie auf den Eingang zu ihrer Wohnung zu. Der mit bunten Fliesen verzierte Türbogen der Keramikmanufaktur, die so viele Touristen in diese Gegend lockte, war am anderen Ende der Gebäudereihe deutlich zu sehen. Die handgefertigte, farbenprächtige Keramik hatte eine lange Tradition in dem Dorf, das durch seine im Hang gelegenen Straßen und Gebäude einen weiten Blick über das Meer eröffnete. Wenn Lee es gerade nicht sehen konnte, konnte sie dennoch den salzigen Geruch in jedem Winkel der Ortschaft wahrnehmen.

Lee öffnete die schwere Holztür und erreichte über die steinerne Treppe ihre Wohnung, die ihr inzwischen so sehr ans Herz gewachsen war. Die kalte Luft des Treppenhauses roch nach feuchtem Stein und Erde. Ihre Haustür klemmte ab und zu, da sich das Holz bei schwankender Luftfeuchtigkeit und Temperatur gern verzog, sie hatte aber gelernt, mit diesen Macken des alten Hauses umzugehen. Das hier war ihr eigenes Reich und sie musste erst herausfinden, wie sie es gestalten wollte.

Der Eingangsbereich ihres neuen Heims erinnerte mit seinen kunstvollen blauen Fliesen an Wasser, auf dem Lee ihre Sandalen abstellte. Es waren nicht die einzigen Schuhe, die hier verteilt herumlagen. Sie war weit weniger ordentlich veranlagt, als sie immer gedacht hatte. Ihre Sonnenbrille und die Schlüssel warf sie achtlos auf eine kleine Kommode neben der Tür und tapste dann barfuß Richtung Badezimmer davon. In der angrenzenden Wohnküche hatte sie in sicherem Abstand zu dem dreckigen Geschirr auf dem Tisch am Morgen die Schürze bereitgelegt, die sie für ihren Dienst im Supermarkt brauchte. Auch in der kleinen Küche stapelte sich schon die Hausarbeit und irgendwo lag ein altes Telefon, das sich am Ende eines Ladekabels langsam aufheizte. Nach so vielen Jahren ihre häuslichen Pflichten erstmals wieder ungestraft vernachlässigen zu können, fühlte sich einfach zu befreiend an, um sich dagegen zu wehren.

Vor dem Spiegel im Badezimmer überprüfte sie ihr Make-up, band sich die Haare zusammen und zog ihren dezenten Lippenstift nach. Zum ersten Mal hatte sie sich selbst einrichten dürfen und für das kleine Bad hübsche Handtücher sowie einen neuen Duschvorhang in abgestimmten Blau- und Türkistönen gekauft, um das Bild der Oase zu vervollständigen.

Beim Hinausgehen griff sie in der Küche noch nach der bereitgelegten Schürze und ihrem Telefon, schlüpfte dann in ein Paar bequemer Turnschuhe und eilte die Treppe hinab auf die Straße.

Der Laden war nicht weit entfernt und sie genoss die Strecke, die sie durch die schmalen Gassen der Altstadt zu Fuß zurücklegen konnte. Aus manchen der Wohnungen wehte der Duft von Kaffee oder dem bereits vor sich hin köchelnden Mittagessen zu ihr heraus. Lee hörte die blecherne Stimme eines Moderators aus einem Radio, während aus der nächsten Wohnung Kindergelächter erklang und in einer anderen der Fernseher vor sich hin schepperte. Irgendwo lief hier immer ein Fußballspiel. Surreal schön, banal alltäglich. Unglaubwürdig idyllisch.

Mit ihrem auffälligen Sommerkleid und den Turnschuhen sah sie noch jünger aus, als sie ohnehin war. An manchen Tagen fühlte sie sich auch so. An anderen war ihr, als lägen tausend Leben hinter ihr, als folgten tausend Geister ihrer Spur.

Spezialitäten

«Diese Sorte hier ist mit Frischkäse gefüllt, sehen Sie? Die daneben ist mit Thunfischfüllung. Warum probieren Sie nicht einfach beide?»

«Ich kann Thunfisch nicht ausstehen. Und womit sind diese Oliven gefüllt?», entgegnete der Kerl auf der anderen Seite der Vitrine ungeduldig.

Tonio, der Ladeninhaber, verdrehte am Ende der Theke die Augen und schüttelte den Kopf. Er regte sich gern und auf eine übertrieben dramatische Art über das unverschämte Auftreten der amerikanischen Touristen auf. Angeblich verstand er nichts anderes außer Italienisch, hörte bei Lees Kundengesprächen merkwürdigerweise dennoch immer genau hin. Sie warf ihm einen schnellen Blick zu und ahnte bereits, was ihn so aufregte.

«Ja, das ist bei den beiden Sorten schwieriger zu sehen», entgegnete Lee in geduldigem Ton. «Diese hier sind mit ganzen Knoblauchzehen gefüllt, das schmeckt hervorragend, auch wenn man es sich nicht vorstellen kann, wenn man es noch nie probiert hat. Die anderen haben einen Mandelkern. Möchten Sie denn die beiden Sorten probieren?»

«Hm … Ich probiere gern die mit Mandeln.»

Über die Feinkosttheke hinweg reichte sie ihm die gefühlt hundertste auf einen Zahnstocher aufgespießte Kostprobe in Form einer Olive und wartete gespannt auf die Reaktion des jungen Mannes, der knapp zwanzig Jahre alt sein durfte.

Der Laden existierte schon seit Jahrzehnten und war randvoll mit italienischen Spezialitäten. Hier bekamen Touristen und Einheimische wirklich alles, was sie sich nur vorstellen konnten. Von duftenden Gewürzen, hochwertigem Olivenöl, bunt gefärbter Pasta, allerhand Käse und Fleischwaren über alkoholische Getränke, exquisite Liköre, extravagante Essigsorten, Fruchtsirups bis hin zu Amaretti oder glasierten Mandeln war hier alles zu finden. Lee liebte diesen außergewöhnlich gut sortierten Feinkostladen und bekam von manchen der Köstlichkeiten selbst kaum genug. Die Gänge waren zwar eng und die Regale schon fast überladen, dafür roch es immer vorzüglich nach den Kräutern, die Tonios Frau und Mitinhaberin Delia selbst anpflanzte und für ihre hauseigenen Gewürzmischungen trocknete. Vor allem der Duft von frischem Oregano führte bei Lee förmlich zu Heißhungerattacken.

Der skeptische Blick des Mannes an der Theke löste sich rasch in Wohlgefallen auf, nachdem er die Olive gekostet hatte. Endlich hatte er etwas gefunden, das ihm zusagte. Surreal banal dieser Alltag. Zu schön, um echt sein zu können.

«Die sind gut. Könnten Sie mir eine der kleinen Boxen füllen?»

«Natürlich, gern.»

Erleichtert füllte sie die kleinste ihrer Plastikboxen mit den Oliven und versiegelte den Kunststoffdeckel mit dem Etikett, das die Waage ausgespuckt hatte. Mit einem Lächeln und in der Versuchung, sich kurz zu Verbeugen, reichte sie dem Kunden seine Bestellung. «Falls Sie noch mehr Fragen haben, können Sie sich gern an mich wenden.»

Beim Anblick ihres lächelnden Gesichts lief der Mann kaum merklich rot an und verschwand Richtung Kasse. Er war der Erste aus der Touristengruppe, der heute mit ihr gesprochen hatte. Seinem Akzent nach zu urteilen, kam er aus dem Süden der USA.

Kopfschüttelnd kam Tonio auf sie zu. «Idiota», murmelte er wild gestikulierend. Er war ein drahtiger Mann mit hagerem, aber freundlichem Gesicht. Seine stets sonnengebräunte Haut war leicht ledrig und faltig. Trotz seines Alters hatte er etwas spitzbübisch Jungenhaftes an sich, das Lee besonders an ihm mochte. Gerade tat er so, als würde er sich aus jeder der Schalen in der Feinkostvitrine bedienen und sich die Köstlichkeiten in den Mund stopfen. Dann zeigte er auf die Mini-Boxen und sah sie dabei flehend an. Übertrieben theatralisch äffte er mit dieser Darbietung den jungen Mann nach, der ein Dutzend der Produkte probiert hatte, bevor er sich die kleinste und damit kostengünstigste Portion Oliven hatte einpacken lassen. Grinsend warf Lee ihm ein Geschirrtuch entgegen und schüttelte den Kopf. Die beiden konnten noch nicht viel miteinander reden, aber manches verstanden sie auch ohne Worte.

«Worüber regt er sich schon wieder auf?» Delia hatte mit ihrem üppigen Hintern die Tür aus dem Lager aufgestoßen und beim Heraustreten sofort den genervten Gesichtsausdruck ihres Mannes wahrgenommen. Sie hievte eine Kiste voller Tomatensauce in Gläsern in ihre Richtung. Klirrend stießen sie aneinander, während das Gemurmel der Kundschaft die Gänge erfüllte und dabei die leise italienische Musik übertönte, die sonst zu hören war.

«Ach, da war wieder ein junger Tourist, der zu viel probiert hat», erklärte Lee mit rollenden Augen und einem Schmunzeln, während sie ihr dabei half, die Kiste auf eine der freien Theken zu schieben. «Wenn es nach Tonio ginge, dürfte keiner hier mehr etwas probieren. Aber wenn sie nicht probieren, dann kaufen sie nicht!», schimpfte Delia in ihrem vor Italienisch triefenden Akzent in Richtung ihres Mannes, der nur eine verächtliche Handbewegung machte und dann ins Lager verschwand. Delia war eine stämmige, hübsche ältere Dame mit rosigen Wangen und einem Temperament, das für zwei Personen gereicht hätte. Neben ihr wirkte Tonio noch hagerer, als er tatsächlich war.

Ein Ehepaar wie die beiden hatte Lee zuvor nicht gekannt. Seit sie angefangen hatte, bei ihnen zu arbeiten, schien sie sie nur beim Streiten zu erleben. Dabei waren sie wie eines dieser Paare aus den familienfreundlichen Sitcoms und vermutlich mit daran schuld, dass die Realität sich manchmal so surreal anfühlte. Zuerst hatten ihr die beiden zeitweise leidgetan, bis sie eines Tages bemerkt hatte, dass in ihren Handlungen mehr Liebe lag, als es Boshaftigkeit in ihren Streitereien gegeben hätte. Es waren kleine Gesten und Taten und sie hatte sie erst wahrgenommen, nachdem sie eines Abends ihr Telefon im Lager vergessen hatte und nach Ladenschluss nochmals zurückmusste. Delia und Tonio hatten die Kasse gezählt, das war eines ihrer gemeinsamen täglichen Rituale. Dabei stellten sie das Radio laut und tranken ein Gläschen Wein. Als Lee unvorhergesehen an der Tür des Ladens auftauchte, sah sie die beiden durch die Glasscheibe hindurch im Gang miteinander tanzen. Dabei lächelten sie einander an wie zwei verliebte Teenager. Vielleicht tanzten sie nicht jeden Abend so liebevoll, aber irgendwie war es eine schöne Vorstellung, dass auch der Tanz zu ihrer langjährigen Routine gehörte. Die beiden machten einander zudem häufig kleine Geschenke, die zu simpel waren, um groß aufzufallen. Tonio brachte manchmal Blumen von seinem Mittagsspaziergang mit und platzierte sie kommentarlos auf Delias Schreibtisch, während sie jedes Mal ungefragt Tonios Lieblingscannoli aus dem Nachbardorf mitbrachte und ihm damit ein fröhliches Lächeln ins Gesicht zauberte. Es war eine Art routiniertes Spiel zwischen den beiden und eigentlich schienen sie sehr glücklich miteinander zu sein.

Delia hatte vor einigen Jahren Sprachkurse besucht, um ihre Kundschaft besser bedienen zu können. Tonio hingegen blieb bei seiner Muttersprache. Als Lee bei ihnen vorbeigekommen war und sich in grauenhaftem Italienisch, das sie mit ihrem nervösen Gestottere noch verschlimmerte, erkundigt hatte, ob sie vielleicht eine Aushilfe im Laden gebrauchen konnten, hatte sich Delia unheimlich gefreut. Für sie war Maria, wie sie sich vorgestellt hatte, ein Geschenk des Himmels gewesen. Eine fast zweisprachige und noch dazu hübsche junge Aushilfskraft wäre bestimmt gut für das Geschäft.

Bevor sie wusste, wie ihr geschah, hatte sie bereits einen Job und nur einen Tag nach ihrem ersten Besuch in dem Laden begann sie zu arbeiten. Mit ihrer freundlichen, geduldigen und gewissenhaften Art stellte sie sich bald als wertvolle Unterstützung heraus. Delia und Tonio schlossen sie schnell ins Herz und für Lee fühlte es sich umwerfend an, sich um den eigenen Lebensunterhalt zu kümmern, selbstständig und unabhängig zu sein.

Daniel, ein Schüler aus dem Dorf, übernahm an den Nachmittagen und in den Ferien den Dienst an der Kasse. Er steckte mitten in der Pubertät, kämpfte mit seiner pickeligen Haut, den nicht wachsen wollenden Muskeln, dem Flaum in seinem Gesicht, der einfach kein Bart werden wollte, und den ersten Gefühlen, die er für seine Mitschülerin Mirella empfand, von der er liebend gern erzählte. Es schien diese große und eine, unvergessliche Liebe zu sein, die man wirklich nur einmal im Leben so schonungslos auf sein Herz losließ. Unvergesslich war sie meistens nur, weil sie so einzigartig schmerzhaft war. An manchen Tagen war der Junge so gequält von Liebeskummer, dass sie ihn die halbe Zeit nur seufzen hörten. Mit seinem Herzschmerz tat er Lee zeitweise unfassbar leid und zugleich beneidete sie ihn um diese unschuldigen Erfahrungen, die er sammeln durfte. Sein Herz war noch nicht von einer Panzerung folgenschwerer Erlebnisse umschlossen und fühlte alles völlig ungefiltert.

Surreal banal, dieser Alltag. Ein schöneres Leben hätte Lee sich kaum vorstellen können und vermutlich hatte sie deshalb häufig das Gefühl, sich in einem traumartigen Schwebezustand zu befinden. Im Vergleich zu ihrem inneren Chaos ähnelte die äußere Welt einer Sitcom, in der die Hauptfigur aus irgendeinem unerfindlichen Grund mit ihr komplett falsch besetzt worden war.

Mit ihrer ausufernden Fantasie stellte sie sich oft vor, wie die Autoren der Serie beieinandersaßen und ein bekiffter Ex-Surflehrer, der irgendwie ohne Absicht und Ambition in diesem Job gelandet war, vorschlug: Ey, nehmen wir doch eine Hauptfigur mit höllischer Vergangenheit, tiefliegenden Problemen und posttraumatischer Belastungsstörung. Eine, die dort nicht reinpasst und irgendwann irre wird, weil sie die Normalität nicht verkraftet. So was lieben die Leute. Wenn sie gut aussieht, erledigen sich die Quoten von allein.

Arschloch, dachte Lee über den imaginären Schreiber bei dem imaginären Meeting. Gleichzeitig wurde ihr klar, dass sie langsam ungeheuer aufpassen musste, um nicht wirklich verrückt zu werden.

Von der Theke schnappte sie sich eine kleinere Kiste mit Ware, die in die Regale eingeräumt werden musste, und machte sich an die Arbeit, konnte dabei dennoch ihre Gedanken nicht ganz abstellen.

Die neugewonnene Freiheit hatte einen Schalter in ihr umgelegt, alte Geister befreit, die sie nun heimsuchten. Seit sie von Chris weg war, plagten sie Albträume und lebhafte Erinnerungen, die sie manchmal sogar tagsüber überkamen. Nachts lag sie oft wach und erinnerte sich an viele verschiedene Phasen ihres Lebens, über die sie lange nicht mehr nachgedacht hatte. Keine davon war einfach gewesen, alles davon hatte sie auf irgendeine Art gezeichnet.

Als sie mit dem Einräumen fertig war, schlenderte sie auf dem Weg zurück zur Theke noch durch einen der Gänge. Lächelnd beobachtete sie ein kleines Mädchen, das verzweifelt am Kleid ihrer Mutter zupfte, die zu sehr mit der Auswahl von Pasta beschäftigt war, um sich auch noch ihrem Kind widmen zu können. Um die Kleine vom Weinen abzuhalten, schnitt Lee ihr im Vorbeigehen eine alberne Grimasse und erntete dafür ein verhaltenes Grinsen, das ihr einen leichten Stich verpasste. Zu den Attacken ihres Unterbewusstseins und den schlaflosen Nächten bereitete ihr seit Kurzem ein weiteres Gefühl Bauchschmerzen und Kopfzerbrechen. Es hatte eine Weile gedauert, bis sie sich hatte eingestehen können, was es war: Sehnsucht. Sie vermisste Schmerz und Leid, die Chris ihr zugefügt hatte, weil sie eine Strafe gewesen waren. Nun, da diese wegfiel, brach die Schuld wieder über sie herein, wie sie es nie für möglich gehalten hatte. Vermutlich musste es so sein. Diese Schuldgefühle gehörten einfach dazu, und sie hatte sie verdient.

Obwohl sie nie mit jemandem darüber geredet hätte, wurde ihr nun erst wirklich klar, dass sie allein war und selbst damit fertigwerden musste. Immer häufiger dachte sie an Sophie und wie sehr es ihr hier gefallen hätte. Wenn sie stundenlang hinaus auf das kalte Meer starrte, stellte sie sich vor, wie ihr Leben zusammen mit ihrer Tochter verlaufen wäre, wenn ihnen in dieser verhängnisvollen Nacht die Flucht gelungen wäre. Vermutlich wären sie niemals hier gelandet, doch egal wo sie heute auch wären, ihr Leben wäre vollkommen gewesen, wenn sie es nur zusammen mit ihrer Tochter hätte führen dürfen.

Immer wieder aufs Neue brachen ihr diese Gedanken das Herz, und egal wie weit sie sie wegschob, sie kamen doch wieder hoch. Sie hatte gedacht, dass sie damit leben könnte, dass sie sich irgendwann vielleicht sogar verzeihen könnte. Doch dem war nicht so. Je schöner ihr Leben wurde, desto schuldiger fühlte sie sich. Und die Sehnsucht nach irgendeiner Art der Strafe wuchs in ihr, so sehr sie sie auch zu unterdrücken und wegzusperren versuchte.

Das kleine Mädchen im Laden sah Lee noch neugierig hinterher, bevor sich ihre Mutter endlich zu ihr hinunterbeugte und ihr nun zwei Packungen gefärbter Pasta zur Auswahl hinhielt.

Lee lächelte bei diesem Anblick, wandte sich dann aber der Theke und der nächsten Kiste zu, die Delia für sie bereitgestellt hatte.

Ihr Gehirn wollte ihr einfach keine Ruhe gönnen. Durch kleinste Ereignisse oder Erlebnisse konnte sie hilflos in die tiefen Wunden ihrer Seele hineinstürzen, die die traumatischen Erfahrungen ihres Lebens dort hinterlassen hatten. Alledem zum Trotz machte sie einfach weiter. Tag für Tag, Woche für Woche. Sie bemühte sich, ihr neues Leben zu meistern, während sie gedanklich doch im alten festhing. Ihr Selbstwertgefühl war irgendwo auf der Strecke geblieben, lag in ihrem innerlichen Seelengefängnis zusammengerollt und schwer verletzt auf dem Gang des Zellenblocks B, wo die Revolte unaufhaltsam tobte. Die meiste Zeit hatte sie das Gefühl, nur eine Rolle in diesem Leben zu spielen, das sich so schlagartig von einem gewaltvollen und dramatischen Thriller in eine familienfreundliche Sitcom verwandelt hatte. Je nachdem, wer ihr gerade gegenüberstand, passte sie ihre Darbietung an und erwartete jeden Morgen aufs Neue, endlich ihre eigene Titelmusik zugeteilt zu bekommen.

Auch an Damiano dachte sie viel. Vor allem, wenn sie sich einsam fühlte. Aber an diesem Ort war das nicht verwunderlich. Hier war sie ihm näher und ferner denn je.

Während Lee weiter Flaschen mit selbstgekochter Tomatensauce in die Regale räumte, tauchte die nächste Reisegruppe auf. Innerhalb kürzester Zeit war der Laden voll und von lautem Geplapper erfüllt. Sie musste sich beeilen, um jedem fragenden Kunden zu Hilfe kommen zu können.

«Miss, kann man bei Ihnen denn auch asiatische Instantsuppen kaufen?», rief eine übergewichtige kleine Dame bereits von der Tür aus in ihre Richtung.

«Nein, entschuldigen Sie bitte, aber wir sind auf italienische Feinkost spezialisiert.»

«Wer verkauft denn heutzutage keine Instantsuppen?», schimpfte die Frau, während sie den Laden kopfschüttelnd wieder verließ. Den Unmut der Einheimischen über die ankommenden Touristen konnte Lee teilweise verstehen. Manche waren wirklich grässlich unverschämt und laut.

Ungläubig sah sie der Frau hinterher und war froh, dass Delia gerade im Lager war und Tonio kein Wort verstanden hatte.

«Was kostet das hier?» Eine Frau Mitte vierzig mit kurzen Haaren hielt ihr eine Packung Tagliatelle mit Basilikum knapp unter die Nase, sodass Lee einen Schritt zurücktreten musste.

«Oh, ähm, zwei Euro fünfundfünfzig, sehen Sie?», antwortete sie bemüht lächelnd und deutete auf ein Preisetikett, das vorne auf der Packung klebte und eigentlich nicht zu übersehen war. Sind Sie blind oder blöd, hätte sie am liebsten gefragt, verkniff es sich aber.

«Gibt es keine Coupons?», hakte die Frau weiter nach und verzog dabei genervt das Gesicht.

«Nein, tut mir leid. So etwas bieten wir nicht an.»

Als die Frau neuerlich zu einer Frage ansetzte, hörte Lee im hinteren Teil des Geschäftes Glas zerbersten. Gleich darauf fluchte Tonio auf Italienisch. Sie verstand nur Cretino und machte sich schleunigst auf den Weg zu ihm.

Eine Auseinandersetzung bahnte sich an und sie hoffte, der bekiffte Surfer-Schreiberling hatte den komödiantischen Aspekt in der heutigen Folge der Sitcom ihres Lebens nicht vergessen.

Sie fand Tonio beim Spirituosenregal zusammen mit einem großgewachsenen Mann, der hochrot angelaufen war. Zunächst dachte sie, ihm sei die teure Flasche Whiskey nur heruntergefallen, und versuchte, die Situation zu beruhigen, doch Tonios Schimpftiraden schienen für einen reinen Unfall übertrieben. Mehrfach deutete er an, sich etwas in die Jacke zu stecken, und da begriff sie, was er sagen wollte.

«Sir, mein Boss hier meint, Sie hätten versucht, sich die Flasche einzustecken. Was genau ist denn geschehen?» Der Geruch des Whiskeys weckte alte Erinnerungen, die sie zusammen mit dem aufkommenden Brechreiz wieder hinunter zu schlucken versuchte.

«Was? Also wirklich, was sollen diese Anschuldigungen? Ich habe überhaupt nichts getan, sagen Sie diesem Mann, er soll sich beruhigen. Die Flasche ist mir aus der Hand gefallen. Ich wollte sie gerade bezahlen!», antwortete der Kunde entrüstet.

Nun kam auch noch Delia hinzu, die verstand, was Tonio erzählte, sofort die Hände in die breiten Hüften stemmte und den Mann in ihrer aufbrausenden Art anfuhr: «Was bilden Sie sich ein? Kommen in unser Geschäft und wollen stehlen? Ich werde die Polizei rufen!» Vor Zorn lief sie rot an und gestikulierte wild.

«Dann rufen Sie doch die Polizei! Sie können mir überhaupt nichts beweisen. Die Flasche ist mir aus der Hand gerutscht, weil hier alles dreckig und ölig ist!», fauchte der Mann zurück.

Während Delia fluchend ihr Telefon aus der Schürze zog und wählen wollte, schimpfte Tonio immer noch auf Italienisch. Der Kunde wirkte in Lees Augen zu nervös, um unschuldig zu sein, aber nachweisen konnte man ihm tatsächlich nichts. Auch die Polizei nicht. Da hatte sie eine Idee. Zumindest für sie würde es in dieser Folge einen komödiantischen Aspekt geben.

Beschwichtigend legte sie ihre Hand auf Delias Arm und meinte dann in freundlichem, aber lauterem Ton, um Tonios und Delias Tiraden zu übertönen, zu dem vermeintlichen Ladendieb:

«Sir, es tut mir wirklich schrecklich leid. Dieses Missverständnis wird sich bestimmt gleich aufklären. Sobald die Polizei hier ist, werden sie die Überwachungsvideos sichten. Sie müssen sich nur einen Moment gedulden.»

Erschrocken sah der Mann sie an und blickte sich dann suchend im Laden um.

Delia verstummte überrascht. «Aber Maria», unterbrach sie sie dann, doch Lee zwickte sie unauffällig in den Unterarm. Auch Tonio verfiel jetzt in Schweigen und beobachtete die Situation.

«Hier sind doch keine Kameras?», sagte der Mann skeptisch.

«Aber natürlich. Sehen Sie die Kästchen in den Ecken? Das sind sehr moderne und hochauflösende Überwachungskameras. Sind nur getarnt. Wir haben sie erst kürzlich installieren lassen.» Bei diesen Worten deutete sie auf die kleinen Luftentfeuchter, die überall im Laden verteilt montiert waren. «Die sind ihr Geld wirklich wert.»

Irritiert folgte Tonio ihrem Fingerzeig, doch Delia hatte verstanden und stieß ihrem Mann in die Seite, als dieser zu einer neuerlichen Schimpftirade ansetzen wollte.

«Aber Sie haben kein Schild aufgehängt, das deutlich macht, dass man gefilmt wird. Das ist illegal.»

Der Mann wurde immer nervöser, je ruhiger Lee mit ihm sprach, was ihn nur umso verdächtiger erscheinen ließ.

«Aber dort vorn hängt doch das Schild», entgegnete sie und deutete dabei auf eine kleine Tafel bei der Kasse, auf der auf Italienisch geschrieben stand: Auch Stammkunden dürfen nicht anschreiben.

Verunsichert sah der Mann nun von dem Schild zu den Luftentfeuchtern, dann zu Lee und auf das Telefon in Delias Hand. Delia wiederum flüsterte Toni gerade etwas zu, klärte ihn vermutlich über die Showeinlage auf. Einen Moment lang dachte der Ladendieb nach, bevor er sich räusperte und mit kratziger Stimme antwortete: «Wissen Sie, ich habe eigentlich überhaupt keine Zeit, um hier auf die Polizei zu warten. Wenn es also hier so üblich ist, bezahle ich die zerstörte Flasche doch einfach. Das macht mir überhaupt nichts aus.»

Strahlend lächelte Lee ihn an. «Wie überaus großzügig von Ihnen. Delia hier wird Sie zur Kasse begleiten, damit Sie bezahlen können, und ich werde dieses kleine Unglück hier beseitigen.»

Mit angespannten Schultern stampfte der Mann hinter Delia her zur Kasse. Seiner Haltung nach zu urteilen, kochte er vor Zorn.

Tonio klopfte Lee anerkennend auf den Rücken und hielt sich die andere Hand vors Gesicht, um sein Lachen zu verbergen, bevor er sich auf den Weg machte, um die Putzutensilien aus dem Lager zu holen.

Während sie noch darüber nachdachte, ob sie sich für diese Darbietung nun verbeugen sollte, und insgeheim auf Applaus des imaginären Publikums wartete, ertönte eine unsichere Stimme von der Seite:

«Maria? Ich könnte schwören, dass du Hailee heißt.» Eine blonde Frau hatte die Szene halb hinter einem Regal versteckt verfolgt und trat nun ganz zu ihr in den Gang.

Voller Entsetzen starrte Lee der unbemerkten Zuseherin in das vertraute Gesicht. «Cara?»

Alte Freunde

Lee konnte es nicht fassen. Das war surreal und weit entfernt von banal oder alltäglich. Es war schlichtweg unmöglich. Aber sie erkannte dieses Gesicht und all die Feinheiten wieder. Am liebsten hätte sie ihre Finger ausgestreckt, um damit über diese Wangen zu fahren, um ungläubig an diesen Haaren zu ziehen, die unmöglich hier an diesem Ort existieren konnten. Bevor sie begriff, was vor sich ging, fiel sie ihrer Freundin aus Kindertagen um den Hals.

Cara war ebenfalls überwältigt und nahm sie genauso fest in die Arme.

«Was machst du denn hier?», presste Lee nach einer gefühlten Ewigkeit hervor.

«Was ich hier mache? Hailee, wo bist du nur die letzten Jahre gewesen? Warst du etwa die ganze Zeit hier?» Ungläubig lachte sie durch ihre Freudentränen hindurch.

Ihren echten Namen zu hören, war wie eine Ohrfeige und holte Lee schlagartig aus ihrem Freudentaumel zurück.

«Bitte, sag nicht meinen Namen. Das ist eine lange Geschichte, aber nenn mich Maria, okay? Bitte», flüsterte sie. Ihre Rolle war zusammen mit dem Namen von ihr abgefallen.

Die beiden ließen einander los und schauten sich völlig überwältigt an. Cara sah noch genau so aus, wie Lee sie in Erinnerung hatte. Ihr langes, blondiertes Haar hing in üblicher Pracht über ihre schmalen Schultern. Das hübsche Gesicht mit den hohen Wangenknochen, dem leicht vorstehenden Kinn und einer etwas zu breiten Nase war nur dezent geschminkt und die buschigen Augenbrauen lenkten die Aufmerksamkeit auf ihre blauen Augen.

«Ich fasse es nicht, dass ich dich hier finde. Am gefühlten anderen Ende der Welt! Das ist doch einfach nicht möglich!» Ungläubig schüttelte sie den Kopf. «Ist Chris etwa auch hier?», fragte sie, wobei ihr Ton an Freude verlor und sie irritiert Lees Schürze über dem roten Kleid musterte.

Ihren richtigen Namen zu hören, war wie eine Ohrfeige gewesen, den ihres Ehemanns Chris zu hören, eher wie ein Faustschlag in die Magengrube. Erschrocken sah sie sich um und schluckte kurz.

«Nein! Gott, verdammt … Nein.» Nervös fuhr sie sich mit dem Handrücken über die Stirn. «Cara, er darf nie erfahren, dass ich hier bin. Das ist alles so eine lange Geschichte. Hat er Kontakt zu dir aufgenommen?»

«Chris? Bist du verrückt, der würde sich doch eher einen Nagel in den Fuß schlagen, als freiwillig mit mir zu reden», entgegnete sie mit zusammengezogenen Brauen.

Tonio tauchte mit Besen, Eimer und Wischmopp wieder auf und sah die beiden aufgelösten Frauen irritiert an.

«Amica», erklärte Lee verlegen und zeigte dabei auf Cara.

Überrascht nickte ihr Boss und deutete mit einer Handbewegung an, sie sollten weiter machen. Als er damit begann, die Scherben einzusammeln, kam Delia zurück und lachte dabei laut. «Maria, Maria, Maria! Du bist der Teufel in Engelsgestalt!»

Die Anwesenheit der beiden überforderte Lee und sie lachte verhalten. Eigentlich wollte sie jetzt nur mit ihrer Freundin allein reden können. «Ich mache kurz Pause», sagte sie ohne weitere Umschweife und zog Cara etwas grob an der Hand aus dem Laden. Diese lächelte den beiden Ladenbesitzern freundlich zu und ließ sich dann bereitwillig mitschleifen.

Als sie endlich ungestört vor der Tür standen, fragte Cara: «Hailee, was ist hier nur los? Warum bist du hier? Und warum nennen die dich Maria? Arbeitest du etwa hier?»

Bevor sie antworten konnte, musste sie einmal tief Luft holen und konnte dabei den Blick nicht von ihrer Freundin abwenden. «Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Ich kann einfach nicht glauben, dass du hier bist.» Unbewusst hielt sie immer noch Caras Hand. «Ich bin abgehauen, vor ein paar Monaten, und habe hier neu angefangen. Ich musste dort weg.»

«Von wo? Wo warst du?»

«Wir waren in New Orleans. Die letzten Jahre.»

Eine Gruppe von Touristen hatte sich in einiger Entfernung versammelt und eine gehetzt wirkende Reiseleiterin hielt eine kleine Fahne in die Höhe, während sie mit unangenehm hoher Stimme rief: «Der Bus fährt in zehn Minuten zurück. Zehn Minuten! Treffpunkt am Parkplatz.»

Die Frau war bestimmt einen Kopf kleiner als Lee und warf ihnen einen merkwürdig zufriedenen Blick zu.

«Verdammt, das ist mein Bus», murmelte Cara zerknirscht. «Gibst du mir deine Handynummer?»

Bedauernd schüttelte sie den Kopf und entgegnete wieder fast flüsternd: «Ich kann nicht, Cara. Wenn er denkt, dass ich dich oder Dylan ausfindig gemacht habe, lässt er eure Telefone bestimmt überwachen. Es ist zu riskant.»

Chris hatte ihre beiden besten Freunde aus Kindheitstagen damals kennengelernt und er hatte sie nie leiden können. Heute war ihr klar, warum.

«Wer? Chris?» Erstaunt sah Cara sie an und lachte dann verständnislos. «Was soll das bedeuten? Und wie kann ich dich denn erreichen?»

«Wie lange bist du noch hier?»

«Der Rückflug geht schon morgen.» Cara biss sich auf die Unterlippe.

Beide standen unter Hochspannung und wollten so unbedingt verstehen, was geschehen war und was hier gerade passierte.

«Heute Abend!», platzte ein Plan aus Cara hervor. «Ich komme zurück. Heute noch. Dann reden wir. Okay? Dass wir uns hier über den Weg laufen, muss etwas bedeuten.»

Eine Träne lief Lee über das lachende Gesicht. Sie war unglaublich erleichtert, zu hören, dass sie sich nicht gleich wieder auf unbestimmte Zeit verabschieden mussten. «Okay!», sagte sie heftig nickend. «Wir treffen uns im Restaurant unten am Strand. Es heißt Mare.»

«Perfekt. Ich bin um spätestens achtzehn Uhr wieder hier. Vielleicht früher.» Cara fasste nun auch nach Lees anderer Hand und drückte sie einmal ganz fest. «Ich verliere dich nie wieder, jetzt wo ich dich gefunden habe», sagte sie noch mit einem Zwinkern, bevor sie loslief und versuchte, die Busgruppe einzuholen, die sich zu dem großen Parkplatz unterhalb der Altstadt aufgemacht hatte.

Immer noch überwältigt sah Lee ihrer Freundin hinterher und zwickte sich kurz in den Unterarm. Doch, das ist echt, dachte sie.

 

Eine halbe Stunde später stand sie, von dem überraschenden Wiedersehen völlig erschüttert, in ihrer Wohnung. Delia und Tonio hatten sie nach Hause geschickt, nachdem sie gesehen hatten, wie aufgelöst sie war. Dabei hatte sie ihnen doch erklärt, dass Cara eine alte Freundin war, die sie bereits seit ihrer Kindheit kannte. Die restliche Zeit war sie bei der Arbeit geistig jedoch so abwesend gewesen, dass sie nur Chaos angerichtet hatte, anstatt zu helfen. Sie hatte nicht nur den Putzkübel umgestoßen, sondern dabei auch ein Regal so unglücklich angerempelt, dass gleich ein Dutzend Fläschchen einer Gewürzmischung zu Boden gefallen war. Es war reines Glück gewesen, dass nicht noch mehr zu Bruch gegangen war. Innerhalb von zehn Minuten hatte sich ihre Arbeitsweise in eine Slapstick-Nummer verwandelt, für die selbst Delia und Tonio keine Begeisterung mehr aufbringen konnten.

Lee kickte ihre Schuhe in eine Ecke ihres meerwasserähnlichen Vorzimmers und hängte ihre Schürze an die Garderobe. Geistesabwesend räumte sie das dreckige Geschirr in die Küche und wusch es ab. So völlig in Gedanken versunken, musste sie ihren Händen irgendetwas zu tun geben.

In den vergangenen Jahren hatte sie oft an ihre beste und älteste Freundin Cara gedacht und es doch nicht für möglich gehalten, sie je wiederzusehen. Als kleine Mädchen hatten sie sich unfreiwillig durch die gemeinsamen Interessen ihrer Mütter kennengelernt und waren von da an den größten Teil ihrer Schulzeit hindurch beste Freundinnen gewesen. Zusammen mit dem etwas älteren Nachbarsjungen Dylan hatten sie eine unzerstörbare Einheit gebildet. Alle drei entstammten der gleichen ärmlichen Nachbarschaft in Detroit und hatten von zu Hause nicht mehr als eine riesige Portion Ballast mit auf den Weg bekommen. Ihre Kindheit war von Alkohol- und Drogenmissbrauch, Gewalt und Rücksichtslosigkeit geprägt gewesen.

Die Mütter von Cara und Lee waren damals gern miteinander ausgegangen und mussten die Kinder mangels Babysitter schon mal zu Partys mitnehmen. Damit die Erwachsenen wenigstens vorübergehend aus ihren unglücklichen Rollen ausbrechen und richtig feiern konnten, waren Cara und Lee bei einer ausufernden Feier gemeinsam in ein Zimmer gesperrt worden, und hatten einander so kennengelernt. Dylans Eltern hatten hingegen immer mehr durch geistige als durch physische Abwesenheit geglänzt. Wenn sie wieder mal eine ihrer Drogenpartys veranstaltet hatten, war Dylan bei Cara oder Lee untergekommen. Und wenn es sonst keinen Platz mehr für die drei gegeben hatte, hatten sie Zuflucht in einem der leerstehenden Häuser Detroits gefunden.

Sie waren ungeliebte und verlassene Kinder gewesen, die füreinander die Familie sein wollten, die sie in ihren Elternhäusern nicht hatten finden können. Gemeinsam hatten sie sich halbwegs durchgeschlagen. Erst Chris’ Auftauchen hatte die Freundschaft zu Cara und vor allem zu Dylan verändert und schließlich beendet. Lee hatte getan, was er von ihr verlangt hatte, und dadurch immer mehr die Verbindung zu ihren besten Freunden verloren. Lange hatte sie diese Entwicklung bereut, aber nie den Mut gefunden, etwas daran zu ändern. Vermutlich war es nur fair, dass ihre Freunde sie damals endgültig fallengelassen hatten, nachdem der Unfall mit Sophie geschehen war.

Bei dieser schmerzhaften Erinnerung hatte sie plötzlich einen Kloß im Hals. Das Geschirr stand bereits abgewaschen neben der Spüle, doch das Wasser lief immer noch über ihre untätigen Hände. Nachdenklich starrte sie auf die blau-weißen Fliesen an der Küchenwand und erinnerte sich an den Moment, als Chris ihr damals gesagt hatte, Cara und Dylan wollten nichts mehr mit ihr zu tun haben. Nach dem, was sie Sophie angetan hatte, hatte sie den Hass ihrer besten Freunde nur allzu gut verstanden, dennoch hatte ihr diese Verurteilung damals fürchterlich wehgetan. Kurz zog es ihr den Magen zusammen. Konnte Caras Freude über das Wiedersehen überhaupt echt sein? Es waren viele Jahre vergangen und dennoch war es doch eigentlich nicht möglich, dass Cara ihr verziehen hatte. Wie sollte man so etwas Schreckliches auch verzeihen? Vielleicht würde sie gar nicht mehr auftauchen oder sie schon bald an Chris verraten. Ein eisiges Brennen erfüllte schlagartig ihre Brust und erfasste zunehmend ihr Herz. Dabei dämmerte langsam die Frage, wie Cara überhaupt hierhergekommen war. Ein Zufall war doch äußerst unwahrscheinlich! Und als sie endlich den Wasserhahn zudrehte, schoss ihr ein anderer Gedanke durch den Kopf: War das eine Falle? Aber wie wahrscheinlich war es, dass Chris sie gefunden hatte? Möglicherweise schickte er Cara als Vorboten, um sie aus ihrem Versteck zu locken! Einen Moment lang erwartete Lee, Chris die Tür aufbrechen zu sehen, und hörte bereits ein Hämmern durch das alte Holz, doch es war nur ihr eigener Herzschlag, der sich bei den paranoiden Gedanken rapide beschleunigte.

Ihre Hände begannen schon zu zittern. Schnell ging sie ins Schlafzimmer und hockte sich zwischen Bett und Wand auf den Boden. Das, was jetzt kommen würde, kannte sie bereits. Auf dem Teppich sitzend machte sie sich so klein wie möglich und atmete tief durch. Die Narben auf ihrem Rücken fingen dennoch an, unangenehm zu ziehen. Erinnerungen fluteten ihr Bewusstsein und ließen keinen Platz mehr für die Gegenwart. Ein pulsierendes und dröhnendes Rauschen brach über ihre Wahrnehmung herein und nahm sie völlig in Besitz. In ihren Gedanken rutschte sie zurück in die Hölle ihrer Vergangenheit und konnte Chris’ Hände an ihren Armen und ihrem Hals fühlen. Überall war plötzlich Schmerz, auch ohne äußerlich sichtbare Ursache. Ihr Herz raste und ihr wurde ganz eng um die Brust. Die Panikattacke legte sich wie eine zu klein gewordene Haut um sie. In diesem Moment gehörte ihr Körper nicht mehr ihr, er folgte keinem ihrer Befehle. Sie presste ihre kalten Handflächen gegen das Gesicht, versuchte, sich auf ihre Atmung zu konzentrieren, und hatte dennoch das Gefühl, unter seinen Händen zu ersticken.

Gequält stöhnte sie, rang nach Luft und bemühte sich darum, ihre Gedanken zu sortieren und dabei das Jetzt von der Vergangenheit zu trennen.

Sie stellte sich vor, wie sich Chris und alles, was er ihr angetan hatte, in schwarzen Nebel verwandelte, den sie in stabile Metallkisten zurückdrängen konnte. Ihre Augen kniff sie fest zusammen und konzentrierte sich auf diese Bilder in ihrem Kopf. Stück für Stück musste sie sich befreien, um wieder atmen zu können.

Wie Flutwellen überkamen sie ihre Erinnerungen. Es waren grauenhafte Werbeunterbrechungen ihrer familienfreundlichen Sitcom, die sie jedes Mal zurück in den Thriller-Modus warfen. Es hatte einige Zeit gedauert, bis sie herausgefunden hatte, wie sie sich selbst bei solchen Attacken helfen konnte. Im Schlafzimmer fühlte sie sich am sichersten und nutzte die Enge des Raumes zwischen Bett und Wand, um sich dem Gefühl hinzugeben, sie könnte sich hier vor der Welt verstecken. Die Idee mit der Visualisierung ihrer Ängste als Nebel, den sie wegsperren konnte, hatte sie online in einem Forum gefunden, und sie funktionierte nicht schlecht. Auch dieses Mal half es, wobei es schrecklich lange dauerte, bis sie sich beruhigen konnte. Doch allmählich wurden die Erinnerungen wieder zu Vergangenheit und Lee nahm zunehmend den Teppich unter ihren Füßen wahr. Das war ein gutes Zeichen.

Um völlig im Jetzt anzukommen, betrachtete sie die einzelnen Möbelstücke des Schlafzimmers, konzentrierte sich auf banale Details. Sie hatte sich so auf diesen sicheren Ort gefreut, an dem sie allein schlafen konnte, ohne Angst vor demjenigen, der sich zu ihr legen würde.

Das Bett, das bereits bei ihrem Einzug im kleinen Schlafzimmer gestanden hatte, hatte ein altes Metallgestell mit einer glücklicherweise relativ neuen Matratze. Den Rahmen hatte Lee mit kitschigen Lichterketten behängt, den Boden rundherum mit Teppichen ausgelegt. Sie verbrachte viel ihrer Zeit in dieser sicheren Höhle. Von einem Flohmarkt hatte sie spontan eine Nachttischlampe mit Bleiglasschirm mitgenommen und im Anschluss seidene Bettwäsche besorgt, die eigentlich zu teuer für ihr geringes Einkommen war. Aber von ihrem Ersparten waren noch Unmengen übrig. Ihre Sparsamkeit saß tief und hielt sie davon ab, ihr Geld für Sinnlosigkeiten auszugeben. Zu sehr fürchtete sie eine herannahende Krise, die eine Rücklage notwendig machen könnte. Vermutlich würde sie reich sterben und könnte ihr Geld nur einem Tierheim vermachen, da es sonst niemanden in ihrem Leben gab, der es dringender gebraucht hätte.

Auf dem Beistelltisch neben ihr stand die letzte greifbare Erinnerung an ihr altes Leben. Ein kleines gerahmtes Bild ihrer verstorbenen Tochter Sophie. Chris hatte es ihr kurz nach der Geburt geschenkt. All die Zeit hatte sie es in ihrem Nachttisch verwahrt. Es war das Einzige, was ihr von ihrer Tochter geblieben war, und das Einzige, das sie niemals zurückgelassen hätte. Es war das Erste gewesen, was sie damals vor ihrer Flucht in ihre Tasche gepackt hatte.

Daneben lag eine alte Ausgabe von Der Graf von Monte Christo. Sie hatte es als einziges englischsprachiges Buch in einer Kiste auf einem Flohmarkt mit gratis Lesestoff entdeckt und kurzerhand mitgenommen. Bisher war ihr zwar nur die Flucht gelungen, aber ihre Rachegelüste lebte sie gern in ihrer Fantasie in der Rolle von Edmond Dantes aus, der ihr inzwischen unheimlich sympathisch war. Ein italienisches Buch über berühmte Frauen Süditaliens hatte sie unter Zuhilfenahme eines kleinen Wörterbuches bisher nur überflogen, sich aber fest vorgenommen, es einmal vollständig zu lesen, wenn ihre Sprachkenntnisse ausreichend wären.

Der Fokus auf ihre Umgebung und die banalen Erinnerungen, die sie mit den Gegenständen verband, half. Endlich ließ das Beben ihres angespannten Körpers nach. Durch ihre Nase atmete sie die Luft tief ein und blies sie hörbar durch ihren Mund wieder aus. Sie zog sich am Bett hoch und belastete nur langsam ihre zittrigen Beine. Mit noch unsicheren Schritten ging sie hinüber zum Fenster und lehnte sich hinaus in die sich aufwärmende Luft. Der Spuk war vorbei und sie versuchte, an bessere Zeiten zu denken.

Cara war früher immer ein Lichtblick in ihrem dunklen Leben gewesen. Es gab so viele freudige Erinnerungen an ihre gemeinsame Jugend, doch gerade das Schöne verblasste im Laufe der Zeit. Zurück blieb Bitterkeit.

Heute wollte sie sich an das Positive erinnern und kramte in ihrem Gedächtnis nach Caras Lächeln, nach ihrem glucksenden Lachen. Sie hatten so viel Blödsinn miteinander angestellt, schon als Kinder zusammen Süßigkeiten und später Alkohol geklaut, den verhassten Nachbarn Müll in die Briefkästen geschoben, Ramsch vom Schrottplatz gestohlen, Partys aufgemischt, sich in leerstehenden Häusern geheime Clubhäuser aus Pappschachteln gebaut. So düster ihre Kindheit und Jugend auch gewesen war, mit Cara und Dylan waren die Tage heller erschienen. Die beiden noch einmal wiederzusehen, war bisher völlig unvorstellbar gewesen. Chris wusste über ihre Verbundenheit Bescheid. Wenn er sie irgendwo suchen würde, dann zuerst bei ihnen. Eine Kontaktaufnahme nach ihrer Flucht war völlig undenkbar gewesen. Doch nun war Cara hier.

Eventuell war wirklich alles nur ein glücklicher Zufall, ein einmaliges Geschenk des Himmels. Egal, was es war, sie würde sich mit ihrer Freundin treffen und nach all den Jahren mit ihr reden und alles klären. Selbst wenn sich herausstellen würde, dass es bloß eine Falle war, könnte sie zumindest noch einmal im Leben mit jemandem sprechen, der sie wirklich kannte, ihr wahres Gesicht gesehen hatte und sie bei ihrem echten Namen rief.

---ENDE DER LESEPROBE---