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In dieser Serie offenbart eine zufällige Begegnung dunkle Geheimnisse im breiten Spektrum zwischen Gut und Böse. _________ Die Geschichte um Hailee Borrows entwickelt sich von einer klassischen Mafia Romance zu einem packenden Thriller, in dem die Grenze zwischen Recht und Unrecht verschwimmt und Moral auf eine gefährliche Probe gestellt wird. Was als schicksalhafte Begegnung beginnt, führt tief in die Intrigen des organisierten Verbrechens und in ein System aus Macht und Korruption. _________ Mit dem dritten Teil „Die Stille tiefen Wassers - Im Sturm, der den Nebel verweht“ kommt nun die lang ersehnte Fortsetzung. Die ersten Versuche, Chris und seine Machenschaften zu stoppen, sind gescheitert. Hailee Borrows und Damiano Sala bleibt nur die Flucht nach vorn. Auf ihrer gemeinsamen Reise in die Abgründe einer Welt voller Lügen und Korruption erweist sich ausgerechnet Hailees problematische Vergangenheit als mächtiges Werkzeug im Kampf gegen diejenigen, die sich an ihre Fersen geheftet haben. Allen Widrigkeiten zum Trotz verfolgen die beiden unnachgiebig ihr Ziel: Chris mit seinen eigenen Waffen zu schlagen. ENTHÜLLT: • Die Verstrickungen der Macht • Ein System aus Korruption • Gefährliche Wahrheiten • Verbotene Verbindungen • Schicksalhafte Begegnungen FÜR FANS VON: • Packenden Thrillern • Slow Burn Liebesgeschichten • Romantischen Thriller-Serien • Komplexen Charakteren • Spannenden Intrigen • Dark Romance und Romantic Suspense
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Veröffentlichungsjahr: 2025
1. Auflage
Copyright © 2025 Judith Kleiner – alle Rechte vorbehalten.
Impressum:
Judith Kleiner MA
c/o Literatur- und Kulturlounge
Mainzer Str. 6
55276 Oppenheim
Deutschland
Mail: [email protected]
Instagram: @judith.kleiner.autorin
Lektorat: Tamara Leonhard
Korrektorat: Sabine Steck
Umschlaggestaltung: Judith Kleiner via Canva Pro & Scribus
Hintergrundmotiv: «Mann mit Holster - Chris» erstellt von @serendipity_art_project mit Midjourney (KI) und Photoshop
Blumendekoration: erstellt von Judith Kleiner mit Mojo AI via Canva Pro
Gefördert von der Kulturstiftung Liechtenstein
Gefördert von der Stiftung Fürstlicher Kommerzienrat Guido Feger.
ISBN (Softcover): 978-3-819-40705-5
ISBN (Hardcover): 978-3-819-40704-8
ISBN (E-Book): 978-3-819-40706-2
Die Stille tiefen Wassers
von Judith Kleiner
Für Mia
Die Stille tiefen Wassers
Teil 3
Im Sturm, der den Nebel verweht
von Judith Kleiner
Judith Kleiner MA
c/o Literatur- und Kulturlounge
Mainzer Str. 6
55276 Oppenheim
Instagram: @judith.kleiner.autorin
SPECIAL THANKS
to Angel Snow for graciously allowing me to use the lyrics of her wonderful song
«Secret»
in this book.
I’ll be forever grateful for your support!
Check out her music on Spotify:
Inhalt:
Die ersten Versuche, Chris und seine Machenschaften zu stoppen, sind gescheitert. Hailee Borrows und Damiano Sala bleibt nur die Flucht nach vorn. Auf ihrer gemeinsamen Reise in die Abgründe einer Welt voller Lügen und Korruption erweist sich ausgerechnet Hailees problematische Vergangenheit als mächtiges Werkzeug im Kampf gegen diejenigen, die sich an ihre Fersen geheftet haben. Allen Widrigkeiten zum Trotz verfolgen die beiden unnachgiebig ihr Ziel: Chris mit seinen eigenen Waffen zu schlagen.
Jede Verwertung oder Vervielfältigung dieses Buches – auch auszugsweise – sowie die Übersetzung dieses Werkes ist nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin gestattet.
Handlungen und Personen im Roman sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Für Content / Triggerwarnungen bitte scannen:
(Achtung Spoiler!)
Inhaltsverzeichnis
Mexiko13
Männer38
Nogales60
Sicario84
Schicksal103
Phoenix128
Garten144
Theodora166
Spiele195
Albuquerque208
Schlaf231
Songs246
Tulsa262
Wohltat279
Narben310
Columbus338
Solitario374
Birmingham397
Meetings423
Cop Frau431
Bootcamp453
Widerspruch472
New Orleans483
Der Bluff497
Plus Eins507
In der nächtlichen Finsternis vor ihnen gaben die unbeleuchteten Straßen von Belize einen dunklen Weg vor, der düstere Vorahnungen in Lee befeuerte. Selbst der Himmel erweckte mit den hastig vorbeiziehenden Wolken einen unruhigen Eindruck. Die Scheinwerfer des Wagens waren weit und breit das Einzige, was noch in Bewegung zu sein schien. Immer wieder erhellten sie auf der kurvigen Strecke ein Stück der satten Natur, durch die sich die asphaltierte Straße wie ein erstarrter Fluss schlängelte.
Wieder in ihre ausufernde Fantasie vertieft stellte Lee sich zur Ablenkung den Anblick dieser Szene von oben vor. Aus der Vogelperspektive folgte sie dem schwarzen Wagen, der sich unaufhaltsam seinen Weg in das bevorstehende Verderben bahnte. Der fiktive Surfer-Schreiberling und sein Team von Soap-Opera-Autoren, die sie seit ihrer Zeit in Italien in ihrer Fantasie begleiteten und die sie als unterhaltsame Zerstreuung inzwischen tatsächlich lieb gewonnen hatte, legten ausnahmsweise Musik zu der Szene auf. Nervenaufreibender Geigenklang würde hierzu perfekt passen. Der klassische Auftakt eines Horrorfilms oder eines Psychothrillers, nur dass sie und Damiano nicht in irgendeine gespenstische Hütte im Wald und auch in kein verfluchtes Hotel in den Bergen unterwegs waren. Sie flohen vor der einen Bedrohung, nur, um sich einer anderen, für sie beide weit größeren Gefahr zu nähern.
Während Damiano sich auf die Fahrbahn konzentrierte, wurden Lees sich überschlagende Gedanken zu einer Lawine, die sie erbarmungslos in die Tiefe riss und dabei selbst die lebendigsten Tagträumereien erstickte. Möglicherweise hing das kolumbianische Kartell an ihren Fersen, vielleicht warteten auch die Mexikaner auf sie und hatten Damianos gesamte Familie inklusive Luca gegen sie aufgehetzt. Und der Grund für all das war ihr gewalttätiger Ex-Mann Chris, dem als FBI-Agent unbegrenzte Möglichkeiten für ihre Verfolgung zur Verfügung standen. Doch warum betrieb er all diesen Aufwand? War die Lebensversicherung, die er auf sie abgeschlossen hatte, tatsächlich der einzige Grund, aus dem er sie so unbedingt zurückwollte?
Ab und zu warf sie einen Blick in den Rückspiegel, um zu sehen, ob ihnen jemand folgte. Die Angst vor dem, was auf sie zukommen mochte, fraß sich tief in ihr Herz. Lähmende Furcht breitete sich in ihr aus und verkrampfte ihr die Muskeln, wenn sie an ihren Ex-Mann dachte, der ihr die letzten zehn Jahre auf so nachdrückliche Weise eingebläut hatte, dass sie absolut wertlos war. Gleichzeitig forderte ein stetig wachsender Teil von ihr, dass Chris für alles, was er ihr und auch ihrer verstorbenen Tochter Sophie angetan hatte, zur Rechenschaft gezogen würde.
Der Tumult ihres Seelengefängnisses war bei ihrem Aufbruch neuerlich in Aufruhr geraten. Das Durcheinander war perfekt, zumal sich inzwischen Gefangene als Wärter tarnten. Die Zellen standen offen und ehemals versperrte Bereiche waren nun zugänglich. Lee befreite sich aus Schutt und Staub ihrer Besorgnislawine und schluckte den Kloß aus Angst, der sich in ihrem Hals festgesetzt hatte, hinunter. Eigentlich klang eine gespenstische oder verfluchte Hütte im Wald ganz verlockend, angesichts dessen, was die Realität für sie bereithielt.
«Wie lange noch?», fragte sie in die vom Motorengeräusch getragene Stille hinein und musterte Damiano forschend von der Seite.
Er richtete sich auf, schien ebenfalls aus der Tiefe seiner Gedanken aufzutauchen. «Wir sind in ungefähr zwanzig Minuten dort», antwortete er nach einem Blick auf die Uhr und hatte dabei ungewohnte Sorgenfalten auf der Stirn. Der erste adrenalingeladene Rausch über ihren plötzlichen Aufbruch war in den vergangenen zweieinhalb Stunden merklich von ihm abgefallen. So nachdenklich, wie er gerade auf die Fahrbahn starrte, waren seine Überlegungen definitiv nicht erfreulicher oder beruhigender als ihre eigenen. Vermutlich aber weniger filmreif.
Einen Moment lang konnte sie den Blick nicht von ihm abwenden. Irgendetwas musste sie ihm bedeuten, schoss es ihr durch den Kopf. Immerhin nahm er das alles nur für sie auf sich. Gut möglich, dass es bloß ihrem Sonderstatus als Lebensretterin zu verdanken war, aber so langsam konnte sie das nicht mehr glauben. Oder wollte sie nicht? Vielleicht war ihr Wunsch, dass jemand etwas anderes in ihr sah als das, was Chris von ihr übrig gelassen hatte, inzwischen zu mächtig. Dabei erkannte sie selbst doch im Spiegel nur dieses Wrack. Der Stich, der ihr bei diesen Überlegungen das Herz punktierte, riss sie aus ihrer Erstarrung und sie wandte den Blick wieder zum Fenster. Sie fasste nach ihrem Ohrring, den Damiano ihr zusammen mit den glitzernden High Heels geschenkt hatte, und drehte ihn einmal kurz zwischen ihren Fingern. Egal, was es war, völlig gleichgültig konnte sie ihm nicht sein. Zumindest hoffte sie es.
Je näher sie der Grenze kamen, desto mehr Autos tauchten auf den Straßen auf. Es war weit nach Mitternacht, als sie den Übergang zu Mexiko erreichten, und dennoch war einiges los. Vereinzelt standen Geldwechsler an den Straßenrändern und reichten den bei Nacht einreisenden Touristen durch Maschendrahtzäune hindurch Belize Dollar. Grenzbeamte durchsuchten Fahrzeuge und verlangten Papiere. Beim Anblick der bewaffneten Beamten und der Kontrollen schlug Lees Herz schneller und sie rutschte nervös in ihrem Sitz herum. Ihre neue Identität war Chris zwar nicht bekannt, aber Damianos Name war schwer verwechselbar. Langsam rollten sie die Straße entlang und reihten sich hinter einem Bus ein.
Lees Unruhe entging Damiano nicht. «Zapple nicht so rum. Hier kommt niemand ohne Bestechungsgeld weiter, auch nicht mit allen notwendigen Papieren. Wenn ich ihnen genug gebe, lassen sie uns schon rüber.»
Es hatte vermutlich beruhigend klingen sollen, aber Lee hatte gesehen, dass er die Umgebung und die anderen Autos durch Rück- und Seitenspiegel kontrolliert hatte, seit sie stehen geblieben waren. Er war bestimmt nicht so nervös wie sie, aber allem Anschein nach in Alarmbereitschaft. Der rostige Bus mit dem ausgeblichenen Logo eines Reiseunternehmens vor ihnen hatte ebenfalls gestoppt. Ein Beamter stieg ein, ein zweiter blieb an der Tür stehen und unterhielt sich mit dem Chauffeur.
«Denkst du, sie halten uns auf? Suchen sie uns vielleicht schon?», fragte Lee mit einem Zittern in der Stimme.
«Keine Ahnung, ob Chris direkten Einfluss auf das Kartell hat oder nur falsche Informationen verbreitet. Ich weiß auch nicht, was er hiermit erreichen will oder ob sie sich überhaupt austauschen.» Resigniert schüttelte Damiano bei diesen Worten den Kopf.
Diese Aussage beruhigte Lee kein bisschen. Erwartungsvoll beobachtete sie ihn bei seinen Überlegungen und hoffte auf eine bahnbrechende Erkenntnis.
«Auf jeden Fall will er mich isolieren und provozieren. Wenn ich bei meinen eigenen Leuten als Verräter gelte, wird es schwierig, sich länger zu verstecken, und es wird jetzt für uns beide verflucht gefährlich. Mir bleibt nichts anderes übrig, als zurückzukehren und dabei unsichtbar zu bleiben. Vielleicht will er uns nur dort haben, wo er uns leichter aufspüren kann», fuhr er nachdenklich fort.
«Und was ist, wenn er seine Pläne geändert hat und uns oder mich hier töten lässt? Er braucht nur meine Leiche. Es könnte doch sein, dass er das Vorhaben, mich lebendig zurückzubekommen, inzwischen aufgegeben hat.» Ihr Herz schlug bei diesen Worten schmerzhaft schnell in der Brust.
Damiano warf ihr einen ernsten Blick zu und lehnte sich nach vorn, um seine Unterarme aufs Lenkrad zu stützen. «Du hörst das vermutlich nicht gern, aber ich denke, er will dich selbst erledigen.»
«Warum meinst du das?», fragte sie angespannt.
«Ich hab dir schon einmal gesagt, sogar der erste Deal, den er mir angeboten hatte, beinhaltete, dass ich dich lebend zurückbringe. Tot wäre entschieden einfacher gewesen.»
Bei seinem kalten Tonfall schluckte sie und blickte betreten auf ihre Hände. Autsch! Einen Moment lang hatte sie vergessen, dass sie für Damiano zumindest teilweise auch ein Problem darstellte und keine Freundin war. Aber immerhin war sie noch hier.
«Zudem glaube ich, deine Flucht oder vielmehr, der Fakt, dass du ihm entkommen konntest, kränkt ihn. Du hast sein überdimensionales Ego angekratzt, und das vertragen solche Wichser in der Regel nur schlecht.»
Überrascht zog Lee die Brauen hoch und sah wieder zu ihm hinüber. «Du denkst, er tut das aus Rache?»
«Ja, allerdings. Ich bin mir fast sicher, dass er dich bezahlen lassen will. Das würde zumindest den Aufwand erklären, den er betreibt, um dich lebend in die Finger zu bekommen. Wie gesagt: Tot wäre für alle einfacher.»
Ja, das wäre es, dachte Lee und atmete durch. Ihre Schultermuskeln verkrampften. «Was war sein Angebot, das du abgelehnt hast?», fragte sie mit bemüht stoischer Miene und wusste dabei gar nicht, ob sie die Antwort hören wollte. Seit Damiano ihr damals am Strand in Italien von der Begegnung mit Chris erzählt hatte, fragte sie sich, was die beiden wohl miteinander besprochen hatten. Bisher hatte sie einen Bogen um dieses Thema gemacht, weil sie Angst gehabt hatte, herauszufinden, was Chris’ Worte immer noch in ihr verursachen würden. Aber durch den neuerlichen Aufbruch wurde es langsam Zeit, einige Unklarheiten zu beseitigen und sich den bisher umschifften Details zu stellen. Denn eine Konfrontation mit Chris wurde zunehmend wahrscheinlicher.
«Ein Deal mit ihm, der mir meine Geschäfte und den Schmuggel über die Landesgrenzen vereinfachen sollte. Kontakte und Verbündete an wichtigen Stellen.» Damiano lehnte sich wieder im Sitz zurück und rieb sich nachdenklich übers Kinn.
Prüfend musterte Lee ihn und suchte in seiner Mimik ergebnislos nach einem verräterischen Hinweis. Tatsächlich wäre sein Leben erheblich bequemer gewesen, wenn er sie an Chris übergeben hätte. Er hätte sogar Profit aus der Sache geschlagen. War es in seiner Welt wirklich von so großer Bedeutung, wenn jemand einem das Leben rettete? Ihr fehlte der Mut zu fragen, warum er das alles für sie auf sich nahm. Zu groß war ihre Angst vor einer gefühllosen und kalten Antwort. Aber er hatte Chris’ Angebot abgelehnt und sie waren hier. Es konnte nicht völlig bedeutungslos sein.
«Bereust du, dass du mich gerettet hast, jetzt wo du mehr darüber weißt, wer ich bin?», fragte sie neckisch, um die vorherrschende Anspannung etwas zu lockern, und stellte ihm damit fast die gleiche Frage, die er ihr damals gestellt hatte, als er zum ersten Mal bei ihr zu Hause aufgetaucht war.
Auch er schien sich daran zu erinnern und lachte schnaubend. Er benetzte seine Lippe mit dem verkrusteten Riss, bevor er sich ihr zuwandte und in festem Ton entgegnete: «Nein.»
Die Überzeugung in seiner Stimme zauberte Lee ein gelöstes Lächeln ins Gesicht. Dennoch legte sich Unsicherheit wie kleine, spitze Steine in ihren Magen. Ihm zu vertrauen, barg ein Restrisiko, das sie nur schwer leugnen konnte. Jetzt, wo sich seine Familie gegen sie gestellt hatte, war es immerhin möglich, dass er seine Loyalität ihr gegenüber in Frage stellte.
Der Zollbeamte war mit der Kontrolle der Reisegruppe fertig und verließ den Bus, der sich daraufhin in Bewegung setzte. Jetzt wurde es ernst.
Damiano fuhr im Schritttempo weiter bis zu einem der Beamten und ließ das Fenster herunter.
Lee atmete durch und faltete ihre Hände bemüht ruhig in ihrem Schoß. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. In ihrer Abendgarderobe waren sie beide extrem auffallend.
Der junge Mann in Uniform kam zu ihnen, nachdem er ihr Kennzeichen kontrolliert hatte, und musterte sie irritiert. Es schien fast so, als hätte er in dem Auto jemand anderes erwartet. Damiano zog ein dickes Bündel Geldscheine aus einer Innentasche seines Sakkos und streckte es ihm kommentarlos entgegen. Ohne einen Ausweis oder Formulare zu verlangen, geschweige denn das Fahrzeug zu kontrollieren, ließ der Beamte sie weiterfahren und meldete etwas durch sein Funkgerät.
Eine erste Welle aus Erleichterung überrollte Lee, als sie langsam über die Brücke zur mexikanischen Grenze fuhren. Auch hier ließen die Beamten sie passieren, nachdem Damiano ein weiteres Geldbündel durch das offene Fenster gereicht hatte.
Sobald sie sich von dem Grenzübergang und den bewaffneten Beamten entfernt hatten, trat Damiano wieder aufs Gas. Lee fiel ein riesiger Stein vom Herzen und sie seufzte erleichtert auf. Um ihre völlig verhärteten Schultern zu lockern, schüttelte sie ihre angespannten Arme. Einen Moment lang wallte Euphorie in ihr auf, bevor ihr wieder einfiel, was ab hier vor ihnen lag. Dass das Kartell sie die Grenze ungehindert hatte überqueren lassen, hieß vielleicht, dass Damiano recht hatte und Chris andere Pläne für sie schmiedete. Doch sie waren bisher auch noch nicht am Grenzübergang zu den Staaten angekommen. Möglicherweise wartete dort eine Überraschung auf sie.
«Hast du immer so viel Bargeld bei dir?», fragte sie, um sich abzulenken.
«Nur wenn ich versuche, keine Hinweise über meinen Aufenthaltsort zu hinterlassen», entgegnete er, ohne sie anzusehen. «Und das war auch schon alles, was ich hatte. Wir werden noch mehr brauchen. Viel mehr.»
Lee nickte. «Und wie geht es jetzt weiter?», fragte sie etwas später in die neuerlich aufgekommene Stille hinein. Da sie bisher nicht sicher gewesen waren, ob sie es überhaupt aus Belize hinausschaffen würden, hatten sie das weitere Vorgehen nicht im Detail besprochen. Weg von hier war bisher ihr einziges Ziel gewesen.
«Der Flugplatz ist gleich in der Nähe, aber wir fahren daran vorbei, damit ich Bargeld besorgen und tanken kann. Vielleicht eine oder zwei Stunden. Danach drehen wir um, fahren zurück, warten die restliche Nacht neben dem Hangar auf der Startbahn, wo wir ja eigentlich hinsollten», erklärte er.
«Und wozu der Umweg?»
«Chris wird genau beobachten, wo ich meine Karten verwende. Es ist am besten, wenn alle davon überzeugt sind, dass wir weiterfahren. Er soll denken, dass wir mit dem Auto unterwegs sind. Niemand außer Jim weiß von dem organisierten Flug.»
Lee nickte beeindruckt und konnte nicht verhindern, dass vor ihrem inneren Auge ein Bild von Chris aufkam, wie er vor mehreren Monitoren saß. Mittels Überwachungskameras beobachtete er jeden ihrer Schritte. Schlagartig rutschte sie in ihrem Sitz ein Stück weiter hinunter, tat es Damiano nach und kontrollierte abwechselnd den Außen- und Rückspiegel. Aber niemand war hinter ihnen.
«Für die paar Stunden, die wir heute Nacht irgendwo verbringen müssen, zahlt sich ein Hotel kaum aus. Zudem werden sie uns in den nahe gelegenen Unterkünften am ehesten suchen, sofern sie uns denn verfolgen. Wir warten am Flugplatz im Wagen und buchen morgen online Hotels auf der Strecke, um falsche Spuren zu legen. Jim wird zusätzlich für irreführende Fährten sorgen, wenn er über Texas einreist», fuhr Damiano unbeirrt fort. Trotz seiner erhöhten Aufmerksamkeit wirkte er inzwischen gefasster. Die Zeit, die Lee in ängstlicher und filmreifer Vorahnung verbracht hatte, hatte er offenbar genutzt, um sich einen Plan zurechtzulegen. Seine Hände mit den Prellungen von der Prügelei mit Luca lagen entspannt auf dem Lenkrad. Die Selbstsicherheit, die er ausstrahlte, hatte auch auf Lee eine beruhigende Wirkung. Die festen Knoten aus Angst, die sich um ihre Eingeweide geschlungen hatten, lösten sich ein erhebliches Stück. Einen Augenblick beneidete sie ihn um seinen kühlen Kopf.
«Du wirst es ertragen müssen, eine Nacht in einem Auto zu schlafen.»
Ihr Neid verflog und sie lachte glucksend auf. «Ertragen? Tsss! Ich bitte dich. Autos sind Luxus. Natürlich halte ich das aus.»
Damiano warf ihr einen prüfenden Blick zu. Ihr Gleichmut bei diesem Thema schien ihn zu überraschen. «Gut. Das Flugzeug startet morgen Vormittag, daran hat sich nichts geändert. Aber wir brauchen Geld. Die Grenze zu den USA wird vermutlich wesentlich teurer als diese hier. Und wir sollten uns andere Klamotten besorgen. Die bekommen wir vielleicht bei einer Tankstelle. Irgendetwas weniger Auffälliges.»
So weit also der Plan. Lee versuchte, ihre angespannten Schultern zu lockern und eine bequemere Position einzunehmen, während sie den Highway fast zwanzig Minuten lang wortlos entlangfuhren. In der Dunkelheit tauchte eine Tankstelle mit 24-Stunden-Shop auf, bei der sie Halt machten. Bevor Damiano ausstieg, zog er seine Waffe aus dem Schulterholster und überprüfte das Magazin.
Obwohl Lee wusste, in welcher Gesellschaft sie sich hier bewegte, überraschte es sie, wie gut die Pistole unter dem Anzug versteckt gewesen war. «Hast du noch mehr davon dabei?»
«Nein, nur die. Ich dachte nicht, dass wir so schnell wegmüssen.»
«Na ja, Schießereien sind auch keine gute Idee, wenn wir uns unauffällig fortbewegen wollen», merkte Lee sarkastisch an und stieg aus. Damiano steckte die Waffe weg und folgte ihr. In ihrer Aufmachung fühlte sie sich vor der Kulisse der schäbigen Zapfsäulen grotesk deplatziert. So verdreckt wie der Boden war, schien die hier vorbeikommende Kundschaft Mülleimer nicht zu kennen oder nur ungern zu benutzen. Während Damiano den Wagen tankte, beobachtete Lee die Insekten, die sich an den summenden Neonröhren tummelten. Der Gestank nach Benzin, Motorenöl und Urin hing in der Luft.
Als der Tank voll war, lief Lee mit ihrer Handtasche über der Schulter und der Schleppe ihres Kleides in der Hand voraus zum Shop. Damiano folgte ihr. Sie steuerten direkt auf den hinteren Bereich des Ladens zu. Die meisten Produkte, die in den weißen Metallregalen herumlagen, waren von einer dünnen Staubschicht bedeckt. Auf dem grau-braun gefliesten Boden erkannte Lee die durch Straßenstaub und schmutzige Schuhabdrücke markierten Wege, die die Kunden des Ladens am häufigsten beschritten. Der Ort erinnerte sie an manch andere schäbige Tankstelle, die sie in ihrer Jugend regelmäßig aufgesucht hatte. Eigentlich gehörte sie genau an so einen Ort. Es fühlte sich unpassend vertraut an. Leise atmete sie durch, versuchte, all die Angst vor Chris tief in sich zu vergraben. Es gab genügend Chancen, etwas gegen ihn zu unternehmen. Noch hatten sie nicht verloren, und bisher riskierte Damiano alles, um ihr zu helfen. Sie würde diese Heldentat erwidern. Und wenn sie nützlich sein wollte, musste sie ihre Angst in den Griff bekommen.
Aus einem Stapel heruntergesetzter Kleidung suchte sie sich ein Paar schwarzer Stoffhosen und ein Shirt heraus. Die Oberteile waren entweder in grellen Neon-Farben oder mit vermeintlich lustigen Sprüchen und Bildern bedruckt. Das einzige weiße Shirt, das Lee fand, war auch verhältnismäßig unauffällig gehalten. Ein Arrangement aus pinken, violetten und türkisen Blumen zierte die tief ausgeschnittene Vorderseite und wurde von einem comichaften Schriftzug gekrönt: YOLO. Es gab bestimmt Schlimmeres, und irgendwie war der Ausdruck schon fast verheißungsvoll. Das Shirt selbst war knapp geschnitten, aber für den nächsten Tag würde es reichen. Passend dazu schnappte sie sich zusätzlich ein Paar pinker Flipflops mit Plastikblumen obendrauf, da es die einzigen flachen Schuhe in ihrer Größe waren.
Damiano kramte aus einem anderen Regal graue Baggypants und ein schwarzes, ärmelloses Shirt hervor, auf dem ein Totenkopf mit buntem Sombrero aufgedruckt war. Er verdrehte über das Motiv entnervt die Augen.
«In dem Outfit wirst du gleich fünfzehn Jahre jünger aussehen.» Lee kicherte bei seinem Anblick.
«Es harmoniert auch blendend mit deinem Trailerpark-Teenie-Gören-Aufzug», entgegnete er.
Lachend schüttelte sie den Kopf. Da hatte er recht.
Da sie nichts Neutraleres oder Modischeres finden konnten, gaben sie sich mit ihren neuen Outfits zufrieden. Bei nächster Gelegenheit würden sie sich hoffentlich mit anständigen Klamotten für die Weiterreise eindecken können.
Nach ihrem Ausflug in die Tankstellenmodehölle Marke Grabbeltisch holten sie Wasserflaschen aus dem Kühlregal. Zwei Gänge weiter besorgten sie Snacks für den bevorstehenden Flug und aus der Ecke mit Hygieneartikeln ein paar Kleinigkeiten, die sie für die Nacht noch brauchen würden.
Lee lud die Einkäufe auf die Verkaufstheke zwischen Aufstellern mit Rubbellosen und Kaugummis und sah gedankenverloren dabei zu, wie der Betrag auf der Anzeige stieg. Der Mann hinter der Theke musste weit über siebzig sein oder er hatte sein gesamtes Leben in der Sonne verbracht. Seine Hände waren dürr und zittrig, als er ihre Einkäufe in drei Plastiktüten packte und Lee mit einem zahnlosen Lächeln angrinste. Sein Gesicht wandelte sich hierdurch zu einer unheimlichen Fratze, und Lee dachte unwillkürlich an die True-Crime-Sendungen, die sie an manchen einsamen Abenden in Italien im Fernsehen verfolgt hatte. Auf seinen Nägeln kauend kontaktierte der Surfer-Schreiberling einen Kollegen, um sich zu erkundigen, ob es sich bei dem Mann um einen gesuchten Mörder handeln könnte. Es wäre eine schier unfassbare Wendung, wenn sie auf ihrer Flucht vor Kartellen und dem FBI ausgerechnet einem unbeteiligten Serienkiller zum Opfer fallen würde. Während sie noch in ihren absurden Überlegungen versunken war, zückte Damiano bereits seine Kreditkarten.
«Lass mich das machen», sagte Lee und riss sich von ihrem verdrucksten Kreativteam los. Rasch zog sie einige Dollarscheine aus der Handtasche. Sie warf dem Kassierer einen fragenden Blick zu und hielt ihm mit hochgezogenen Schultern die Noten entgegen.
Er nickte, um ihr zu verdeutlichen, dass sie hier mit dieser Währung bezahlen konnte.
«Wir sind noch nicht weit genug von der Grenze entfernt», argumentierte sie, als Damiano sie skeptisch musterte und offenbar zu einem Einspruch ansetzen wollte. Ohne seinen Einwand abzuwarten, fügte sie murrend hinzu: «Komm schon, du finanzierst doch sonst alles und wirst auch in nächster Zeit genug hinblättern. Jetzt lass mich zumindest diesen Quatsch und eine Tankfüllung bezahlen. Es wird dich schon nicht umbringen, von einer Frau auf Billigklamotten, Wasser und Cracker eingeladen zu werden.» Bevor er bei seiner genervten Miene etwas Ärgerliches entgegnen konnte, räusperte sich der Kassierer und deutete auf das Geld in ihrer Hand. Mit einigen Handzeichen orderte sie noch zwei Packungen Zigaretten. Alles zusammen kostete weniger, als sie gedacht hatte. Sie schob eine Handvoll Scheine über den Tresen und kassierte im Gegenzug ein paar Pesos Wechselgeld, die sie in ihre Handtasche warf. Als Damiano seine Karten wieder wegsteckte, verbuchte sie es als Sieg ihrer Überzeugungskraft und minimale Erleichterung ihres schlechten Gewissens.
«Darf ich die Toilette benutzen?», fragte sie den Kassierer. Er nickte, während er mit seiner kratzigen Stimme irgendetwas für sie Unverständliches murmelte und ihr einen Schlüssel über den Tresen entgegen schob. Als Lee ihn daraufhin verständnislos musterte, deutete er auf die Eingangstür und nach links und sie begriff.
Auf dem Weg hinaus drückte sie Damiano die Plastiktüten in die Hand. «Bin gleich wieder da.»
Sie wollte schon davon stolzieren, als er sie am Arm festhielt. «Nur damit das klar ist: Du schuldest mir nichts. Ich bezahle, weil ich schlichtweg mehr Geld habe als du. Verstanden? Nicht, weil du eine Frau bist. Also spar dir diese Nummer.»
Sein ernster Gesichtsausdruck und sein eindringlicher Ton veranlassten sie nach kurzer Überlegung einfach nur «Okay» zu sagen.
Damiano ließ sie los und marschierte zurück zum Wagen. Leicht irritiert sah sie dabei zu, wie er ihre neuen Outfits und den Proviant auf die Rückbank warf und sich zwei Meter vor das Auto stellte, von wo aus er den Eingang zu den Toiletten im Blick behielt. Als er sich eine Zigarette anzündete, drehte sie sich weg und ging zu der rostigen Metalltür, die sich mit dem Schlüssel öffnen ließ. Aus dem Augenwinkel nahm sie wahr, dass Damiano sie die ganze Zeit beobachtete. Er passte wirklich gut auf sie auf. Selbst an dieser heruntergekommenen Tankstelle schaffte er es, ihr dieses für sie so ungewohnte Gefühl von Sicherheit zu vermitteln. Seine Fürsorge tat ihr gut. Mit dieser simplen Geste kam sie sich wertvoll vor, vielleicht nicht für die Welt, aber für ihn. Er brauchte sie allerdings auch lebend, schoss ihr ein eisiger Gedanke durch den Kopf und milderte das warme Gefühl der Geborgenheit in ihrem Bauch.
In ihrem prachtvollen Abendkleid öffnete sie die Toilettentür und wäre am liebsten kreischend davongelaufen. Angewidert schlug sie die Hand vor Mund und Nase und drehte sich kurz weg, bis die erste Welle des Gestanks aus dem kleinen Raum entwichen war. Der Boden war mit zerknüllten und verdreckten Papieren sowie undefinierbaren Flecken und Pfützen beschmutzt und es stank bestialisch nach Urin und Scheiße. Angeekelt stöhnte sie auf, raffte ihren Rock hoch und hielt die Luft an. Den Saum ihres Kleides steckte sie in ihren Ausschnitt, damit er keinesfalls irgendetwas in diesem Raum berührte, und stakste in ihren glitzernden High Heels durch die Pisse von vermutlich allen Tankstellenbesuchern, die jemals hier gewesen waren. Es war schwierig, aber sie schaffte es, die Toilette zu benutzen, ohne etwas zu berühren.
Während sie sich im Anschluss die Hände wusch, grübelte sie, ob sie danach dreckiger oder sauberer waren als zuvor. Sie nahm eines der Papiertücher und legte es über den Türgriff, um den Raum halbwegs hygienisch verlassen zu können.
Als sie aus der Toilette kam, ihren Rock aus dem Ausschnitt zog und wieder nach unten streifte, schüttelte es sie vor lauter Ekel. Um den Dreck und die Keime von den Sohlen abzuschleifen, schlurfte sie mit ihren High Heels einige Schritte über den Asphalt.
Damiano beobachtete sie dabei verstört vom Auto aus. «Was machst du da?»
«Ich tanze!», rief sie sarkastisch. «Den Ich-kotze-fast-vor-Ekel-Boogie-Woogie!»
Lachend schüttelte er über ihre Darbietung den Kopf. Als sein Lachen erklang, wanderten Lees Mundwinkel unwillkürlich nach oben. Die schlechte Stimmung in dieser verzwickten Lage war schwer zu verkraften. Jede Auflockerung kam ihr da gelegen. Zudem hörte sie den warmen Klang von Damianos Lachen inzwischen von Herzen gern. Er ging ihr unter die Haut.
Den Schlüssel zu den Toiletten brachte Lee dem alten Mann zurück und verabschiedete sich, ohne sich für diesen Ausflug in die Hygiene-Vorhölle zu bedanken. Danach stolzierte sie mit gerafften Röcken über den verdreckten Tankstellenboden zu Damiano und streckte die Hand nach seiner Zigarette aus. Er zögerte einen Moment, gab sie ihr aber dann. Ihre letzte war eine Weile her und ihr wurde bei dem tiefen Zug sofort schwindelig.
«Also, fahren wir weiter und locken alle mit den Abbuchungen auf eine falsche Spur», sagte sie und händigte ihm die Zigarette aus, bevor sie einstieg.
Damiano rauchte noch zu Ende, nahm dann im Wagen Platz und fuhr wieder auf die Hauptstraße.
Nach einer weiteren Stunde Fahrt erreichten sie ein Dorf mit einer immer noch geöffneten Kneipe und einem heruntergekommenen Supermarkt, der direkt gegenüber von einem Friedhof erbaut worden war. Unerwartet bog Damiano auf einen Parkplatz und stellte den Motor ab.
«Hast du die Münzen noch?» Anstatt eine Antwort abzuwarten, riss er ihr die Handtasche aus den Händen und kramte selbst darin herum.
«Hey, pass bitte auf!», bremste sie ihn energisch und er hielt sofort inne. «Das Bild von Sophie ist da drinnen», erklärte sie ihm beherrschter. «Es ist das Einzige, das ich noch habe, also mach es bitte nicht kaputt.»
Ohne eine Erwiderung, aber deutlich umsichtiger wühlte er weiter in der Tasche und fand die Pesos. Kommentarlos stieg er aus, lief zu einem spärlich beleuchteten Münztelefon und wählte, während er hektisch einen Zug nach dem anderen von einer Zigarette inhalierte. Der Parkplatz war leer und eigentlich übersichtlich, aber in der Dunkelheit konnte Lee kaum etwas erkennen. Zunächst schien es so, als würde Damiano niemanden erreichen. Erst nachdem er die dritte Nummer gewählt hatte, sprach er in den Hörer.
Als sie ihn dabei beobachtete, wurden ihre Hände schwitzig und sie wandte sich ab, um ihren Blick durch die Umgebung schweifen zu lassen. Sie hatte keinen Schimmer, wo sie eigentlich waren. Zwei flackernde Straßenlaternen erhellten nur kleine Ausschnitte des Platzes. Je länger sie in die Finsternis starrte, desto mehr erwartete sie, dass eine Gestalt auftauchte.
Selbst dem Surfer-Schreiberling war die Szenerie inzwischen zu unheimlich. Mit abwehrend erhobenen Händen schüttelte er den Kopf und verkroch sich unter seinem Schreibtisch. Dort würde er auf seinen nächsten Einsatz bei einer vermutlich fröhlicheren Sequenz warten. Was für ein unglaublicher Feigling, dachte Lee und atmete leise durch.
Gleich darauf zuckte sie erschrocken zusammen, als zwei lachende Teenager unter einer der Straßenlaternen durchliefen. Sie hatten eine Flasche in einer braunen Papiertüte dabei und suchten schnell das Weite, als sie das Auto bemerkten.
Nach einem hitzigen Telefonat voller wilder Gesten knallte Damiano den Hörer so fest in die Gabel, dass das gesamte Münztelefon gefährlich ins Wanken kam. Mit energischen Schritten marschierte er zurück zum Auto und atmete erst einmal tief durch, als er wieder neben Lee saß.
«Was ist passiert?», fragte sie vorsichtig, als er keine Anstalten machte, sie an seinen offensichtlich überschäumenden Gefühlen teilhaben zu lassen.
«Jim erreiche ich noch nicht. Er hat sein Telefon ebenfalls entsorgt», setzte er zu einer Erklärung an, die allerdings nichts über den Gesprächspartner verriet, der ihn so in Rage gebracht hatte.
«Denkst du, es ist etwas passiert?», hakte sie betreten nach und drehte neuerlich an ihrem Ohrring herum. Hoffentlich waren Jim und Damianos Familie in Ordnung. Wenn das Kartell Leute zu Lucas Geburtstagsfeier geschickt hatte, war der Abend unmöglich friedlich ausgeklungen.
«Keine Ahnung. Wir werden es bald herausfinden», entgegnete Damiano ihr in festem Ton. Seine Kiefermuskeln arbeiteten, als würde er auf rohem Kautschuk herumbeißen. «Aber der Kerl, der uns über die Grenze in die USA bringen soll, will mehr Geld. Falsche Papiere können wir vergessen. Die Anschuldigung, dass ich ein Informant für das FBI sein soll, hat die Runde gemacht. Jemand hat ein Kopfgeld auf uns ausgesetzt!»
«Was?», entfuhr es Lee. Ein kalter Schauer ließ ihr die Nackenhaare zu Berge stehen.
«Du hast mich schon richtig verstanden. Das Ganze wird eine beschissene Hetzjagd.» Damiano drückte die Finger gegen seine Schläfen und atmete schwer.
Fassungslos legte Lee eine Hand auf ihren Mund und dachte angestrengt nach. Das konnte doch jetzt nicht wahr sein. «Denkst du, es war Chris? Oder das Kartell?», fragte sie und ließ den Arm wieder sinken.
Damiano stieß hörbar die Luft aus seinen Lungen. «Entweder er hat die falsche Info über mich als Datenleak verkauft oder er hat bessere Kontakte als bisher angenommen. Scheiße, verdammt … Wenn ich an die monatlichen Zahlungen denke, die er bekommen hat, ist es gut möglich, dass er mit einem der Kartelle kooperiert. Was hat er denen erzählt, damit sie ein Kopfgeld aussetzen?»
Nachdenklich starrten sie auf den leeren Parkplatz, als hielte die Finsternis irgendeine der gesuchten Antworten vor ihnen verborgen.
Lees Hirn arbeitete auf Hochtouren, doch ihre Gedanken und Gefühle überschlugen sich. Schlimmer konnte es nicht sein. Mit einem Mal war jeder, den Damiano kannte oder der von ihm und ihr wusste, ein potenzieller Kopfgeldjäger. Wem durften sie jetzt noch vertrauen? Nicht nur, dass Chris als Gesetzeshüter mächtig war, er hatte zusätzlich inzwischen diejenigen auf seiner Seite, die skrupellos alle Gesetze brachen. Aber das hatte sie auch, wurde ihr schlagartig klar und sie warf Damiano einen forschenden Blick zu.
Er war angespannt, kaute auf seiner Unterlippe herum. Seinem Ausdruck nach zermarterte er sich das Hirn darüber, wie es jetzt weiterging. Es war seine Welt, die hier gerade auf den Kopf gestellt wurde, und Lee hatte vermutlich nur den Hauch einer Vorstellung von den Menschen, die Chris mit diesem Schachzug auf die Jagd nach ihnen geschickt hatte.
Wieder formte die Angst eine erstickende Faust, die sich um ihren Hals legte. Aber sie musste sich zusammenreißen. Sie waren nicht verloren. Noch nicht. Und bei dem, was ihnen bevorstand, wollte sie nützlich sein. Dieses Mal würde sie Damiano helfen.
«Aber niemand weiß, wo wir sind oder welche Route wir nehmen», argumentierte sie sachlich, während sie an ihren Fingernägeln herumspielte. «Du hast es selbst gesagt. Er hat keine Ahnung, was wir vorhaben. Vermutlich denkt er, du kehrst auf direktem Weg nach New Orleans zurück. Dort, wo deine Leute sind und du dich um deine Geschäfte kümmern kannst.» Es erstaunte sie selbst, dass sie gerade versuchte, Damiano zu beruhigen.
Nicht minder überrascht ließ er die Hände sinken und blickte zu ihr herüber. Die unübersehbare Verwunderung, die ihm in den hochgezogenen Augenbrauen hing, war zwar kränkend, aber sie überging es mit einem unbemerkten Kopfschütteln, als er kurz nachdachte.
«Vermutlich, ja», stimmte er schließlich zu.
«Wenn er denkt, wir müssen die gesamte Strecke über die Grenze bis New Orleans mit dem Auto zurücklegen, vermuten sie uns ab morgen alle im falschen Land. Sie werden vorerst in Mexiko nach uns suchen. Wenn er die Auszahlung von einem Geldautomaten hier aus der Nähe gemeldet bekommt, schluckt er die Geschichte bestimmt.» Sie klang bei diesen Worten allen Ernstes zuversichtlich. «Wir haben ein paar Tage Vorsprung, um den Spieß irgendwie umzudrehen.»
Damiano atmete durch und seufzte. «Ist ja auch nicht so, als hätten wir eine Wahl», schlussfolgerte er mit grimmiger Miene und startete den Wagen.
Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis sie endlich den Marktplatz neben der Kirche eines kleinen Dorfes mit einer Bank und einem Geldautomaten erreichten. Sobald sie die erste Buchung erledigt hatten, mussten sie noch die gesamte Strecke zurückfahren. Trotz all der Aufregung legte sich die Müdigkeit bleiern auf Lees Schultern.
«Dann kümmere ich mich um die erste falsche Spur», murmelte Damiano, bevor er ausstieg und zum Automaten marschierte. Als er nach fünf Minuten immer noch nicht zurück war, trommelte Lee ungeduldig mit den Fingern gegen ihren verschränkten Arm. Im Rückspiegel konnte sie nicht weit genug zurücksehen und drehte sich nervös in ihrem Sitz. Sie hatte bereits die Hand am Türgriff, als Damiano völlig unerwartet an der Fahrerseite auftauchte und zornig die Tür aufriss, um sie genauso wütend hinter sich zuzuwerfen, nachdem er sich auf den Fahrersitz hatte fallen lassen.
«Scheiße! Verdammt!», schrie er in Rage und schlug mehrmals mit der Faust gegen das Lenkrad, sodass Lee zusammenzuckte. So malträtiert wie seine Hände waren, musste das höllisch wehtun.
«Was ist passiert?», wollte sie wissen und kämpfte gegen den indoktrinierten Reflex, sich von seinem Zorn einschüchtern zu lassen.
Er nahm seine Kredit- und EC-Karten aus der Jackentasche und warf sie ihr vor die Füße. «Alle gesperrt!» Fassungslos hielt er sich eine Hand vor den Mund und schüttelte den Kopf. «Wie macht der Wichser das nur?», fauchte er hasserfüllt. Mit geweiteten Augen wandte er sich an Lee. «Wie viel Geld hast du noch dabei?»
Hastig kramte sie in ihrer Handtasche. Sie hatte noch knapp 130 Dollar bei sich, die sie mit konzentrierter Miene durchzählte. «Ich kann mein Konto leeren», bot sie vorsichtig an.
Damiano schnaubte abfällig. «Und wie viel ist da noch drauf?»
«So um die 42.000?»
Die tiefe Zornesfalte auf seiner Stirn legte sich und seine Brauen gingen nach oben. «Du hast in den letzten Monaten nicht mehr ausgegeben?»
«Nein?», entgegnete sie, irritiert über sein überraschtes Gesicht. «Ich stand doch noch ganz am Anfang, hatte sofort einen Job, die Wohnung war möbliert und Auto brauchte ich auch keines.» Schüchtern zog sie die Schultern hoch. Sie war mit ihrer Freiheit und der Notwendigkeit, eigene Entscheidungen für ihre Zukunft zu treffen, heillos überfordert gewesen. Aber wer gab solche Unzulänglichkeiten vor einem Geschäftsmann wie Damiano schon gern zu? «Das mit der Pensionskasse und diesem Zeug wollte ich mir ansehen, vielleicht sogar irgendwo ein Haus kaufen, mich wegen eines Kredits erkundigen und was sonst noch dazu gehört. Aber ich konnte irgendwie nicht. Es war alles so viel und neu», setzte sie zu einer verlegenen Erklärung an und kratzte sich an der Stirn. Nach ihrer Flucht war sie tatsächlich so sehr mit ihren psychischen Wunden beschäftigt und überfordert gewesen, dass sie für die materielle Welt nur wenig Energie übriggehabt hatte. Zu mehr als Kleidung und ein paar Dekorationsartikeln hatte sie sich nicht durchringen können.
Seiner Miene nach zu urteilen überschlug Damiano alle Optionen und Möglichkeiten im Kopf. «Je nachdem, wie hoch das Kopfgeld ist, kommen wir damit vielleicht sogar über die Grenze. Aber danach nicht mehr viel weiter. Wir brauchen ein Auto, Geld für Benzin, Klamotten, Hotels und Essen. Wenn alle Konten geblockt sind, werden meine Leute nicht bezahlt. Das bedeutet zusätzlichen Ärger und zudem weniger Verbündete, die für mich Nachforschungen anstellen können. Scheiße, ich muss alles umorganisieren und über andere Konten laufen lassen, muss irgendwie an Geld kommen.» Gestresst legte er seinen Kopf zurück und fuhr sich mit den Händen über die Augen. Er wirkte erschlagen.
Obwohl sie keine Ahnung davon hatte, wie kompliziert seine Geschäfte waren, wusste sie, dass gesperrte Konten in jedem Business Ärger bedeuteten.
«Chris wird klar sein, dass du irgendwie an Geld kommen musst. Denkst du nicht, dass er jegliche Kontobewegungen in deinem näheren Umfeld genau beobachtet?»
«Vermutlich, aber was soll ich deiner Meinung nach tun, Hailee?», fuhr er sie gereizt an.
Abwehrend nahm sie die Hände hoch. «Ich meine ja bloß, dass unser einziges Ass derzeit der geheime Vorsprung ist. Wenn wir durch irgendwelche Überweisungen oder Auszahlungen unseren Standort bekanntgeben, haben wir diesen Vorteil verspielt», merkte sie kleinlaut an. Schuldgefühle, von denen sie wusste, dass sie ungerechtfertigt waren, keimten in ihr auf. Viel auswegloser konnte ihre Situation kaum werden.
Nachdenklich rieb sie ihre Lippen aneinander und dachte an ihre Jugend mit Cara und Dylan zurück. Mit jemand anderem über diese Zeit ihres Lebens offen zu sprechen, war Neuland. Sie fühlte sich dementsprechend unwohl dabei, sagte aber zögernd: «Ich kenne ein paar Möglichkeiten, um an Geld zu kommen, ohne zu riskieren, dass wir gefunden werden.»
Damiano ließ die Hände sinken und sah mit gerunzelter Stirn zu ihr herüber. Skeptisch musterte er einen Moment lang ihren Ausschnitt. «Und woran genau hast du gedacht?»
Natürlich war das das Erste, was einem Mann einfiel, dachte sie verärgert. «Mit Sicherheit nicht an das, woran du gerade denkst!», entgegnete sie, entrüstet über seinen unmissverständlichen Blick, und zog ihr Kleid demonstrativ höher. Langsam wurde das enge Oberteil unbequem.
«Das will ich auch hoffen», erwiderte er leise und wirkte dabei erleichtert. «Was dann?»
Doch Lee hatte nach der bloßen Andeutung von Prostitution keine Lust mehr, ihm ihren Plan zu erklären. «Lass das meine Sorge sein. Wir werden sehen, wie viel Geld nach der Grenze übrig ist, aber kleinere Beträge bekomme ich schon zusammen.» Sie atmete tief durch. Diese Flucht würde sich vielleicht noch als eine Reise in die Vergangenheit herausstellen.
Der Surfer-Schreiberling kam bei der Aussicht auf Science-Fiction-Folgen à la Zurück in die Zukunft zögerlich unter dem Schreibtisch hervor. Dem Kerl wäre vermutlich jedes Format recht gewesen, solange es sich dabei nicht um Horror handelte.
«Sollen wir gleich zurückfahren?», schlug Lee vorsichtig vor. «Die Sache mit der falschen Spur hat sich ja gerade erledigt. Und ich halte es für weniger klug, meine Karte am selben Automaten zu benutzen wie du. Chris wird schlau genug sein, um die Nutzungen nach dir zu prüfen.»
So verärgert Damiano auch sein mochte, konnte er sich ein beeindrucktes Schmunzeln bei ihrer Schlussfolgerung nicht verkneifen. «Ja, das wird er bestimmt. Um ein Konto zu leeren, brauchen wir sowieso jemanden bei einer Bank.» Mit einem tiefen Seufzer startete er den Wagen und fuhr die Straße, auf der sie gekommen waren, wieder zurück. «Was genau willst du machen? Für eine Karriere als Straßenmusikerin ist es schon zu spät», erkundigte Damiano sich kurz darauf und hatte dabei eine Spur von Herablassung in der Stimme, die Lee gerade wirklich nicht gebrauchen konnte. Ja, das mit seinen Konten und seinem Geschäft war beschissen, aber sich hier gegenseitig fertigzumachen, würde ihn auch nicht weiterbringen.
«Nicht jeder von uns ist mit millionenschweren Treuhandfonds und in Prunkvillen groß geworden. Okay?», rutschte es ihr dennoch in giftigem Ton heraus. Er unterschätzte sie gewaltig, aber das war ihm bisher wohl nicht klar. Wie auch? Sie hatte nie im Detail darüber gesprochen. «Ich habe da ein paar Ideen und zudem Übung.»
«Kleine Ladendiebstähle und die Abzocke von alten Männern machen dich nicht zur Verbrechensexpertin, Hailee. Wir brauchen mehr als nur ein paar Dollar», fuhr er in abfälligem Ton fort und konnte die Wut über ihre Verhöhnung nicht einmal ansatzweise verbergen.
Lee warf ihm einen ebenfalls verächtlichen Blick zu und schluckte. «Ich habe mich mit meinen Tricks lange genug über Wasser gehalten», entgegnete sie bemüht gelassen. Es war kein guter Zeitpunkt für einen ernsthaften Streit.
«Ja, nur dass du dieses Mal nicht zu Mommy und Daddy nach Hause laufen kannst, wenn der Scheiß schiefgeht», konterte er und hatte seinem angepissten Tonfall nach zu urteilen im Gegensatz zu ihr wohl übelste Lust auf eine Auseinandersetzung.
Sie lachte kurz auf, da es so aussah, als hätte Damiano das Bild der unschuldigen Vorstadthausfrau nicht losgelassen. Ihm schien auch nicht klar zu sein, wie sehr sie an aussichtslose Situationen oder den Umgang mit zornigen Männern gewöhnt war. «Es ist beinahe tragisch, dass du dich ständig in mir täuschst. Mommy und Daddy hätten mich beide eher auf der Straße verhungern lassen, als mir zu helfen. Mir fällt schon etwas ein, du wirst mir ausnahmsweise einfach vertrauen müssen», entgegnete sie gefasst und starrte mit zusammengezogenen Augenbrauen aus dem Fenster. Das nächste beschissene Thema, über das sie nicht reden wollte, war angeschnitten. Wirklich großartig.
Ihre ruhige Art hatte glücklicherweise eine ansteckende Wirkung. Als sie sich wieder umwandte, fuhr Damiano sich mit den Händen übers Gesicht, als würde er sich den Zorn wie lästige Schweißperlen wegwischen. Deutlich milder entgegnete er: «Gut, dann machen wir, was du willst.»
Zufrieden richtete sie sich in ihrem Sitz auf. Sie würde ihm schon zeigen, was sie draufhatte.
«Wo genau parkst du unser Schlafzimmer heute?», fragte Lee mit Unschuldsmiene, nachdem sie eine Weile schweigend Richtung Grenze gefahren waren und sie zunehmend gegen ihre Müdigkeit kämpfte. Da auch Damianos Augen im gleichmäßig aufflackernden Licht der Straßenlaternen wirkten, als wären sie von dunklen Schatten unterlegt, fühlte sie sich verpflichtet, sich und ihn wachzuhalten. Bei seinen Geschäften konnte sie ihm nicht helfen, aber sie konnte versuchen, für bessere Stimmung zu sorgen.
Ohne sie eines Blickes zu würdigen, entgegnete er: «Direkt auf der Landebahn. Wenn wir Glück haben, ist das Flugzeug morgen früher als vereinbart startklar.»
«Gibt es dort irgendetwas? Eine Parkgarage? Ein Clubhaus?»
«Ist nur ein abgelegenes Flugfeld einer Pilotenschule mit kleinem Hangar. Ein Stück abseits der Straße, nicht weit nach der Grenze. Draußen im Nirgendwo.»
Lee sah ihn interessiert an. Nirgendwo klang irgendwie spannend.
«Wenn es so abgelegen ist, ist es dort so richtig dunkel?»
«Ja, vermutlich. Hast du Schiss?», antwortete er genervt.
«Ich komme aus Detroit. Das Nirgendwo und die Dunkelheit ängstigen mich nicht», entgegnete sie mit hochnäsiger Miene. Jetzt wollte sie unbedingt wach bleiben. Zuerst musste sie noch ihr wunderschönes, aber unpraktisches Kleid loswerden. Für Ausflüge in die nächtliche Einöde war es ganz bestimmt nicht gedacht. Kurz entschlossen schnappte sie ihre neuen Klamotten von der Rückbank und riss die Etiketten ab. Sie zog sich das YOLO-T-Shirt über und öffnete den Reißverschluss ihres Kleides darunter. Auf dem Beifahrersitz war das zwar umständlich, aber sie schaffte es. Schwieriger wurde es, sich sitzend aus der Abendgarderobe zu schälen, ohne sich dabei auch die Unterwäsche abzustreifen. Um es zu vereinfachen, ließ sie den Sitz zurück, schlüpfte aus den High Heels und legte sie in den Fußraum der Rückbank. Danach schob sie das Kleid an sich hinunter.
«Kannst du damit nicht warten, bis wir dort sind?» Damiano sah ihrer unbeholfenen Stripeinlage verständnislos zu.
«Warum? Wird das Auto auf magische Weise größer, wenn es geparkt ist?»
«Nein, aber du könntest dich draußen umziehen», entgegnete er und richtete sich unruhig auf.
«Ich will das Kleid nicht mehr in den Dreck hängen», antwortete sie ihm ärgerlich und schaffte es endlich, den Stoff über ihre Hüfte zu streifen. Sie hatte nur noch das T-Shirt und schwarze Pantys an und sah Damiano nun direkt in die Augen. «Was? Mache ich dich nervös?», fragte sie lächelnd und streckte ihr nacktes Bein unnötig hoch auf das Armaturenbrett, um ihre Hose anzuziehen. Bikini oder Unterwäsche – wo war schon der Unterschied? Zudem hatte sie damit etwas gefunden, um ihn wachzuhalten und aufzumuntern. Er musterte alles an ihrem Körper, was gerade nicht bedeckt war, und driftete dabei mit dem Wagen ein Stück auf die Gegenfahrbahn.
«Nicht nervös, nein», versicherte er ihr und drehte das Lenkrad, um wieder in die Spur zu kommen.
Lee lachte in sich hinein, als sie sich die schwarze Stoffhose über den Hintern zog und zuschnürte. Das einzige, was jetzt noch an ihre edle Aufmachung des Abends erinnerte, waren ihre bezaubernden Ohrringe, und die würde sie bestimmt niemals ablegen.
«Hattest du schon mal Sex in einem Auto?», fragte sie, nachdem sie den Sitz wieder geradegestellt und sich angeschnallt hatte. Dabei wusste sie eigentlich nicht so recht, warum sie sich ausgerechnet danach erkundigte.
«Soll das ein Angebot sein?» Er warf ihr einen herausfordernden Blick zu.
Der Surfer-Schreiberling schreckte aus seinem verängstigten Dämmerzustand unter dem Schreibtisch hoch und krallte sich erwartungsvoll an die Tischplatte.
«Nein!», antwortete sie energisch. Ladys, Plural, verdammt. «Es ist eine Frage. Wenn ich aufgewühlt bin, habe ich meine Neugier nicht im Griff. Das solltest du inzwischen bemerkt haben», erklärte sie und biss sich auf die Unterlippe. Fuck, dummes Thema.
«Diese Sorte Fragen hast du bisher nicht gestellt», antwortete Damiano lachend. Zumindest heiterte es ihn sichtlich auf.
«Im Moment läuft alles aus dem Ruder, und wir sind jetzt eine Weile nur zu zweit unterwegs», rechtfertigte sie sich und faltete nebenbei ihr Kleid zusammen, wobei sie versuchte, möglichst gleichgültig zu wirken. Dieses modische Kunstwerk wollte sie trotz der bevorstehenden Strapazen in Ehren halten und nicht völlig ruinieren.
«Und das bedeutet?», hakte Damiano wenig verständnisvoll nach, als Lee im aufflackernden Licht einer Laterne erschrocken einen kleinen Fleck am Saum des Kleides entdeckte. Bitte nicht irgendwas Ekelhaftes aus der Tankstellentoilette, hoffte sie und hielt den Stoff in den schummrigen Schein der leuchtenden Armaturen.
«Dass wir nicht darum herumkommen werden», entgegnete sie geistesabwesend und kratzte angewidert an der Stoffstelle herum.
«Um Sex im Auto?»
Nun war Lee wieder voll da und lachte überrascht. «Gott, nein! Um das Fragenstellen! Darum, dass wir uns ein bisschen besser kennenlernen.» Verlegen streifte sie sich das Haar über die Schulter.
Der Surfer-Schreiberling schlug wiederholt die Faust auf den Tisch und ging vor Verzweiflung in die Knie. Idiot …
«Wie du meinst.» Damiano räusperte sich irritiert.
«Und?», fragte sie, nachdem er keine Anstalten machte, ihre Neugier zu befriedigen. Das Kleid verfrachtete sie gefaltet auf die Rückbank und steckte ihre Füße in die Flipflops.
Damiano fuhr bei einem kleinen Schild von der Fahrbahn ab und sie bewegten sich holprig über eine Nebenstraße weiter. Er warf ihr einen fragenden Blick zu. «Du willst das jetzt ernsthaft wissen?» Er drosselte das Tempo, um weniger im Wagen herumgeworfen zu werden.
«Ja, klar. Wieso nicht?» Sie musterte ihn herausfordernd und hielt sich am Griff über der Tür fest. Wenn ihr die Frage schon rausgerutscht war, wollte sie auch eine Antwort.
«Ja, hatte ich», entgegnete er und schmunzelte. «Was ist mit dir?»
Herablassend spitzte sie die Lippen und wechselte für ihre Antwort in einen pikierten Tonfall. «Solche intimen Details gehen dich nun wirklich nichts an.»
Verärgert über ihre Dreistigkeit drehte er sich zu ihr herüber. Bei ihrem neckischen Grinsen entglitt ihm jedoch der böse Ausdruck und machte einem breiten Lächeln Platz. «Woher auf einmal die ausgelassene Stimmung?», erkundigte er sich.
Lee seufzte und starrte nachdenklich vor sich hin, während sie sich mit den Fingern der freien Hand das lange Haar kämmte. «Ich weiß nicht genau.» Insgeheim ahnte sie aber, was sich an all dem so befreiend anfühlte.
Sie erreichten das Ende der holprigen Abzweigung, die sie direkt zu einem kleinen Platz mit einem Minihangar geführt hatte. Die Umrisse flackerten kurz im Lichtkegel des Wagens auf. Ansonsten war alles finster und lag verlassen vor ihnen. Als Damiano die Scheinwerfer ausschaltete, dauerte es einen Moment, bis sich Lees Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten.
Eine Nacht im Auto, die nächsten womöglich gemeinsam in Hotels oder Motels. Je nachdem, wie viel Geld sie zur Verfügung hatten, würden sie bereits in Kürze mehr Zeit auf engem Raum miteinander verbringen. Verstohlen musterte sie Damiano von der Seite, bevor sie einen Entschluss fasste. «Ich werde übrigens nicht mit dir schlafen», sagte sie bemüht würdevoll in die Stille hinein und beendete damit eine Debatte, die sie bisher nur mit sich selbst und dem fiktiven Surfer-Schreiberling geführt hatte.
Damiano schnaubte entgeistert auf. «Ich hatte auch nicht vor, mit dir zu schlafen», erwiderte er kalt.
«Nicht?», entfuhr es ihr verdutzt, woraufhin sie peinlich berührt die Hand vor den Mund schlug. Konnte sie denn nie ihre Klappe halten? Am liebsten wäre sie in der Polsterung ihres Sitzes versunken.
Über ihre Reaktion schüttelte Damiano fassungslos den Kopf. «Was? Hast du erwartet, dass ich wegen deiner Abweisung jetzt ausraste? Dass ich knurrend und unkontrolliert über dich herfalle, wenn wir allein sind, weil ich zu einem hirnlosen Tier werde, sobald mir eine attraktive Frau zu nahekommt?»
Überrascht hob Lee die Augenbrauen und ihre Wangen fingen an zu glühen. Zum Glück konnte er ihre Gesichtsfarbe in dem nächtlichen Schein nicht sehen. «Nein, das wollte ich damit nicht sagen. Aber es ist nicht gerade so, als hättest du nie irgendwelche Andeutungen in diese Richtung gemacht», entgegnete sie völlig überrumpelt und hob abwehrend die Hände.
Was zum Teufel redete sie da eigentlich? Sie wusste plötzlich nicht mehr, was sie mit diesem Gespräch hatte erreichen wollen. Das hier war es jedenfalls nicht. Tatsächlich aber – und niemals würde sie das vor ihm zugegeben – kränkte sie seine Antwort. Warum wollte er nicht? Nicht, dass sie beabsichtigte, mit ihm zu schlafen, aber sie war fest davon ausgegangen, dass er es zumindest in Betracht zog.
Fuck, verdammt! Ladys! Plural!
«Du meinst, wegen meiner Sprüche? Die bringe ich nur, weil ich es so amüsant finde, wie sich deine Wangen immer leicht röten, während du so energisch ablehnst, als würdest du nicht selbst darüber nachdenken», säuselte er und deute mit dem gestreckten Zeigefinger auf ihr Gesicht.
Entgeistert riss Lee die Augen auf. «Entschuldige bitte?», schimpfte sie. So viel zum Thema Ruhe bewahren.
Damiano lachte kalt. «Du hast mich schon verstanden. Aber wenn es dich so verletzt, dass ich nicht mit dir ins Bett will, tue ich dir natürlich den Gefallen.»
Der Surfer-Schreiberling dimmte bereits das Licht im Meetingraum und stellte mit einem anzüglichen Grinsen erste Kerzen auf. Am liebsten hätte sie gleich beiden Ohrfeigen verpasst.
«Darum geht es hier doch überhaupt nicht, und so habe ich das auch nicht gemeint!», antwortete sie verärgert.
Hatte er schon zu viel von ihr gesehen? Sie wurde unsicher.
«Worum ging es dir denn?», hakte er nach und bekam sein dummes Grinsen offenbar nicht mehr aus dem Gesicht.
Lee atmete tief durch und versuchte, sich zu beruhigen, um gefasst antworten zu können. «Dass ich derzeit darum bemüht bin, du weißt schon, meinen Selbstwert nicht am Interesse von Männern festzumachen.» Das gelang ihr gegenwärtig blendend, dachte sie sarkastisch. «Das meinte ich. Ich lasse Kerle aus den falschen Gründen in meine Nähe und ich hatte mir vorgenommen, daran zu arbeiten.» Sie verschränkte ihre Arme schützend vor der Brust. «Ich wollte klarstellen, dass, auch wenn wir jetzt nur zu zweit unterwegs sind und uns aus Kostengründen Hotelzimmer teilen, dennoch nichts laufen wird, weil mich diese Art von oberflächlicher Beziehung nicht interessiert.» Das klang nicht schlecht.
«Gut!», entgegnete Damiano zufrieden. «Bei dem Männergeschmack, den du in den letzten Wochen an den Tag gelegt hast, würde ich es nämlich als persönliche Beleidigung auffassen, wenn du dich an mich ranmachst.»
Jetzt reichte es aber. Sie boxte ihm mit der geballten Faust gegen die Schulter, so fest sie konnte.
Wieder lachte er boshaft über ihre beleidigte Reaktion und rieb theatralisch die Stelle seines Arms, die sie getroffen hatte. «Autsch!», flötete er spöttisch.
«Du bist wirklich ein Arschloch, weißt du das?», fauchte sie. Ihr war selbst klar, dass sie sich einige bescheuerte Aktionen geleistet hatte, aber das würde sie sich nicht bieten lassen. Sie hatte keine Lust, seine Reaktion abzuwarten, öffnete die Tür und stieg aus.
«Wo willst du hin?», rief Damiano ihr hinterher.
Aber anstelle einer Antwort warf sie die Tür schwungvoll zu und löschte damit gleich die bescheuerten Kerzen des Surfer-Schreiberlings, der dazu überging, sich die Haare vom Kopf zu reißen. Entschlossen, wenn auch etwas umständlich, kletterte Lee auf die verdammt hohe Motorhaube, um auf das Dach des Wagens zu gelangen. Dort setzte sie sich, atmete tief durch und schaute sich um. Mist! Mist! Mist!
Damiano stieg ebenfalls aus, löste seine Krawatte und warf sie zusammen mit seinem Sakko auf den Sitz. Auch sein Schulterholster legte er ab und öffnete sein Hemd. Ein paar verstohlene Blicke konnte Lee sich nicht verkneifen, zwang sich aber, wegzusehen. Erst als Damiano sich umgezogen hatte, folgte er ihr aufs Dach und setzte sich zu ihr. Erwartungsvoll beäugte er sie.
Luca und Carlos waren faktisch keine Aushängeschilder für einwandfreien oder gesunden Männergeschmack, gestand sie sich ein und richtete sich auf, um wenigstens selbstbewusst zu erscheinen. Damiano hatte die Darbietung des kaltherzigen Arschlochs meisterhaft drauf, aber das wusste sie inzwischen ja. Auch wenn er wiederholt aus der Rolle fiel, fand er doch problemlos wieder zurück. Damit passte er eigentlich sogar blendend in ihr Schema. Sie aber vielleicht schlichtweg nicht in seins. Dabei musste sie an Alessia und einen Haufen Schimpfworte, die sie mit ihr in Verbindung brachte, denken.
Um Himmels willen, jetzt hör schon auf!, schrie sie sich und den Surfer-Schreiberling innerlich an. Verängstigt ging der Typ in Deckung.
«Willst du hier draußen schlafen?», fragte Damiano, sichtlich darüber amüsiert, dass sie keine Anstalten machte, mit ihm zu reden.
«Quatsch. Das wird viel zu ungemütlich», entgegnete sie gleichmütig und schluckte. Unfassbar, wie sehr Abweisung sie verunsicherte. Was im Umkehrschluss ja bedeutete, dass sie Bestätigung von außen für ihren Selbstwert brauchte. Großartig! Sie seufzte hörbar. Sollte er doch von ihr denken, was er wollte. Sie hatte keine Lust mehr, sein aufgeblasenes Ego mit ihrer Gekränktheit zu füttern. Es gab einen anderen Grund für ihre Flucht auf das Autodach. «Ich wollte nur das einmal sehen», erklärte sie gefasst und deutete nach oben. Damiano lehnte sich zurück und folgte ihrem Fingerzeig in den inzwischen wolkenlosen Nachthimmel, der übersät war mit Milliarden von funkelnden Sternen.
Lee kam aus der Stadt und hatte immer nur in Städten gelebt. Sie hatte oft gehört, wie überwältigend der Sternenhimmel war, wenn man nur einmal einen wahrhaft dunklen Fleck Erde fand. Aber es war noch eindrücklicher, als sie erwartet hatte. Diesen Augenblick hatte sie eigentlich genießen wollen.
Wortlos zog Damiano die Schachtel Zigaretten aus seiner Tasche und reichte sie ihr. Widerwillig ließ sie sich im Anschluss von ihm Feuer geben. Ihre Augen hatten sich gerade erst an die Dunkelheit gewöhnt. Das blendende Licht der kleinen Gasflamme schmerzte förmlich auf ihrer Netzhaut und hinterließ einen weißglühenden Fleck in ihrem Sichtfeld. Bevor sie sich auf dem Autodach ausstrecken konnte, lehnte Damiano sich zu ihr herüber, um ihr in die Augen sehen zu können.
«Du suchst dir für die Zukunft besser einen Mann, der dich nicht nur ins Bett bekommen will. In der Hinsicht sind wir uns offensichtlich einig, also halte ich Abstand, so wie du es möchtest», erklärte er in ernstem Ton.
Das war wohl seine Art, sich dafür zu entschuldigen, mit seinen Worten ihren Selbstwert unnötig verletzt zu haben. Immerhin stand nun außer Frage, woran sie bei ihm war: Körperliche Anziehung, mehr war es nicht.
Ladys, Plural. Sie würde sich schon in den Griff bekommen. Aber an diese Dinge sollte sie in ihrer gegenwärtigen Situation sowieso keine Gedanken verschwenden. Sie streifte sich ihr Haar zurück und nahm einen tiefen Zug von der Zigarette. «Ich hab’s schon verstanden», versicherte sie ihm und wandte sich ab, um den Rauch in die Dunkelheit zu blasen.
Eigentlich war es perfekt so. Jetzt, wo dieses Thema abgehakt war, konnten sie ja freundschaftlich und neutral miteinander umgehen. Es würde ihre gemeinsame Reise vereinfachen.
Der Surfer-Schreiberling brach weinend über seinem Tisch zusammen, fegte die Kerzen von der Platte und verbrannte sich an dem noch heißen Wachs die Finger. Recht so, dachte Lee.
Als sie sich an das wenige Licht gewöhnt und der Feuerzeugfleck in ihrem Sichtfeld sich wieder aufgelöst hatte, erkannte sie die Umrisse des Hangars. In dieser Art der Dunkelheit verspürte sie seltsamerweise keine Angst. Die Geräuschkulisse aus zirpenden Insekten und dem Rascheln von kleinen Tieren im Unterholz war merkwürdig beruhigend. Der Geruch nach sonnenverbrannter Erde und getrocknetem Gras hing in der Luft. Hoch über dem Boden waren sie vor Angriffen durch Schlangen oder Reptilien geschützt. Das einzig wahrhaft Gefährliche, das ihr hier begegnen konnte, waren Menschen und vielleicht noch Coyoten, aber die würden sich hoffentlich fernhalten. Es war so anders als damals in den Nächten auf der Straße. Möglicherweise weil sie sich in ihrer derzeitigen Begleitung so beschützt fühlte. Eine Stille legte sich in sie und sie verstand, was sich seit ihrem Aufbruch geändert hatte.
«Die Ausgelassenheit kommt möglicherweise daher, dass ein Leben auf der Straße am ehesten meine Welt ist», sagte sie schließlich, um auch die Sex-Thematik endlich zu beenden. «Wenn wir uns eine Weile durchschlagen müssen, ist das okay, darin war ich früher einmal gut. Vielleicht habe ich darum bessere Laune. Es ist eine merkwürdige Art von Heimkehr. In ein Zuhause, das ich fast vergessen hatte.» Sie sah kurz zu ihm hinüber. «Oder es liegt daran, dass ich nicht glaube, dass ich ein Wiedersehen mit Chris überleben werde, und versuche, meine letzten Tage mit Heiterkeit zu verbringen», fügte sie scherzhaft hinzu.
«Ist dir dein Shirt schon zu Kopf gestiegen?», entgegnete Damiano wieder kühl.
«Vermutlich. LOL», sagte sie schmunzelnd und spürte zugleich eine Kälte in der Brust, die ihr verdeutlichte, dass ein Funken Wahrheit in dem Witz verborgen lag. Wie Eiskristalle funkelten passend dazu die Sterne über ihnen, dazwischen bewegten sich Satelliten und irgendwo ein rot blinkendes Flugzeug. Das einzige Sternbild, das sie kannte, war der Große Wagen. Ein Obdachloser hatte ihr einmal prophezeit, dass er irgendwann, wenn er tot wäre, genau dort oben am Himmel sein würde, um statt seines quietschenden Einkaufswagens diese Sternenkonstellation vor sich herzuschieben. Dabei hatte er sieben Steine stellvertretend vor ihr auf dem Boden platziert, um die Anordnung zu verdeutlichen. Aber sie hatte sie bis heute nie mit eigenen Augen entdecken können. Suchend ließ sie den Blick über das glitzernde Schwarz gleiten. Nichts davon erinnerte an ein Gefährt, einen Bären, einen Stier oder eines der anderen Tierkreiszeichen, die es nach ihrem Wissen geben musste.
«Siehst du den Großen Wagen?», fragte sie frustriert.
Damiano neigte den Kopf zu ihr herüber und suchte einen Moment, bevor er den Arm mit der Zigarette ausstreckte. «Dort.» Mit der rot leuchtenden Glut zeigte er auf eine Reihe hellerer Sterne.
Lee kniff die Augen zusammen. Es dauerte ein paar Sekunden, aber plötzlich erkannte sie es.
«Es ist wirklich ein Wagen!», kommentierte sie erstaunt und stellte sich den Obdachlosen vor, wie er ihr vom Firmament aus zuwinkte und dabei ein Lächeln aufgesetzt hatte, das ebenso strahlte wie die Sterne, die er vor sich herschob. Zwar hoffte sie, dass er noch am Leben war, aber wer wusste das schon. Um sich von diesem Gedanken abzulenken, suchte sie in dem bezaubernden Chaos des Sternenhimmels andere Bilder, entdeckte aber bis auf grinsende Gesichter und Kreuze keine weiteren Figuren. Eine Weile schwiegen sie und rauchten. Wäre er nicht er und sie nicht sie gewesen, hätte es ein romantischer Augenblick sein können.
«Wenn das dein Zuhause ist, wird es schwierig, dich vor mir zu verstecken», warf Damiano irgendwann in die nächtliche Stille.
Lee lächelte in den Himmel. Natürlich, die Ungereimtheit. Dieses Interesse an ihr war unbestreitbar und ungebrochen.
«Jaaa, du kannst dich auf was gefasst machen», antwortete sie in drohendem Ton und drehte sich zu ihm um. «Die Vorstadthausfrauen-Ära endet heute Nacht.»
Er grinste sie bei diesen Worten ebenfalls an. Seinen durchdringenden Blick konnte sie auch in der sternenbeschienen Dunkelheit erkennen.
«Hattest du schon mal Sex auf einem Autodach?», fragte er unbekümmert.