Die Stimme meiner Mutter - Eva Baronsky - E-Book

Die Stimme meiner Mutter E-Book

Eva Baronsky

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Beschreibung

»Und Triumphe waren – das hatte sie in ihrem Leben gelernt – ein guter Ersatz für die Liebe.«

1959 hat die Karriere von Maria Callas ihren Zenit längst überschritten, als sie in Monte Carlo an Bord der Christina geht, der legendären Luxusyacht des griechischen Milliardärs Aristoteles Onassis. Drei Wochen dauert die Kreuzfahrt über die Ägäis bis nach Istanbul, und danach ist nichts wie zuvor. Maria Callas, die amerikanisch-griechische Opernsängerin, die sich aus eigener Kraft ganz an die Spitze gearbeitet hat, findet in Onassis zum ersten Mal einen Mann, dem sie ihre verletzliche Seite zeigen kann. Ungeachtet ihrer Ehepartner, die ebenfalls an Bord sind, werden sie ein Paar – ein Skandal, auf den sich die Presse sofort stürzt.
Ein Roman, der dem Menschen hinter der Maske der Maria Callas zum ersten Mal gerecht wird, denn der Erzähler, ihr ungeborener Sohn Omero, kennt sie wie kein anderer.

»Kurzweilig und mit ironisch liebevollem Blick auf ihre Protagonisten.« Berliner Morgenpost, 08.08.2021

»Dieses Buch ist ein Lesegenuss, weil es brillant geschrieben ist und betörende Bilder schafft.« BR Klassik, 24.08.2021

»Das Buch insgesamt ist so stark.« »Ein literarischer Resonanz-Roman für diese besondere Stimme.« NDR Kultur, 27.08.2021

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Seitenzahl: 440

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eccoverlag.de

Originalausgabe © Ecco Verlag in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg Covergestaltung von Anzinger und Rasp, München Coverillustration von Mathilde Crétier E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck ISBN E-Book 9783753050058

Hinweis

Dies ist ein Roman, die geschilderten Figuren und Ereignisse sind fiktiv und alleine der Fantasie der Autorin entsprungen. Alle Ähnlichkeiten mit realen – lebenden und verstorbenen – Personen sind deshalb zufällig und nicht beabsichtigt.

Widmung

Für Michael. Mit großem Dank.

I.

Der Moment, in dem das Leben meiner Mutter sich radikal änderte und mein Leben denkbar wurde, war der, als sie von ihrem Teller aufsah und in eine Fratze blickte. Nicht dass Meneghinis Visage an diesem Abend anders ausgesehen hätte als sonst – außer dass er vielleicht noch dümmlicher dreinschaute –, dennoch schien ihr der Anblick so unfassbar, dass sie glaubte, eine Halluzination zu erleben, eine groteske Offenbarung von etwas Unsichtbarem. Die Geräusche um sie herum wurden leiser, schienen sich zu entfernen, und für einen Augenblick war sie überzeugt, dass die Welt verstummt war und die Zeit zum Stillstand gekommen, nur für sie, damit ihr diese Vision zuteilwurde. Es war, als sei sein Gesicht um Jahre, sogar um Jahrzehnte gealtert, und als wären all seine Plumpheit, seine Selbstgerechtigkeit und seine Raffsucht zu einer Maske geronnen, die nicht einmal von den begabtesten Visagisten hätte geformt werden können. Meine Mutter war unfähig, den Blick abzuwenden, wie man in einem Traum unfähig ist davonzurennen, und vielleicht war es tatsächlich ein Traum; immerhin träumte sie seit Tagen, seit sie sich auf diesem Schiff befand, so intensiv wie selten. Doch ganz allmählich drangen die Stimmen ihrer Tischnachbarn wieder zu ihr durch, und sie begriff, dass sie keineswegs träumte, sondern dies in der Tat das Gesicht ihres Ehemannes war. Sie wusste nicht, was sie mehr entsetzte: sein Anblick oder die plötzliche Abscheu, die sie diesem Gesicht gegenüber empfand. Wie oft hatte sie beteuert, ihr Ehemann sei ihr Ein und Alles und stehe an erster Stelle in ihrem Leben, während die Musik erst an zweiter Stelle komme. Mit diesem Gedanken traf meine Mutter das peinigende Unbehagen, das einen überfällt, wenn man zum ersten Mal den Mangel an eigener Wahrhaftigkeit erkennt. Als ihr die Bedeutung dieses Moments klar wurde, fühlte sie sich an die Vorahnung erinnert, die sie eine gute Woche zuvor gehabt hatte.

Es war zu Hause in Mailand gewesen, unmittelbar vor der Abreise. Meine Mutter und dieser Statist von einem Ehemann hatten sich für zwei Tage dort aufgehalten, um Reisevorbereitungen zu treffen, meine Mutter insbesondere, um eine adäquate Garderobe herstellen zu lassen. Zwar besaß sie bereits eine Unmenge von Kleidung, die Ausstattung für eine dreiwöchige Kreuzfahrt stellte dennoch eine Herausforderung für sie dar. Eine Herausforderung, die nur belächelt, wer sich nicht die Mühe macht zu verstehen, was diese Reise für sie bedeutete.

Sie hatte in den Spiegel gesehen, wie sie es jedes Mal tat, um den korrekten Sitz ihrer Frisur und Kleidung zu überprüfen, bevor sie das Haus verließ. Meine perfekte Mutter, die Meisterin der Selbstbeherrschung. Doch dieses Mal ließ etwas sie innehalten, ein Gefühl, eine plötzliche Ahnung, und auf einmal war der Satz in ihrem Kopf, als hätte eine Stimme in ihr gesprochen: Wenn du das nächste Mal in diesen Spiegel schaust, wird nichts mehr so sein wie zuvor. Sie war nicht sicher, ob es ihre eigene Stimme war und ob sie die Worte vielleicht laut ausgesprochen hatte, aber was sie am meisten verwirrte, war die absolute Gewissheit, mit der sie das Gesagte akzeptierte und als Wahrheit hinnahm wie eine Prophezeiung. Einen Augenblick verharrte sie in der Stille, dann hörte sie, dass Meneghini, der eine ganze Weile ungeduldig im Foyer auf und ab gelaufen war, sich näherte. »Ich komme!«, rief sie und verließ rasch das Zimmer, weil es unvorstellbar war, ihm zu dem, was sich gerade ereignet hatte, Zutritt zu gewähren. Ohne ihn anzusehen rauschte sie an ihm vorbei, steuerte mit gespitztem Kussmund auf Toy, ihren schwarzen Zwergpudel zu. Der Hund, offenbar überzeugt, die Reise mit antreten zu dürfen, zappelte auf Brunas Arm. Die Abschiedsszene, die nun folgte, war absurd, wenn man bedenkt, dass meine Mutter, die eine Ewigkeit für ihr Make-up aufgewendet hatte, sich nun von Toy das Gesicht abschlecken ließ und dem Tier dabei in alberner Kleinkindersprache erklärte, dass es dieses Mal zu Hause bleiben müsse. Jeder Beobachter der Szene hätte sofort verstanden, worum es hier tatsächlich ging: Meine Mutter brauchte ein Kind. Dringend. »Oder soll ich doch lieber bei dir bleiben, mein Kleiner, hm? Ach, ich weiß nicht, ob ich wirklich fahren soll.« Sie sagte tatsächlich ich, nicht wir, aber was wie die divenhafte Egozentrik klingt, die man ihr so gern nachsagte, war in der Tat schonungslose Unverstelltheit. Sie war es, die zu dieser Reise eingeladen war, kein Mensch hätte Meneghini um seiner selbst willen auf ein solches Schiff gebeten.

»Maria, bitte! Das Taxi wartet seit einer halben Stunde, wir versäumen das Flugzeug. Selbstverständlich fahren wir.«

»Ach, ich weiß wirklich nicht, was ich dort soll«, wiederholte sie kopfschüttelnd, den Blick noch immer auf Toy gerichtet, doch das war reine Koketterie. Sie wollte fahren, wollte es unbedingt, längst war eine Schwelle überschritten, hinter der es kein Zurück mehr gab. Zwar hatte sie sich anfangs geweigert, später geziert, hatte die Einladungen, mit denen erst mein Vater und schließlich auch Tina sie bedrängt, ja buchstäblich genötigt hatten, mit dem Hinweis auf Arbeitsüberlastung abgelehnt, woraufhin Meneghini sie aus demselben Grund umzustimmen versuchte – du brauchst Erholung, der Arzt hat Seeluft verschrieben –, doch endlich, nach dem maßlosen Abend in Covent Garden, von dem noch zu sprechen sein wird, hatte sie eingewilligt.

»Meine Tasche!«, herrschte sie ihn an, kaum dass die Türen geschlossen wurden und der Wagen anfuhr. Er gab sie ihr. Sein Blick versuchte irgendwo im Taxi zu ankern, fand jedoch keinen Halt, und so wandte er den Kopf zur Seite und sah aus dem Fenster, während meine Mutter ihre Puderdose zur Hand nahm, um die Spuren von Toys Liebesbekundungen zu beseitigen. Meneghini war klar, dass sie bis zur Ankunft am Flughafen kein weiteres Wort an ihn richten würde, und auch während des Fluges würde sie sich in Schweigen hüllen, so wie sie seit Tagen nur das Nötigste mit ihm sprach. Er wagte nicht, sie anzusehen, obwohl er sie gern betrachtet hätte, um sich zu vergewissern, dass es sich tatsächlich um die Frau handelte, mit der er seit zehn Jahren verheiratet war. Stattdessen betrachtete er die noch im Morgenlicht dösende Via Buonarroti. In einer, spätestens zwei Stunden würde sich Hitze über diese Straße legen, die tagtägliche lähmende Sommerhitze, von der er zwar Kenntnis haben, aber nichts spüren würde, weil er sich dann an einem anderen Ort befand, an dem es zwar auch heiß sein würde, aber anders heiß, und obwohl er in den vergangenen Jahren unaufhörlich mit meiner Mutter durch die Welt gereist war, war ihm ein solcher Gedanke nie zuvor gekommen, und er staunte über sich selbst. Dann, mit plötzlicher Wucht, überfiel ihn die Erkenntnis, dass auch alles andere, was hier geschah, weiterhin geschehen würde, ob er nun hier war oder nicht, und die Erkenntnis trieb ihm bizarrerweise Tränen in die Augen. Meneghini atmete tief durch, straffte sich, blinzelte. Sie würde sich wieder beruhigen, es war nur eine Überspanntheit ihrerseits. Zwei, drei Wochen auf See, und alles würde weiterlaufen wie bisher. Sie hatte Urlaub nötig, gewiss, die letzten Jahre waren anstrengend gewesen, das Pensum legendär, die Anfeindungen unsäglich. Kein Wunder, dass sie Erholung brauchte. Aber deswegen gleich solche Anwandlungen? Kürzertreten, wie sie es nannte – was für eine Idee! Und überhaupt, wie sollte das aussehen, ein Leben ohne Marias Gesang? Er hatte nicht die geringste Vorstellung. Dem Gedanken an ein Leben ohne ihre Einkünfte wich er sowieso aus. Nein, solche Flausen durfte er nicht zulassen. Sie würde zur Vernunft kommen, natürlich würde sie das. Dass er sich dafür in die Gesellschaft dieser exaltierten Leute begeben musste, bereitete ihm zwar Unbehagen, doch angesichts der Ersparnis, die die Einladung mit sich brachte, gelang es ihm, irgendwie darüber hinwegzusehen.

Zur Erleichterung meiner Mutter war die Maschine nicht einmal zur Hälfte besetzt. Es gab nur eine Klasse, aber die Stewardess hatte dafür gesorgt, dass die Plätze um sie herum frei blieben. Meneghini hatte in der benachbarten Reihe Platz genommen und war eingeschlafen, kaum dass sie in der Luft waren. Meine Mutter vermied es seit Jahren, im Flugzeug neben ihm zu sitzen. Glücklicherweise hatte sie nie eine Weigerung aussprechen, sondern nur auf einen Platz in der ersten Klasse bestehen müssen. Meneghini nannte es Sparsamkeit, für sich selbst weiterhin in der zweiten Klasse zu buchen, meine Mutter erhob niemals Einwände. Sie sah aus dem Fenster, erahnte unter sich die weißen Gipfel der Seealpen, deren Ausläufer sie gerade überflogen, und eine seltsame, beinahe beklemmende Ahnung von Freiheit überkam sie. Was, wenn sie tatsächlich allein hier säße, ohne Battista? Wenn sie in Zukunft sämtliche Reisen ohne ihn unternähme? Sie brauchte niemanden, der dafür verschrien war, ihre Gagenverhandlungen auf so bornierte Weise zu führen, dass es ihrer Karriere schadete. Sie brauchte niemanden, der in der Pause einer nervenzehrenden Aufführung in ihre Garderobe stürzte und sie mit Dingen belästigte, die er ihr eigentlich vom Hals halten sollte. Nein, eigentlich brauchte sie doch überhaupt niemanden!

Vor ihr lag ein langer Sommer, fast zwei Monate ohne jedes Engagement, erst im September und Oktober standen ein paar Konzerte auf dem Programm, im November vier Aufführungen in Dallas – nichts im Vergleich zu den Parforceritten der vergangenen Jahre, in denen sie oft an die fünfzig Opernaufführungen gehabt hatte. Bis zum Herbst konnte sie sich also ausruhen, sich amüsieren, Kraft schöpfen. Für einen Moment empfand sie ein Gefühl der Unverwundbarkeit, als richte sich etwas in ihr auf, um jedoch gleich wieder in sich zusammenzufallen: nur eine Handvoll Engagements, und für das kommende Jahr noch gar nichts! Würde das reichen, um ihre Zukunft zu sichern? Würde sie die Kraft haben, selbst in die Hand zu nehmen, was bisher Battista organisierte, wo ihr doch schon das Singen immer schwerer fiel? Sie war nie eine starke Frau wie Nedda oder Mimi gewesen, weswegen sie diese Rollen auch nie auf der Bühne gesungen hatte, sondern eine schwache Frau, eine Tosca oder Medea, in letzter Zeit immer mehr eine entkräftete Violetta oder Norma. Sie musste sich eingestehen, dass sie durchaus jemanden brauchte, der sie unterstützte, aber nicht diesen Ehemann, der sich um ihre Schwäche nur insoweit scherte, als sie ein Hindernis auf seinem Weg darstellte.

Unter ihr war nun die Küste zu sehen, sie setzte ihre Brille auf und versuchte die Bucht von Monte Carlo auszumachen, doch es gelang ihr nicht, zu sehr glichen sich die Orte, die sich, blass sandsteinfarben bis ziegelrot, ins Meer ergossen. Noch ahnte meine Mutter nicht, dass ihr der monegassische Hafen bald so vertraut sein würde, dass sie ihn bis zu ihrem Lebensende unter allen anderen Häfen dieser Welt aus der Luft erkennen würde. Vorausgesetzt, sie trug ihre Brille, sonst konnte sie die Küste kaum vom Wasser unterscheiden, denn meine Mutter war so kurzsichtig, dass sie, selbst wenn sie ganz vorn auf der Bühne stand, nur knapp den Dirigenten erkennen konnte, niemals das Publikum. Die dicken Brillengläser, derer sie bedurfte, fand sie so entstellend, dass sie es vermied, sie in der Öffentlichkeit zu tragen. Aus Eitelkeit benutzte sie zuweilen Haftschalen, aber aus irgendeinem Grund vertrug sie die Dinger im Flugzeug nicht, weswegen sie, vor allem beim Ein- und Aussteigen, auf Hilfe angewiesen war. Nachdem meine Mutter also die unter ihr liegende Landkarte nicht zu lesen vermochte, lehnte sie sich zurück und schloss für einen Moment die Augen, wie sie es kurz vor dem Ziel einer Flugreise immer tat, um das Zurückliegende mit dem Bevorstehenden in Einklang zu bringen, und unwillkürlich fiel ihr die seltsame Prophezeiung wieder ein, die sie am Morgen, beim Blick in den Spiegel, vernommen hatte. Mit Erstaunen wurde ihr bewusst, dass sie die Worte auf Griechisch gehört hatte. Verwundert öffnete sie die Augen. Es kam selten vor, dass sie griechisch sprach, noch seltener, dass sie griechisch dachte, hin und wieder nur träumte sie ein paar Halbsätze in dieser Sprache, die eigentlich ihre Muttersprache war. Denn meine Mutter war zwar in New York geboren und aufgewachsen, aber ihre Eltern hatten zu Hause natürlich griechisch gesprochen und Kontakt zu anderen griechischen Auswanderern gepflegt. Doch obwohl meine Mutter später für ein ganzes Jahrzehnt, bis zum Ende des Krieges, in Athen gelebt hatte, war das Griechische für sie mittlerweile zu etwas Vernachlässigtem geworden, das nur zuweilen an die Oberfläche drang. Wann immer das jedoch geschah, wurde sie, so wie jetzt, von einer beinahe sakralen Verzückung erfasst und staunte über die Kraft und die Schönheit, die in dieser Sprache lag.

Das Flugzeug drehte von der Küste ab und beschrieb einen Bogen auf das Meer hinaus, das in der Sonne schillerte wie eine glänzende blaue Haut. Jachten und kleine Fischerboote zogen weiße Schaumschneisen hinter sich her. Über allem schien eine Leichtigkeit zu liegen, die meine Mutter mit Erregung und Sehnsucht erfüllte. Sie warf einen Blick auf Meneghini, der, noch immer schlafend, mit halb offenem Mund in seinem Sitz hing, den Kopf gegen das Fenster gelehnt. Meine Mutter setzte die Brille ab.

Natürlich waren sie fotografiert worden, schon in Mailand. Irgendjemand lauerte immer vor ihrer Haustür. Journalisten waren wie Schmeißfliegen, lästig, aber unausweichlich, und manchmal schien es meiner Mutter, als verfügten sie über ein verborgenes Kommunikationssystem, das ohne Telefon und ohne Telegrafen funktionierte und mittels dessen die Nachricht von ihrer bevorstehenden Landung in Nizza schneller flog als das Flugzeug, in dem sie saßen. In Nizza wurden sie bereits von Blitzlichtern ins Taxi begleitet, bei der Ankunft im Hotel in Monte Carlo stand ein Dutzend Reporter mit Aufnahmegeräten parat. Im Gegensatz zu meinem Vater mied meine Mutter den Kontakt mit ihnen, doch was wie kühle Distanziertheit aussah, war in Wirklichkeit Scheu, denn sie verstand sich nicht darauf, mit ihnen umzugehen: Zu taktieren und sie sich zunutze zu machen, für solche Volten war meine Mutter nicht geschaffen. Zu oft hatte sie in Interviews die Wahrheit gesagt und anschließend gemerkt, dass es eine Torheit war. Die Mikrofone, die nun beim Öffnen der Tür ins Taxi gestreckt wurden, verstörten sie umso mehr, als jedes Wort, das sie sprach, zerschnitten, verdreht und gegen sie verwendet werden würde. So hielt sie den Blick stur auf den Hoteleingang gerichtet, machte kleine, abwehrende Gesten und schüttelte auf die Fragen, ob es stimme, dass sie mit der Christina reisen werde, wohin die Kreuzfahrt sie führen würde und ob sie Monsieur Churchill (er sagte tatsächlich Monsieur Churchill) bereits begegnet sei, nur den Kopf. Nur Meneghini forderte auf Italienisch, dass man, bitte!, ihre Privatsphäre respektieren möge. Vergeblich. Erst nachdem sich die Tür der Suite, die mein Vater für sie bereitstellte, hinter ihnen geschlossen hatte, fühlte meine Mutter sich sicher.

Sie wartete, bis Meneghini ins Badezimmer gegangen war, zog die Vorhänge zurück, öffnete das Fenster und trat auf den Balkon hinaus. Vor ihr lag im Halbrund der Hafen von Monte Carlo, überschüttet von Licht. Sie hatte das Gefühl, aus einer Loge herab auf eine Bühne zu schauen, auf der die Christina konkurrenzlos als Primadonna agierte. Das Schiff, an dessen Bord sie die nächsten drei Wochen verbringen würde, dominierte den Hafen wie ein Wal, der sich in einen Goldfischteich verirrt hatte, Menschen drängten sich am Kai und bestaunten die Sehenswürdigkeit. Der Anblick hatte etwas Überwältigendes, und für einen Moment war meiner Mutter, als habe sie den Kopf zu heben, die Arme auszustrecken und von ihrer Hotelloge herab auf diese Bühne zu schreiten, doch nur wer meine Mutter verkannte, also im Prinzip jeder, hätte das Gefühl, das sie dabei empfand, als Stolz bezeichnet. Tatsächlich war es Erleichterung. Erleichterung darüber, dort unten willkommen zu sein.

Zwei Jahre war es her, dass sie die Christina zum ersten Mal betreten hatte, ein zwangloses Frühstück an Bord, damals, in Venedig, als sie meinen Vater und seine Frau kennengelernt hatte und von den beiden spontan eingeladen worden war. Sie legte die Hände auf die steinerne Brüstung des Balkons. Zu gern hätte sie ein Fernglas gehabt, um ausmachen zu können, wer sich an Bord befand. Die Helligkeit war beeindruckend, und meine Mutter fragte sich, ob das Licht an dieser Küste tatsächlich von so spezieller Qualität war, dass es viele Künstler zu Höchstleistungen inspirierte. Sie schloss die Augen, hielt das Gesicht in die Sonne und nahm einen tiefen Atemzug, breitete die Arme aus, stellte sich vor, das Licht einzuatmen. Auch Musik bedurfte des Lichts, und so blieb sie eine Weile dort stehen, spürte und atmete nichts als Helligkeit, stellte sich vor, dass das Licht sie auffüllte, in ihrem Inneren zu Tönen wurde, zu hellen, lichten Tönen, die ihr wieder zur Verfügung stünden, mit jener Leichtigkeit, mit der sie noch vor wenigen Jahren, allein durch ihre Willenskraft, alles hatte meistern können, was sie hatte meistern wollen. Und sie hatte alles gewollt. Abrupt setzte sie die Brille wieder auf und nahm Haltung an. Möglicherweise standen dort unten im Hafen bereits die Fotojournalisten mit ihren Teleskopobjektiven, und bei dem Gedanken, dass sie morgen in dieser entrückten Pose in der Zeitung zu sehen wäre, drehte sie sich um und kehrte in die Hotelsuite zurück.

Auf dem Tisch im Salon stand ein Strauß aus roséfarbenen Rosen und Lilien, so riesig, dass sie ihn mit den Armen nicht hätte umfangen können. Keine Karte. Aber bedurfte es einer? Schließlich besaß er dieses Hotel, wie er vermutlich so ziemlich alles besaß, was in diesem winzigen Staat von Bedeutung war. Sie beugte sich über den Strauß und sog den Duft ein. In diesem Augenblick klopfte es. Battista, der sich inzwischen im Zimmer nebenan aufs Bett gelegt hatte, stand auf und ging zur Tür, sein Blick traf meine Mutter im Vorübergehen, fiel kurz auf die Rosen, dann wieder auf sie. Er verzog keine Miene, dennoch wusste sie, was er dachte, zu offensichtlich war die Verbindung von diesem Bouquet zu denjenigen, die mein Vater ihr Ende des vergangenen Jahres geschickt hatte. Es war am Tag ihres Debüts in Paris gewesen und die Pariser Oper an jenem Abend voller glamouröser Namen: Windsor, Rothschild, Bardot, Chaplin, Gréco, Sagan. Und Onassis. Es war ein Wohltätigkeitskonzert gewesen, und sie hatte keine Oper, sondern nur ihre Paradearien aus Norma, dem Troubadour und dem Barbier sowie den zweiten Akt aus Tosca gesungen, und wer eine der exorbitant teuren Eintrittskarten ergattert hatte, freute sich selbstverständlich, meine Mutter singen zu hören. In erster Linie jedoch galt es, dabei zu sein, wenn der Ruhm der berühmtesten Frau der Welt den Abend zu jenem gigantischen Spektakel machte, das am nächsten Tag in der Presse als »Die größte Show der Welt, Ausgabe 1958« bezeichnet wurde. Natürlich machte dieser ganze Zirkus Eindruck auf meinen Vater. Also ließ er ihr am Tag des Auftritts Blumen ins Hotelzimmer bringen, drei identische Sträuße: einen morgens, einen mittags, einen abends, wie ein Medikament verabreicht, mit einem Beipackzettel auf Griechisch. Meneghini hatte diese Therapie wenig amüsant gefunden, sie aber hingenommen, doch spätestens jetzt, beim Anblick der nächsten Dosierung in Rosé, war sein Missfallen deutlich zu sehen. Er nahm von dem Pagen, der geklopft hatte, einen Umschlag entgegen, dankte ihm und schloss die Tür. Er riss den Umschlag auf, las die Karte und warf sie kopfschüttelnd neben den Strauß. »Sie wollen, dass wir schon zum Lunch bei ihnen erscheinen.« Er sah auf seine Armbanduhr. »Meine Güte, wir sind gerade erst angekommen!«

Meine Mutter griff nach der Karte. Es war die formelle Einladung zum Dinner auf der Terrasse des Hôtel de Paris, zu dem Ari und Tina sie schon vor Tagen mündlich eingeladen hatten. Handschriftlich war eine zweite Einladung hinzugefügt, zu einem Lunch im monegassischen Haus meiner Tante Merope.

»Das fängt ja gut an«, schimpfte Meneghini. »Sie laden uns ein, und wir müssen gleich am ersten Tag nach ihrer Pfeife tanzen wie die Zirkuspferde. Wir hätten erst morgen anreisen sollen, wenn das Schiff ablegt.«

Meine Mutter atmete hörbar aus. Sie hätte gern geantwortet, dass es eine Liebenswürdigkeit ihrer Gastgeber war, sie zu einem so familiären Essen einzuladen, doch sie schwieg, überlegte stattdessen, was sie anziehen sollte. Sie war hungrig, hatte das Haus, wie fast immer, ohne Frühstück verlassen, und die Aussicht auf mediterrane, vielleicht sogar griechische Küche gefiel ihr.

»Sie werden Griechisch sprechen, den ganzen Nachmittag«, beschwerte sich Meneghini, und jetzt wurde es meiner Mutter zu viel.

»Ja, das werden sie«, sagte sie und verschränkte die Arme vor der Brust, auf jene Weise, auf die sie es oftmals auf der Bühne tat und bei der man unwillkürlich den Eindruck hatte, sie fröre, und während sie sprach, wurde ihre Stimme mit jedem Wort schärfer. »Vielleicht werden sie aber auch Englisch sprechen oder Französisch, doch selbst wenn sie Chinesisch sprechen, ist es nicht ihr, sondern dein verdammtes Problem. Du bist seit zehn Jahren mit einer Griechin verheiratet, und mehr als kali spera und kali oreksi bringst du nicht zustande. Was man tolerieren könnte, schließlich, pah, ist es ja nur Griechisch! Aber zufällig bist du auch mit einer Amerikanerin verheiratet, und dein Englisch ist jämmerlich. Von deinem Französisch ganz zu schweigen. Was kannst du eigentlich?«

Der arme Meneghini stand stumm und starrte meine Mutter aus seinen Schweineaugen an. »So redest du nicht mit mir«, gab er schließlich zurück, doch es klang so kläglich, dass es fast zum Witz geriet.

»Doch, Battista, genau so rede ich mit dir.« Da wurde ihm klar, dass es ernst war. Niemals sagte meine Mutter Battista zu ihm, stets nur Titta, was natürlich auch albern und in der letzten Zeit zur Posse geraten war. »Da draußen«, sie machte eine Geste ins Irgendwo, »laufen sehr fähige Männer herum, die nicht nur eine, sondern sofort drei Sprachen lernen würden, wenn sie dafür meine Geschäfte regeln dürften.«

Meneghinis Lippen knäulten sich zu einem Wulst zusammen. Wenn man ihn genau beobachtete – was meine Mutter tat –, konnte man sehen, wie seine Hände zitterten. »Niemand«, brachte er hervor, »niemand in der gesamten Geschichte der Oper hat je fünf Millionen Francs für einen Abend ausgehandelt.«

»Aber ich«, rief meine Mutter und tippte sich mit dem Zeigefinger auf die Brust, »ich habe sie verdient. Ich arbeite für all das Geld, nur meinetwegen werden solche Gagen bezahlt! Es ist mein Geld, und ich werde darüber verfügen, und zwar allein, ob es dir passt oder nicht.« Ohne eine Antwort abzuwarten ließ sie ihn stehen und verschwand im Badezimmer. Sie schloss die Tür hinter sich und setzte sich auf den Rand der Wanne. Ihr war schwindlig. Von klein auf litt sie unter einem extrem schwachen Kreislauf, der ihr in derartigen Situationen besonders zu schaffen machte. Sie bereute, nicht gefrühstückt zu haben. In ihrer Hand hielt sie noch immer die Karte. Es war das erste Mal, dass sie die Handschrift meines Vaters sah, und der Gedanke, dass er erst vor Kurzem, vielleicht erst vor ein paar Minuten, diese Zeilen geschrieben hatte, berührte sie auf seltsame Weise, und während sie sich die Erinnerung an ihre erste Begegnung wachrief, verdichtete sich all der Zorn auf ihren Ehemann zu einer trotzigen Stärke. Sie stand auf, platzierte die Karte auf der Glasablage vor dem Spiegel und begann sich die Haare zu richten.

Kennengelernt hatten meine Eltern sich in Venedig, zwei Jahre zuvor, im September 1957, und wie alles Entscheidende im Leben hätte auch dieses Ereignis einen anderen Ort und einen anderen Zeitpunkt finden können, aber es wäre geschehen, so oder so.

Tatsächlich wäre es mir lieber gewesen, sie wären sich bei anderer Gelegenheit begegnet, dann bliebe mir erspart, die grässliche Elsa Maxwell zu erwähnen, dieses intrigante Weibsstück, die sich als Freundin meiner Mutter bezeichnete, ihr in Wahrheit aber auf gedankenloseste Weise Schaden zugefügt hatte. Das Drama Edinburgh zum Beispiel – eine Zerreißprobe nicht nur für die Nerven, sondern auch für die Stimme meiner Mutter und insgesamt der Anfang des Desasters –, das hat allein diese Person zu verantworten. Was für eine Vorstellung, ich könnte ihr meine Existenz verdanken, dieser plumpen, fetten Motte, die ihr Leben lang nichts anderes tat, als in das Licht anderer Leute zu flattern und sich dann an der Illusion zu weiden, es sei ihr eigenes Strahlen. Tatsächlich konnte kein Mensch sie ausstehen, aber mit ihren Klatschkolumnen, Radiosendungen und vor allem mit ihren Partys war sie zu einer Instanz jener Gesellschaft geworden, an der niemand vorbeikam.

Einen Kostümball während des Filmfestivals hatte sie veranstalten wollen, im Danieli, zu Ehren der großen Callas, und ein Kostümfest war genau das, was meine vollkommen erschöpfte Mutter brauchte. Zuvor jedoch hatte sie über vier Abende die Amina zu singen, ein Gastspiel der Scala in Schottland, von dem ihr Arzt mit großer Dringlichkeit abgeraten hatte. Doch meine pflichtbewusste Mutter bestand darauf, ihren Vertrag zu erfüllen. Reiner Zufall, dass sie während eines Spaziergangs durch Edinburgh an einem Aushang des King’s Theatre vorbeikam und ihren Augen nicht traute: Eine fünfte Aufführung wurde angekündigt, von der sie nichts wusste. Ihre erste Reaktion war, Meneghini scharf anzufahren, aber dieses Mal war der arme Kerl unschuldig. Hilflos hob er die Schultern. »Vier Abende, so steht es im Vertrag.«

»Was für eine Frechheit! Er hat mich nicht einmal informiert, geschweige denn gefragt. Das ist unglaublich, so lasse ich nicht mit mir umgehen!«

»Er rechnet sicher damit, dass wir uns fügen. Und vielleicht sollten wir …«

»Mich fügen? Einer solchen Respektlosigkeit? Niemals! Wenn sie an diesem Abend die Sonnambula geben wollen, dann müssen sie sich eine andere Amina suchen.«

Als Antonio Ghiringhelli, der Direktor der Scala, merkte, dass sie keineswegs gewillt war, ein fünftes Mal zu singen, entschuldigte er sich halbherzig, bat und bettelte schließlich, doch meine Mutter hatte ihre Entscheidung getroffen. Sie sei nicht nur müde und erschöpft und fühle sich außerstande, eine fünfte Aufführung zu singen, sondern sei zutiefst empört über die Art und Weise, wie mit ihr umgegangen werde. Und reiste ab.

Die menschliche Stimme, insbesondere die meiner Mutter, ist das wunderbarste aller Instrumente. Leider auch das empfindlichste. Keiner anderen Sopranistin dieser Welt wurden Vorwürfe gemacht, wenn sie eine Vorstellung absagen musste – noch dazu eine, die gar nicht vereinbart war. Für meine Mutter jedoch galten andere Regeln, und so schimpfte die Presse sofort lautstark über diese Absage, ohne ein Wort über die Hintergründe zu verlieren, von denen freilich niemand etwas wusste. Denn den Vertrag für dieses Gastspiel hatte meine Mutter mit der Scala abgeschlossen – tatsächlich über vier Vorstellungen. Die Scala jedoch hatte mit dem Edinburgh Festival kurzerhand fünf Aufführungen vereinbart, und dieser Heuchler Ghiringhelli weigerte sich nun, eine Klarstellung zu veröffentlichen und seine Schuld einzugestehen. Ohne jede Skrupel ließ er alles auf meine Mutter zurückfallen, die noch Jahre danach vergeblich um eine Richtigstellung kämpfte. Das alles hätte sie noch durchstehen können, wenn diese narzisstische Elsa Maxwell nicht umgehend in ihrer Kolumne herumposaunt hätte, sie sei – hach – so entzückt, dass die große Callas eine Vorstellung habe sausen lassen, nur um ihre Party in Venedig nicht zu versäumen! Woraufhin alle Welt sich darin bestätigt sah, dass die große Callas wieder einmal ihren Verpflichtungen nicht nachkam, und zwar keineswegs, um ihre fragile Gesundheit zu kurieren, sondern um mit dem Jetset die Nacht zum Tag zu machen.

Ach, Venedig! Das erste Mal in Venedig gewesen war meine Mutter übrigens zehn Jahre zuvor, dreiundzwanzigjährig, und wann immer sie seither dorthin reiste, tauchte die Erinnerung an jenen ersten Abend wieder auf. Nur die Gefühle, die diese Erinnerung begleiteten, veränderten sich im Laufe der Jahre – zunächst unmerklich, dann immer gravierender, bis sie schließlich Mühe hatte, sich an die Glückseligkeit zu erinnern, die sie einmal mit diesem Ort verbunden hatte.

Sehr vereinfacht könnte man sagen, dass meine Mutter, die im Sommer 1947 überhaupt zum allerersten Mal in Italien gewesen war, den erstbesten Italiener geheiratet hatte, der ihr über den Weg lief; aber natürlich war es deutlich komplizierter. Sie war aus New York nach Verona gereist, um die Gioconda zu singen: ihr erstes respektables, wenn auch beschämend schlecht bezahltes Engagement außerhalb ihrer griechischen Heimat. In New York, wohin sie nach dem Ende des Krieges hoffnungsvoll gereist war – nicht nur, um endlich ihren Vater wiederzusehen und ihre amerikanische Staatsbürgerschaft nicht zu verlieren, sondern vor allem, um eine veritable Karriere zu beginnen –, hatte niemand sie engagieren wollen. Zwar hatte sie es geschafft, an der Met vorzusingen, war aber abgewiesen worden, und es war keineswegs Stolz, der sie diese Niederlage verschweigen ließ, sondern pure Selbsterhaltung. Jeder Mensch kann nur ein bestimmtes Maß an Erniedrigung ertragen.

»Ich habe abgelehnt«, erklärte sie meinem Großvater am Abend nach dem Vorsingen, und die leichte Ehrfurcht, die in seinen Augen aufflammte, bestätigte ihr, richtig zu handeln. »Es geht nicht, ich kann doch nicht die Cio-Cio-San singen«, sagte sie, den Blick an ihm vorbei zu Boden gerichtet und eine vage Geste andeutend.

»Ach nein, nein, das geht natürlich nicht«, bestätigte mein Großvater leise und verlor kein weiteres Wort darüber.

Meine Mutter wog zu diesem Zeitpunkt fast zweihundert Pfund, und tatsächlich hatte Edward Johnson, der damalige Leiter der Met, seine Ablehnung nicht nur mit Vorbehalten gegenüber ihrer Stimme, sondern auch mit dem Zweifel begründet, ob eine Frau mit einer derartigen Statur die zarte Madame Butterfly darstellen könne.

Sie könne Tosca oder Aida singen, bot meine Mutter an, aber Johnson hatte die Cio-Cio-San zu besetzen, außerdem Beethovens Leonore, die sie drei Jahre zuvor während der deutschen Besatzungszeit in Athen gesungen hatte.

»Stell dir vor, sie wollen die Leonore auf Englisch, so etwas mache ich nicht!«, erklärte sie meinem Großvater so entrüstet, wie sie es später jedem anderen erklärte, bis es irgendwann keine Lüge mehr war und sie selbst beschworen hätte, es sei genau so gewesen.

Mit dreizehn Jahren war meine Mutter aus ihrer Geburtsstadt New York nach Athen gekommen und hatte dort, fast ein Jahrzehnt lang, unerbittlich und durch die Wirren des Kriegs hindurch, ihre gesamte Kraft in die Entwicklung ihrer Stimme investiert, hatte sich unbeirrbar an die Überzeugung geklammert, irgendwann Erfolg und Anerkennung zu erlangen, aber der Durchbruch, auf den sie verbissen gehofft hatte, war ausgeblieben. Wenn sie log, dann log sie nur, um nicht zu verzweifeln. Und ganz sicher wäre sie verzweifelt, wenn nicht schließlich, auf Vermittlung eines Kollegen, des Tenors Nicola Rossi-Lemeni, der Ruf nach Verona gekommen wäre. Also buchte sie eine billige Passage auf einem Frachtdampfer und fuhr nach Italien. Für die Reise und ihren Unterhalt während der Proben musste sie selbst aufkommen, weswegen sie sich von ihrem Taufpaten Geld geliehen hatte, denn das Engagement – zweihundertvierzig Dollar für vier Auftritte – war alles andere als eine lukrative Angelegenheit. Doch meine Mutter hätte sogar umsonst gesungen, nur um ihr Talent unter Beweis zu stellen, endlich gehört und an einem der großen Häuser engagiert zu werden. Bei ihrer Ankunft in Verona am 29. Juli 1947 war meine Mutter eine bettelarme, verunsicherte und auffallend übergewichtige junge Frau. Eine Primadonna vermochte sie damals ausschließlich auf der Bühne zu sein.

Von der Reise komplett erschöpft saß sie an jenem Abend mit ihren Kollegen der Arena auf der Piazza Bra beim Essen. Das heißt, es waren die anderen, die aßen, sie selbst war zwar hungrig, aber kaum in der Lage, etwas zu sich zu nehmen. Zumindest nicht vor den Augen aller. Sie wünschte, sie wäre in ihrem Zimmer geblieben. Um keinen Preis hätte sie sich etwas anmerken lassen, aber natürlich waren ihr, sogar ohne ihre Brille, die Blicke nicht verborgen geblieben, mit denen sie von den Kollegen bedacht worden war. Mühsam bis schlecht kaschierte Blicke, die über ihren Körper hinab zu ihren Beinen gewandert waren, um dort für einen Augenblick des Entsetzens zu verharren. Blicke, mit denen man Entstellte und Aussätzige betrachtete. Blicke, in denen die Frage zu lesen war: Wie will sie damit auf einer Bühne stehen? Sie war froh gewesen, endlich Platz nehmen und ihre Beine unter dem Tisch verstecken zu können. Ihre Waden, von jeher stämmig, waren von der Reise so geschwollen, dass sie schmerzten und ihre Füße kaum in die Schuhe passten. Das Gehen fiel ihr schwer. Sie hatte im überfüllten Zug von Neapel nach Verona stehen müssen, bis ihre Zehen taub geworden waren.

Vor ihr stand nun, unberührt, der Teller mit dem Kalbskotelett, das magerste Gericht, das angeboten wurde. Von dem Risotto, das zur Vorspeise für alle serviert worden war, hatte sie nur eine winzige Portion genommen, um der Häme von vornherein den Boden zu entziehen. Während des Essens hatte sie geschwiegen. Wenn sie etwas gefragt wurde, antwortete sie knapp, aber höflich; es richtete jedoch kaum jemand das Wort an sie, was meiner Mutter damals durchaus recht war – je weniger sie beachtet wurde, desto ungestörter konnte sie zuhören. Ohne darüber nachzudenken saugte sie von jeher alles, was um sie herum geschah, in sich auf: Stimmen, Worte und den Tonfall, in dem sie gesprochen wurden, die Gesten und die Körperhaltung, mit der die Tischgenossen agierten, und obwohl meine Mutter erst dreiundzwanzig war, hatte sie am Ende des Abends den Charakter jedes Einzelnen so treffsicher erfasst, als verfüge sie über die Erfahrung eines langen Lebens. Das alles war ihr nicht bewusst, sondern gehörte gleichsam zu ihrer Ausstattung, der Ausstattung einer grandiosen Schauspielerin.

Das Essen war fast beendet, es war dunkel geworden, und meine Mutter hätte sich gern, mit dem Hinweis auf Ermüdung von der langen Reise, in ihr Hotelzimmer zurückgezogen, scheute sich jedoch aufzustehen und den anderen nochmals den Blick auf ihre Waden und ihren schwerfälligen Gang zu gewähren, als ein älterer Herr, mit der Direktion der Arena offenbar befreundet, an ihren Tisch kam und gegenüber meiner Mutter Platz nahm. Sie spürte sofort, dass er lieber weitergegangen wäre, vielleicht war er ebenfalls müde. Er wolle nichts essen, sagte er, allenfalls eine Kleinigkeit, ein Kalbskotelett vielleicht. Meine Mutter ergriff ihre Chance: »Bitte, Signore, Sie können meines haben, es ist das letzte, es gibt keines mehr.« Mit großer Erleichterung schob sie ihren Teller zu ihm hinüber. Die Direktion der Arena hatte sie zu diesem Essen eingeladen, und es wäre ein Fauxpas gewesen, es einfach stehen zu lassen. »Ich habe es nicht angerührt.« Doch sie hatte nicht mit seiner Höflichkeit gerechnet. »Das ist sehr freundlich von Ihnen, Signorina«, erwiderte er, »aber ich kann mir etwas anderes bestellen.« Meine Mutter erkannte, dass er ein Gentleman war und diese Konversation zu einem so höflichen wie absurden Hin und Her geraten könnte, das schließlich die Aufmerksamkeit aller am Tisch auf sich ziehen würde, und so tat sie etwas gänzlich Unüberlegtes: Sie offenbarte sich, ließ ihn ihre Not sehen, indem sie ihm einen flehenden Blick zuwarf und ganz leise, aber mit größtem Nachdruck »Bitte, Signore« sagte. Und Giovanni Battista Meneghini verstand. Er verstand, dass er es hier mit einer verlorenen Seele zu tun hatte, die gerettet werden musste. Während er mit einem knappen Nicken sein Verständnis bekundete und den Teller an sich nahm, beschloss er, dass er alles tun würde, um die Seele und die wunderschönen schwarzen Augen meiner Mutter zu retten. Und er fing sofort damit an. Keinen Widerspruch duldend, füllte er ihr Weinglas, fragte sie so höflich wie interessiert nach ihrer Reise und ihren Eindrücken von Verona, führte sie mit ihren beiden amerikanischen Begleitern zu später Stunde noch zu einem Spaziergang auf die Piazza dei Signori und lud sie für den nächsten Abend zu einer Fahrt nach Venedig ein. Meine Mutter, die sich davor gefürchtet hatte, ihre unförmigen Beine zu zeigen, folgte ihm erleichtert wie eine Graugans dem erstbesten Lebewesen, das ihr begegnete. Nur die Einladung nach Venedig schlug sie so entschieden aus, dass Meneghini misstrauisch wurde: Eine junge Frau, die sich derart für die Schönheit von Architektur begeistern konnte, lehnte einen Besuch in Venedig ab? Hätten Selbstzweifel in Meneghinis Charakter einen Platz gehabt, so wäre er vielleicht nicht weiter drauf eingegangen und das Leben meiner Mutter hätte einen ganz anderen Verlauf genommen. Doch Meneghini insistierte, ließ am Tag darauf wiederholt nach ihr schicken, bis er meine Mutter endlich in seinem Auto wusste.

»Ich verstehe, dass Sie von der Reise noch erschöpft sind, aber Sie dürfen Venedig nicht versäumen, Signorina, das kann ich nicht zulassen, es wäre eine Sünde. Sie können hier im Wagen etwas ausruhen, die Fahrt wird eine gute Stunde dauern.«

»Nein, nein, ich bin nicht müde, Signore.«

»Aber warum um Himmels willen wollten Sie dann so unbedingt im Hotel bleiben?« Es hätte eine Menge Gründe gegeben, deretwegen eine junge Frau die Einladung eines älteren Herrn ausschlug, doch Meneghini fehlte es vollständig an Fantasie.

»Ich … nun … Ach, Signore, es ist mir peinlich. Ich habe nur diese eine Bluse. Ich habe sie schon auf der Reise tragen müssen, und gestern Abend ist ein kleiner Fleck hinzugekommen. Ich … ich schäme mich.«

Meneghini sah meine Mutter an. Diese Frau hatte Rückgrat, aber keine Stabilität. Unwillkürlich lächelte er, und da das Lächeln aus tiefstem Herzen kam, behielt er diesen Moment fortan als jenen in Erinnerung, da er sich in meine Mutter verliebte. Tatsächlich hatte er sich in eine Geschäftsidee verliebt, denn Giovanni Battista Meneghini war Geschäftsmann. Es sollte das Geschäft seines Lebens werden.

Zehn Jahre später, an jenem entscheidenden Abend, stand Giovanni Battista Meneghini im Festsaal des Danieli und fragte sich, wie sie das machte. Wie sie ihre besorgniserregende Erschöpfung rückstandslos ablegen konnte, sobald sie in ihr Abendkleid schlüpfte, den Ballsaal betrat und zu feiern begann. Natürlich verfügte sie über diese ihn nach wie vor faszinierende Mischung aus Entschlossenheit und schauspielerischem Talent, die es ihr in fast jeder Situation ermöglichte, das zu sein, was sie sein wollte, doch ihr Elan an diesem Abend war echt, da hatte er keinen Zweifel. Regelrecht ausgelassen erschien sie ihm, wie ein junges Mädchen, dabei war sie mit ihren dreiunddreißig Jahren auch schon das, was man eine reifere Frau nannte. Er bat einen Kellner, ihm einen Martini zu bringen, lehnte sich an eine der Säulen und betrachtete das Treiben. Sie waren vollkommen verdreht. Eine trug einen überdimensionalen Obstkorb auf dem Kopf, die nächste eine Art Heiligenschein, wobei ihr restliches Kostüm diesen Putz Lügen strafte. Er sah Unmengen von kunstvoll arrangierten Federn, die bei jedem Schritt ihrer Trägerinnen wippten, sah Frisuren, die zu Bauwerken aufgetürmt waren, und sogar einen echten Rosenbusch, der direkt aus einem Kopf zu wachsen schien. Er war erleichtert, dass meine Mutter nicht die Zeit gehabt hatte, sich einen derartigen Firlefanz anzutun, obwohl es ihr ein Leichtes gewesen wäre, sich aus dem Fundus des Fenice üppigen Kopfschmuck für diesen Wettstreit zu besorgen. Aber als Ehrengast des Balls wurde ihr ohnehin alle Aufmerksamkeit zuteil, sodass sie sich nur die Halskette aus Smaragden ins Haar geflochten hatte, die er ihr kürzlich geschenkt hatte, er überlegte, zu welchem Anlass das gewesen war. Ihr letzter Geburtstag? Oder ihr vorletzter? Seine Gedanken schweiften rückwärts, die Jahre entlang, bis zu jenem Tag, an dem alles angefangen hatte, hier in Venedig, im Juli 1947. Und während Meneghini meine Mutter beobachtete, die in der Zwischenzeit mit einem ihm unbekannten Herrn in weißem Dinnerjacket tanzte, überkam ihn die seltsame Fassungslosigkeit, die er immer dann empfand, wenn er versuchte, das verschüchterte, plumpe Ding von damals mit der hocheleganten Erscheinung in Verbindung zu bringen, die überall mit Anmut und Grandezza auftrat. Das Kleid, das sie trug, ein schlichtes, schwarzes Abendkleid, um das sie eine helle Schärpe gebunden hatte, war eine der unspektakulärsten Garderoben des Abends und doch wirkungsvoller als all die großen Roben, die hier zur Schau gestellt wurden. Er verspürte ein Gefühl, das ihn an Stolz erinnerte und dennoch bitter schmeckte, ein vages Ziehen in seinem Inneren; und ohne dass er es zugegeben hätte, sehnte er sich schmerzlich nach jener scheuen, ihm ergebenst dankbaren Person, die er damals, zehn Jahre zuvor, zu retten begonnen hatte.

Albernes, an Hysterie grenzendes Gelächter schallte aus einer Gruppe in der Nähe herüber, sie sprachen ein rasches, amerikanisches Englisch, er versuchte eine Weile zuzuhören, verstand aber nicht viel. Vermutlich war es ohnehin nicht der Rede wert. Er schlenderte durch den Raum, um meine Mutter im Blick zu behalten, die in der Zwischenzeit zu seiner Überraschung Boogie-Woogie tanzte. Er war froh, sich dem Gehüpfe nicht anschließen zu müssen, unterhielt sich eine Weile mit einer ältlichen schwedischen Contessa, die leidlich Italienisch sprach und einen Fisch auf dem Kopf trug, nahm dann allein in einem der weniger frequentierten Nebenräume Platz und musste wohl eingenickt sein, denn das Glas, das er in der Hand gehalten hatte, war verschwunden, dafür lag eine Serviette über seinem Hosenbein, das an der Seite feucht war. Er schleppte sich nach oben ins Zimmer, um die Hose zu wechseln, saß in Unterhosen auf dem Bettrand, und die Müdigkeit umfing sein Hirn wie ein Schraubstock. Er musste sich anziehen, musste nach unten gehen, um nach meiner Mutter zu sehen, unbedingt musste er das, und während sein Oberkörper langsam zur Seite sackte, träumte er sich in trockener Hose den Korridor entlang in ein immer absurder werdendes Getümmel hinein, aus dem heraus sich der Propeller auf dem Kopf einer spärlich bekleideten jungen Frau zu drehen begann, immer schneller, bis die Schöne zum Fenster hinausflog.

Nicht meine Mutter war erschöpft, die Callas war es. La Callas bedurfte der Ruhe, während meine Mutter endlich leben wollte. Wenn Meneghini das verstanden hätte, wäre ihm vieles leichtergefallen. Doch er kannte meine Mutter nicht, hatte sie nie wirklich sehen wollen. Alles, was er sah, war die Callas. Ich aber, ich werde nicht über die Callas reden, ich will über meine Mutter reden, auch wenn es nicht gut ausgegangen ist zwischen uns beiden.

Hinterher erklärte sie, sie habe nicht bemerkt, dass Meneghini fort gewesen sei, anders konnte sie nicht begründen, warum sie erst am Morgen den Weg in ihr Zimmer gefunden hatte, statt bald nach seinem Verschwinden gegen ein oder zwei Uhr. Die Wahrheit ist, dass meine Mutter längst ihr Amüsement der Rolle der treusorgenden Ehefrau vorzog. Und dieser Abend war mit fortschreitender Stunde immer amüsanter geworden, sie hatte getanzt, getrunken, gelacht, sogar gesungen – kurzum, sie war glücklich, ohne ein einziges Mal an die Quälereien und Schikanen der vergangenen Monate denken zu müssen. Und sie hatte eine folgenschwere Bekanntschaft gemacht.

Sie hatte sich gerade von einem sehr jungen, sehr charmanten, aber rührend betrunkenen Mann, der offenbar nicht mehr imstande war, ihr seinen Namen zu verraten, komplizierte Ausführungen über die Qualität des Champagners angehört, als Elsa erschien, mit einem Herrn im Schlepptau, den meine Mutter natürlich sofort erkannte. »Maria, Liebes! Zu meiner absoluten Verwunderung musste ich gerade erfahren, dass euch noch niemand miteinander bekannt gemacht hat. Wie kann das nur sein? Die berühmteste Griechin der Welt und der berühmteste Grieche in einem Raum, und niemand stellt sie einander vor!«

»Niemand hätte gewagt, dir dieses Privileg streitig zu machen, liebe Elsa«, sagte mein Vater, nahm die Hand meiner Mutter und verbeugte sich zum Handkuss. »Sehr erfreut, Mrs. Callas.«

Der junge Mann trollte sich schwankend.

»Hach, Mister Onassis ist nicht nur der berühmteste – und natürlich der reichste –, sondern ohne jeden Zweifel auch der charmanteste aller Griechen. Ihr werdet euch blendend verstehen, ihr beiden, und ganz sicher wirst du ihn ebenfalls bald Ari nennen.«

Meine Mutter setzte ihr Bühnenlächeln auf. Am liebsten hätte sie Elsa entgegnet, dass sie ganz gern selbst entschied, mit wem sie sich verstand und wen sie wie nannte. Umso mehr verblüffte sie die Antwort meines Vaters, die er nicht an Elsa, sondern auf Griechisch an meine Mutter richtete: »Ich glaube, wir beide sind schon groß und brauchen Elsa nicht, um unsere eigene Sprache zu finden, oder?«

Meine Mutter war sprachlos, was äußerst selten vorkam, konnte ihre Zustimmung nur nicken und musste gleichzeitig schmunzeln angesichts der Hilflosigkeit, die in Elsas Miene auftauchte. »Ganz gewiss nicht«, pflichtete sie ihm schließlich bei, »wir müssen sie ja nicht einmal suchen.«

Mein Vater lachte auf, ein herzliches, zugewandtes Lachen, das meine Mutter nicht an ihm vermutet hätte, und für einen Augenblick vereinte sich sein Blick mit ihrem, ehe er, wieder auf Englisch, Elsa antwortete. »Du hast sehr gut daran getan, eine Griechin zu deinem Ehrengast zu machen. Aber warum dann Spaghetti zum Frühstück und nicht etwas wirklich Griechisches, Saganaki zum Beispiel?« Bei dem Wort Saganaki ließ meine Mutter ein verzücktes Stöhnen vernehmen und schloss die Augen. Mein Vater legte ihr in einer solidarischen Geste den Arm um die Schultern. »Siehst du, Elsa, du musst wirklich an deiner Perfektion arbeiten.«

»Und was ist das, dieses Saga…?«, fragte Elsa, wartete die Antwort jedoch nicht ab, sondern machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ach was, das können die hier sowieso nicht.« Sie ließ ein affektiertes Lachen hören und verschwand. Meine Eltern sahen ihr kaum nach, mein Vater schüttelte nur sachte den Kopf.

»Ich liebe es«, sagte meine Mutter. »Als Kind hätte ich mich am liebsten ausschließlich davon ernährt.« Sie spürte, wie ihr Gesicht heiß wurde, denn tatsächlich war der in der Pfanne gebratene Schafskäse einer der Gründe, warum sie als junge Frau so unfassbar dick gewesen war. In ihrer Jugend hatte sie ihn meist noch mit einem Spiegelei dekoriert und am liebsten Makkaroni dazu gegessen, alles andere als eine Fastenspeise. Sie hatte seit Jahren kein Saganaki mehr angerührt, ja, sich selbst den Gedanken daran komplett verboten. Unwillkürlich stieß sie einen Seufzer aus. Mein Vater lächelte wieder, und meiner Mutter fiel auf, dass er mit dem ganzen Gesicht lächelte, nicht nur mit dem Mund oder den Augen. Plötzlich überkam sie eine übermütige Freude. Mein Vater winkte einen Kellner herbei, nahm zwei Gläser Champagner von dessen Tablett und stieß mit meiner Mutter an. Für einen kurzen Augenblick standen sie sich still gegenüber, mit einer Offenheit, als wären sie Kinder, denen noch nichts widerfahren ist und die sich noch nichts zugefügt haben. Dann brach es gleichzeitig aus ihnen heraus, sie lachten laut los, und für eine Weile überboten sie sich mit Schwärmereien über die griechische Küche und beklagten die Schwierigkeit, außerhalb Griechenlands akzeptables griechisches Essen serviert zu bekommen. »Wie ich sehe«, sagte meine Mutter, »sind Sie ja gar kein Tourkosporos, wie immer gesagt wird.« Augenblicklich wich das Lächeln aus dem Gesicht meines Vaters, und er starrte sie entgeistert an. Tourkosporos! Wie konnte diese Frau so etwas wagen! Es war typisch für meine Mutter, ohne Hintersinn ein Schimpfwort zu benutzen. Tourkosporos bedeutet wörtlich »Türkensperma«, und damit bezeichnen die Griechen jene Landsleute, die wie mein Vater aus Kleinasien stammen, jenem Gebiet südlich des Schwarzen Meeres, das zwar einst Teil des antiken Griechenlands war, später jedoch jahrhundertelang unter osmanischer Herrschaft stand und schließlich, nach einem erbitterten Krieg, endgültig an die Türken verloren wurde. Doch auch wenn meine Urgroßmutter mit meinem Vater vornehmlich Türkisch gesprochen hatte, verstand mein Vater sich ausschließlich als Grieche.

»Soso, Madame«, gab er zurück, »und welche Nationalität würden Sie Homer zugestehen, einem der ehrenwertesten Griechen überhaupt? Als stolze Griechin gewiss die griechische, nicht wahr? Und Herodot? Thales von Milet? Heraklit? Sie alle und all ihre klugen Gedanken stammen aus Kleinasien, wussten Sie das? Sogar das Geld ist dort erfunden worden!«

»Oh, ich wollte Ihnen nicht zu nahetreten, Mr. Onassis. Ich war nur verwundert, dass Sie so griechisch sind. Ich hatte sie mir viel … internationaler vorgestellt. Immerhin bewegen Sie sich in sehr internationaler Gesellschaft.«

»Und wie ich Grieche bin, Madame! Durch und durch. Und das werde ich immer bleiben. Ich mache keinen Hehl aus meinen Wurzeln, denn ich bin stolz darauf – und werde mich deswegen auch nie aufführen wie so manch einer meiner Landsleute, der versucht, britischer zu sein als die Briten.« Er verzog das Gesicht zu einer manierierten Grimasse und streckte die Brust nach vorn, bis er erreicht hatte, was er wollte: meine Mutter, die die Anspielung auf seinen Rivalen Stavros Niarchos verstand, zum Lachen zu bringen. Und so, wie sie lachte – unverstellt und aus vollem Herzen –, begriff er, dass sie ihn tatsächlich nicht hatte beleidigen wollen, sondern von einer Geradlinigkeit war, die zwar ans Undiplomatische grenzte, die ihm im tiefsten Herzen aber mehr imponierte als alles andere. Eine Geradlinigkeit, die keineswegs im Widerspruch stand zu der Disziplin und Strenge, die sich diese Frau sicher oft genug auferlegen musste, sondern ihm vielmehr Ausdruck ihrer Vielschichtigkeit schien.

Und in diesem Moment geschah das Wunder: Die Seelen meiner Eltern erkannten sich. Es war der Moment, in dem meine Existenz sich aus dem Nebel der Möglichkeiten zu verdichten begann, so wie alles Existierende durch die Kraft der Sehnsucht seinen Anfang nimmt.

»Woher genau stammen Sie?«, fragte meine Mutter, und er sah, dass es keine Floskel war, sondern sie aufrichtig interessierte.

»Smyrna.«

»Smyrna, oh …« Sie wurde schlagartig ernst. Wie alle Griechen dachte meine Mutter sofort an das Massaker, das dort im Jahr vor ihrer Geburt stattgefunden hatte. Zigtausende Griechen waren von den Türken ermordet, die Stadt geplündert und niedergebrannt worden. Natürlich hatte dieses Ereignis seine Vorgeschichte, während der auch die Griechen einiges angerichtet hatten, doch daran wollte niemand erinnert werden.

Mein Vater nickte bedeutungsvoll. »Ja, Smyrna. Und ich war mittendrin.« Er sah meine Mutter eindringlich an. »Ich sage Ihnen: Wenn man das gesehen hat, was ich gesehen habe, wird man ein anderer Mensch. Ich …« Sein Blick blieb an etwas hängen, wurde allgemein. »Aber lassen Sie uns von etwas Heitererem sprechen. Tina!« Er ergriff den Arm einer jungen Frau, die einen riesigen weißen Federschmuck auf dem Kopf trug, zog sie näher und sprach auf Englisch weiter: »Darf ich Ihnen meine entzückende kleine Athina vorstellen? Sie ist auch Griechin, lebt aber nicht gar so griechisch.«

Meine Mutter reichte ihr die Hand. Selbstverständlich kannte sie Onassis’ Frau aus den Gazetten, so wie umgekehrt jeder Anwesende wusste, wer meine Mutter war. Fast hatte sie befürchtet, Onassis werde seine Frau wie ein kleines Kind auffordern, der Dame recht brav die Hand zu geben.

»Ich freue mich sehr, Sie kennenzulernen, Mrs. Callas, ich bin eine große Bewunderin Ihrer Kunst.« Das Lächeln war gewinnend, die Freude schien aufrichtig, auch wenn die Worte irgendwie auswendig klangen. Meine Mutter dankte ihr höflich. Athina Onassis’ Gegenwart irritierte sie – nicht nur, weil sie das Gespräch mit meinem Vater gern fortgesetzt hätte. Athina war auffallend schlank, wohlproportioniert und bildhübsch, das blonde Haar und die Stupsnase verliehen ihrem Gesicht tatsächlich etwas sehr Kindliches. Athina Onassis war genau jener Typ Frau, in den Männer sich verliebten.

Meine Mutter träumte von der Liebe, seit sie denken konnte. Ein endloser vergeblicher Traum. Erst recht, seit sie vollends hinter der Callas verschwunden war, der Göttlichen, die sich zu opfern hatte auf dem Altar der Kunst. Die Callas war nicht zum Verlieben da. Welcher Sterbliche hätte es gewagt, sich einer Göttin zu nähern?

Tatsächlich war die Callas längst vergeben. Es war, wenn man so will, eine arrangierte Verbindung, von meiner Großmutter bestimmt, lange bevor meine Mutter zu La Callas geworden war. Eine Verbindung, in die meine Mutter aus Folgsamkeit eingewilligt hatte, die aber, wie sich herausstellte, ihrem tiefen Bedürfnis nach absoluter Hingabe entgegenkam. Dieser Hingabe ist es geschuldet, dass schließlich eine enorm fruchtbare Liebe daraus erwuchs, viel fruchtbarer als alle anderen Lieben, die meine Mutter erfahren sollte. Allerdings sollte auch diese Liebe in einer Enttäuschung enden.

Wenn man meine Mutter verstehen will, muss man bei meinem Onkel Vassily anfangen. Und bei meiner Großmutter, natürlich.

Meine Großmutter, die, nebenbei bemerkt, Evangelia hieß, aber Litsa genannt wurde, gehörte zu jenen bedauernswerten Kreaturen, deren Lebensziel darin besteht, unglücklich zu sein. Vom ersten Tag an fordern solche Menschen das Leben heraus und sammeln Beweise für die Unausweichlichkeit ihres Unglücks. Das Ganze nennen sie dann die Suche nach dem Glück.

Jedes Scheitern verdankt seine Existenz einer Erwartung. Das Leben meiner Großmutter wie auch ihre Ehe waren folglich zum Scheitern bestimmt. Mein Großvater Georgios Kalogeropoulos war ein gut aussehender, im Grundsatz fleißiger und charmanter, im Verborgenen manchmal ein wenig verträumter Apotheker, der die eheliche Treue exakt so ernst nahm wie jeder andere griechische Mann seiner Zeit. Mit meiner Großmutter zeugte er zunächst meine Tante Yakynthy, ein ausgesprochen hübsches Mädchen, blond und blauäugig wie meine Großmutter, das in Amerika zuerst Cynthia, später Jackie genannt wurde. (Ja, es gab im Leben meiner Mutter mehr als eine Jackie, die Probleme machte, aber das ist eine andere Geschichte.) Drei Jahre später kam mein Onkel Vassily zur Welt. Vassily war ebenso blond und hübsch wie seine Schwester und ein aufgeweckter kleiner Kerl. Für kurze Zeit war meine Großmutter tatsächlich glücklich. Natürlich arbeitete sie mit Hingabe an ihrem Unglück, indem sie schon bald neue Erwartungen produzierte, doch das Wichtigste, was zum Leben einer Frau dazugehörte, war vorhanden: ein Sohn. Vassily würde alles sein und alles werden, was es zu werden gab. Er würde schön, stolz und ruhmreich sein, und er würde singen, natürlich würde er das, denn das Singen war meiner Großmutter verwehrt worden, noch so ein Unglück, das sofort weitergegeben werden musste, schließlich war meine Großmutter nicht nur eine Meisterin darin, dem eigenen Leben jedes erdenkliche Unglück abzupressen, sie verstand es auch fabelhaft, Unglück im Leben ihrer Kinder zu verbreiten. Vassily aber wehrte sich. Als er drei Jahre alt war, kam ihm eine Hirnhautentzündung zu Hilfe, und er entschloss sich, meiner Großmutter ein letztes Geschenk zu machen und das größtmögliche aller denkbaren Unglücke über sie zu bringen: Er machte sich davon.

Der Erfolg war umwerfend. Wochenlang saß meine Großmutter in Vassilys verlassenem abgedunkelten Zimmer und starrte vor sich hin. Sie aß kaum, weinte ab und an ein bisschen und interessierte sich für nichts und niemanden. Natürlich war auch mein Großvater traurig, er schleppte sich nur mit Mühe in seine Apotheke und bediente seine Kundschaft. Doch weil er, im Gegensatz zu meiner Großmutter, tatsächlich das Glück suchte, vermochten die Beileidsbekundungen, mit denen er tagtäglich überhäuft wurde, ihn allmählich zu trösten, und da die männliche Begierde, wie jeder weiß, sich weder um Trauer noch um Tod oder Teufel schert, packte er eines Nachts beherzt seine Frau und beseitigte ihren Widerstand mit dem Versprechen, er werde ihr einen neuen Vassily machen, so blond und so schön wie der erste. Meine Großmutter fügte sich, und ein Dreivierteljahr später wurde meine Mutter geboren.

Fast eine Woche verbrachten meine Eltern im September 1957