Die Summe aller Farben - Christian Däullary - E-Book

Die Summe aller Farben E-Book

Christian Däullary

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Beschreibung

Christian Däullary macht sich in seinen Erzählungen auf die Suche nach der Deutschen Vergangenheit und Gegenwart und spürt Seelenlandschaften nach.

Das E-Book Die Summe aller Farben wird angeboten von tredition und wurde mit folgenden Begriffen kategorisiert:
Kurzgeschichten, Erzählungen, Prosa

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Seitenzahl: 59

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Christian Däullary

Die Summe aller Farben

Erzählungen

© 2021 Christian Däullary

Verlag und Druck:

tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

ISBN

 

Paperback:

978-3-347-32209-7

Hardcover:

978-3-347-32210-3

e-Book:

978-3-347-32211-0

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

„Den musst du lieben,

den als deinen Freund behalten,

der dich auch dann nicht verlässt,

wenn dich alles verlässt,

und der dich nicht zugrunde gehen lässt,

wenn alles andere zugrunde geht.“

Thomas von Kempen

Die Verfügung

Nach elf Tagen und sieben Stunden erwachte ich aus dem Koma. Vor mir sah ich deutlich das Bild aus meinem Traum: Die Blumenwiese, auf der ich mit Ilse das erste Mal verabredet war. Sogar den Duft von ausgedörrtem Gras in der brütenden Sommersonne konnte ich deutlich riechen. Ich meinte auch, eine Grille zirpen zu hören. Erst als ich mich am Abend wieder an die ersten Gedanken nach meinem Erwachen erinnerte, fiel mir auf, dass ich das Zischen des Sauerstoffgerätes für das Zirpen der Grillen gehalten hatte. Ilse saß neben mir am Krankenbett und hielt meine linke Hand fest in der ihren. Ihre Finger lagen auf meinem Handrücken und bedeckten den Großteil meiner zahlreichen Altersflecke. Ilse hielt den Kopf leicht zur Seite geneigt. Während sie schlief, spielte sie unbewusst mit der Haut auf meinem Handrücken. Mit Daumen und Zeigefinger eine Zange bildend, fuhr sie über meine lederne Haut, als wolle sie mich kneifen. Sie sah sehr erschöpft aus, diese wunderschöne alte Frau, mit der ich nun seit fast 60 Jahren verheiratet war. Wie lange sie hier schon neben mir ausharrte, vermochte ich nicht zu sagen. Ich wusste ja noch nicht einmal, wo ich mich befand. Ich betrachtete lange ihr faltenreiches, wettergegerbtes Gesicht und versuchte die feinen Härchen über ihrer Oberlippe zu zählen. Als Ilse die Augen aufschlug, bemerkte ich, dass ich nicht sprechen konnte. Aus meinem Mund ragte ein Schlauch und verursachte beim ersten Versuch ein unheimliches Glucksen. Ilse hielt mir einen Zeigefinger auf die Lippen und gab mir mit ihrem Gesichtsausdruck zu verstehen, dass ich nicht sprechen sollte. In diesem Moment kam meine Erinnerung wieder. Ich sah deutlich vor mir den Zettel auf dem Küchentisch liegen. Wie lange es her war, dass Ilse und ich die Patientenverfügung verfasst hatten, konnte ich zu dem Zeitpunkt noch nicht abschätzen. Die Worte, die wir zu Papier gebracht hatten, konnte ich mir aber wieder ins Gedächtnis rufen. Wir hatten auf einem DIN A4-Blatt unseren ausdrücklichen Wunsch festgehalten. Für die letzte Phase unseres Lebens sollten keine lebensverlängernden Maßnahmen an uns durchgeführt werden. Im Wortlaut hieß das: Unterlassung von Versuchen zur Wiederbelebung. Ilse hatte für diesen feierlichen Akt im Schreibwarengeschäft von Frau Ackermann drei Bogen feinstes Papier mit Pergamentstruktur gekauft. Ich hatte noch das Kratzen im Ohr, das mein alter Füllfederhalter auf dem Papier verursachte, als Ilse zu sprechen begann. Leise und mit brüchiger Stimme erzählte sie mir von meinem Herzinfarkt. Als ich vor elf Tagen am Küchentisch plötzlich zusammengebrochen war, hatte sie wie selbstverständlich den Notarzt gerufen. Sie hatten den Sanitätern und dem jungen Arzt, die kurz darauf in unserer Küche um mein Leben kämpften, die Patientenverfügung vorenthalten und meiner Vergänglichkeit dadurch Aufschub gewährt. Fast die ganze Zeit, während ich im Koma lag, saß sie neben mir am Krankenbett und hatte unsere Verfügung in ihrer Handtasche. Ilse versuchte verzweifelt, sich für den Bruch unserer Abmachung zu rechtfertigen. Sie sah den Zeitpunkt noch nicht gekommen, sich von mir nach all den Jahren zu verabschieden und drückte hilflos meine Hand. Ich war nie ein Mann der großen Worte und in all den Jahren habe ich Ilse kein einziges Mal gesagt, wie fundamental und gewaltig meine Gefühle für sie sind. Vielleicht hätte ich es zu diesem Zeitpunkt das erste Mal getan, wäre ich dazu in der Lage gewesen. Ilse legte mir den sorgfältig zweimal gefalteten Bogen Pergamentpapier auf den Schoß. Sie sagte kein Wort mehr, bis ich die Augen schloss. Ich war im nächsten Augenblick zurück auf unserer Blumenwiese hinter der Dorfkirche. Von weit her hörte ich Ilses vertraute Stimme. Sie sprach davon, wie wir bald wieder ein Picknick auf unserer Wiese machen und was wir dazu alles in den Korb packen würden. Es schien, als hätten sich die Bilder durch meine geschlossenen Augenlider hindurch auf ihre Lippen übertragen. Im gleichen Augenblick nahm ich den Zettel, der immer noch auf meinem Schoß lag, in beide Hände. Ich zerrte und riss so gut es ging daran.

Als ich meine Hand in Ilses Schoß legte, spürte ich einen kleinen, warmen Tropfen auf meinem Handrücken auftreffen.

Taribos Spur

Ich nahm das Medaillon und bettete es wie Blattgold in meine Handfläche. Nachdem ich den Deckel vorsichtig öffnete, starrten mich die schwarzen Augen des fremden Mädchens wie durch ein Kaleidoskop an. Ich wusste, dass es richtig war. Meike konnte bis zu meiner Abreise nicht verstehen, wie ich dorthin zurückkehren konnte, wo ich drei Wochen auf einem Schiff festgehalten worden war. Ich schloss den Deckel, hüllte das Medaillon in das Kissen meiner Hand und ließ meine Augen über das kupferbraune, durstige Land gleiten. Die Luft über den Hügeln der Provinz Agrigento flimmerte in der Hitze wie über einem Hochofen. Olivenbäume verwischten vor meinen Augen zu Alleen. Je weiter ich meinen Zoom in die Ferne richtete, desto starrer wurde das Land. Ein Wolkenband aus tausend weißen Kaninchen hing wie eine Strickweste über der Gegend. Die Sonne schuf ein Meisterwerk aus frischem Licht. Das Schreien und Knattern der Eisenräder auf den Schienen wurde leiser. Häuser mit geschlossenen Augenlidern fielen in mein Blickfeld. Wir näherten uns Agrigento Bassa. Das Hemd klebte an meinem Rücken. Die Luft war schwanger von Fußschweiß, Teer und frischem Basilikum. Im hinteren Teil steckte sich ein alter Mann eine Pfeife an. Grauer Qualm bahnte sich wie eine Böenwalze den Weg an meine Nase. Ich blickte aus dem Fenster und erkannte, dass wir in den Bahnhof einfuhren. Meine Augen wurden wach gebremst und blieben an einem Plakat hängen. Ein kleines, dunkelhäutiges Mädchen, die Augen so groß wie Polarlichter, sah direkt in mein Gehirn. Ihr Bauch war aufgebläht wie der Leib einer vollgesogenen Zecke. Auf der schweißbenetzten Stirn machten sich zwei TseTsefliegen zu schaffen. Ich senkte meine Miene. Zwei Minuten später stand ich am Bahnsteig und kam mir vor wie Marco Polo am Hof des Kublai Khan. Ich ließ mir eine muntere Brise um die schweißnassen Haare wehen, schulterte mein Marschgepäck und machte mich mit den Beinen eines Helden auf den Weg nach Porto Empedocle.

Das Erste, was ich damals von Taribo vernahm, war das Spiel auf seiner Mundharmonika. Er lag auf einer Strohmatte auf dem Hauptdeck und spielte eine traurige, afrikanische Weise. Als ich mich über ihn beugte und ihm eine Plastikflasche mit frischem Wasser anbot, schaute er mich mit seinen riesigen, graphitschwarzen Augen an wie Buster Keaton.

Er unterbrach sein Spiel. „Darf ich Sie was fragen?“

Ich war erstaunt und Taribo spürte das. Sein Englisch war fast akzentfrei.