Die Stunde des Mörders - Stuart MacBride - E-Book
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Die Stunde des Mörders E-Book

Stuart MacBride

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Beschreibung

Der zweite Fall für den schottischen Detective Logan McRae.

Es ist Sommer im schottischen Aberdeen, aber selbst die Sonne kann die dunklen Schatten, die sich über die Stadt legen, nicht vertreiben: Sechs Menschen sind bei einem Brand umgekommen, eingeschlossen von einem Killer, der seinen Opfern jede Überlebenschance nehmen wollte. Und das ist nicht der einzige Fall für Detective Logan McRae: Ein brutaler Mörder scheint es auf Prostituierte im Hafenviertel abgesehen zu haben, und McRae setzt alles daran, den Täter zu finden, bevor er sich das nächste Opfer sucht …

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Buch

Es ist Sommer in Aberdeen, aber bei Detective Sergeant Logan McRae will sich keine heitere Stimmung einstellen. Vor kurzem wurde ein Kollege bei einem von McRae geleiteten Einsatz schwer verletzt, und es ist unklar, ob er überleben wird. McRae macht sich nicht nur selbst Vorwürfe, er muss auch seinen Vorgesetzten Rede und Antwort zu dem Vorfall stehen. Und er wird in das Team der eigenwilligen Ermittlerin DI Steel strafversetzt, um sich wieder neu zu bewähren. Gelegenheit dazu bietet sich bald mehr als genug: Rosie Williams, Prostituierte in Aberdeens Rotlichtmilieu, wird brutal erschlagen aufgefunden. Aber sie bleibt nicht die einzige Tote. Sechs Menschen sterben in einem Feuer, das offenkundig absichtlich gelegt wurde. Der Brandstifter hatte außerdem Fenster und Türen des Gebäudes von außen verschlossen, sodass die Opfer, unter ihnen ein kleines Mädchen, keine Chance hatten zu fliehen. Während McRae versucht, die Hintergründe für diese unfassbare Tat aufzudecken, wird eine weitere ermordete Prostituierte entdeckt …

Autor

Stuart MacBride hat bereits in einigen Berufen gearbeitet, bevor er sich dem Schreiben zuwandte. »Die kalten Wasser von Aberdeen« war sein erster Roman mit dem Ermittler Logan McRae, der in England sofort für Furore sorgte und dem Autor bereits Vergleiche mit Ian Rankin einbrachte. Nun legt er mit »Die Stunde des Mörders« den zweiten packenden Krimi aus der Serie vor. Stuart MacBride lebt mit seiner Frau im Nordosten Schottlands, wo er bereits an einem weiteren Roman mit Detective Sergeant Logan McRae arbeitet.

Von Stuart MacBride bereits erschienen:

Die dunklen Wasser von Aberdeen. Roman (46165)

Stuart MacBride

Die Stunde

des Mörders

Roman

Aus dem Englischen

von Andreas Jäger

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Die Originalausgabe erschien 2006unter dem Titel »Dying Light«bei HarperCollinsPublishers, London.

Deutsche Erstveröffentlichung April 2007Copyright © der Originalausgabe 2006by Stuart MacBrideCopyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2007by Wilhelm Goldmann Verlag, München,in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Umschlaggestaltung: Design Team MünchenUmschlagfoto: Visum/buchcover.com/Doublepoint PicturesRedaktion: Eva WagnerAB · Herstellung: Str.Satz: omnisatz GmbH, BerlinISBN: 978-3-641-12239-3V003

www.goldmann-verlag.de

Für Fiona,

wie gehabt

1

Die Straße war dunkel, als sie das Haus mit den vernagelten Fenstern betraten – verlotterte Gestalten in zerrissenen Jeans und Kapuzenshirts. Drei Männer und zwei Frauen, kaum zu unterscheiden mit ihren langen Haaren, ihren gepiercten Ohren, Nasen und wer weiß was noch. Alles an ihnen schrie: »Töte mich!«

Er lächelte. Sie würden noch früh genug schreien.

Das Haus lag in der Mitte einer ganzen Reihe leerstehender, zweigeschossiger Reihenhäuser – schmutzige Granitfassaden im schwachen Schein der Straßenbeleuchtung, die Fenster mit dicken Sperrholzplatten vernagelt. Bis auf das eine im Obergeschoss, wo fahles Licht durch die schmierige Scheibe sickerte, begleitet von stampfender Techno-Musik. Ansonsten war die Straße menschenleer, verlassen, verdammt wie ihre Bewohner. Keine Menschenseele weit und breit. Keine Gefahr, dass jemand ihm bei der Arbeit zusah.

Halb zwölf, und die Musik wurde noch lauter; ein hämmernder Rhythmus, der jedes Geräusch, das er machte, mit Leichtigkeit übertönen würde. Stück für Stück arbeitete er sich am Türrahmen entlang und drehte den Schraubenzieher im Takt der Musik. Dann trat er zurück, um sein Werk zu bewundern: verzinkte Drei-Zoll-Holzschrauben um die ganze Tür herum, die sie fest mit dem Rahmen verbanden und dafür sorgten, dass sie unwiderruflich geschlossen blieb. Er grinste bis über beide Ohren. Das wird gut, dachte er. Das wird besser als alles bisher.

Er steckte den Schraubenzieher wieder in die Tasche und hielt einen Moment inne, um den kalten, harten Griff zu streicheln. Auch er selbst war hart; die kaum verhohlene Vorfreude beulte seine Hose aus. Diesen Moment liebte er ganz besonders – kurz bevor das Feuer ausbrach; wenn alles an Ort und Stelle war, wenn sie nicht mehr entkommen konnten. Wenn der Tod schon unterwegs war, um sie zu holen.

Lautlos entnahm er der Sporttasche, die er neben sich abgestellt hatte, drei Glasflaschen und einen Benzinkanister aus grünem Plastik. Gemächlich schraubte er die Flaschen auf, füllte sie mit Benzin und steckte zerrissene Lumpen als Zündschnüre hinein. Dann wandte er sich wieder der zugeschraubten Haustür zu. Den Deckel des Briefschlitzes anheben. Das restliche Benzin aus dem Kanister durch die Öffnung kippen und hören, wie es auf die kahlen Holzdielen plätschert, fast übertönt von der dröhnenden Musik. Kleine Rinnsale sickerten unter der Tür hervor, flossen über die Schwelle und sammelten sich in einer Pfütze aus Kohlenwasserstoffen. Perfekt.

Er schloss die Augen, sprach ein kurzes Gebet und ließ ein brennendes Streichholz in die Lache zu seinen Füßen fallen. Fffffuump. Eine blaue Flamme mit gelbem Rand schoss unter der Tür hindurch ins Haus. Pause – zwei, drei, vier. Gerade lange genug, um dem Feuer Gelegenheit zu geben, sich auszubreiten. Dann einen halben Backstein durch das Fenster im ersten Stock geworfen. Das Glas bricht, die pulsierende Musik quillt hervor, begleitet von Schreckensrufen und Flüchen. Und dann fliegt der erste Brandsatz. Die Flasche landet auf dem Boden und explodiert, verspritzt brennendes Benzin im Zimmer. Die Flüche gehen in Schreie über. Er grinst und schleudert die restlichen Flaschen in das Flammenmeer.

Dann rasch auf die andere Straßenseite gewechselt, wo er sich im Schatten verbarg und zusah, wie sie brannten. Er biss sich auf die Unterlippe, während er seine Erektion befreite. Wenn er schnell machte, könnte er gekommen sein und wieder verschwinden, bevor jemand auftauchte.

Er hätte sich gar nicht so beeilen müssen. Es dauerte fünfzehn Minuten, bis jemand die Feuerwehr alarmierte, und weitere zwölf, bis sie endlich eintraf.

Da waren sie schon alle tot.

2

Rosie Williams starb, wie sie gelebt hatte: hässlich. Sie lag auf dem Rücken auf dem Kopfsteinpflaster der Gasse und starrte in den orangegrauen Nachthimmel hinauf. Der Nieselregen glitzerte auf ihrer Haut und wusch ihr sanft das dunkelrote Blut vom Gesicht. Sie war nackt wie am Tag ihrer Geburt.

PC Jacobs und seine Kollegin WPC Buchan waren als Erste am Tatort. Auf dem glitschigen Pflaster trat Jacobs nervös von einem Fuß auf den anderen, während Buchan einfach nur fluchte. »Scheiße.« Sie blickte auf den bleichen, kaputten Körper hinab. »Das war’s dann wohl mit der ruhigen Schicht.« Leichen bedeuteten immer Papierkram. Ein kleines Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht. Leichen bedeuteten auch Überstunden, und die konnte sie weiß Gott gebrauchen.

»Ich hole Verstärkung, ja?« PC Jacobs griff mit klammen Fingern nach seinem Funkgerät und rief die Leitstelle an, um Bescheid zu sagen, dass der anonyme Hinweis kein Scherz gewesen war.

»Augenblick mal«, antwortete der diensthabende Sergeant mit breitem Aberdeener Akzent. Eine Pause, angefüllt mit statischem Rauschen, und dann: »Ihr werdet die Stellung noch ’n Weilchen halten müssen. Die sind alle bei diesem verdammten Feuer. Ich besorg euch ’nen DI, sobald einer abkömmlich ist.«

»Was?« Buchan riss Jacobs das Funkgerät aus der Hand. Da es noch an seinem Schultergurt hing, verlor er fast das Gleichgewicht. »Was soll das heißen – ›sobald einer abkömmlich ist‹? Wir haben hier einen Mord! Nicht bloß so ein popeliges Feuer! Seit wann ist ein Feuer wichtiger als –«

Die Stimme des Diensthabenden unterbrach sie. »Nu hören Sie man zu«, sagte er. »Ich weiß ja nich’, was für Probleme Sie zu Hause haben, aber die lassen Sie gefälligst da, wo sie hingehören. Sie tun jetzt verdammt noch mal, was ich Ihnen sage, und sichern den Tatort, bis ich Ihnen einen DI schicken kann. Und wenn es die ganze Nacht dauert, dann warten Sie eben die ganze Nacht. Verstanden?«

Buchan lief feuerrot an, ehe sie die Worte hervorspie: »Jawohl, Sergeant.«

»Gut.« Und dann war das Funkgerät still.

Buchan verlegte sich wieder aufs Fluchen. Wie zum Teufel sollten sie ohne ein Team von der Spurensicherung einen Tatort sichern? Es regnete, zum Donnerwetter, sämtliche Spuren würden weggeschwemmt werden! Und wo blieb eigentlich die Kripo? Es ging hier um eine Mordermittlung, und sie hatten noch nicht mal einen Leitenden Ermittlungsbeamten!

Sie schnappte sich PC Jacobs. »Willst du dir ein bisschen die Beine vertreten?«

Er beäugte sie argwöhnisch. »Worum geht’s?«

»Wir brauchen einen Leitenden Ermittlungsbeamten. Dein ›Kumpel‹ wohnt doch hier in der Nähe, nicht wahr? Unser strahlender Polizeiheld?«

Jacobs gab zu, dass dem tatsächlich so war.

»Also, dann zisch ab und hol den Typ aus den Federn. Soll der sich doch darum kümmern.«

WPC Watson hatte die unmöglichste Sammlung von BHs und Unterhosen, die Logan je zu Gesicht bekommen hatte. Ihre Unterwäsche sah durch die Bank aus, als wäre sie im Ersten Weltkrieg von unterbeschäftigten Zeppelinkonstrukteuren entworfen worden – sackartig und uniformgrau. Nicht dass er in letzter Zeit viel von Jackies Dessous zu sehen bekommen hätte, aber wenigstens für kurze Zeit stimmten ihre Dienstzeiten überein. Mit einem schläfrigen Grinsen drehte Logan sich auf die andere Seite. Das Licht vom Flur fiel durch die offene Tür auf das zerwühlte Bett.

Er schielte nach dem Wecker: kurz vor zwei. Noch fünf Stunden, bis er sich zum Dienst melden und den nächsten Anschiss abholen musste. Fünf volle Stunden.

Klick. Das Flurlicht erlosch. Eine weiche Silhouette erschien in der Tür und kratzte sich ausgiebig, während sie zum Bett zurückschlappte. WPC Jackie Watson schlang ihren nicht gebrochenen Arm um Logans Brust und kuschelte den Kopf an seine Schulter, wobei leider die Spitzen ihrer krausen Haare in seine Nase und seinen Mund gerieten. Er spuckte sie diskret aus und küsste Jackie auf den Scheitel, spürte ihren kühlen Leib, der sich der Länge nach an den seinen schmiegte. Mit dem Finger fuhr sie das Muster aus zweieinhalb Zentimeter langen Narben nach, das sich kreuz und quer über seinen Rumpf zog, und Logan dachte nur, dass fünf Stunden vielleicht doch nicht soo lang waren …

Es wurde gerade interessant, als die Türklingel ertönte.

»Verdammt«, brummte Logan.

»Ignorier es einfach. Sind wahrscheinlich nur Betrunkene.« Es läutete wieder, beharrlicher diesmal. Als ob der Typ da draußen sich mit dem Daumen durch die Hauswand bohren wollte.

»Verpiss dich!«, rief Logan in die Dunkelheit hinaus, was bei Jackie einen Lachanfall auslöste, den mysteriösen Klingler aber keineswegs abschreckte. Und dann stimmte auch noch Logans Handy in die liebliche Serenade ein. »Himmel, Arsch und Zwirn!« Er wälzte sich von ihr herunter, was ein missmutiges Stöhnen auslöste, und schnappte sich das Handy vom Nachttisch. »WAS?«

»Hallo, Sir? DS McRae?« PC Steve Jacobs: Der legendäre Nackte Schwertkämpfer von Alt-Aberdeen.

Logan ließ den Kopf mit dem Gesicht nach unten aufs Kissen fallen, ohne das Telefon vom Ohr zu nehmen. »Was kann ich für Sie tun, Constable?«, fragte er und dachte sich, dass es schon etwas verdammt Wichtiges sein müsste, wenn er sich dafür von einer nackten WPC Watson losreißen sollte.

»Äh … Sir … Wir haben da so eine Leiche … eine –«

»Ich bin nicht im Dienst.«

WPC Watson gab einen Laut von sich, der besagte, dass er sehr wohl im Dienst sei – allerdings nicht im Auftrag der Grampian Police.

»Ich weiß, aber alle anderen sind bei irgend so einem Feuer, und wir haben keinen Einsatzleiter, keine Spurensicherung und nichts!«

Logan fluchte in sein Kissen hinein. »Okay«, sagte er schließlich. »Wo sind Sie?«

Die Türklingel schrillte wieder.

»Äh … das war ich.«

Verdammter Bockmist.

Ächzend und fluchend wälzte Logan sich aus dem Bett und zog sich etwas über, um dann, zerknautscht und unrasiert, wie er war, zur Tür hinauszustolpern und die Treppe hinunter zur Haustür zu tappen. Draußen stand PC Steve Jacobs, berüchtigt für seine Striptease-Version von Queens A Kind of Magic.

»Tut mir leid, Sir«, sagte er mit betretener Miene. »Es ist gleich da drüben. Nackte Frau. Sieht aus, als wäre sie zu Tode geprügelt worden …« Und damit entschwand auch Logans letzte Hoffnung, die frühen Morgenstunden auf angenehmere Art verbringen zu können.

Um Viertel nach zwei am Dienstagmorgen war das Hafenviertel die reinste Geisterstadt. Im Schein der Straßenbeleuchtung wirkten die grauen Granitbauten unnatürlich und abweisend, ihre Silhouetten im Nieselregen verschwommen. Ein riesiges, knallorange gestrichenes Versorgungsschiff lag in Verlängerung der Marischal Street vor Anker, und seine grellen, von Dunstschleiern umgebenen Lichter blendeten Logan und PC Jacobs, als sie in die Shore Lane einbogen. Es war eine enge Einbahnstraße im Herzen von Aberdeens Rotlichtviertel: auf der einen Seite eine fünf Stockwerke hohe Fassade aus schmutzigem Granit mit abgedunkelten Fenstern, auf der anderen eine Ansammlung willkürlich zusammengewürfelter Gebäude verschiedener Größe. Selbst um diese nachtschlafende Zeit war die Geruchskulisse bemerkenswert. Nach drei Tagen mit sintflutartigen Regenfällen und einer Woche mit strahlendem Sonnenschein war die Kanalisation voll von ersoffenen Ratten, die aromatisch vor sich hin gammelten. An den Häusern waren Natriumdampflampen montiert, aber die meisten hatten längst den Geist aufgegeben, sodass nur kleine Inseln gelblichen Lichts das Meer der Dunkelheit aufhellten. Das Kopfsteinpflaster unter ihren Sohlen war glitschig, als Logan hinter PC Steve auf eine dunkle Pfütze in der Mitte der Straße zusteuerte. Eine Polizistin kauerte vor einem weißen Etwas, das quer auf der Fahrbahn lag. Die Leiche.

Die Polizistin richtete sich auf, als sie die beiden kommen hörte, und leuchtete ihnen mit ihrer Taschenlampe voll ins Gesicht. »Oh«, sagte sie ohne jede Begeisterung. »Sie sind’s.« Sie trat zurück und ließ den Lichtkegel der Lampe über die nackte Leiche huschen.

Das Gesicht der Frau war blutig und zerschlagen, ein Auge fast zugeschwollen, die Nase plattgequetscht, Jochbein und Unterkiefer gebrochen, die Zähne ausgeschlagen. Sie trug ein Halsband aus dunkelroten Blutergüssen – und sonst nichts.

Sie war kein junger Hüpfer mehr: die fleischigen weißen Oberschenkel eine einzige Kraterlandschaft von Orangenhaut; der Bauch gefurcht von Schwangerschaftsstreifen wie Dünen im Wüstensand – und dazwischen kurze, raue Stoppeln: Die letzte Do-it-yourself-Intimrasur lag wohl schon eine Weile zurück. Knapp über ihrer linken Brust prangte auf der milchig weißen Haut eine Rose mit einem blutigen Dolch. Dem tätowierten Blut konnte auch der hartnäckigste Regen nichts anhaben.

»Mein Gott, Rosie«, sagte Logan, als er sich vorsichtig mit einem Knie auf das kalte, nasse Pflaster niederließ, um die Tote genauer in Augenschein zu nehmen. »Welches Schwein hat dich so zugerichtet?«

»Sie kennen sie?« Die Frage kam von der unfreundlichen Polizistin. »Waren wohl Stammkunde bei ihr?«

Logan ignorierte sie. »Rosie Williams. Geht schon anschaffen, seit ich mich erinnern kann. Der Himmel weiß, wie oft sie schon wegen Aufforderung zur Unzucht verknackt worden ist.« Er streckte die Hand aus und fühlte an ihrem Hals nach einem Puls.

»Ob Sie’s glauben oder nicht, das haben wir auch schon gemacht«, sagte die Polizistin. »Mausetot, ich sag’s Ihnen.«

DerdichteRegendämpftedietrunkenenStimmen,derengrölendeGesängeundRufeausderGegendderDockszuhörenwaren.LoganrichtetesichaufundblicktedieStraßehinaufundhinunter.»Spurensicherung?Staatsanwältin?Bereitschaftsarzt?«

Die Polizistin schnaubte. »Sie machen wohl Witze. Die hängen alle noch bei diesem Feuer rum. Ist ja auch viel wichtiger als so ein armes Ding, dem irgendjemand die Seele aus dem Leib geprügelt hat.« Sie verschränkte die Arme. »Nicht mal einen richtigen Leitenden Ermittlungsbeamten haben sie uns geschickt, also mussten wir mit Ihnen vorliebnehmen.«

Logan knirschte mit den Zähnen. »Wollten Sie noch irgendwas loswerden, Constable?« Er trat so dicht an sie heran, dass er ihren nach Zigarettenrauch stinkenden Atem riechen konnte. Sie starrte ihn verdrossen an, die Lippen zu einem dünnen Strich zusammengepresst.

»Wie geht’s eigentlich PC Maitland?«, fragte sie. Ihre Stimme war so kalt wie die Leiche zu ihren Füßen. »Lebt er noch?«

Logan verkniff sich eine Erwiderung. Er war ihr Vorgesetzter: Die Verantwortung gebot es, dass er sich wie ein erwachsener Mensch benahm. Aber wozu er in diesem Moment wirklich Lust gehabt hätte, das war, einen dieser schmierigen, fauligen, aufgedunsenen Rattenkadaver zu nehmen und ihn dieser Tussi ungespitzt in –

Vom anderen Ende der Straße, wo sie auf den Regent Quay stieß, waren Rufe zu hören. Drei Männer kamen um die Ecke gewankt, rumpelten ineinander, fummelten an ihren Reißverschlüssen herum und lachten, während dampfende Urinstrahlen gegen die Hauswände der Gasse rauschten. Logan wandte sich wieder zu der selbstgefälligen, aufsässigen Polizistin um. »Constable«, sagte er mit dünnem Lächeln, »Sie sollten doch den Tatort sichern. Wieso sehe ich dann drei Männer, die hier alles vollpissen?«

Einen Augenblick lang sah es so aus, als würde sie ihm Kontra geben, doch dann stapfte sie auf die drei Männer zu und brüllte: »He, Sie da! Was glauben Sie eigentlich, was Sie da machen?«

Logan blieb mit PC Steve und den übel zugerichteten sterblichen Überresten von Rosie Williams zurück. Er fischte sein Handy aus der Tasche und rief die Leitstelle an, um zu fragen, wo eigentlich Bereitschaftsarzt, Spurensicherung, Rechtsmediziner und Staatsanwältin blieben, und überhaupt der ganze Wanderzirkus, der immer anzurollen hatte, wenn irgendwo ein verdächtiger Todesfall gemeldet wurde. Aber er hatte kein Glück: Alle waren noch mit dem Großbrand in Northfield beschäftigt. DI McPherson würde aber so bald wie möglich zu ihnen stoßen. Bis dahin sollte Logan bleiben, wo er war, und dafür sorgen, dass es nicht noch mehr Tote gab.

Eine Stunde später war von DI McPherson und der Spurensicherung noch immer weit und breit nichts zu sehen, aber immerhin war der Bereitschaftsarzt inzwischen eingetrudelt, und es hatte aufgehört zu regnen. Der Doktor zwängte sich mühsam in einen weißen Papier-Schutzanzug und stapfte dann die Shore Lane hinunter, um unter dem blauen Band mit der Aufschrift POLIZEI hindurchzuschlüpfen, das WPC Buchan widerwillig über die Straße gespannt hatte.

Um halb vier Uhr morgens war Doc Wilson nicht gerade auf der Höhe seiner Leistungsfähigkeit; eine Tatsache, die er überdeutlich demonstrierte, indem er seine Arzttasche in einer stinkigen Pfütze abstellte und daraufhin höchst unflätig fluchte. Die Ringe unter seinen Augen hatten den Durchmesser von Herdplatten, seine Nase war rot und wund von einer hartnäckigen Sommergrippe.

»Morgen, Doc«, sagte Logan und bekam nur ein Knurren als Erwiderung, als der Arzt vor der Leiche in die Hocke ging und ihr den Puls fühlte.

»Die is’ tot«, sagte er, richtete sich auf und wollte zu seinem Wagen zurückgehen.

»Augenblick mal.« Logan packte ihn am Arm. »Ist das alles – ›Die is’ tot‹? Wir wissen, dass sie tot ist – möchten Sie nicht vielleicht mal eine Vermutung hinsichtlich Todeszeitpunkt und -ursache riskieren?«

Die Miene des Arztes verfinsterte sich. »Das is’ nich’ mein Job, da müssen Sie schon die von der Rechtsmedizin fragen.«

Überrascht ließ Logan den Arm des alten Mannes los. »Schweren Tag gehabt?«

Doc Wilson fuhr sich erschöpft mit der Hand übers Gesicht, wobei seine Bartstoppeln ein kratzendes Geräusch machten. »Tut mir leid. Ich bin einfach nur hundemüde …« Er warf einen Blick über die Schulter auf Rosies nackten Körper und seufzte. »Ich tippe auf stumpfes Trauma. Die Blutergüsse sind nicht sehr ausgeprägt, das heißt, dass der Herzschlag recht bald ausgesetzt haben muss. Nach den Totenflecken zu urteilen, würde ich schätzen, dass es so drei bis vier Stunden her ist.« Er unterdrückte ein Gähnen. »Zu Tode geprügelt.«

Es war zwanzig nach vier, ehe wieder jemand aufkreuzte, und da war Doc Wilson längst wieder verschwunden. Die Sonne lugte schon über den Horizont, ein blassgelber Fleck, überzogen von grauen Schlieren, doch die Shore Lane war noch immer in tiefe Finsternis gehüllt.

Der verdreckte weiße Lieferwagen der Spurensicherung setzte von der vierspurigen Straße in die Gasse zurück, eingewiesen von einem einsamen Spusi im weißen Schutzanzug. Beide Hecktüren wurden aufgestoßen, und dann begann der rituelle Kampf mit dem Schutzzelt. Mühsam wurde die Konstruktion aus Metallstangen und blauen Plastikplanen über Rosie Williams’ Leiche aufgebaut. Ein Generator erwachte grollend zum Leben und blies tuckernd blauen Rauch in die Morgenluft. Dieseldämpfe mischten sich mit dem Gestank nach verwesenden Ratten, während zwei Bogenlampen knisternd aufleuchteten. Nicht lange darauf tauchte die Staatsanwältin auf und parkte an der Einmündung der Gasse in den Regent Quay. Eine attraktive Blondine von Anfang vierzig, sah sie fast so müde aus, wie Logan sich fühlte, und duftete leise nach Rauch. Eine ernst wirkende jüngere Frau folgte ihr in einigen Schritten Abstand: jede Menge krauses Haar, große Augen, Klemmbrett im Anschlag. Logan brachte beide auf den neuesten Stand, während sie sich in ihre identischen weißen Papier-Strampelanzüge mühten, und durfte noch einmal von vorne anfangen, als die Rechtsmedizinerin auftauchte. Dr. Isobel MacAlister: müde, gereizt und nur allzu bereit, alles an Logan auszulassen. Nichts konnte einem den Spaß an einer Mordermittlung so gründlich verderben wie eine Exfreundin. Und immer noch keine Spur von DI McPherson. Was bedeutete, dass Logan immer noch verantwortlich war, falls irgendetwas schiefgehen sollte. Als ob er nicht schon genug Probleme hätte. Das einzig Gute war, dass es nicht lange sein Problem bleiben würde: undenkbar, dass man ihm die Ermittlungen in einem Mordfall übertragen würde. Nicht nach dem, was er sich in letzter Zeit alles geleistet hatte. Nicht, nachdem er diese Razzia verbockt hatte, die PC Maitland fast das Leben gekostet hätte. Nein, diesen Fall würde jemand kriegen, der den Karren nicht in den Dreck fahren würde. Er sah auf die Uhr. Fast fünf. Immer noch zwei Stunden bis zum Beginn seiner regulären Schicht, und er war schon die halbe Nacht zugange.

Mit einem müden Seufzer trat Logan aus dem kalten Licht des Morgens in das Zelt der Spurensicherung. Es würde ein langer Tag werden.

3

Das Präsidium der Grampian Police war ein siebenstöckiger Klotz mit breiten schwarzen und grauen Streifen aus Beton und Glas, versteckt in einer kleinen Straße, die vom östlichen Ende der Union Street abging. Mit seiner Dornenkrone aus Funkantennen und Sirenenanlagen auf dem Dach war das Polizeihauptquartier nicht gerade das architektonische Glanzstück Aberdeens, aber Logan fühlte sich hier wie zu Hause.

Er holte sich einen Kaffee aus dem Automaten und schnorrte im Pressebüro einen Schokokeks. DI McPherson war immer noch unauffindbar. Logan suchte ihn in seinem Büro, in seiner Einsatzzentrale, in der Kantine – nichts. Er versuchte es auf der Leitstelle, aber dort hatte man nichts mehr von McPherson gehört, seit er heute Morgen um Viertel vor sechs aus dem Krankenhaus angerufen hatte. Bein- und Handgelenkbruch, Gehirnerschütterung. Er war zwei Treppen hinuntergefallen. Logan fluchte. »Warum hat mir keiner was gesagt? Ich warte seit heute früh halb drei auf ihn!« Aber der diensthabende Beamte zuckte nur mit den Achseln. Er war schließlich nicht Logans Sekretär. Wenn Logan jemanden suchte, an den er den Fall abgeben konnte, dann sollte er es am besten mal bei DI Insch versuchen. Auch wenn der schon diesen Brandanschlag aufzuklären hatte.

Bei DI Inschs morgendlicher Einsatzbesprechung herrschte gedämpfte Stimmung. Der Inspector saß vorne, angetan mit einem schicken grauen Anzug, dessen Nähte unter seiner beträchtlichen Leibesfülle ächzten. Der Mann schien jedes Jahr noch ein kleines bisschen dicker zu werden, und mit seinem rundlichen Gesicht und seiner spiegelblanken Glatze sah er aus wie ein missgestimmtes pinkfarbenes Ei. Es herrschte eisiges Schweigen, als er berichtete, dass PC Maitlands Zustand sich nicht gebessert habe – es sei den Ärzten gelungen, die Kugel zu entfernen, aber er habe das Bewusstsein noch nicht wiedererlangt. Sie würden für die Familie sammeln.

Als Nächstes stand eine Reihe von Gewaltdelikten in der Drogenszene auf der Tagesordnung. Ein paar neue Pusher hatten die Szene aufgemischt und eine Welle von Revierkämpfen ausgelöst. Noch waren keine Toten zu beklagen, aber die Situation drohte zu eskalieren.

Dann musste Logan eine fünfminütige Zusammenfassung über Rosie Williams’ malträtierte Leiche abliefern, ehe Insch wieder übernahm und von dem Brand am gestrigen Abend berichtete. Seine dröhnende Stimme füllte den vollbesetzten Raum aus. Das Feuer war in einem der älteren Gebäude am Kettlebray Crescent ausgebrochen – eine Straße mit verwahrlosten Sozialbauten mit zugenagelten Fenstern, die offiziell als menschenunwürdige Behausungen eingestuft wurden. Das Haus Nummer vierzehn war seit ein paar Monaten von einer Gruppe als Unterschlupf benutzt worden, die aus drei Männern, zwei Frauen und einem neun Monate alten Baby bestand. Alle waren am gestrigen Abend zu Hause gewesen. Was auch den unverwechselbaren Geruch nach angebranntem Fleisch erklärte, der den Feuerwehrleuten entgegengeschlagen war, als es ihnen endlich gelungen war, die Tür aufzubrechen. Es gab keine Überlebenden.

Der Inspector verlagerte sein Gewicht, und der Schreibtisch ächzte unter der Last, während er in seinen Jackentaschen kramte. »Ich brauche ein Team, das die Anwohner befragt, je zwei Straßen weit zu beiden Seiten des Tatorts. Alles, was sie über die Hausbesetzer in Erfahrung bringen können, insbesondere Namen. Ich will wissen, wer sie waren. Team zwei wird die umliegenden Gebäude einschließlich der Gärten und unbebauten Grundstücke durchforsten. Sie«, sagte er in einem fröhlichen Kinderstunden-Singsang, »suchen nach Hinweisen. Wer war der Chefkoch beim gestrigen Grillfest? Bringen Sie mir etwas, womit ich was anfangen kann.«

Während die Teams sich auf den Weg machten, blieb Logan sitzen und gab sich Mühe, nicht ganz so müde und kaputt zu wirken, wie er war.

»Na«, fragte Insch, als der Raum sich geleert hatte, »wann haben Sie denn Ihren Termin mit Dracula?«

Logan sackte noch ein Stück tiefer in seinen Stuhl. »Um halb zwölf.«

Insch fluchte und wandte seine Aufmerksamkeit wieder seinen Jackentaschen zu. »Was ist denn das für eine blöde Uhrzeit? Wieso kann er Sie nicht um sieben herzitieren, wenn er vorhat, Ihnen den Kopf abzureißen? So ist gleich der ganze Vormittag im Arsch …« Ein befriedigtes Grunzen zeigte an, dass er endlich gefunden hatte, was er suchte: eine Tüte Brause-Dinosaurier. Er stopfte sich einen in den Mund und kaute nachdenklich. »Hat er Ihnen gesagt, dass Sie einen Gewerkschaftsvertreter mitbringen sollen?«

Logan schüttelte den Kopf.

»Na, dann wird er Sie vermutlich nicht feuern.« Er wälzte seinen massigen Leib vom Schreibtisch. »Wenn Sie eh erst um halb zwölf bei der spanischen Inquisition auf der Matte stehen müssen, können Sie ja noch Rosie Williams die letzte Ehre erweisen. Die Leichenschau ist um acht. Ich muss wegen dieses verdammten Feuers eine Pressekonferenz geben. Nachdem dieser Arsch von McPherson schon wieder krankfeiert, hab ich auch so schon alle Hände voll zu tun, da muss ich mir nicht auch noch angucken, wie unsere Eiskönigin irgendeine massakrierte Nutte zerlegt. Ich bin sicher, Sie können auch ohne mich die Stellung halten. Also, ab mit Ihnen.« Er wedelte mit seinen Patschhänden. »Hier stehen Sie doch nur im Weg rum.«

Rosie war schon gewaschen, als Logan die Treppe hinuntergeschlurft kam, zu der man über den Parkplatz hinter dem Gebäude gelangte. Das Leichenschauhaus war eine Ansammlung von Räumen unterschiedlicher Größe, versteckt im Kellergeschoss des Präsidiums und ohne direkte Verbindung zum Hauptgebäude. Der Sektionssaal war geräumig: saubere weiße Kacheln und Edelstahltische, die im Schein der Deckenbeleuchtung funkelten, während Desinfektionsmittel und Luftreiniger vergeblich gegen den Gestank nach verbranntem Fleisch ankämpften. An der hinteren Wand standen sechs Rollbahren in einer Reihe, auf denen die Opfer in luftdicht versiegelten weißen Plastik-Leichensäcken lagen. Sozusagen frischeversiegelt.

Logan war nur fünf Minuten zu früh, aber noch war er der einzige lebende Mensch hier unten. Er gähnte ausgiebig und streckte sich, um die Knoten in seinen Schultern zu lösen. Null Stunden Schlaf, gefolgt von über fünf Stunden in einer kalten, stinkenden Gasse, forderten allmählich ihren Tribut. Stöhnend schlurfte er zu Rosies nackter Leiche hinüber. Sie lag auf einem der funkelnden Sektionstische unter der gewaltigen Abzugshaube, bereit, noch ein letztes Mal zu zeigen, was in ihr steckte. Rosies Haut war noch blasser als vorhin in der Gasse. Ihr Blut war dem Ruf der Schwerkraft gefolgt und langsam durch das Gewebe nach unten gesickert, um sich am Rücken und den Unterseiten der Arme und Beine zu sammeln. Dort, wo ihre Haut den Tisch berührte, hatte es ihre Porzellanblässe in ein sattes Dunkelviolett verwandelt. Arme alte Rosie. Mit ihrem Tod hatte sie es noch nicht einmal auf die Titelseite geschafft. Nur ein einspaltiger Artikel in der Morgenausgabe der Press and Journal – der Aufmacher war: »SECHS TOTE BEI BRANDANSCHLAG!«

Eine merkwürdige Ausbuchtung der Haut an ihrem Brustkorb erweckte Logans Interesse. Als er sich gerade über sie beugte, um sich die Sache genauer anzusehen, wurde die Tür aufgestoßen, und der diensthabende Rechtsmediziner kam hereingerauscht.

»Wenn ich Sie bei einem Schäferstündchen störe«, meinte der Neuankömmling grinsend, »kann ich auch gerne später wiederkommen.« Dr. Dave Fraser: übergewichtig, an die fünfundfünfzig, Glatze, Haare in den Ohren. »Ich weiß, es macht Sie an, wenn Ihnen eine die kalte Schulter zeigt.« Er grinste erneut, und Logan musste unwillkürlich zurücklächeln. »Apropos kalte Schulter: Ich muss Sie leider enttäuschen – Ihre Majestät die Eiskönigin kann sich bei unserem kleinen geselligen Beisammensein leider nicht die Ehre geben. Arzttermin – die vergangene Nacht ist ihr wohl nicht sonderlich gut bekommen.« Logan stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. So, wie Isobel heute Morgen am Tatort drauf gewesen war, hatte er es nicht allzu eilig, sie wiederzusehen. Doc Fraser deutete auf die sechs Rollbahren an der Wand. »Wenn Sie wollen, können Sie gerne mal einen Blick riskieren, während ich alles vorbereite.«

Wider besseres Wissen schlenderte Logan zu den aufgereihten Bahren hinüber. Aus der Nähe war der Geruch noch übler: verbranntes Fleisch und ausgelassenes Fett. Einer der Leichensäcke war sorgfältig zweimal zusammengefaltet und mit silberfarbenem Klebeband fixiert worden, um ihn an die Größe eines neun Monate alten Kindes anzupassen. Logan holte tief Luft und wählte einen der anderen Säcke aus. Einen Moment lang verharrte er reglos in dem antiseptischen Raum und fragte sich, ob das wirklich so eine gute Idee war, ehe er den Reißverschluss aufzog. Vom Gesicht war nicht allzu viel übrig: Nase und Augen fehlten, die Zähne waren gelblich-braune Zacken, die aus dem schwarz versengten Fleisch ragten, der Mund zu einem letzten, stummen Schrei aufgerissen. Logan warf einen Blick darauf, würgte und zog den Reißverschluss wieder zu. Schaudernd wankte er zum Sektionstisch zurück.

»Gut, nicht wahr?«, fragte Dr. Fraser und lächelte ihn hinter seiner OP-Maske an. »Ich hab mir gleich einen von denen vorgenommen, als sie eingeliefert wurden. Außen knusprig, innen roh – erinnert mich an die Grillversuche meiner Frau.«

Logan schloss die Augen und versuchte an etwas anderes zu denken. »Sollten die nicht im Kühlraum sein, anstatt hier draußen rumzustehen?«

Dr. Fraser nickte. »Schon, aber die Winde ist kaputt, und ich mach das jedenfalls nicht, mit meinem kaputten Rücken. Wenn Brian kommt, kann er sie rüberschaffen.«

Der erwähnte Brian – der rechtsmedizinische Assistent des Instituts – kreuzte um Punkt acht Uhr auf, ebenso wie die Staatsanwältin mit ihrer Assistentin, ein Polizeifotograf sowie der zweite Rechtsmediziner, der Dr. Fraser auf die Finger schauen und dafür sorgen sollte, dass er keine Fehler machte, die den Prozess platzen lassen könnten. Er war ein dürrer, leichenblasser Mann mit Augen wie ein kranker Fisch und einem dazu passenden Händedruck. Die Helferin der Staatsanwältin war die gleiche Frau, die sie auch schon in den frühen Morgenstunden zum Tatort begleitet hatte, eine frischgebackene stellvertretende Staatsanwältin, gerade mal zwei Jahre mit dem Jurastudium fertig und auf dem besten Weg, die Karriereleiter zu erklimmen. Sie erschien in voller OP-Montur, komplett mit Maske und Haube, und in ihren Augen blitzte eine Mischung aus Furcht und Erregung. Logan hatte den deutlichen Eindruck, dass dies ihre erste richtige Autopsie war.

»Alles bereit?«, fragte Dr. Fraser, nachdem sie alle in die obligatorischen Schutzanzüge gestiegen waren, um die Leiche nicht zu kontaminieren.

»Ähm … bevor wir anfangen«, meldete die Neue sich zu Wort und holte mit einem Seitenblick die Genehmigung ihrer Chefin ein, ehe sie fortfuhr. »Ich wollte noch fragen, wo sich die Kleidung des Opfers befindet. Wurde sie bereits untersucht?«

Logan schüttelte den Kopf. »Sie wurde nackt aufgefunden. Keine Spur von irgendwelchen Kleidungsstücken. Ich habe die ganze Straße einschließlich der näheren Umgebung von zwei Uniformierten absuchen lassen.«

Sie runzelte die Stirn. »Also hat der Täter ihre Kleider mitgenommen«, sagte sie, ohne die gequälten Blicke zu bemerken, die Logan und Dr. Fraser wechselten. »Wurde sie vergewaltigt? Gibt es irgendwelche Anzeichen dafür, dass sie in jüngster Zeit Verkehr hatte?«

Dr. Fraser verzog das Gesicht, und Logan konnte sehen, dass er sich zwingen musste, ihr auf möglichst freundliche Weise beizubringen, dass sie doch bitte die Klappe halten und sich verpissen sollte. »So weit sind wir noch nicht, aber da sie im horizontalen Gewerbe tätig war, wäre ich doch einigermaßen geschockt, wenn sich keinerlei Hinweise auf rezente Fickaktivität finden ließen.« Er wies Brian an, das Aufnahmegerät zu starten. »Also, wenn Sie alle bequem stehen, können wir anfangen.«

Logan versuchte nicht allzu genau hinzusehen, als Fraser die äußere Besichtigung abschloss und zum Messer griff. Zu sehen, wie jemandem die Eingeweide in vier großen Klumpen aus dem Bauch gefischt und durchwühlt wurden, schlug ihm irgendwie jedes Mal auf den Magen. Und wenn er die Zeichen richtig deutete, drohte der stellvertretenden Staatsanwältin auch schon das Frühstück hochzukommen. Ihre Augen waren ganz wässrig und gerötet, und alle Farbe war aus dem schmalen Streifen ihres Gesichts gewichen, der zwischen Maske und Haube hervorlugte. Schön zu sehen, dass er nicht der Einzige war.

Als endlich alles vorbei war und Rosies Gehirn in einem Eimer voll Formalin schwamm, bat Dr. Fraser Brian, das Band auszuschalten und schon mal Wasser aufzusetzen. Zeit für ein Tässchen Tee und eine Zusammenfassung der Höhepunkte.

Sie standen in dem kleinen Büro und warteten darauf, dass das Wasser kochte, während sie Dr. Fraser lauschten, der das medizinische Kauderwelsch in verständliches Englisch übersetzte. Rosie Williams war zu Tode geprügelt worden: Der Täter hatte sie nackt ausgezogen, mit Fäusten geschlagen und getreten, war auf ihr herumgetrampelt und hatte sie gewürgt. Nicht notwendigerweise in dieser Reihenfolge. »Aber«, sagte Fraser, »sie ist nicht erdrosselt worden. Die linke Lunge war perforiert; die Rippe hat eine Vene zerrissen, als sie eingedrückt wurde, sodass die Frau praktisch an ihrem eigenen Blut erstickt ist. Aber es wäre sowieso nur eine Frage der Zeit gewesen, bis sie an den anderen Verletzungen gestorben wäre. Ach ja, und schwanger war sie auch. Achte oder neunte Woche.«

Der Piepser der Staatsanwältin ertönte, und verhaltene Flüche wurden ringsum laut, als sie ihr Handy aus der Tasche zog, feststellte, dass sie keinen Empfang hatte, und den Raum verlassen musste. Sobald ihre Chefin verschwunden war, versuchte die neue Stellvertretende das Kommando an sich zu reißen. »Wir sollten eine DNS-Analyse des Fötus vornehmen lassen – wir könnten sie brauchen, um eine Verwicklung des Kindsvaters in den Mord zu belegen.« Jetzt, da sie nicht mehr einer Demonstration des gehobenen Schlachterhandwerks beiwohnen musste, war sie schon deutlich selbstbewusster. Unter ihrem OP-Fummel war ein strenges schwarzes Kostüm mit zweckmäßigen Stiefeln zum Vorschein gekommen. Ihr langes Haar hatte die Farbe von abgestandenem Guinness und kräuselte sich an den Enden; ihr Gesicht war recht hübsch, aus der Kategorie »das nette Mädel von nebenan«, mit etwas zu langer Nase und einem Wölkchen von Sommersprossen, das an die vergangenen sonnigen Tage erinnerte. »Was können Sie zum Thema Vergewaltigung sagen?«

Fraser schüttelte den Kopf. »Jede Menge rezente sexuelle Aktivität – in allen drei Eingängen –, aber nichts davon erzwungen. Spuren von Gleitmittel in allen einschlägigen Körperöffnungen, vermutlich von Kondomen mit Spermizidbeschichtung, aber das können wir erst sicher sagen, wenn wir die Laborergebnisse haben. Kein Sperma.«

»Nun gut. Sergeant«, wandte sie sich an Logan, »ich möchte, dass Sie die Straße nach weggeworfenen Kondomen absuchen. Wenn es uns gelingt …« Sie registrierte Logans Gesichtsausdruck und verstummte. »Was?«

»Die Shore Lane ist ein einziges großes Open-Air-Puff. Da dürften Hunderte von gebrauchten Kondomen rumfliegen, und wir können unmöglich in jedem Einzelfall feststellen, wie lange sie schon dort gelegen haben, wer sie getragen hat oder in wem sie gesteckt haben.«

»Aber die DNS –«

»Um mit der DNS etwas anfangen zu können, müssten Sie zuerst beweisen, dass das Kondom in ihr drin war, und zweitens, dass es vom Mörder getragen wurde und nicht bloß von einem ihrer Stammkunden. Ganz zu schweigen von der Frage, ob es zum Zeitpunkt ihres Todes benutzt wurde oder vorher. Und wir wissen ja noch nicht mal, ob ihr Mörder vor der Tat überhaupt Sex mit ihr hatte.« Ein schrecklicher Gedanke schoss Logan durch den Kopf. »Oder danach?« Er warf Dr. Fraser einen besorgten Blick zu, doch der Mann schüttelte den Kopf.

»Darauf deutet nichts hin«, sagte er. Vor einem knappen Jahr hatten sie einen scheußlichen Fall gehabt, bei dem kleine Jungen entführt, erwürgt und anschließend missbraucht und verstümmelt worden waren. Wenigstens hatten sie es diesmal nicht mit so einem Typen zu tun.

»Verstehe.« Sie zog die sorgfältig gezupften Augenbrauen zusammen. »Ich nehme an, es wäre auch ziemlich kostspielig, aus all diesen Präservativen DNS zu gewinnen.«

»Sehr kostspielig«, sagten Logan und Dr. Fraser wie aus einem Munde.

»Ich will trotzdem, dass sie sichergestellt werden«, sagte sie. »Wir können sie einfrieren für den Fall, dass ein Verdächtiger aufgegriffen wird.«

Logan sah keinen Sinn darin, aber was wusste er denn schon? Er war schließlich nur ein einfacher Detective Sergeant. Solange nicht er es war, der den Suchtrupps beibringen musste, dass sie die Straßen nach alten Kondomen abklappern mussten – vorzugsweise solchen mit Füllung. »Wird gemacht«, sagte er.

»Okay.« Sie griff in die Innentasche ihres tadellosen Kostüms, zog eine kleine schwarze Brieftasche hervor und drückte jedem von ihnen eine frisch gedruckte Visitenkarte in die Hand. »Wenn sich irgendetwas tut, sagen Sie mir Bescheid. Ich bin Tag und Nacht zu erreichen.« Und damit entschwand sie.

»Und?«, fragte Dr. Fraser, als die Tür des Leichenschauhauses hinter ihr ins Schloss gefallen war. »Was sagen Sie dazu?«

Logan warf einen Blick auf die Karte in seiner Hand. »RACHAEL TULLOCH, BA (JUR.), STELLVERTRETENDE STAATSANWÄLTIN«. Er seufzte und steckte die Karte in seine Brusttasche. »Ich glaube, ich habe genug andere Sorgen.«

Es war fünf vor halb zwölf, und Logan wurde allmählich unruhig. Er hatte sich zeitig im Büro der Internen Dienstaufsicht eingestellt, um keinen schlechten Eindruck zu machen, obwohl er wusste, dass es dafür zu spät war, viel zu spät. Inspector Napier konnte Logan nicht leiden. Hatte ihn nie leiden können. Brannte geradezu auf eine Chance, ihn achtkantig auf die Straße zu befördern. Es war zwanzig vor zwölf, als Logan endlich in die Höhle des Löwen gebeten wurde.

Napier war schon mit einer Leichenbittermiene auf die Welt gekommen und hatte sich zielsicher für eine Karriere entschieden, bei der ihm sein verkniffenes Gesicht, sein schütteres rotes Haar und seine Hakennase entschieden zum Vorteil gereichten.

Der Inspector stand nicht auf, als Logan eintrat, sondern deutete nur mit einem Füllfederhalter auf einen unbequem aussehenden Plastikstuhl gegenüber von seinem Schreibtisch, um dann weiter irgendetwas in seinen Kalender zu kritzeln. Ein zweiter uniformierter Beamter saß mit dem Rücken zur Wand am anderen Ende des Zimmers, die Arme gekreuzt, die Miene versteinert. Er stellte sich nicht vor, als Logan sich nervös in Napiers Büro umblickte. Der Raum spiegelte den Mann wider, der hier arbeitete – alles war an seinem Platz. Kein Gegenstand, der keine Funktion gehabt hätte, keine banalen Kinkerlitzchen wie etwa Fotos seiner Familie. Wenn er denn eine hatte. Nachdem er seinen Eintrag mit einer grimmig-schwungvollen Gebärde vollendet hatte, blickte Napier auf und ließ Logan das sparsamste und verlogenste Lächeln in der Geschichte der Menschheit sehen.

»Sergeant«, sagte er und glättete beiläufig eine der rasiermesserscharfen Bügelfalten seiner maßgeschneiderten schwarzen Uniform, deren Knöpfe im Schein der Leuchtstoffröhren blitzten und funkelten wie die kleinen Taschenuhren eines Hypnotiseurs. »Ich möchte, dass Sie mir alles über PC Maitland erzählen und mir erklären, warum er derzeit auf der Intensivstation liegt.« Der Inspector lehnte sich in seinem Sessel zurück. »Nehmen Sie sich ruhig Zeit, Sergeant.«

Logan schilderte den Verlauf der missglückten Operation, während der stumme Mann in der Ecke sich Notizen machte. Wie sie den anonymen Tipp erhalten hatten, wonach in einer leerstehenden Lagerhalle in Dyce gestohlene Elektrogeräte verhökert wurden. Wie er ein Team zusammengestellt hatte – weniger Leute, als er gewollt hatte, aber mehr waren einfach nicht frei gewesen. Wie sie sich zu nachtschlafender Zeit auf den Weg zu der Lagerhalle gemacht hatten, weil in dieser Nacht angeblich eine große Lieferung erwartet wurde. Wie sie alle ihre Positionen eingenommen hatten. Wie sie den schmuddeligen blauen Lieferwagen beobachtet hatten, der plötzlich aufgetaucht und rückwärts an das Hallentor herangefahren war. Wie er den Befehl gegeben hatte, das Gebäude zu stürmen. Und wie dann alles schiefgelaufen war. Wie PC Maitland eine Kugel in die Schulter bekommen hatte und von einem Steg sechs Meter tief auf den Betonboden gefallen war. Wie irgendjemand eine Rauchbombe gezündet hatte und die Gangster alle entkommen waren. Wie sie sich, als der Rauch sich verzogen hatte, umgeschaut hatten und weit und breit kein einziges Stück Diebesgut hatten entdecken können. Wie sie PC Maitland auf dem schnellsten Weg in die Notaufnahme gefahren hatten, wo die Ärzte ihnen jedoch eröffnet hatten, dass er kaum Überlebenschancen habe.

»Verstehe«, sagte Napier, als Logan geendet hatte. »Und der Grund, weshalb Sie sich für einen unbewaffneten Suchtrupp und nicht für Beamte mit Schusswaffenausbildung entschieden haben?«

Logan sah auf seine Hände hinunter. »Ich hielt es nicht für notwendig. Unser Informant hatte nichts von Waffen gesagt. Es ging um Diebesgut – Kleinkram, nichts Besonderes. Bei der Einsatzbesprechung hatten wir eine gründliche Risikoanalyse vorgenommen …«

»Und Sie übernehmen die volle Verantwortung für das ganze …« – er schien nach dem richtigen Wort zu suchen – »Fiasko?«

Logan nickte. Es blieb ihm nichts anderes übrig.

»Dann ist da die negative Publicity zu bedenken«, sagte Napier. »Ein Vorfall wie dieser zieht das Interesse der Medien an, ganz ähnlich wie eine verwesende Leiche die Fliegen anlockt …« Er präsentierte Logan ein Exemplar des Evening Express vom Vortag. Die Schlagzeile war irgendetwas Harmloses über Immobilienpreise in Oldmeldrum, doch der Inspector blätterte weiter zum Mittelteil der Zeitung und reichte sie Logan über den Schreibtisch hinweg. WENN SIE MICH FRAGEN … war eine Kolumne, in der die Zeitung lokale Größen und Halbprominente, wie etwa leitende Kripobeamte im Ruhestand oder Politiker, zu aktuellen Themen vom Leder ziehen ließ. In dieser Nummer hatte Stadtrat Marshall das Wort, und wie üblich prangte über der Kolumne das Foto des Gastkommentators, die gummiartigen Züge zu einem öligen Grinsen verzogen – wie eine selbstzufriedene Nacktschnecke.

Inkompetente Polizeiarbeit wird zunehmend zum Problem. Wenn es noch eines Beweises bedurfte, hat ihn die verpfuschte Razzia von letzter Woche endgültig geliefert! Keine Festnahmen, dafür ein Beamter, der mit dem Tode ringt. Während unsere tapferen Jungs in den blauen Uniformen auf den Straßen ihr Bestes geben, wird allmählich immer deutlicher, dass ihre Vorgesetzten nicht einmal in der Lage wären, ein Besäufnis in einer Brauerei zu organisieren …

Und so weiter und so fort. Logans vermurkste Razzia in der Lagerhalle musste als Sinnbild für all das herhalten, was heutzutage bei der Polizei im Argen lag. Er schob die Zeitung über den Schreibtisch zurück. Ihm war ein wenig übel.

Napier nahm eine dicke Mappe mit der Aufschrift »DS L. MCRAE« aus seinem Eingangskorb und legte den Artikel von Stadtrat Marshall zu der umfangreichen Sammlung von Zeitungsausschnitten. »Sie können wirklich von Glück sagen, dass Sie wegen dieser Sache von der Presse nicht an den Pranger gestellt wurden, Sergeant, aber das ist wohl der Vorteil, wenn man Freunde in den niedersten Kreisen hat.« Er legte die Mappe ordentlich in den Korb zurück. »Ich frage mich, ob die hiesigen Medien Sie immer noch lieben werden, wenn PC Maitland stirbt …« Napier sah Logan direkt in die Augen. »Nun, ich werde dem Polizeipräsidenten meine Empfehlungen übermitteln. Sicherlich werden Sie zu gegebener Zeit erfahren, welche Maßnahmen ergriffen werden. Bis dahin sollen Sie wissen, dass meine Tür Ihnen stets offen steht, sollten Sie noch ausführlicher über diese Angelegenheiten sprechen wollen.« Dies mit der ganzen Aufrichtigkeit eines Scheidungsanwalts.

Logan sagte: »Ja, Sir. Danke, Sir.«

Das war’s. Sie würden ihn feuern.

4

Dann war es Mittag, und Logan wartete immer noch auf den großen Knall. Er saß an einem Tisch in der Ecke der Kantine und schob einen Klumpen glibberige Lasagne auf seinem Teller hin und her. Das Klappern von Geschirr ließ ihn aufblicken, und er sah in WPC Jackie Watsons lächelndes Gesicht. Eine Schüssel Schottische Graupensuppe, dazu Schellfisch mit Pommes. Der Gipsverband an ihrem linken Arm machte das Absetzen des Tabletts zu einem komplizierten Manöver, das sie jedoch erfolgreich abschloss, ohne um Hilfe bitten zu müssen. Ihr lockiges braunes Haar war vorschriftsmäßig in einem Knoten gebändigt, sie trug nur einen Hauch Make-up und war wieder ganz die professionelle Polizeibeamtin. Nicht wiederzuerkennen als die Frau, mit der er letzte Nacht ins Bett gegangen war und die sich schier weggekichert hatte, als er geräuschvoll auf ihren nackten Bauch geblasen hatte.

Sie blickte auf die Pampe auf seinem Teller hinunter. »Keine Pommes?«

Logan schüttelte den Kopf. »Nee«, er seufzte. »Bin auf Diät – schon vergessen?«

Jackie beäugte ihn skeptisch. »Also Pommes sind tabu, aber Lasagne ist okay, oder wie?« Sie nahm den Löffel und machte sich über ihre Suppe her. »Und, wie war dein Termin beim Zombie vom Dienst?«

»Ach, eigentlich wie immer: Ich bin eine Schande für die Truppe, bringe die ganze Polizei in Verruf …« Er versuchte zu lächeln, schaffte es aber nicht ganz. »Allmählich denke ich, die Sache mit Maitland war vielleicht ein Bock zu viel. Na ja, egal« – ein Themenwechsel schien angezeigt –, »und bei dir? Was macht der Arm?«

Jackie zuckte mit den Achseln und hielt den mit Autogrammen vollgekritzelten Gipsverband hoch. »Juckt wie Sau.« Sie beugte sich vor und nahm seine Hand. Ihre blassen Fingerspitzen lugten aus dem Gips hervor wie die Beine eines Einsiedlerkrebses aus der Schale. »Du kannst ein paar von meinen Fritten haben, wenn du magst.« Das entlockte Logan ein kleines Lächeln. Er nahm sich eine, aber eigentlich hatte er gar keinen Appetit.

Jackie widmete sich ihrem Fisch. »Ich weiß auch nicht, warum ich den blöden Doc überredet habe, mich eingeschränkt dienstfähig zu schreiben. Sie lassen mich ja doch bloß Ablage machen.« Dr. McCafferty, der Polizeiarzt, war ein alter Lustmolch mit einem Dauerschnupfen und einem Faible für Frauen in Uniform. Undenkbar, dass er Jackie etwas abschlagen würde, wenn sie ihren Charme spielen ließ. »Ich sag’s dir, das Alphabet ist für die lieben Kollegen offenbar ein Buch mit sieben Siegeln. Was ich alles unter T gefunden habe, obwohl es eigentlich unter …«

Aber Logan hörte nicht zu. Er beobachtete DI Insch und Inspector Napier, die gerade die Kantine betreten hatten. Beide sahen nicht gerade glücklich aus. Insch entdeckte Logan und winkte ihn mit gekrümmtem Zeigefinger herbei. Jackie drückte noch einmal Logans Hand. »Scheiß drauf«, sagte sie. »Ist doch nur ein Job.«

Nur ein Job.

Sie zogen sich in das erstbeste leere Büro zurück. Insch machte die Tür zu, hockte sich auf die Kante eines Schreibtischs und zog eine Tüte Lakritzmischung aus der Tasche. Er nahm sich eins und hielt die Tüte anschließend Logan hin. Napier überging er.

Der Inspector von der Internen Dienstaufsicht tat so, als hätte er es nicht bemerkt. »Sergeant McRae«, sagte er. »Ich habe mit dem Polizeipräsidenten über Ihre Situation gesprochen, und es wird Sie freuen, zu hören, dass es mir gelungen ist, ihn davon zu überzeugen, Sie nicht zu suspendieren, zu degradieren oder zu entlassen.« Das klang verdammt unwahrscheinlich, aber Logan war so klug, sich eines Kommentars zu enthalten. »Allerdings« – Napier zupfte einen imaginären Fussel vom Ärmel seiner makellosen Uniform – »ist der Polizeipräsident der Ansicht, dass Sie in letzter Zeit zu viele Freiheiten genossen haben und vielleicht etwas mehr ›unmittelbare Beaufsichtigung‹ benötigen.« Insch konnte seine Empörung kaum verbergen; seine Augen blitzten wie glühende Kohlen in seinem breiten, rosigen Gesicht. Napier ignorierte ihn. »Infolgedessen werden Sie künftig DI Steel unterstellt. Sie hat weit weniger Fälle zu bearbeiten als Inspector Insch und dürfte daher mehr Zeit haben, sich um Ihre ›berufliche Entwicklung‹ zu kümmern.«

Logan versuchte seine Miene neutral zu halten. Eine Versetzung zum Versagerclub, das hatte ihm gerade noch gefehlt. Napier lächelte ihn kalt an. »Ich hoffe, Sie betrachten dies als eine Chance, sich zu rehabilitieren, Sergeant.« Logan murmelte etwas in der Art, dass er sein Bestes geben werde, worauf Napier zur Tür hinausglitt, triefend vor Triumph.

Insch steckte einen fetten Finger in die Lakritztüte und schob sich einen schwarz-weißen Würfel in den Mund. Während er kaute, imitierte er recht treffend Napiers näselnde Stimme: »›Es ist mir gelungen, ihn davon zu überzeugen, Sie nicht zu suspendieren, zu degradieren oder zu entlassen‹ – ja, wer’s glaubt …« Ein Kokosrädchen erlitt das gleiche Schicksal wie zuvor der Würfel. »Könnte wetten, dass der kleine Scheißkerl schon das Messer für Sie gewetzt hat. Aber der Chef will Sie nicht feuern, weil Sie nun mal ein waschechter Polizeiheld sind. So steht’s in der Zeitung, also muss es wohl stimmen. Und sowieso kann Napier überhaupt nichts machen, solange die interne Untersuchung nicht abgeschlossen ist. Wenn er glauben würde, dass es auch nur die geringste Chance gibt, Sie wegen grober Fahrlässigkeit oder schwerwiegenden Fehlverhaltens dranzukriegen, wären Sie schon längst suspendiert. Sie haben nichts zu befürchten. Machen Sie sich keine Gedanken.«

»Aber DI Steel?«

Insch hob resignierend die Schultern, während er auf einer rosa Anisscheibe herumkaute. »Ach ja, das. Jetzt sind Sie also im Versagerclub, aber was soll’s? Halten Sie sich ran, machen Sie keine Dummheiten, dann werden Sie’s schon überleben.« Er hielt inne und dachte eine Weile nach. »Jedenfalls, solange uns PC Maitland nicht stirbt.«

Bei DI Insch herrschten Zucht und Ordnung. Er legte größten Wert auf Pünktlichkeit, gute Vorbereitung und Professionalität, seine Anweisungen waren knapp und präzise. Bei DI Steel hingegen schien alles drunter und drüber zu gehen. Es gab keine feste Tagesordnung, und alle redeten gleichzeitig, während Steel an einem offenen Fenster saß, eine Zigarette nach der anderen paffte und sich unter den Armen kratzte. Sie war erst Anfang vierzig, sah aber ein gutes Stück älter aus. Ihr kantiges Gesicht war von Falten überwuchert, und unter dem spitzen Kinn hing eine Halsfalte wie eine nasse Socke. Irgendetwas Schreckliches musste mit ihren Haaren passiert sein, aber niemand wagte es, sie darauf anzusprechen.

Ihr Team war relativ klein – nicht mehr als ein halbes Dutzend Kriminalbeamte plus ein paar Uniformierte –, und so saßen sie auch nicht ordentlich in Reih und Glied, wie DI Insch es verlangte, sondern verteilten sich willkürlich um eine Hand voll zerkratzter Tische. Sie sprachen noch nicht einmal über die Arbeit – die eine Hälfte diskutierte angeregt die gestrige Folge von EastEnders, während die andere sich über die katastrophale Leistung des FC Aberdeen beim Match gegen St. Mirren echauffierte. Logan saß etwas abseits und starrte schweigend aus dem Fenster in den kristallblauen Himmel, während er sich fragte, an welchem Punkt eigentlich alles aus dem Ruder gelaufen war.

Die Tür des Besprechungsraums ging auf, und ein Typ in einem nagelneuen Anzug schob sich rückwärts herein, in den Händen ein Tablett mit Kaffee und Schokokeksen. Das Tablett wurde auf dem Tisch abgestellt, alles stürzte sich gierig darauf, und als der Neue sich aufrichtete, erkannte Logan ihn endlich. PC Simon Rennie, jetzt Detective Constable. Er entdeckte Logan, lächelte, schnappte sich zwei Kaffeebecher und eine Hand voll Schokokekse und trat zu Logan ans Fenster. Grinsend drückte er ihm einen der angestoßenen Becher in die Hand. Er wirkte ausgesprochen selbstzufrieden.

DI Steel nippte an ihrem Kaffee, schüttelte sich und steckte sich die nächste Kippe an. »Na denn«, sagte sie aus einer Rauchwolke heraus, »nachdem DC Rennie so nett war, uns die Teerbrühe zu kredenzen, können wir ja anfangen.« Die Gespräche versiegten. »Wie ihr Jungs und Mädels sehen könnt, haben wir zwei Neuzugänge.« Sie zeigte auf Logan und DC Rennie und bedeutete den beiden, sich zu erheben, womit sie dem Rest des Teams einen halbherzigen Applaus abnötigte. »Diese zwei sind aus Hunderten von interessierten Bewerbern ausgewählt worden, die alle darauf brannten, unserem erlesenen Kreis anzugehören.« Damit erntete sie den einen oder anderen Lacher. »Bevor wir fortfahren, möchte ich mich mit der üblichen Begrüßungsrede an unsere zwei neuen Mitglieder wenden.«

Diesmal war Stöhnen die Reaktion.

»Sie sind alle aus einem einzigen Grund hier«, sagte sie und kratzte sich. »Genau wie ich haben Sie Mist gebaut, und niemand sonst will Sie haben.«

DC Rennie wirkte verletzt: Das hatte man ihm aber so nicht gesagt! Er war doch erst seit drei Tagen DC, wie sollte er da schon Mist gebaut haben?

Steel hörte ihn verständnisvoll an, um sich dann zu entschuldigen. »Es tut mir leid, Constable, das war mein Fehler. Alle anderen sind hier, weil sie Mist gebaut haben; Sie hingegen sind hier, weil alle von Ihnen erwarten, dass Sie Mist bauen.« Noch mehr Gelächter. Steel wartete, bis es sich gelegt hatte, bevor sie fortfuhr: »Aber dass diese Schweine uns für nutzlose Versager halten, heißt noch lange nicht, dass wir auch welche sind. Wir werden verdammt gute Arbeit leisten: Wir werden die bösen Buben fangen, und wir werden dafür sorgen, dass sie auch verurteilt werden. Verstanden?« Sie schoss grimmige Blicke durch den Raum. »Mist bauen? Wir wissen gar nicht, wie das geht!« Eine Pause. »Los, sagt es alle mit mir zusammen: ›Mist bauen? Wir wissen gar nicht, wie das geht!‹« Die Reaktion war mäßig. »Na los. Noch einmal mit Gefühl: ›Mist bauen? Wir wissen gar nicht, wie das geht!‹« Diesmal stimmten alle ein.

Logan blickte verstohlen in die Runde, die sich in dem kleinen, unordentlichen Besprechungsraum zusammengefunden hatte. Wem wollten sie eigentlich etwas weismachen? Sie hatten nicht nur allesamt Mist gebaut, sie hatten auch noch einen Zaun drum gezogen und ein Fähnchen reingesteckt. Aber DI Steels Rede schien eine elektrisierende Wirkung auf ihr Team zu haben. Plötzlich saßen sie alle mit kerzengeradem Rücken und erhobenem Kopf da, besprachen ihre laufenden Aufträge und vermeldeten die – in der Regel minimalen – Fortschritte, die sie dabei gemacht hatten. Drüben im Krankenhaus zeigte ein Unbekannter jedem, der dumm genug war hinzugucken, seinen Schwanz; im Sexladen in der City trieben Ladendiebe ihr Unwesen und ließen Dessous und Spielzeug für Erwachsene mitgehen; in einer Reihe von Fastfoodlokalen verschwand immer wieder Geld aus den Kassen; und zwei Männer hatten einen Türsteher des Amadeus, des großen Nachtclubs unten am Strand, windelweich geprügelt. Nachdem alle ihre Zwischenberichte abgeliefert hatten, schickte DI Steel sie raus an die Sonne zum Spielen; nur Logan sollte noch bleiben. »Mr. Polizeiheld«, sagte sie, als sie allein waren. »Hätte nie gedacht, dass Sie mal hier landen. Wir sind schließlich alle hoffnungslose Fälle, aber Sie …«

»PCMaitland«,klärteLogansieauf.»DaswarderTropfen,derdasFasszumÜberlaufenbrachte.«VonWPCJackieWatsonabgesehen,hatteerseitletztemWeihnachtensogutwienurPechgehabt.Alles,wasschiefgehenkonnte,warschiefgegangen.

Steel nickte. Sie hatte auch nicht viel mehr Glück gehabt. Sie beugte sich vor und flüsterte ihm verschwörerisch ins Ohr, wobei sie seinen Kopf in eine Wolke aus gebrauchtem Zigarettenrauch einhüllte. »Wenn irgendjemand sich aus diesem unterirdischen Team wieder in die wirkliche Welt hocharbeiten kann, dann sind Sie es. Sie sind ein verdammt guter Polizist.« Sie trat zurück und lächelte ihn an, wobei die Fältchen um ihre Augen sich explosionsartig vermehrten. »Das sage ich natürlich zu allen Neuen. Aber in Ihrem Fall meine ich es ernst.«

Irgendwie konnte das seine Laune auch nicht heben.

Eine halbe Stunde später saßen Logan und DI Steel im Fond eines relativ neuen Vauxhall. DC Rennie fuhr, auf dem Beifahrersitz saß eine Betreuungsbeamtin. Irgendwie hatte Steel den Polizeipräsidenten dazu überreden können, ihr den Fall Rosie Williams zu übertragen – wahrscheinlich lag es nur daran, dass DI Insch bis über beide Ohren in Arbeit steckte und niemand sonst frei war, aber das behielt Logan lieber für sich. Steel glaubte, dass dies ihre große Chance war, endlich mal wieder zu glänzen. Sie und Logan würden den Fall lösen und dem Versagerclub ein für alle Mal den Rücken kehren. Sollte sich doch zur Abwechslung mal jemand anders um die hoffnungslosen Fälle kümmern.

Rennie steuerte den Wagen durch den monströsen Kreisverkehr von Mounthooly und nahm die Ausfahrt nach Powis. Niemand redete sehr viel. Logan grübelte über seine Versetzung zum Versagerclub nach, Rennie war eingeschnappt, weil DI Steel gesagt hatte, alle erwarteten, dass er Mist bauen würde, und Steel selbst bot ihre ganze Willenskraft auf, um nicht zu rauchen. Die Betreuungsbeamtin hatte ein-, zweimal versucht, ein Gespräch in Gang zu bringen, es dann jedoch entnervt aufgegeben und sich ihrerseits in den Schmollwinkel zurückgezogen. Was jammerschade war, denn es war ein herrlicher Tag. Kein Wölkchen am Himmel, die Granitfassaden glitzerten in der Sonne. Überall fröhliche, lächelnde Menschen, die Hand in Hand spazieren gingen und das schöne Wetter genossen, solange es anhielt. Die Kälte und der Dauerregen würden die Stadt früh genug wieder im Griff haben.

Rennie lenkte den Wagen schwungvoll in die Bedford Road und bog gleich wieder links ab, nach Powis hinein. Vorbei an einer kleinen Ladenzeile mit Maschendraht vor den Schaufenstern und Graffiti an den Wänden, und weiter in eine langgezogene Ringstraße mit zweistöckigen Mietshäusern auf beiden Seiten. Sie fanden Rosies Adresse inmitten einer Reihe von Häusern mit vernagelten Fenstern, vor denen ein gelber Lieferwagen der Stadt parkte. Aus dem Treppenhaus des Nachbarblocks drang Baulärm durch die offene Tür. Rennie parkte direkt vor dem Haus.

»Okay«, sagte Steel, fischte eine Schachtel Zigaretten aus der Tasche, befingerte sie und steckte sie unverrichteter Dinge wieder ein. »Was wissen wir über die nächsten Verwandten?«

»Zwei Kinder, kein Ehemann. Laut Auskunft der Sitte war sie derzeit mit einem gewissen Jamie McKinnon zusammen«, sagte die Betreuungsbeamtin. »Ob er ihr Freund oder ihr Zuhälter ist, darüber gehen die Meinungen auseinander. Vielleicht ein bisschen von beidem.«

»Ach, was Sie nicht sagen. Der kleine Jamie McKinnon? ›Lustknabe‹ wäre wohl das treffende Wort – sie muss doppelt so alt sein wie er!« Steel zog geräuschvoll die Nase hoch und kaute eine Weile nachdenklich vor sich hin. »Also, auf geht’s«, sagte sie schließlich. »Die Arbeit erledigt sich schließlich nicht von allein.«

Sie ließen DC Rennie zurück; er sollte auf den Wagen aufpassen und versuchen, nicht allzu sehr wie ein Polizist in Zivil auszusehen, was ihm gründlich misslang. Rosies Wohnung war im ersten Stock. Das Treppenhaus hatte ein Fenster, aber irgendjemand hatte einen auseinandergefalteten Pappkarton draufgeknallt und mit Klebeband befestigt, sodass der Flur im Halbdunkel lag. Die Wohnungstür war schmucklos und grau, und durch den in rostiges Metall eingefassten Spion fiel ein schwacher Lichtschein aus der Wohnung in den düsteren Hausflur. DI Steel holte tief Luft und klopfte.

Keine Reaktion.

Sie versuchte es erneut, lauter diesmal, und Logan hätte schwören können, dass er hörte, wie auf der anderen Seite irgendetwas vor die Tür geschleift wurde. Steel klopfte ein drittes Mal. Da erlosch das Licht im Guckloch. »Komm schon, Jamie, wir wissen, dass du da drin bist. Lass uns rein, okay?«

Eine kurze Pause, und dann sagte eine hohe Stimme: »Verpisst euch. Wir können keine Polizistenschweine hier drin gebrauchen.«

DI Steel versuchte durch den Spion zu lugen. »Jamie? Komm schon, hör jetzt auf mit dem Scheiß. Wir müssen mit dir über Rosie reden. Es ist wichtig.«

Wieder eine Pause. »Was ist mit ihr?«

»Na, nun mach schon die Tür auf, Jamie.«

»Nein. Verpisst euch.«

Steel fuhr sich entnervt mit der Hand über die Stirn. »Sie ist tot, Jamie. Es tut mir leid. Rosie ist tot. Du musst ins Leichenschauhaus kommen, um sie zu identifizieren.«

Diesmal dehnte sich das Schweigen merklich länger aus als zuvor. Und dann hörten sie, wie etwas von der Tür weggezogen wurde, wie eine Kette ausgehängt, ein Riegel zurückgeschoben und ein Schlüssel umgedreht wurde. Als die Tür aufging, starrten sie auf einen hässlichen Jungen in einem veralteten FC-Aberdeen-Trikot, zerrissenen Jeans und riesigen, im Hip-Hop-Stil geschnürten Turnschuhen. Seine Haare waren zu einer Topffrisur geschnitten und an den Seiten rasiert. Hinter ihm stand ein klappriger Esszimmerstuhl. Er konnte nicht viel älter als sieben sein.

»Was soll das heißen, sie ist tot?« Argwohn malte sich in seinen groben Gesichtszügen.

Steel sah auf das Kind hinunter. »Ist dein Papa zu Hause?«

Das Kind feixte. »Jamie ist nicht mein Papa, der ist bloß irgend so ’n Penner, mit dem Mama ins Bett geht. Sie hat ihn schon vor Wochen rausgeschmissen. Woher soll ich wissen, wer mein Papa ist, wenn Mama selbst keinen blassen Schimmer hat …« Er brach ab und betrachtete die drei Gestalten, die vor ihm auf der Matte standen. »Ist sie echt tot?«

Steel nickte. »Tut mir leid, Junge; du hättest es nicht auf diese Weise erfahren sollen …«

Der Kleine holte tief Luft, biss sich auf die Unterlippe und sagte schließlich: »Na ja. Dumm gelaufen.« Er wollte ihnen die Tür vor der Nase zuknallen, aber Steel hatte schon den Fuß drin. Irgendwo in der Wohnung begann ein Baby zu weinen.

Die Betreuungsbeamtin ging in die Hocke, um mit dem Jungen auf Augenhöhe zu sein, und sagte: »Hallo, ich heiße Alison. Wer passt denn auf dich auf, wenn deine Mami weg ist?«

DerKleinesaherstsiean,dannSteelunddannwiederAlison.»SindSieblödoderwas?›Mami‹istnichtweg.›Mami‹isttot.«AberderTrotzinseinerStimmebegannzubröckeln.»Kapierstdudasnicht,dublödeKuh?Sieisttot!«DasBabyimHinterzimmerschrielauter,undderJungedrehtesichum,ließeineFlutvonSchimpfwörternvomStapelunderklärtedemBaby,wasermitihmanstellenwürde,wennesnichtaufderStelledieKlappehielte.Alserfertigwar,standenTräneninseinenAugen.

Sie überließen es der Betreuungsbeamtin, das Jugendamt anzurufen und die Kinder abholen zu lassen.